Cover


1.
Ich weiß gar nicht was mehr weh tut. Meine pochenden Kopfschmerzen, oder die Tatsache, dass sie mich einfach hier stehen gelassen haben. Ohne ein Tschüss, keine Umarmung. Nicht mal in die Augen geguckt hatten sie mir. Zögernd hole ich mein Handy, ein HTC Wildfire S, heraus und wähle die Nummer meiner besten Freundin. Oder eher was sie früher für mich war. Ein Piepen am Ende der Leitung. Keine Mailbox. Ich beende die Verbindung und stecke das Handy in meine Hosentasche. 
Leute laufen an mir vorbei, aus allen möglichen Ländern. Niemand beobachtet mich, ich stehe einfach nur da, wie bestellt und nicht abgeholt. Mein Flug geht erst in 2 Stunden, ich glaube sie wollten mich einfach nur so schnell wie möglich loswerden. Aber wer hätte das denn nicht gewollt. Also stehe ich hier. Alleine unter hunderten Leuten. Und da fängt es wieder an. Mir wird schwindelig, alles um mich rum dreht sich. Gehetzt halte ich mich an meinem Koffer fest. Meine Hand wandert automatisch zum Kopf, stützt ihn, will das Unverhinderbare verhindern. Nicht hier, nicht jetzt. Nicht vor all den Leuten. Diese Blicke. Ich hetze los, auf die nächste Toilette. Weinend stütze ich mich auf das Waschbecken. Der Wasserhahn tropft. Und wie so oft falle ich einfach so in Ohnmacht.

Eine alte Frau schaut mich mitleidig an. In der Hand hält sie ein Taschentuch. Blutspuren zieren den Boden um mich herum. Eine Hand auf dem Waschtisch, mit der anderen Hand am Boden, stütze ich mich aus meiner Hocke. 'Entschuldigen Sie bitte.' Ich nehme mir das angebotene Taschentuch, greife nach meinem Koffer und stürze aus dem viel zu engen Raum raus. Im Rennen wische ich mir alle Flecken aus dem Gesicht, ob Tränen oder Blut. Meine Jacke sieht aus als hätte ich sie in Rotwein getüncht. Mir bleibt nur eine Möglichkeit. Ich zücke mein Handy und wähle die Nummer meiner Eltern. ' Hallo? Es...es ist schon wieder passiert.' Stille am Ende der Leitung, dann ein lauter Räusperer. 'Nun, dass ist nicht länger unser Problem. Müsstest du nicht eigentlich schon im Flieger sitzen?' Ich schaue auf die Uhr. Meine Finger greifen das Handy fester. Ich lege auf und renne auf die Schalter zu, vor der eine endlose Schlange steht. 'Mist', zische ich und stampfe auf. Daraufhin dreht sich eine ältere Dame um. 'Kann ich dir helfen Liebes?'
Ich zögere gebe ihr aber dann abgehackte Brocken meines Problems wieder. ' Schau doch kurz bei der Information vorbei, solange halt ich dir hier deinen Platz frei.' Ich bedanke mich und spurte zur Info. 'Entschuldigen Sie? Ich hatte grade eben einen ähh... Nervenzusammenbruch und hab dadurch verpasst durch die Kontrollen und so zu gehen. Aber mein Flug kommt gleich- können sie mir irgendwie weiterhelfen?' Die Frau guckt mich irritiert an. 'Warte kurz, ich rufe eine Kollegin.' Sie greift zu einem Telefon neben sich, drückt ein paar Mal drauf rum und hebt es an ihr Ohr. 'Ja, hallo, ich bin’s, Amy. Könntest du kurz her kommen, wir haben eine Zuspätgekommene. Dankeschön.' Sie legte auf und lächelte mich an. 'Hol doch kurz deinen Koffer, wir regeln das.'


2. 
Nach einer stressigen halben Stunde, sitze ich nun im Flugzeug, auf dem Weg nach England. Werden sie mich vermissen? Je wieder mit mir reden? Wenigstens Jason muss doch mit mir reden. Er ist doch quasi Schuld am Ganzen. Ob irgendwer es ihm erzählen wird, dass ich in ihn verliebt war? Ging es ihm genauso? Tausende Fragen schießen mir durch den Kopf. Wie würde es im Internat werden? Die Bilder sahen gut aus. Sind die Leute nett? Mein Sitznachbar fängt plötzlich an zu Schnarchen und ich merkte, dass ich auf einmal nichts anderes wollte als ebenfalls zu schlafen. Die letzten Wochen waren ziemlich anstrengend gewesen. Und tatsächlich, nach einer Weile schlafe ich endlich ein. 

'Entschuldigen Sie Miss, aber Sie müssen jetzt aussteigen. Wir sind bereits vor 10 Minuten gelandet.' Schlaftrunken blinzeln meine grauen Augen die Frau an, realisieren aber dann was sie soeben gesagt hat. 'Oh, Mist! Danke, dass sie mir Bescheid gesagt haben!' Ich erhebe mich aus meinem Sitz, packe meine Tasche aus den Fächern über mir. Ich such nach dem Ausgang. Die Stewardess zeigt in die Richtung in die ich gehen muss, und setzt dabei wieder ihr künstliches Lächeln auf. Wie ich das hasse. 

Ich stürme die Gänge entlang, mit der Angst, mein Koffer sei schon wieder vom Laufband runter. Total abgehetzt erreiche ich die Halle, aber kein Koffer ist bisher rausgekommen. In Gedanken beschimpfe ich mich selbst, warum ich hatte denken können, dass das Gepäck bereits nach 10 Minuten rausgeholt werden könnte. Ich gucke mich um. Menschen mit müden Gesichtern, Kindern die begierig auf das Gepäck warten, ihre Eltern, die entnervt zugucken. Ein paar werfen mir Blicke zu, aber ich bin es gewöhnt. Ich gaffe zurück und die Köpfe ziehen sich ein. 
Langsam fängt das Band an sich zu bewegen, und die ersten nehmen ihre Taschen, Koffer und Sonstige Gepäckstücke runter. Das Rattern des Bandes hört in unregelmäßigen Abstanden auf, beginnt kurze Zeit darauf aber wieder. Die Halle ist schon fast ganz leer, als nur noch ein altes Ehepaar, ein Student (anscheinend), eine Großfamilie und ich darin stehen. 'Mom, where are our suitcases?', fragt ein kleiner Junge seine sichtlich genervte Mutter. 'My dear, we'll have them in a few minutes', sagt sie zu ihm, versucht dabei aber höflich rüberzukommen. Die große Schwester wirft mir einen entnervten Blick zu, sie scheint in meinem Alter zu sein. Ich zucke mit den Schultern, will ihr damit sagen 'Was kann man da machen’. Sie lächelt schüchtern. Das Band setzt sich wieder in Bewegung. Mein Koffer ist ganz vorne, ich nehme ihn vom Band lächle dem Mädchen ein letztes Mal zu und gehe Richtung Ausgang. Das ratternde Band und das Rollen meines Trolleys sind die einzigen Geräusche in der großen Halle. Ich seufze. Willkommen in deiner neuen Heimat, my Dear. 

Auf dem Weg raus aus dem Gebäude kaufe ich mir noch eine Coke und ein britisches Magazin. Mein Zug nach Falmouth fährt in zwei Stunden. Ich nehme meine Sachen und suche eine Touristeninformation in der Nähe. Es müsste ja genug geben. Als ich endlich eine Info finde, geben diese mir eine Stadtkarte und empfehlen mir mit der Tube zu fahren. Ich nehme ihren Vorschlag dankend an, und verschwinde an der nächsten Station unter der Erde.


 
3.
Zwei Stunden später: Ich bepackt mit meinem Koffer (ja, ich habe ihn mitgeschleift), um die fünfzehn Einkaufstüten und einem Vanille-Milchshake von McDonald’s. Eins muss man meinen Eltern lassen: sie haben echt viel Geld ausgegeben um mich endlich loszuwerden.
Der Bahnhof ist voll mit Leuten aus allen Ländern. Ich schlürfe gerade die Reste des Milchshakes aus, als ich von hinten angetickt werde. Ein ca. 15-jähriges Mädchen steht hinter mir, tiefe Augenringe und miese Klamotten. ’Tschuldigung, aber ich lebe momentan auf der Straße, weil meine Eltern mich rausgeschmissen haben, ich wollte fragen ob du n’ bisschen Geld für mich hast?’ Ich gucke sie mitleidig an, und krame dann ein paar Pounds für sie raus. ’Hier, aber nicht für Alkohol oder so ausgeben!’, sage ich zu ihr. Sie lächelt dankbar und verschwindet dann unter den Mengen. Erneut gucke ich auf die Anzeige über meinem Gleis. Noch 5 Minuten. Ich gehe zum Mülleimer und werfe meine leere Milchshake  Verpackung hinein.  Dann zücke ich ein paar Pounds und kaufe mir an einem Automaten ein paar Süßigkeiten. Die Fahrt könnte immerhin ein wenig dauern. Dann rattert der Zug heran.  Ich und ein paar andere hundert Leute steigen in den fast leeren Zug ein. Meine Eltern hatten mir einen Platz in der 1. Klasse reserviert, was sie sicher nicht gemacht hätten, wenn mein Vater nicht diese Ermäßigungen wegen seiner Arbeit gekriegt hätte. Eigentlich sind es nicht meine echten Eltern. Die haben mich schon kurz nach meiner Geburt zur Adoption freigegeben. Also haben Eltern 2 mich adoptiert, aber als sich ihnen zu anstrengend wurde, wollten sie mich ganz schnell loswerden, und deshalb werde ich jetzt auf dieses Internat gehen.  Meine Freunde aber…
Da ist er ja! Mein Platz ist in der hintersten Reihe des Abteils, am Fenster. Ich packe meinen Koffer kurz auf den Platz neben mir, um die vielen Tüten einzupacken. Nur mit Mühe kann ich den Koffer noch schließen. Auf Zehenspitzen schiebe ich den Koffer auf die Ablage über mir. Mit einem Seufzer setze ich mich zurück auf meinen Platz und krame aus meiner Tasche die Zeitschrift und die Coke vom Flughafen. Nur noch ein paar Schlucke drin, Mist. Außerdem hole ich noch ein Twix hervor, welches ich mir ja gerade am Bahnhof gekauft hatte.

Bis zur nächsten Station sitzen nur um die fünf weitere Leute in meinem Abteil. Eine alte Frau, ein junges Pärchen, das gemeinsam Musik hörte, ein Geschäftsmann und ein Junge.
Er muss ungefähr in meinem Alter sein. Seine Nase hatte er tief in ein Buch gesenkt, sodass ich nur sein sandfarbenes Haar sehen kann. Auch er  hört Musik, was mich daran erinnert, dass auch ich mein iPod dabei hab.  Nach kurzem Durchwühlen meiner Tasche finde ich ihn und stecke mir die Kopfhörer in die Ohren. Contagious Chemistry von You Me At Six läuft. Mein Lieblingslied. Auf einmal schaut der Junge auf, und sieht, dass ich meinen Blick noch immer auf ihn gerichtet habe. Mit herrlichen blauen Augen schmunzelt er und zwinkert mir zu. Oh mein Gott! Schnell gucke ich weg, aber ich merke wie mir das Blut in den Kopf schießt. Aber auch ich muss lächeln. Er sieht schon ziemlich gut aus. So von dem was ich bisher gesehen hab. Aber da ist wieder der Gedanke an Jason. Und dann dieser Schmerz, wie immer wenn ich an ihn denke.
’Darf ich mich setzen?’ Der Junge steht wie aus dem nichts vor mir.
’Natürlich. Machs dir gemütlich solange niemand den Platz hier reserviert hat’, antworte ich ihm mit bestem Englisch.
’Du kommst nicht von hier, oder?’, fragt er mit einem süßen Lächeln.
’Nein. Ich komme aus Deutschland’, sage ich, und erwidere dabei sein Lächeln.
Ich mustere ihn. Unter seinem schlichten, hellblauen Leinenhemd trägt er ein graues Tank Top. Dazu trägt er eine Jeans und schlichte Timberlands, was bei ihm toll aussieht, jedoch bei anderen Jungs total in die Hose gegangen wäre.
’Wie heißt du?’, frage ich nach kurzer Pause
’Noah. Und du?’
’Ich bin Jarven. Schön dich kennenzulernen’, ich lächele ihn an und er zurück.
’Wo fährst du hin?’, fragt er schließlich.
’Nach Falmouth. Ich werde da demnächst ein Internat besuchen, meine Eltern wollten mich unbedingt loswerden. Äh- willst du vielleicht was Süßes? Ich hab hier zum Beispiel noch ein paar Chips’. Er strahlt übers ganze Gesicht. Nur wegen den Chips? Vielleicht ist er ja ein wenig komisch, aber ich mag ihn.
’Ja, ich mag Chips. Warte, ich hol kurz was von meinem Platz, dann könnten wir eine kleine Tea Party machen, wenn du willst’, schlägt er vor, immer noch mit diesem tollen Lächeln auf den Lippen.
’Natürlich gerne’, antworte ich ihm, ’ich mach hier nur noch kurz etwas mehr Platz.’
Er verschwindet kurz zu seinem Platz, und ich räume meine Sachen ein wenig an die Seite, hole stattdessen die Süßigkeiten raus.
’Warte, ich habe eine bessere Idee: Wir könnten doch in den Speisewagen gehen, da haben sie sogar echten Tee!’, sagt er, als er zurückkommt.
’Okay, das ist auch eine schöne Idee, ich nehme nur noch kurz meine Tasche, und dann können wir’.
 
Drei Minuten später sitzen wir nun in einem lichtdurchfluteten Speisewagen. Ein Mann steht vor uns und fragt Noah bereits was er denn haben möchte. Er bestellt für uns beide einen schwarzen Tee und je ein Stück Kuchen. ’Das könnte jetzt ein wenig dauern, die brauchen immer so lange’, er versucht lustig zu klingen, und das gelingt ihm auch.
Felder und kleine Dörfer ziehen an uns vorbei, Kühe und Pferde ignorieren den Zug einfach. Wir erzählen uns von unseren Eltern, seine scheinen auch echte Idioten zu sein, während wir unseren Tee trinken.
’Und dann sagen die einfach: >Nein, du darfst nicht zu dieser Party, was ist wenn es dort Alkohol gibt? ’Jarven, ich musste leider gehen, aber ich wollte dich nicht aufwecken. Du hast so süß an meiner Schulter geschlafen, und ich wollte einfach nicht, dass du deinen Kopf da wegnimmst.’ WAS? Omg, wie peinlich? Was wenn ich gesabbert hätte? Oder mal wieder im Schlaf geredet! ’Egal. Ich wollte dir hier drin sagen was für eine tolle Zugfahrt ich dank dir hatte. Vielleicht sehen wir uns mal wieder? Ich gehe nämlich auch in Falmouth zur Schule. Tut mir leid, dass ich das nicht früher gesagt habe, aber ich wollte dich überraschen. Ich musste hier wegen meiner Oma aussteigen. Ruf mich an. Bitte. Oder schreib mir.
Dein Noah.’

Darunter stehen seine Nummer und seine Mailadresse. So süß von ihm. Ich bin nicht böse, dass er gegangen ist, nein, ich freue mich sogar. Hätte ich sonst vielleicht seine Nummer oder die Mailadresse gekriegt? Ich schaue auf die Uhr und stelle fest das ich in einer Viertelstunde in Falmouth seien müsste. Langsam fange ich an meine Sachen zusammenzupacken und den Platz ein wenig von Süßigkeiten Papieren zu befreien. Niemand ist mehr im Abteil. Vorsichtig stehe ich auf und gehe zu Noahs altem Platz. Dann berühre ich seine Rückenlehne und fange automatisch an zu lächeln. Auf einmal fällt mir ein kleines Büchlein mit Noahs Namen drauf auf. Ich nehme es an mich, als eine Stimme verkündet, dass wir in fünf Minuten in Falmouth seinen werden. Wieder einmal auf Zehenspitzen, hole ich meinen Koffer von der Ablage und packe mir meine Sachen zusammen. Noahs Büchlein lege ich vorsichtig in meine Tasche. Dann suche ich mir die nächste Tür, versuche die Kühe zu zählen, die mich nicht einmal angucken, und warte gespannt auf meine neue Heimat.


5.
’Du musst wohl Jarven sein?’, fragt mich eine rothaarige Frau, als ich mit meinem Gepäck aus dem Zug steige. Sie hält ein Schild in der Hand, auf dem mein Name steht. ’Ja, die bin ich. Hallo. Und sie sind…?’-’Ach entschuldige, ich bin die Frau, die sich um euch Mädchen kümmert, Clarisse Houston! Kommst du mit? Viele Mädchen die über die Ferien geblieben sind, sind schon ganz begierig dich das erste Mal zu sehen!’- ’Oh, natürlich. Wo ist hier der Ausgang?’- ’Folge mir einfach unauffällig!’, ruft sie mir mit schallendem Lachen zu, und auch ich muss ein wenig lächeln.

Das Auto steht direkt vor dem Bahnhof. Ich blicke mich um. Dichte Wolken verdecken den Himmel, nur wenig Sonne. Sauber, aber ziemlich klein, könnte man den Bahnhof beschreiben. ’Kommst du?’, fragt Clarisse, weil ich stehen geblieben bin. ’Natürlich. Ich…ich habe mich nur kurz umgeschaut…’, antworte ich ihr, und lasse meinen Blick noch einmal kurz von links nach rechts schweifen, bewege mich dann aber in Richtung Auto. Es ist ein Mercedes Viano, schlichtes Silber mit abgedunkelten Scheiben. Im hinteren Teil des Autos sind die Plätze so gemacht, das man sich angucken kann. Ein Fahrer sitzt vorne im Auto und wartet geduldig auf uns. Clarisse gibt ihm eine kurze Anweisung, dann bedeutet sie mir mich zu setzen und lässt sich auf dem Platz mir gegenüber nieder. ’Wie gefällt dir England? Warst du schon mal hier?’, fragt sie mich, damit keine peinliche Stille entsteht. Ich denke an Noah und die Zugfahrt. ’Bisher war alles toll hier, aber nein,  ich bin noch nie in Groß Britannien gewesen. Aber wegen meinen Verwandten habe ich schon früh gelernt Englisch zu sprechen. Ich hoffe natürlich, das mir das hier hilft.’, gestehe ich ihr mit einem schmalen Lächeln auf den Lippen. ’Ich glaube dir wird dein neues Zimmer gefallen. Wir haben dich extra in ein Zimmer mit vier unserer nettesten Mädchen verlegt. Sie freuen sich schon sehr auf dich. Und übrigens, dein Englisch ist  spitze.’ Plötzlich weicht ein Teil meiner Aufregung von mir.
’Wann genau fängt noch mal die Schule an, also vom Datum her?’
’In einer Woche. Hoffentlich kannst du dich bis dahin ein wenig eingewöhnen. Wir haben uns aber gemeinsam mit den Mädchen aus deinem Zimmer etwas überlegt, damit du dich möglichst schnell einlebst.’ Clarisse kramt in ihrer Tasche und holt eine Mappe heraus. Sie hält sie mir hin.
’Hier steht alles drin, was du wissen musst. Hausregeln, ein Plan des Campus und der Stadt, dein Stundenplan und so weiter. Hannah hat es zusammengestellt. Sie ist generell ziemlich talentiert in solchen Dingen. Die Meisten denken dass sie später mal Managerin werden wird…’
’Das ist ja cool! Ist Hannah auch eines der Mädchen aus dem Zimmer?’
’Oh, natürlich, ja das ist sie! Wenn du sie nachher alle sehen wirst, sie ist diejenige mit den blonden Haaren und den braunen Augen. Ach übrigens, nur falls du dich fragst: das hier ist unsere kleine Innenstadt. Einmal im Monat machen wir Ausflüge in größere Städte, da könnt ihr auch shoppen und so.’, teilt sie mir mit einem riesigem Grinsen mit. Sie scheint wirklich nett, gerade in dem richtigen Alter um auf uns ‚aufzupassen’.
’Ähm… danke. Ich hab mich natürlich schon im Internet ein wenig über die Schule und den Ort schlau gemacht. Es…äh…gefällt mir.’ Ich lächle ihr zu.
’Da wären wir!’, sagt sie schließlich feierlich, als wir vor einem riesigen, alten Schulgebäude halten, welches ich als Haupthaus identifiziere.

Ein paar Mädchen stehen vor dem riesigem Portal, der anscheinend als Eingang dient. Schuluniformen! Nein! Keine zerrissenen Strumpfhosen mehr…
Der Fahrer öffnet uns die Tür, und die Mädchen fangen aufgeregt an zu flüstern. Was sie wohl denken? Eines tun sie aber alle: Mich von oben bis unten und wieder hoch mustern. Mir steigt das Blut in den Kopf. Dann kommt ein blondes Mädchen auf  mich zu. Ich tippe auf Hannah. ’Hey. Herzlich Willkommen zuhause! Das sind Jane, Abby und Scar. Also Scarlett, versteht sich. Ich bin Hannah.’, sagt sie, und deutet dabei auf die Mädchen, als sie ihre Namen nennt. Sie wirkt ziemlich nett. Aber der erste Eindruck kann täuschen.
’Äh…Hallo. Ich bin Jarven. Danke, dass ihr mich hier Willkommen heißt.’, teile ich ihnen in meinem besten Englisch mit.
’Also, als erstes zeigen wir dir mal die Schule, und danach dein Zimmer- wie findest du das?’, fragt Clarisse mich. Da es keinen Grund gibt nein zu sagen, stimme ich zu.
’Scarlett, willst du den Anfang machen?’, fragt Clarisse ein rothaariges Mädchen. Sie lächelt mir schüchtern zu.
’Also, das hier ist unser Foyer, wie man sieht. In den Pausen können wir uns hier aufhalten. Hier gibt es auch ein schwarzes Brett mit Angeboten für Nachmittage und anderen Unternehmungen, du weißt schon.’, sie deutet auf ein Brett aus Kork an der rechten Wand des riesigen Eingangs. Das Mosaik unter unseren Füßen besteht aus hunderten wunderschönen Blautönen. Ich kann mein Gesicht darin sehen, wenn ich mich nah genug drüber beuge.
Clarisse gibt mir einen kleinen Stups, damit ich weitergehe. Sie führen mich in einen Klassenraum, an den Wänden stehen neue Computer, nicht solche alten wie in meiner alten Schule.
’Das ist unser Klassenraum, also auch deiner jetzt. Wenn du hier den Flur lang gehst,  findest du noch die Fachräume, für Chemie und Erdkunde, zum Beispiel.’, erklärt mir Abby, die anscheinend Französin ist, erkennt man an ihrem Akzent.
’Gut, jetzt zeigen wir dir denn Campus. Er wird dich umhauen!’, Clarisses Augen funkeln und sie strahlt mich an. Ich strahle etwas verzweifelt zurück, aber sie hat sich bereits abgewandt und stolziert aus dem Gebäude.
’Ist sie immer so?’, frage ich flüsternd eins der Mädchen, Scarlett.
’Ja, aber sie ist echt nett. Sie ist für uns wie eine zweite Mutter.’, sie mustert mich interessiert, wendet dann aber ihren Blick wieder auf Clarisse.
’Aber unterschätze sie nicht, wenn sie muss, kann sie auch ziemlich fiese Strafen verteilen. Oh, wenn wir grad von Strafen reden: das Mädchen da vorne ist Vanessa. Ziemliche Zicke, wenn ihre Eltern der Schule nicht so viel Geld geben würde, wäre sie schon längst runter. Sie und Clarisse haben immer Zoff miteinander. Und ihre Begleiterinnen sind auch ziemlich mies. Die braunhaarige heißt Angela, die wasserstoffblonde Cassandra. Lass dich nicht auf die ein. Nur ein ernst gemeinter Tipp.’, sie schaut abschätzend auf die Mädchen, die uns entgegen kommen. Und schon wieder diese musternden Blicke. Am liebsten würde ich mich hinter den nächsten Schrank stellen. Clarisse unterhält sich kurz mit Vanessa und den zwei anderen. Die drei drehen um, zur Tür aus der sie gerade erst gekommen sind. Clarisse winkt uns heran, und wir passieren die Tür ebenfalls, und landen in einem wunderschönen Garten.
’Wow. Das sieht genial aus.’, gebe ich kleinlaut von mir. Zu beiden Seiten befinden sich Blumenbeete, mit den schönsten Pflanzen und Blumen. Kleine Wege führen durch die Beete, einer endet in ein Labyrinth aus Gunnera. Ein kleiner Bach verläuft durch das ganze, und endet in einem blauen Mosaik.
Beim genauen Betrachten des Kunstwerkes wird mir schwindelig. Ich stütze mich an einer Bank ab, und will mich setzen. Meine Beine geben gerade nach als ich mich der Bank noch mehr nähere. Ich stoße mir den Kopf an der harten Eisenlehne der Bank. Dann schwarz.
 
’Jarven? Jarven?? Wieder da?’, fragt mich eine Frau. Ihre langen roten Haare fallen ihr über ihre Schultern, sie schaut mich besorgt an.
’Clarisse? Was ist mit mir los?’ Ich stütze mich entsetzt auf, lege mich dann aber wieder hin, nachdem ich meine höllischen Kopfschmerzen bemerke.
’Du bist gestolpert und hast dir deinen Kopf an der Bank gestoßen. Himmel! Geht es dir gut?’, sie schaut verdammt besorgt, muss ich schon sagen.
’Ja, bloß hab ich verdammte Kopfschmerzen. Ouch! Verdammt, kennst du das, wenn du das Gefühl hast, dein Gehirn würde sich gleich losreißen? Es fühlt sich so scheiße an!’ Ich beschimpfe mich innerlich dafür dass ich vor Clarisse so viel fluche. Mist. Mal wieder.
’Aber um ehrlich zu sein, würde ich mir jetzt gern mein Zimmer ansehen…’, murmele ich. Clarisse lacht. ’Das ist klar. Geht es wirklich mit den Kopfschmerzen? Dann komm mit!’
Langsam stehe ich auf, und bemerke, dass die anderen Mädchen auch da sind. Sie lächeln mir allesamt zu, und ich versuche möglichst enthusiastisch zurückzulächeln. So wurde ich erzogen.
Hannah geht voraus, auf eines der vielen Gebäude um das Haupthaus herum zu. Sie hält die Tür eines blau gestrichenen Holzhauses auf. Es macht einen sauberen und netten Eindruck. Ich trete ein. Ein wohliger Geruch steigt mir in die Nase. Nachdem ich mir die Schuhe abgeputzt habe, schreite ich in den Flur. ’Wir müssen einmal die Treppe da hoch’, sagt Scarlett, und deutet dabei auf eine Wendeltreppe aus einfachem Holz.’ Das hier ist die Wohnung von fünf Mädchen, die momentan bei ihren Eltern sind. Alle sehr nett, übrigens.’

Ich steige die Stufen rauf, immer noch mit einem leichten Schwindelgefühl und Kopfschmerzen. Dann erblicke ich mein neues Wohnzimmer. ’Wow!’, entfährt es mir.
Vor mir befindet sich ein riesiger Raum, mit weißen Dielen und einer atemberaubenden Fensterfront, über den Hafen von Falmouth. Sofort, stürme ich auf die Fenster zu, stolpere dabei aber über eine Stufe. Ich falle auf einen flauschigen Teppich. Jane lacht ein wenig, hilft mir dann aber auf. ’Genau meine Reaktion.’ Ich lache ebenfalls, und drehe mich dann wieder in Richtung Treppe um.  Ich entdecke einen Fernseher und eine gemütlich aussehende Couch, einen Kicker und einen kleinen Tisch. Dachschrägen begrenzen die Flächen, die in einem frischen Weiß gestrichen worden sind. Hannah zeigt auf eine von drei Türen hinter dem Aufgang. Vorsichtig trete ich über die Stufe ohne mich dabei auf die Nase zu legen. Hannah hat dir Tür bereits geöffnet, und ich erhasche ein Blick auf ein nostalgisches Himmelbett. Mein Mund fliegt wie von alleine auf. ’Wie viel zahlen meine Eltern im Monat dafür?’, frage ich ohne dass ich wirklich eine Antwort will. Ich kann es mir denken. ’Jarven, bitte!’ Clarisse lacht. Ich bestaune weiterhin mein Zimmer. Wie gesagt, zwei nostalgische Himmelbetten. Ein großes Fenster, unter dem zwei Schreibtische stehen, der eine total unordentlich, der andere leer. An jeder Seite des Zimmers steht eine Kommode mit vier Schubladen. Boxen hängen an den Wänden, ich stelle mir vor wie hier You Me At Six läuft. Wow. Ich nähere mich dem Bett, auf dem etwas liegt. Langsam hebe ich den Stoff an, und bemerke wie weich er ist. Ein karierter Rock, eine weiße Bluse, ein Blazer und… eine zerrissene Strumpfhose! ’Woher wissen Sie, dass ich zerrissene Strumpfhosen liebe?’, frage ich während ich fröhlich rumgluckse. Eine Angewohnheit, dass mit dem Glucksen. ’1. Duzen wir uns hier und 2. kannst du dich bei deinen Eltern bedanken. Sie brauchten zwar viel Geduld um Ms. Clark zu überzeugen, aber letztendlich… naja du siehst es ja.’ Clarisse schmunzelt mich an. In meiner innerlichen To- Do Liste setze ich einen neuen Punkt auf >Eltern einen Brief schreibenNoah,
zuerst einmal wollte ich mich dafür entschuldigen, dass ich eingeschlafen bin. Der Flug war ganz schön anstrengend. Ich weiß nicht. Der halbe Tag mit dir war toll (: Dich getroffen zu haben, war wohl das beste Erlebnis in der ganzen Woche. Du hättest mich sehen müssen als ich gelesen habe, dass du auch hier in Falmouth zur Schule gehst. Wo? Wann kommst du zurück? Vielleicht können wir uns ja mal treffen. Meine neuen Leute hier sind echt nett, vllt. kennst du ja wen. Egal, ich muss mich erstmal vom heutigen Tag erholen. Will und Cole (zwei Mitschüler) haben heute in diesem einen Laden in der Stadt geklaut, als ich dabei war. Ich habe den Namen vergessen. Bitte melde dich.
xoxoxo, Jarven (:


Mir fällt ein passender Betreff ein und schicke die Mail ab.
Nachdem ich meinen Eltern und Lisa, einer Freundin die mich nicht im Stich gelassen hat eine Mail geschrieben habe, melde ich mich ab und schalte den Computer aus. Ich verlasse den Raum, das Gebäude.
Der Rest des Tages schlittert an mir vorbei. Tyra, die sich beim Abendessen zu uns setzt, anstatt zu Cole und Will, die sowieso zur Direktorin gerufen werden. Dean, der mich wieder zum Haus geleitet. Wie ich einschlafe.


8.
Am nächsten Morgen wache ich schon früh auf. Die anderen schlafen noch, also beschließe ich sie nicht zu wecken, und joggen zu gehen. Meine Turnschuhe sind ganz unten in meinem Koffer, genau wie meine Jogginghose. Dazu ziehe ich mir ein einfaches weißes Tank-Top an. Dann verlasse ich das Haus und fange an. Ich steuere auf den Hafen zu. Kurz bevor ich ein wenig weiter ins innere der Stadt komme, finde ich einen schmalen Weg. Man könnte sagen ich würde fliegen, zumindest fühlt es sich so an. Meine Schuhe haben Gel-Einlagen, vielleicht geht es deshalb so gut. Plötzlich höre ich hinter mir etwas rascheln, aber ich lasse mich nicht beirren und jogge weiter. ’Bleib verdammt noch mal stehen!’, ruft auf einmal eine männliche Stimme hinter mir. Erschrocken drehe ich mich um, und sehe in Coles wütendes Gesicht. ’Was willst du hier? Cole, bitte, geh. Ich will gerade mal allein sein, weil…’, weit komme ich nicht in meinem Satz weil Cole einen Schritt auf mich zu macht, das Gesicht wutverzerrt. ’Es ist mir egal was du willst. Wegen dir hat Tyra Schluss gemacht. Weißt du überhaupt, was sie mir bedeutet?! Du miese Schlampe!’, brüllt er mich an. Er macht einen letzten Schritt auf mich zu. Dann fliegt seine Faust auf mein Gesicht zu. Er trifft mich, aber mein Fuß bewegt sich bereits auf ihn zu. Er heult auf, und ich nutze meine Gelegenheit um wegzurennen. So schnell wie noch nie. Ein Schauer läuft mir den Rücken runter. Was hätte er gemacht, wenn ich mich nicht gewährt hätte? Immer noch höre ich seine Flüche hinter mir. Ich riskiere einen kleinen Blick nach hinten. Cole richtet sich gerade auf, und fängt an zu laufen. Rennen viel eher. Als lege ich noch einen Zahn zu. Endlich sehe ich das Ende des Weges vor mir, ein kleiner Wald, gelegen an einer Straße. Meine Beine werden mit jedem Schritt schwerer, sie wollen aufgeben, doch ich nicht. In einer spitzen Geschwindigkeit durchquere ich den Wald und bleibe an der Straße stehen. Keuchend drehe ich mich um. Cole ist hingefallen. Am Ende der Straße fährt ein Auto auf mich zu. Ich winke, um es auf mich aufmerksam zu machen. Und tatsächlich: es hält an. Eine blonde Frau, ungefähr vierzig schaut mich fragend an. Ich erkläre ihr in Kurzform von der Situation, und sie lässt mich einsteigen. Zuerst erkundigt sie sich ob ich irgendwo blute, und ob sie mich ins Krankenhaus fahren soll. Ich schüttle den Kopf und schaue in den Rückspiegel. Am Wegesrand steht Cole. Er stützt sich auf die Knie und schaut dem Auto nach. Erst jetzt bemerke ich die Schmerzen in meinem Gesicht. Und wie sehr ich schwitze. Die Frau flucht vor sich hin, und erkundigt sich immer wieder wie es mir geht. Ich versichere ihr, dass ich nur etwas geschockt und außer Atem bin. Letztendlich halten wir vor der Schule, und sie überzeugt mich davon, dass ich zur Direktorin müsse. Ich stimme zu, und sie begleitet mich. Auf dem Weg treffen wir Clarisse. ’Himmel, wie siehst du denn aus?’, stößt sie aus. ’Cole hat mir die Schuld daran gegeben das Tyra mit ihm Schluss gemacht hat. Als ich heute Morgen gejoggt bin, hat er mich ins Gesicht geschlagen und mich beschimpft. Ich habe ihn getreten und bin vor ihm weggerannt. Und dann hat Mrs. Evans hier mich mitgenommen. Vielen Dank noch mal.’, erkläre ich Clarisse. Sie schüttelt den Kopf und legt mir die Hand auf die Schulter. Dann gehen wir drei weiter, zum Büro von meiner Direktorin. Clarisse klopft, wartet aber nicht bis wir hereingebeten werden.
Nachdem wir Ms. Clark die Situation erzählt haben, entlässt sie Mrs. Evans. Ich bedanke mich noch mal bei ihr und sie verschwindet. Ms. Clark bleibt lange still. Dann wendet sie sich an mich. ’Tut dir dein Gesicht noch sehr weh?’ Ich verneine. Trotzdem besteht sie darauf, dass ich nachher zum Arzt gehe. ’Du kannst jetzt gehen, wenn du willst. Clarisse, kannst du sie zum Arzt begleiten?’, sagt Ms. Clark. Ich stehe auf und verabschiede mich. Statt in mein Zimmer zu gehen, laufe ich rüber zum Computerraum. Ich öffne mein Mailprogramm. Zwei neue Nachrichten. Lisa und meine Eltern. Enttäuscht lese ich mir beide durch und schreibe eine kurze Nachricht zurück. Kurz checke ich noch mal Facebook, aber da gibt’s auch nichts Neues. Wieder schalte ich den Computer ab, und spaziere aus dem Gebäude. ’Hey Kleine, hast du ne Ahnung wo Cole ist?’ Schon allein bei diesem Namen läuft mir ein Schauer den Rücken hinunter. Ich drehe mich um und schaue in Wills Gesicht. ’Öh…Nein. Tut mir leid. Ich muss jetzt aber auch wieder zurück zu den anderen. Äh…tschüss!’, sage ich während ich bereits weglaufe. Ich will rennen, aber ich traue mich nicht. Will blickt mir hinterher, also eher an meinem Hintern. Was für ein dummer Junge. Und da steht auch schon das Haus vor mir. Ich öffne die Tür und Jane eilt mir bereits entgegen. Sie will grade an mir vorbei die Tür verlassen, als sie mein Gesicht sieht. ’Oh mein Gott! Was ist mit deinem Auge? Hast du dich geprügelt?!’, fragt sie mich voller Sorge. ’Cole, er…er hat mich geschlagen als ich heute Morgen joggen war. Er gibt mir die Schuld daran das Tyra Schluss gemacht hat…’, ich falle ihr in die Arme, und kann mich nicht mehr zurückhalten. Ich fange an zu weinen und erzähle ihr von meinen Ängsten, als wir da alleine auf diesem Weg standen. Die ungeklärte Frage was er gemacht hätte wenn er mich k.o. geschlagen hätte. Noch mehr Tränen strömen mir über die Wangen. Ich höre Schritte auf der Treppe und höre kurz darauf die Stimmen der anderen drei. ’Da bist du ja! Wir haben uns schon gefragt wo du…Ach du liebes Lieschen! Was ist passiert?’, entfährt es Scarlett. Jane erzählt ihr von meinem Erlebnis. Die vier begleiten mich nach oben, wo ich mich in mein Bett lege. ’Ich glaub ich sollte mich hinlegen. Das brauch ich jetzt.’, sage ich ihnen, und entlasse sie damit. Alle vier verabschieden sich von mir und versprechen nach mir zu gucken, wenn sie wieder da sind. Dann versuche ich einzuschlafen. Vielleicht eine halbe Stunde lang, aber es funktioniert nicht. Genervt setze ich mich im Schneidersitz auf. Mein Blick fällt auf meinen Schreibtisch. Noahs Buch! Ich stehe auf und nehme es mir. Dann kuschle ich mich zurück in mein Bett und fange an zu lesen.
Es sind Geschichten. Als ob es sein Tagebuch wäre. Die letzte wurde an dem Tag geschrieben, an dem ich nach England gekommen bin. Ihn kennengelernt habe. Ich streiche die Seite glatt und beginne zu lesen.
Sie sitzt da, wirft ab und zu einen Blick auf mich und wenn ich diesem begegne, entwischt er mir. Ich möchte mich zu ihr setzen. Hat sie einen Freund? Ich möchte es sein. Bitte. Ihre Ausstrahlung, ihr Lächeln, diese chaotische Art, wie sie ihre Musik hört. Was könnte passieren wenn ich mich zu ihr setze? Werden wir dann irgendwann heiraten? Und was wenn ich hier sitzen bleibe? Wird sie rüberkommen? Werde ich sie dann nie wiedersehen? Nein, das geht nicht. Also gehe ich zu ihr.
Weiter ist es nicht geschrieben. Aber ich weiß, dass ich gemeint bin. Also doch sein Tagebuch. Mein Herz klopft wie wild. Er hat über mich geschrieben?! Diese Art und Weise wie er schreibt bringt mich aus dem Gleichgewicht. Ich lege mich ganz flach aufs Bett, mit dem Büchlein auf dem Bauch. Ich atme schwer. Meine Arme liegen ausgebreitet neben mir. Dann schlafe ich ein. Ich träume von Noah.
 
9.
’Jarven? Hey, kommst du? Wir müssen zum Arzt!’, flüstert mir Clarisse sanft in mein Ohr. Ich schrecke hoch. Natürlich, das hatte ich ja ganz vergessen! Clarisse hilft mir aus dem Bett und ich packe schnell ein paar Sachen zusammen. Dann laufen wir zum Minibus und Clarisse setzt sich ans Steuer. Wir fahren los, und nach zehn Minuten erreichen wir ein Haus mit vielen Arztpraxen. Clarisse steuert uns die Treppen hoch, im dritten Stock drückt sie die Klinke einer Tür runter. Wir treten in eine nach Desinfektionsmittel riechende Praxis ein. Sofort begrüßt uns eine junge Frau, die Clarisse anscheinend schon kennt. Da die Praxis leer ist werden wir direkt zum Arzt geführt. Er kontrolliert mein Gesicht. Nichts besonderes, außer dem blauen Auge. Trotzdem gibt er mir ein Rezept für Schmerztabletten mit, welche wir in der Apotheke im Erdgeschoss kaufen sollen. Wir verlassen die Praxis, nachdem Clarisse noch irgendetwas mit der Frau am Eingang geklärt hat. Kurz darauf sitzen wir wieder im Auto. Plötzlich kommt mir die Idee mein Handy anzuschalten. 3 neue Nachrichten. Ich öffne sie nacheinander, und muss immer wieder feststellen, dass sie von Mira sind. Also lösche ich sie ohne sie zu lesen. ’Cole wird wahrscheinlich von der Schule verwiesen…’, unterbricht Clarisse die Stille. ’Hm… Ich frag mich, warum er mir die Schuld gibt. Ein Glück haben die in der Grundschule uns mal dazu gezwungen so eine Woche lang einen Selbstverteidigungskurs zu machen…’, murmele ich eher zu mir selbst, als zu Clarisse. Danach herrscht wieder Stille. Draußen ist es bereits dunkel, nur der sandfarbene Mond, die Straßenlaternen und die Autoscheinwerfer sorgen noch für ordentliches Licht, wenn man das hier so nennen kann. Durch die dichten Zweige eines Baumes kann ich eine kleine Amsel erkennen. Wir bleiben an einer Ampel stehen. Ein paar Menschen überqueren die Straße. Als wir weiterfahren, erhasche ich einen kleinen Blick auf den Hafen. Das Wasser funkelt im Mondscheinlicht, die Boote schaukeln leicht. Ich lehne mich in meinem Sitz zurück. Mein Auge fängt wieder an zu schmerzen. Aber ich ignoriere es einfach.
 
Am Eingang erwarten mich Jane, Dean und ein weiterer Junge schon, ich tippe auf Janes Freund. Ich steige aus, kippe dabei ein wenig zur Seite, weil mir schwindelig ist. Jane und Dean kommen auf mich zu, und umarmen mich. Dean flucht leise neben meinem Ohr, als er mich noch mal umarmt. Dann stellt Jane mir den Jungen vor. ’Jarven, das ist Joshi. Joshi, Jarven. Ich hab dir ja schon von ihr erzählt.’, erklärt sie mit einem ziemlich sympathischen Lächeln. Ich glaub sie ist ziemlich Stolz auf ihren Joshi. Sie zieht seinen Kopf heran und küsst ihn. Mein Verdacht wird damit bestätigt. Wir traben in unser Haus und setzen uns auf die Couch vor dem tollen Fenster. Abby, Hannah und Scar stoßen nach einer kleinen Weile dazu. Lichter blinken, Autos hupen, die Boote schaukeln. Immer noch. Es ist herrlich. Trotz dem Geräusch der Autos, finde ich es unglaublich beruhigend. Im ganzen Geschoss ist das Licht aus. Jane und Joshi halten Händchen, gucken sich verliebt in die Augen. Und schon wieder wandern meine Gedanken zu Noah. Ob er mir wohl schon geschrieben hat? Dean hat sich neben mir breitgemacht. In seiner Tasche vibriert sein Handy. Er holt es raus und nimmt das Gespräch an. Um uns nicht zu stören steht er auf. ’Rose?!’, sagt er freudig. Rose. Was ist das denn für ein Name? Wie eine Rose, im deutschen. Diese Aussprache. Angewidert verziehe ich das Gesicht. Ich mag sie nicht. Und warum ruft sie Dean um diese Uhrzeit an? Ich mag sie noch weniger. Warum hat sie seine Nummer und ich nicht? Ich fange an sie zu hassen. Abby fängt meinen Blick auf und fängt an zu kichern. Ich strecke ihr gespielt die Zunge raus.
Nach einer gefühlten Stunde (ungefähr zwanzig Minuten, nach meiner verdammten Uhr), kommt Dean wieder aus einem Nebenzimmer, und lässt sich neben Joshi fallen. ’Rose hat mit Craig Schluss gemacht. Sie hat sich bei mir ausgeheult.’, sagt er durch und durch zufrieden. ’Sag nicht ihr trefft euch? Grüß sie von mir!’, entfährt es Jane freudig. Meine Blicke durchbohren Jane und Dean, die mich gar nicht bemerken. Sie unterhalten sich nur weiter über diese Rose. Und ich werde mit jedem Wort eifersüchtiger. Mir wird etwas sehr wichtiges klar. Ich mag Dean. Und zwar sehr. Sonst hätte ich sicher nichts gegen diese Rose, die, wie sich herausstellt, seine Ex ist. ’Oh, schaut mal auf die Uhr! Wir sollten langsam Abendessen gehen!’, schlage ich ihnen vor, um nicht länger das Gerede/ Geschwärme über Rose mit an hören zu müssen. Die anderen Stimmen zu, und wir bewegen uns Richtung Mensa.
Ich kann heute zwischen Butternudeln, Reis mit Hühnchen oder Tofuwürstchen wählen. Ich entscheide mich für den Reis und das Hühnchenfilet, dazu ein Glas Leitungswasser, und setze mich an den gleichen Tisch wie immer. Kurz darauf kommen die anderen. Will lässt sich auf dem freien Platz neben mir fallen. Nicht schon wieder. Ich mag ihn nicht. Wie selbstverständlich legt er den Arm um mich und nimmt sich (mit den bloßen Händen!) ein Stück Hühnchen. Fragend blicke ich ihn an. ’Was denn, Süße?’, entgegnet er mir mit einem gönnerhaften Lachen. ’Will, lass es!’, zischt Dean ihm zu, die Augenbrauen zusammengezogen. ’Kein Grund, zu streiten Jungs, ich glaub ich gehe jetzt. Bye!’, rufe ich den anderen zu. Genervt verlasse ich das Gebäude. Kurz darauf bin ich in meinem Zimmer, höre Musik. Dann fällt mir wieder ein, wie Jane erwähnte, dass wir hier auch einen Computer haben. Ich stehe auf und suche, nicht lange, denn er steht im Bad. Was macht er denn bitteschön da? Egal. Schnell gehe ich zu der Seite mit meinen Mails. Eine Neue. Ich habe das Gefühl, dass mein Herz aufhört zu schlagen. Sie ist von Noah.
Hey Jarven,
ich habe schon daran gezweifelt, dass du mir schreibst! Du musst dich doch nicht dafür entschuldigen, dass du eingeschlafen bist. Ich fand es sogar recht schön, wie du da so an meiner Seite eingeschlafen bist (: Ich gehe hier zur normalen Schule, wohne aber in einem der Häuser in der Nähe von Mill House. Kannst ja mal auf Google Maps gucken wo das ist. Ich bin auch schon wieder da, und ja, ich würde mich ziemlich gerne mit dir treffen. Für dich habe ich immer Zeit. Vielleicht in die Stadt? Du kannst mir ja simsen, wann du Zeit hast. Ich freu mich schon (:
Noah ;-*


Ein Kuss- Smiley. Ich raste aus. Sofort hole ich mein Handy aus meinem Zimmer und schreibe ihm eine Nachricht. Sogar mit Zwei Küsschen. Ba-Boom! War dann wohl mein Herz. Keine fünf Minuten später vibriert mein Handy. Eine Sms von Noah. Gut. Das passt. Bis dann, Hübsche ;-*** (:


Hübsche?! Oh mein Gott! Er mag mich also wirklich. Ich melde mich von meinem Account ab, schlüpfe in meine Schuhe und renne aus dem Haus in Richtung Mensa. Bei dem schlechtem Licht renne ich fast in Will rein, der gerade aus der Mensa kommt. ’Wo willst du denn hin, Kleine?’, fragt er mich, wieder einmal mit diesem hässlichen Lächeln. ’Bitte Will, ich muss mal hier durch!’, murmele ich. ’Du bleibst hier, bei mir. Hab ich dir schon gesagt wie schön du heute Abend aussiehst?’, entgegnet er mir. Als ich einen Schritt an ihm vorbei mache, packt er mich mit festem Griff an den Armen. Dann kommt er langsam näher. Er beugt sich zu mir rüber. Seine Augen funkeln spöttisch, als er seine Lippen auf meine legt. Ich versuche ihn wegzudrücken, doch er ist zu stark. Gerade als er seine Hand auf meinen Hintern legen will, greift Dean ihn von hinten an. Joshi steht in wenigen Sekunden vor ihm, und schmettert ihm seine Faust ins Gesicht. Will heult auf. ’Lass deine dreckigen Finger von ihr Will! Sie liebt einen anderen!’, brüllt Dean ihn an. Ich meine ein Stückchen Schmerz in seiner Stimme mitschwingen zu hören. Hannah, Abby und Jane eilen auf mich zu. Sie ziehen mich aus der Prügelei heraus, an den Wegesrand. Erst jetzt merke ich wie mir eine Träne über die Wange rollt. Jane wischt sie mir fürsorglich weg. ’Nicht weinen. Es ist alles gut. Wir sind jetzt da. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Komm mit.’, flüstert mir Hannah beruhigend zu. Ich umarme alle drei, und frage mich wo Scarlett ist. Mir fällt wieder ein, wie verliebt sie Will angeguckt hat, neulich beim Abendessen. ’Wo ist Scar. Hat sie… hat sie es gesehen?’, frage ich schluchzend. Dieses Ungeheuer! Wie kann er nur! Die drei führen mich langsam zum Haus. ’Ich vermute, dass sie es gesehen hat. Mach dir keine Sorgen, sie wird es überstehen.  Du hast hier ja echt nur Probleme mit denen…’, erklärt Abby mit besorgter Stimme. Ich schüttele den Kopf. ’Überall ist es besser als in meinem alten Zuhause. Wirklich.’, murmele ich. Wir steigen die Treppe hinauf. Sie führen mich in mein Zimmer, immer noch bin ich total perplex. Ein mir quasi unbekannter Junge, hatte mich grad gegen meinen Willen geküsst. Und er wollte mich begrapschen. Außerdem hasse ich ihn. Allein schon von seiner Art. Ich lege mich auf mein Bett und kuschele mich unter die Decke. Meine Augen bleiben geöffnet. Ich kann einfach nicht einschlafen. Jane, im Bett gegenüber ist bereits eingeschlafen. Ich höre wie die Tür sich öffnet. Vorsichtig wende ich meinen Blick von der Wand ab. Scarlett steht verweint im Eingang. ’Scar…! Ist alles okay? Willst du reden?’, frage ich sie besorgt. Sie nickt und setzt sich neben mir aufs Bett. ’Er ist ein Arsch, oder? Das sind sie alle, nicht wahr? Wie konnte ich mich nur in ihn verlieben!’, flucht sie leise. Ich lege ihr meine Hand auf den Rücken. ’Ja, ein Riesenarsch. Und nein, nicht jeder ist ein Arsch, nur die, in die man sich verliebt.’, beruhige ich sie. Dabei muss ich an Noah denken. Nein, er ist kein Arsch. Er ist wunderbar. Ich umarme Scar. Nach einer kleinen Weile verlässt sie das Zimmer. Ich lasse mich in mein Kissen fallen. Dann schlafe ich ein. Endlich.
 


10.
Mein sechster Tag in England fängt ziemlich entspannt an. Gegen neun laufen wir zur Mensa, wo uns ein großes Buffet erwartet. Will und Cole lassen sich nirgendwo blicken. Erleichtert seufze ich auf, worauf mir Vanessa einen verächtlichen Blick zuwirft. Ich mustere sie kritisch von oben bis unten, worauf sie sich selbst anguckt und verzweifelt auf ihre Lippe beißt. Dann verschwindet sie aus dem Raum, und ich sehe durch ein Fenster, wie sie in Richtung Häuser läuft. Jane, die das Ganze beobachtet hat, muss laut Lachen. Ich stimme mit ein und erst als Dean uns darauf aufmerksam macht, dass bereits die ganze Mensa auf uns guckt, hören wir auf. Dean erzählt uns vom gestrigen Abend, wie er Will verprügelt hat. Als Dank dafür umarme ich ihn hastig, weil ich Angst habe, dass Hannah mein Brötchen wegisst. Er sieht mir in die Augen, ein Stückchen zu lange, wie er merkt, und wendet sich dann errötend wieder seinem Essen zu. Genau wie ich. Auf einmal lässt Abby ihre Gabel fallen. Viele Leute verstummen. Ich höre kräftige Schritte hinter mir. Mit jeder Sekunde werden sie lauter. Dann Stille. Jetzt ist da nur noch das Geräusch eines stark atmenden Mann zu hören. ’Du musst wohl Jarven sein. Das Mädchen das meiner Prinzessin von Sohn in die Eier getreten hat, was?’, sagt die Stimme. Vereinzelt vernehme ich ein unterdrücktes Kichern. Als ich mich umdrehe, sehe ich in das strenge Gesicht eines glatzköpfigen Mannes. Er schaut mich finster an. ’Ja, die bin ich. Was wollen Sie hier? Wenn Sie Ihren Sohn suchen, der sitzt grad, wahrscheinlich, heulend in der Ecke seines Zimmers. ’, erwidere ich mutiger, als ich mich eigentlich fühle. Der Blick des Mannes verdüstert sich noch mehr. ’Hüte deine Zunge Kind! Ich wollte dich nur warnen. Du wirst es bereuen.’, zischt er mir zu, damit nicht jeder es hören kann. Meine Augenbrauen schießen in die Höhe. ’Na gut. Ich freu mich schon drauf. Und jetzt, machen Sie, dass Sie von hier verschwinden, bevor Sie es  bereuen. ’. Er durchbohrt sich mit seinem Blick, aber ich kann das besser. Als es ihm zuviel wird, macht er auf dem Absatz kehrt und verschwindet wieder. Das leise Gemurmel der anderen Tische wird immer lauter. Wir fangen an zu lachen. ’Dem hast du’s aber gezeigt! Genial!’, grinst Abby und Dean klopft mir anerkennend auf die Schulter.
 


11.
’Morgen beginnt die Schule wieder…’, meckert Jane, als wir wieder im Zimmer sind. ’Oh Mist! Das hab ich ja völlig vergessen. Ich muss mir noch den Stundenplan angucken! Und die Schuluniform anprobieren. Und, und, und… Mist!’, fluche ich. Jane lacht leise. ’Ich kann dir helfen, wenn du willst.’, bietet sie mir an. Ich nicke, bereits bei dem kleinen Kleiderschrank, indem ich die Sachen aufbewahre. ’Aber weißt du was? Ich bin jetzt schon sechs Tage hier. Ich räum jetzt erstmal meine Sachen ein.’, murmele ich leise und ziehe mir meinen Koffer heran. Zuerst nehme ich  mir die Taschen von meinem letzten Kaufrausch in London, und sortiere die Sachen in den Schrank. Jane hilft mir, indem sie mir die Sachen aus den Taschen räumt. Sie erzählt mir inzwischen von unseren Lehrern. ’Das Teil ist ja geil!’, unterbricht sie sich selbst und hält ein Top, mit Aufdruck von Kermit dem Frosch vor sich. Sie fängt an zu lachen. ’Ey! Das hab ich mal von irgendeiner alten Schrulle aus der Praxis meiner Mutter gekriegt!’, sage ich künstlich eingeschnappt. Wir machen weiter. Nach einer halben Stunde haben wir endlich alle Sachen aus dem Koffer geräumt. Ich finde, jetzt sieht alles noch schöner aus. Jane stimmt mir zu. ’Gut. Machen wir weiter mit…äh…ach genau, Uniform anprobieren.’, schlage ich vor, und Jane zaubert sie aus dem Schrank hervor. Ich verschwinde kurz ins Bad, ziehe mich um, und komme in der grauen Kluft zurück in mein Zimmer, wo Jane bereits gespannt wartet. Anerkennend nickt sie mir zu. ’Steht dir echt gut. Aber warte mal. Ich hab vorhin was gesehen, was echt gut dazu passen würde. Hm… ach hier ist es ja!’, sagt sie und hält mir eine Kette vor die Nase, die mir Jason mal geschenkt hat. Sie legt sie mir sachte in die Hand. Das braune Band liegt schwer in meiner zur Faust geballten Hand, so dass die Feder unten leicht rumbaumelt. Aber Jane hat Recht: die Kette passt gut zum Outfit. Also lege ich sie mir um. Im Spiegel schaue ich mir ausdruckslos entgegen. Damals haben Jason und ich das erste Mal Händchen gehalten. Ich weiß noch genau, wie er mir in die Augen geguckt hat, mit diesem kleinbübischen Grinsen. Das war der Tag, an dem ich mich voll und ganz in ihn verliebte. Ich falle zurück in die Erinnerung, und sehe wie Mira auf uns zukommt, und sich zwischen uns setzt. Sie fängt davon an zu labern, wie Jason und sie am vorigen Tag Eis gegessen haben. Doch wir beide ignorieren sie einfach, schauen uns weiter in die Augen. Damals dachte ich wirklich, wir würden zusammenkommen.

’Erzähl mir von ihm. Ich meine diesen Jason.’, fordert mich Jane mitfühlend auf. Ich schaue von der Kette auf, und blicke durch den Spiegel auf Jane. Sie guckt mich mitleidig an. Sieht man mir an, was ich mit ihm durchgemacht habe?  Sie lächelt mir aufmunternd zu, doch ich merke, dass sie weiß, dass sie einen wunden Punkt getroffen hat. Ich lasse mich rückwärts auf mein Bett fallen. Dann seufze ich lang, und richte mich auf meinem Bett auf. Am Anfang zittert meine Stimme, aber mit der Zeit legt es sich. ’Mit fünf Jahren habe ich Jason das erste Mal gesehen. Er ist gerade neu in die Gegend gezogen, und seine Mutter hat uns einen Kuchen gebracht. Während unsere Eltern sich unterhalten haben, zeige ich ihm meine Lego-Sammlung. Ziemlich stolz sogar. Wir fangen an zu spielen. Als seine Eltern gehen wollen, will er nicht gehen. So ging dass dann zwei Jahre, bis in die zweite Klasse. Wir waren einfach unzertrennlich. Doch dann kam Mira in die Klasse. Wir drei befreunden uns, alles scheint perfekt. In der vierten Klasse passiert es dann: Ich merke dass ich in Jason verliebt bin.’, erzähle ich. Jane guckt mich interessiert an, mit Tränen in den Augen erzähle ich weiter. ’Die große Entscheidung folgt: Auf welcher Schule soll es weitergehen? Jason und ich werden von unseren Eltern getrennt, wir sehen uns aber trotzdem jeden Tag, nach der Schule. All die Jahre sage ich ihm nichts von meiner heimlichen Liebe zu ihm. In der Zwischenzeit hat er eine Freundin nach der anderen. Da er und Mira in eine Klasse gehen, haben sie mehr Kontakt zueinander. Ich werde eifersüchtig. Trotzdem treffen wir drei uns regelmäßig. Als wir in die achte kommen, muss ich die Schule wechseln. Ich entscheide mich für Jasons. Alles scheint perfekt, bis die Gerüchte aufkommen, dass Mira und Jason heimlich zusammen sind. Mira allerdings, steht auf einen Typen auf der Oberstufe. Aber die Gerüchte bewahrheiten sich. Die beiden gehen miteinander. Mira wusste die ganze Zeit, dass ich Jason liebe. Doch ihr war das alles Scheiß egal. Meine Noten sacken ab, ich verliere Freunde. Und Jason.’ Ich kann nicht mehr. Einzelne Tränen rinnen mir übers Gesicht. Jane kommt auf mich zu, und zurrt eine Packung Taschentücher aus ihrer Tasche. Ich nehme eins und wische mir die Tränen vom Gesicht. Sie setzt sich im Schneidersitz neben mich, und umarmt mich lange. Irgendwann stehen wir auf. Ich ziehe mich wieder um, und schminke mich neu. ’Jane?’, rufe ich ihr aus dem Bad zu. ’Ja?’ Sie steht im Türrahmen und guckt mich fragend an. ’Ich hab euch ja von Noah erzählt. Ich treffe ihn morgen Nachmittag, und ich wollte dich fragen, wo man hier gut was Essen gehen kann?’, murmele ich schüchtern. Sie soll nicht denken ich sei eine Schlampe. Grad eben erzähle ich ihr noch von Jason, und jetzt bin ich schon wieder bei Noah. Aber sie lächelt mir zu. ’Ich kenne eine richtig gute Pizzeria. Ich kann dir ja gleich den Weg beschreiben. Oh, apropos, es ist Abendessens Zeit!’, entgegnet sie mir, mit ihrer melodischen Stimme. Wir ziehen unsere Schuhe an und gehen in Richtung Mensa. Diesmal läuft uns (zum Glück) niemand über den Weg. Die Mensa ist heute voller als an den letzten Tagen. Morgen fängt die Schule ja auch wieder an, logisch. Also müssen wir auch länger als sonst an der Schlange stehen. Dann fällt mir das Tablett aus der Hand. Da steht er. Jason. Inmitten der Leute guckt er mich an. Er macht eine viertel Drehung. Jetzt ist er nicht mehr Jason. Nein, die Haare sind viel länger als seine. Ich muss mich getäuscht haben. Vorsichtig hebe ich meine Sachen wieder vom Boden auf. Einige blicken mich verstohlen an, aber ich versuche sie zu ignorieren. ’Was ist los?’, flüstert Jane hinter mir zu. ’Ich dachte ich hätte Jason gesehen. Ich weiß nicht.’, murmele ich zurück. Ich nehme mir einen tiefen Teller mit Suppe und bewege mich auf unseren Platz zu. Die anderen sind auch schon da. Ein Blick sticht in meinen Nacken, ich drehe mich um, und sehe ein Mädchen auf uns zukommen. Argwöhnisch beobachtet sie mich, und setzt sich dann selbstgefällig neben Dean. Sie stupst ihn in seine Seite und er lächelt. Rose. Widerwillig setze ich mich, mustere Rose währenddessen, die hat aber nur Augen für Dean. Und dieser ebenfalls nur für sie. Mir wird übel. Schnell esse ich meine Suppe auf und sage den anderen, dass ich noch was für morgen vorbereiten müsse. Alle außer Rose, winken mir und ich stampfe aus dem Raum. Allein schon Roses Anwesenheit bringt mich zum Überkochen. Im Zimmer angekommen ziehe ich mir meine Sportschuhe und eine Sweatshirtjacke an. Dann schreibe ich den anderen eine kurze Nachricht. Ich verlasse das Haus wieder und jogge in Richtung Straße. Hier könnte mich niemand einfach so überfallen, bei all den Autos. Ich renne mir die Seele aus dem Leib, und bald kann ich Rose und Dean vergessen. Genauso wie alle anderen. Meine Gedanken konzentrieren sich nur noch aufs Laufen. Nach einer halben Stunde stehe ich auf einem Hügel am anderen Ende der Stadt. Von hieraus kann ich sogar das erleuchtete Haupthaus sehen. Und ein paar Schüler, die den Weg zu den Häusern hoch laufen. Sie verschwinden in einem der Häuser. Meinem. Ich überprüfe die Uhrzeit. Sieben Uhr abends. Kopfschüttelnd lasse ich mich auf das nasse Gras fallen. Meine Arme liegen jetzt ausgestreckt neben mir, ich beobachte den klaren Himmel. Der Mond leuchtet, wie auch in den letzten Tagen, hell. Er spiegelt sich im Wasser, wo die Boote diesen Abend still stehen. All die Einflüsse dieser Stadt strömen in mich ein, und ich genieße sie. In Deutschland hatte ich dieses Gefühl nur selten. Mein Atem wird sichtbar, und langsam richte ich mich auf. Abermals gucke ich auf die Uhr, und stelle fest, dass es bereits Acht Uhr ist. Schnell bin ich wieder auf den Füßen und fange an zu laufen. Diesmal etwas entspannter. Ich bin nicht mehr so wütend wie vorher, aber immer noch ein bisschen. Diese dumme Rose. Ich könnte sie zerfleischen. Aber eigentlich bin ich mehr sauer auf mich. Warum bringt mich so ein dummes Mädchen aus dem Konzept? Sie erinnert mich an Mira. Das ist es. Und dann fall ich voll auf den Asphalt. Fluchend versuche ich aufzustehen, doch das funktioniert erst als ich mich am Boden abstütze. Meine Hände und Knie haben Abdrücke von kleinen Kiessteinchen, doch mit ein paar Bewegungen sind alle weg. Ich schaue an mir runter. Alles in Ordnung. Vorsichtig setze ich mich wieder in Bewegung.
 


12.
Nach kurzer Zeit erscheint das Schulgebäude vor mir. Doch diesmal versperrt mir ein Gitter den Durchgang. ’Na super!’, murmele ich mir leise zu. Ein Blick auf die Uhr verrät mir dass es bereits halb Zehn ist. Ich hole mein Handy heraus, und wähle Janes Nummer. Niemand nimmt an. Hannahs. Abbys. Scarletts. Niemand geht ran. Als letztes versuche ich es mit Deans Nummer. Dreimal piept es, dann hebt er ab. ’Hallo?’, sagt er mit müder  Stimme. ’Dean? Ich bin’s. Jarven. Sorry, aber ich bin noch mal gejoggt und naja… ich steh hier jetzt vorm Zaun. Weißt du wie ich hier rein kann?’, frage ich ihn nervös. Nach einer kleinen Pause antwortet er mir. ’Okay, warte kurz. Ich bin gleich bei dir.’, antwortet er.  Mit einem genervten Unterton. Fünf Minuten später läuft ein nur in Unterhemd und Jogginghose bekleideter Dean auf mich zu. Ich lächle ihm sachte zu, doch mein Lächeln wir nicht erwidert. ’Also, hör zu: Ich komm zu dir rüber, dann gehen wir ein Stück auf das Gelände drauf, und da gibt’s einen flacheren Teil des Zauns. Ich helfe dir drüber. Ich schaff es alleine. ’Kay?’, erklärt er mir als wär ich ein Kleinkind. Mit einem Satz hängt er an dem Zaun und hievt sich auf meine Seite. Federleicht kommt er auf dem Boden ab. In diesem Moment bin ich stolz darauf mit ihm befreundet zu sein. Ich umarme ihn, doch es gibt keine Erwiderung. Schnell lasse ich ihn wieder los. Dann führt er uns zur genannten Stelle und hilft mir über den Zaun. Ich spüre wie seine Muskeln sich anspannen, und ich gucke ihn an. Eine Sekunde zu lange. ’Was guckst du so?’, fragt er mich ein wenig patzig. Ich antworte ihm nicht. Dann steht auch er wieder auf dem Schulgelände. Er deutet auf einen kleinen Weg hinter ein paar Bäumen. Ich gehe voraus. Doch nachdem ich ein paar Schritte gehe, drehe ich mich abrupt um. ’Dean, was ist heute los. Du hast mir nicht einmal in die Augen geguckt. Meine Umarmung grade eben, warum hast du sie nicht erwidert?’, frage ich ihn leise, schüchtern. Er guckt dem Mond entgegen. Dann rennt er an mir vorbei. Ich versuche ihn einzuholen, doch er ist zu schnell für mich. Alleine bleibe ich stehen. Sachte setze ich mich auf den Boden, und fange langsam an zu weinen. Dean ist jede einzelne Träne wert. Ich bin mir sicher.
Leise schleiche ich mich in unsere Etage. Mit meinen Schlafsachen verschwinde ich im Bad, wo ich mich ausgiebig dusche. Natürlich leise. Als mir das Wasser zu warm wird, mache ich es kälter. Ein Schauer jagt mir über den Rücken. Ich sehe wieder Rose vor mir, wie sich mich mustert. Dann drehe ich das Wasser ab und steige aus der Dusche. Ich ziehe mich an und mache mich fertig fürs Schlafen. Meine Augen sind von dunklen Kreisen umrandet. Erledigt schalte ich das Licht aus und verlasse den Raum. Jane schläft schon friedlich. So leise wie möglich schließe lege ich mich in mein Bett. Unter der warmen Decke geht es mir gleich viel besser. Dean. Warum ist er weggerannt? Bevor ich mir mehr Gedanken über sein Verhalten machen kann, schlafe ich ein.  
 


13.
Das erste was ich am nächsten Morgen im Spiegel sehe, sind meine riesigen Augenringe. Schnell trage ich Concealer auf, und tatsächlich: man sieht kaum noch was! Jane kommt ins Bad und stellt sich neben mich. Durch den Spiegel, schenke ich ihr mein bestes Guten-Morgen-Lächeln,  und sie muss lachen. Wir machen uns fertig und nacheinander verlassen wir das Bad. Gerade kommt uns Hannah mit ihren morgendlichen verfilzten Haaren entgegen. Wir drei müssen lachen. Jane und ich gehen weiter in unser Zimmer, wo wir uns die Schuluniform anziehen. Dann packe ich ein paar Schulsachen in meine Londontasche. Schließlich greife ich zur Kette auf meinem Schreibtisch und lege sie mir sachte um den Hals. Jason. ’Kommst du frühstücken? Zum Schuljahresanfang machen sie immer was richtig Gutes!’, zwinkert mir Jane zu. Wir warten noch auf Hannah, von der wir erfahren, dass die anderen schon vor sind. Als wir das Erdgeschoss erreichen, begegnen wir zwei Mädchen, die sich um ein paar Schuhe streiten. Zwillinge. Sie rufen uns einen ‚Guten Morgen’ zu, wir erwidern. ’Emy und Anne.’, erwähnt Hannah, als wir das Haus verlassen. Genau wie etliche andere Schüler bewegen wir uns auf die Mensa zu. Auch durch das Eingangstor kommen ein paar Leute auf das Grundstück. Jane und Hannah winken ein paar Leuten zu. Ich nicht. In dem Getümmel entdecke ich Dean, der mich gerade anguckt. Schnell weicht er meinem Blick aus und verschwindet wieder unter den Schülern.

Kurz darauf erreichen wir die Mensa, in der schon viele Leute sitzen. Wir greifen uns etwas zu essen und setzen uns an unseren üblichen Tisch. Abby und Scar sind bereits am Essen. ’Wo ist Dean?’, frage ich in die Runde, doch es gibt nur Schulterzucken als Antwort. Was ist bloß mit ihm los? Rose takelt auf ihren 8cm High Heels auf unseren Tisch zu, und die anderen begrüßen sie freundlich. Doch ich bringe kein Wort mehr raus, nachdem sie an unseren Tisch getreten ist. ’Warum sagt die da eigentlich nie was?’, fragt Rose schließlich. Mein Blick durchbohrt sie, ich merke wie sie ihren Fuß unter dem Tisch ein bisschen zurückzieht. ’Entschuldigung, ich habe bloß Angst das ich den ekligen Geruch deines Parfums dann auch noch auf der Zunge schmecken würde.’, antworte ich ihr patzig. Die anderen gucken mich fassungslos an. Rose lacht nur herzlich. In ihren Augen erkennt man allerdings, wie sehr sie mich hasst. Ich hoffe das gleiche kann sie bei mir auch entdecken. Mit beiden Händen nimmt sie das Tablett und steht auf. ’Ich muss los. Dean und ich…hatten noch was vor. Bis dann.’, sagt sie kalt, während ihre Augen mich fixieren. Dann rauscht sie ab, durch die anderen Schüler, die warten, endlich frühstücken zu können. ’Jarven, kann es sein, dass du Rose nicht magst?’, fragt Abby unschuldig. Ich nicke. ’Aber ihr kennt euch noch gar nicht richtig. Ich bin mir sicher, dass wird noch was.’, prophezeit Hannah, auch wenn ich mir da nicht so sicher bin. Ich esse das letzte Stück von meinen Brötchen und wir erheben uns gleichzeitig.
’On y va!’, leitet uns Abby an. Französin. Ganz klar.
 


14.
Nur ein paar Leute sind bereits im Klassenraum. Sie begrüßen uns, die anderen stellen mich vor, und wir setzen uns nebeneinander in die mittlere Reihe. Ich hole meine Sachen hervor. ’Wer von den Leuten die ich kenne, gehen in die Klasse?’, frage ich Scarlett, die neben mir sitzt und irgendwas in ihren Planer einträgt. ’Dean, Vanessa, Cassandra, Angela, Lissy und Aaron. Die anderen sind alle erst gestern gekommen.’, erklärt sie mir. Passend dazu steht sie auf und geht ein Mädchen zu, das soeben den Klassenraum betreten hat, und umarmt sie.

Meine Augen schweifen umher, und ich fange die Blicke einiger Mitschüler ein. Allerdings keine besonders freundlichen. Die Zeit bis zum Unterricht vergeht quälend langsam. Schließlich betritt eine hagere, braunhaarige Frau den Raum, und sofort wird es mucksmäuschenstill. ’Meine lieben Schüler! Ein tolles neues Schuljahr wünsche ich euch! Setzen wir uns an die Arbeit es gibt viel zu tun. Aber wartet! Wir haben anscheinend eine neue Mitschülerin gekriegt! Jarven’, sie spricht es eher Jarvän aus, als Jarven, ’könntest du dich bitte kurz vorstellen? Also ich bin Mrs. Vaché. Deine neue Mathe und Physiklehrerin.’, erklärt sie in einem freundlichen Ton. ’Ja…also ich bin halt Jarven.’, ich betone meinen Namen richtig, im Gegensatz zu manch anderen, ’und gehe ab heute in eure Klasse.’, erzähle ich knapp und lasse mich dann zurück in meinen Stuhl sinken. Und schon wieder haften mir alle Blicke an. Ich wende mein Gesicht auf meinen Tisch, damit ich sie nicht sehen muss. Aber da fällt mir was ein. Schnell hebe ich mein Gesicht und suche die Klasse nach Dean ab. Da ist er. Still sitzt er in einer Ecke und spielt mit seinem Taschenrechen. So habe ich ihn noch nie erlebt. So still, zurückgezogen, so un-Dean halt. Er schaut von dem Gerät auf, direkt in meine Augen. Einen Moment lang guckt er mich traurig, ja schuldbewusst an. Dann senkt er den Kopf wieder. Ich beschließe ihn nach dem Unterricht abzufangen. ’Also Jarven’, sie spricht es schon wieder falsch aus, ’ könntest du bitte zusammenfassen was ich gerade gesagt habe?’, bittet mich Mrs. Vaché. Ich bemühe mich, aber ich bekomme nur noch ein paar Satzfetzen hin. Mrs. Vaché schreibt eine Notiz in ein kleines Heftlein, und schaut dann wieder hoch. ’Dean, weißt du noch was ich gerade gesagt habe, oder möchtest du mir selbst sagen dass du mit deinem Taschenrechner rumspielst?’, fragt sie ihn, plötzlich mit härterer Stimme. Sieht aus als würde sie ihn nicht besonders mögen.

Eine halbe Ewigkeit später dürfen wir endlich den Raum verlassen. Ich sage den anderen, dass ich auf Toilette müsste, hänge mich aber, ohne dass sie es sehen, an Dean dran. ’Dean?’, frage ich ihn schüchtern. Er dreht sich um. Ausdruckslos starrt er mich an. ’Ja bitte?’, antwortet er. So ganz ohne Emotionen. ’Warum bist du gestern abgehauen?’. Seine Augen vermeiden Blickkontakt mit meinen, und schweifen ausweichend durch die Gegend. Dann packt er mich am Arm und zerrt mich in eine Ecke des Flurs, wo uns niemand sehen kann. ’Jarven, es ist… ach Scheiß Dreck!’, beendet er seinen Satz. Dann passiert alles in Slow Motion: Seine Hand greift sachte unter mein Kinn, und er beugt sich zu mir runter. Bevor seine Lippen meine berühren, guckt er mir in die Augen. Ich komme ihm ein wenig entgegen, und dann existieren nur noch wir beide. Seine Lippen auf meinen. Für den Moment scheint alles perfekt. Aber auf einmal- Boom, Crash! Es klingelt. Wir lösen uns voneinander, und erst jetzt wird mir bewusst, was ich grad getan habe. Ich renne den Gang entlang zum nächsten Fach, weg von Dean. Und schon wieder ist da Noah vor mir. Dean ruft noch meinen Namen hinter mir her. Aber ich ignoriere ihn. Mit meinem Arm wische ich mir über die Lippen. Für den Rest des Unterrichts ignoriere ich Dean.

Zum Mittagessen gibt es diesmal einen leckeren Auflauf. Wir unterhalten uns über unseren Schultag, neue Lehrer, etc. Ich spüre Deans Blick in meinem Rücken. Er setzt sich mir gegenüber und lächelt mich an. Ich hebe einen Mundwinkel, und schiebe mir dann eine Gabel voll mit heißen Kartoffeln in den Mund, sodass ich mich verbrenne. ’Jarven trifft sich heut endlich mit diesem Noah! Erzähl uns alles, okay? Ich freu mich so für euch!’, unterbricht Jane das Gespräch. Dean guckt von seinem Essen auf, seine Augen werden größer, bösartiger. Die Mädels kichern und Rose zieht ihre Augenbrauen in die Höhe. Mein Essen landet wieder auf dem Teller. Und dass alles innerhalb von 2 Sekunden. Dean steht ruckartig auf und lässt sein Tablett stehen. Er verlässt den Raum. ’Was ist denn mit dem los?’, fragt Abby in die Runde. Nur Schulterzucken. Schuldbewusst kaue ich mir auf der Lippe rum. ’Ich glaub ich geh mal hinterher.’, sage ich ihnen, während ich bereits aufstehe. Dann eile ich aus der Mensa, und sehe wie Dean zwischen ein paar Bäumen verschwindet. So schnell es geht laufe ich ihm hinterher. Ich entdecke ihn, wie er auf der Erde sitzt, mit dem Rücken am Baum. ’Dean. Können…können wir reden?’, frage ich ihn sanft. Er schlägt seine Augen auf. ’Ich glaub es wurde schon alles gesagt, oder? Grüß diesen Noah von mir. Warn ihn wohl besser.’, sagt er immer lauter werdend. Ich setze mich neben ihn auf den Boden. Gerade als ich nach seiner Hand greifen will, zieht er sie weg. ’Nein! Geh einfach, verstanden?’, brüllt er mich an. Bevor er ausrastet, beuge ich mich zu ihm hin, und küsse ihn noch einmal. ’Dean. Bitte. Du musst das verstehen. Ich…’, will ich ihm gerade erklären, als er aufsteht. ’Nein. Hörst du? Ich will nichts mehr von dir wissen. Von mir aus, komm mit diesem Noah zusammen, aber wenn du noch einmal zu mir rennst…’, seine  Stimme zittert, bei den letzten Wörtern. Und dann ist er weg. Meine Rufe erreichen ihn nicht. Deprimiert bleibe ich stehen. Ganz alleine im Wald. Schon wieder. Mist.
 


15.
Gegen fünf Uhr holt Noah mich ab. Auf einem Motorrad. Ein Glück, habe ich mich für eine einfache Hose und ein Krümelmonster Hoodie entschieden. Er lächelt mir zu, und ich habe das Gefühl, mein Herz würde gleich implodieren. Mit seinem Daumen zeigt er auf einem Helm, am Lenker. Ich nehme ihn mir und setze ihn auf. Meine Hände krallen sich in seine Seite, weil ich Angst habe runterzufallen. Doch nach einer Weile, gewöhne ich mich daran. Mein Druck lässt ein wenig nach, und schmiege mich so an ihn, dass er es nicht bemerkt. Wir fahren auf seiner KTM aus der Stadt. Kurz darauf kommen wir auf einem Parkplatz an. Noah gibt mir ein Zeichen, dass ich absteigen soll. Ein wenig umständlich tue ich dass dann auch, wobei er nur Lachen kann. Ich strecke ihm theatralisch die Zunge raus. Noch ist die Sonne nicht ganz untergegangen. Er streckt sich um den Schlüssel aus dem Zündschloss zu ziehen, dabei liegt ein Teil seines flachen Bauchs frei.  Ein kleines Tattoo an seiner Seite wird sichtbar. Als er meinen Blick entdeckt, zieht er sich schnell das T-Shirt runter. Verlegen lächelt er, und fährt sich mit der Hand durch die Haare. Dann guckt er in Richtung Himmel und muss grinsen. Sein Blick wendet sich wieder mir zu. ’Wellen. Ist neu. Ich surfe für mein Leben gern, jeden Urlaub. Deshalb die Welle.’, erklärt er mir geduldig. ’Es gefällt mir. Als ich klein war, sind wir einmal an einen Strand gefahren. Meine Eltern haben mir allerdings nicht erlaubt zu schwimmen.’, erzähle ich ihm. Meine Augen schauen aufs Meer hinaus und ich bekomme Gänsehaut. ’Komm. Ich möchte dir was zeigen.’, sagt er mir und greift nach meiner Hand. Und schon wieder stellen sich mir die Härchen auf. Ich lächle ihn an, und er drückt meine Hand ein wenig. Auch ich drücke ein wenig auf seine Hand, und hole ihn dann auf. Wir schauen uns an, er ungefähr 10cm über mir. Meine Hand verschränkt sich langsam mit seiner. Dann kommen wir zu einem kleinen Restaurant an. ’Wo sind wir hier?’, frage ich ihn. ’St. Ives. Wir haben hier ein Boot, und ich komm öfters mal rüber. Wo willst du sitzen?’, entgegnet er mir. Ich deute auf einen Tisch auf der Veranda. Wir setzen uns und eine Bedienung erscheint nach zwei Minuten. Sie reicht uns die Karten, und wirft dabei einen Blick zuviel auf Noah. Mein Blick durchbohrt sie, und sie guckt mich eifersüchtig an. Ich könnte schwören, dass ich ein leises Murren höre, als sie geht. Noah lächelt mir zu. ’Weißt du schon was du trinken willst?’, fragt er mich geduldig. Ich nicke. ’Ginger Ale. Ich liebe das Zeugs.’, antworte ich ihm, und streiche mir eine Strähne hinters Ohr. ’Und zu essen? Ich kann dir die Pommes empfehlen. Ich liebe die, die so gezackt sind. Weißt schon welche, oder?’, erzählt er mir, während er mit dem Salzstreuer spielt. Mein Blick wandert aufs Meer hinaus. Meine Haare tanzen im Wind und ich fange an zu frösteln. ’Ja. Ich mag die auch voll. Ich glaub ich nehme die. Also wenn ich darf.’, sage ich, während ich meine Ärmel runterziehe. ’Machst du Witze? Natürlich ist das in Ordnung!’, lacht er. Dann nimmt er zärtlich meine Hand. ’Alles was du willst, meine Süße.’, flüstert er mir zu. Ich werde rot, dass merke ich. Aber es ist kein Problem. ’Dankeschön.’, murmele ich, und verliere meinen Blick in seinen Augen. Die Bedienung kommt wieder. Murrend nimmt sie unsere Bestellung auf, zwei Mal Pommes rot-weiß. Und die Getränke. Mein Ginger-Ale und Noahs Cola. Dann rauscht sie wieder ab. Auf einmal muss ich an Dean denken. Sein Blick, als Jane von dem Date erzählt hat. Als ich ihm in den Wald nachgelaufen bin. Als wir uns geküsst haben. Und natürlich die Schwäche für You Me At Six, die wir uns teilen. ’Ich geh kurz auf Toilette.’, sage ich ihm, und verschwinde dann schnell im Gebäude, folge einfach einem Schild. Dean. Da ist er wieder. Warum? Ich bin grad mit Noah weg, und da muss ich an Dean denken. Streich in einfach aus deinen Gedanken!, befiehlt mir eine innere Stimme. Das Gefühl wieder einem Zusammenbruch nahe zu sein überkommt mich, und ich stütze mich auf.

Nachdem ich mich ein wenig beruhigt habe, beschließe ich wieder zu Noah zu gehen. Meine Finger spielen mit meinen Haaren, als ich wieder auf die Veranda trete. Noah starrt auf sein Handy, aber als er hört wie ich mich ihm gegenüber setzte, blickt er auf und steckt das Handy in seine Hosentasche. Er guckt aufs Meer, und diesmal wird auch sein Haar vom Wind verwirbelt. Wir müssen lachen, und ich kassiere einen bösen Blick der Bedienung, die gerade mit unseren Sachen herbeieilt. Ordentlich deckt sie auf, und wir fangen an. ’Guten Appetit!’, wünsche ich ihm. Er mir ebenfalls. Köstlich. Meine Geschmacksnerventeile reagieren sofort, und ich stopfe mir ein paar weitere Pommes in den Mund. Noah tut es mir gleich. Nur dass er sich dabei nicht so mit Ketchup besudelt wie ich. ’Shit!’, fluche ich, und versuche, ganz vorsichtig, das Ketchup vom Pulli zu nehmen. Trotzdem hinterbleibt ein roter Fleck. Genervt lasse ich meinen Kopf nach hinten fallen. ’Wie ist es so auf deiner neuen Schule?’, fragt er mich, und mein Kopf begibt sich wieder in die normale Position. ’Es ist nett da. Ich bin halt noch nicht allzu lange hier, heute war mein erster Schultag, aber alles scheint nett. Wirklich. Ich hab sogar schon neue Freunde gefunden.’, erzähle ich ihm, lasse dabei natürlich die Geschichten mit Will, Cole und Dean aus. Dean. Wie gerne würde ich jetzt zu ihm gehen und mich entschuldigen, meine Arme um ihn legen und ihn küssen. Mein Blick trifft Noahs und ich versuche den Gedanken aus meinem Kopf zu verdrängen. Noah schnappt sich eine meiner Pommes und isst sie. ’Ey!’, lache ich und nehme mir ebenfalls eine von seinen. Doch er hält meine Hand fest, zwar sachte, aber trotzdem kann ich mich nicht befreien. Er zieht mich ein bisschen zu sich rüber. Dann küsst er mich. Auf den Mund, versteht sich. Ich kapiere erst gar nicht was passiert. Die Art wie er seinen Mund auf meinen presst, fasziniert mich. Also versuche ich es zurück. Ich merke wie er lächelt. Aus einem normalen Kuss wird schnell ein Zungenkuss. Wir hören ein leises Räuspern neben uns, und erschrocken weichen wir voneinander ab. Die verdammte Bedienung steht an unserem Tisch und funkelt mich an. Aber mein Blick klebt an  Noah, der seine Augen nicht von mir nehmen kann. Seine und meine Hand halten sich immer noch fest. ’Kann ich noch was bringen? Zutrinken vielleicht? Oder ein Pfefferminz?’, fragt sie uns verächtlich. Wir schütteln gleichzeitig den Kopf. Sie verdreht die Augen und geht weg. Ich seufze. Dann essen wir stumm unsere Pommes zu Ende. Inzwischen ist die Sonne ganz untergegangen. Nachdem Noah bezahlt, stehen wir auf und laufen wieder zum Parkplatz. Noah berührt sachte meinen Arm. ’Möchtest du noch mit zu mir nach Hause?’, fragt er mit einem neckischen Unterton. ’Nein, danke. Ausgangssperre ist ab zehn Uhr. Ich kann Dean ja nicht noch mal bitten mir rüber zu helfen.’ Ich bereue den Satz schnell. ’Wer ist Dean?’, erkundigt sich Noah. ’Nur ein Freund. Darf ich dich noch mal küssen, das war schön.’, frage ich ihn schnell, um ihn Dean vergessen zu lassen. ’Da fragst du noch?’, antwortet er mir. Ich trete auf ihn zu, und schon berühren sich unsere Lippen schon wieder. Diesmal prickelt es. Ich lege meine Arme um seinen Hals, und stelle mich auf die Zehenspitzen. Wir stehen ungefähr zwei Minuten so da, bis ein Auto hupt, das vom Parkplatz runter will. Schnell machen wir den Weg frei, und das Auto verlässt den Parkplatz. Noah wirft mir einen Helm zu, den ich mir rasch aufziehe. Er ebenfalls. Dann steigt er aufs Motorrad und winkt mich ran. Mit etwas Mühe schaffe auch ich es und wir fahren los, verlassen den Parkplatz, rasen durchs  grüne Cornwall. Äste streifen mich, doch sie machen mir nichts aus. Solange ich mich hier an Noah klammere, ist alles gut. Bald kommen wir an der Schule an, das Tor ist noch auf. Ich hieve mich von der KTM und streife den Helm ab. Noah steigt ebenfalls ab, galanter als ich. ’Bis dann.’, wispert er mir zu und küsst mich. Atemberaubend. Dann wende ich mich ab und laufe zum Tor. Ein letztes Mal drehe ich mich um, und winke ihm. Ich merke, dass ich zittere, aber dass macht mir nichts. Noahs Schuld. Hinter mir höre ich noch den aufheulenden Motor, dann ist es still. Mitten auf dem Weg bleibe ich stehen und gucke hinauf zu den Sternen. Wundervoll. Auf einmal höre ich Schritte, und perplex gucke ich mich um. Aber niemand ist zu sehen. Also setze ich meinen Weg fort, in Richtung Haus.

Kurz darauf stehe ich im Bad, schminke mich ab. Es klopft an der Tür. ’Herein!’, rufe ich und Jane erscheint im Türrahmen. ’Wie war es? Erzähl mir alles!’, flötet sie. Ich muss lachen, erzähle ihr dann aber von meinem wundervollen Abend. ’In dem Restaurant waren Joshi und ich auch schon mal. Es ist toll da.’, erzählt mir Jane, als ich meine Geschichte beende. Erst jetzt fällt mir auf, wie müde ich eigentlich bin. Ich entschuldige mich bei Jane und fliehe in mein Bett. In die Decke gekuschelt, schlafe ich binnen Minuten ein.
 
 
16.
Wir sitzen bereits seit viereinhalb Stunden im Unterricht, da klopft es überraschend an. Dean, der am nächsten an der Tür sitzt, öffnet diese. Jemand tritt in den Türrahmen, ich kann aber nichts erkennen. ’Kann ich bitte kurz mit Jarven reden?’, fragt der Junge. Noah. ’Wenn’s denn unbedingt sein muss.’, murmelt die Lehrerin genervt und greift zu einem Buch neben sich. ’Noah?! Was machst du hier?’, flüstere ich ihm zu. Als ich mich umdrehe, um die Tür zu schließen, erkenne ich wie Dean meinen Namen auf einem Stück Papier durchstreicht. ’Hey Jarven! Ich muss mit dir reden, es ist unheimlich wichtig!’, fängt er an. Ich muss lächeln. ’Okay. Los erzähl, du.’ Theatralisch setze ich ein Zwinkern dazu. Er nimmt meine Hände und stellt sich näher an mich ran. Dann beugt er sich zu meinem Ohr. Dann kommt es. Ganz leise und vorsichtig wispert er es mir ins Ohr. ’Jarven. Ich liebe dich.’ Zuerst nichts. Nur mein Herzschlag. Nach zwei, drei Sekunden fängt es an: Mein Herzschlag erhöht sich, meine Haut prickelt, ich fange an zu grinsen wie ein Idiot. Ein klein wenig Schwindel kommt da zu. Ein Glück hält er mich immer noch fest. Endlich fange ich an zu reagieren. Meine Hände umfassen sein Gesicht, und ich stelle mich auf die Zehenspitzen, um ihn zu küssen. Irgendwann höre ich auf. ’Ich liebe dich auch, Noah.’, flüstere ich ihm zu. Ich gebe ihm einen Abschiedskuss und mein schönstes Lächeln, dann klopfe ich gegen die Tür. Ein genervter Dean macht sie auf. Immer noch ein wenig perplex betrete ich den Raum, alle Augen sind auf mich gerichtet. Zügig setzte ich mich auf meinen Platz, versuche ihren Blicken auszuweichen. Jane versucht mich über das Geschehen vor der Tür auszuquetschen, doch ich verliere kein Wort. Noch. In der Pause?, schreibe ich ihr auf einen kleinen Zettel, und schiebe ihn zu ihr rüber. Ihre Antwort kommt schnell: Okay. Trotzdem ein kleiner Tipp?
Ich gebe ihr keine Erwiderung. Sie hat meine Aussage.
 
Die Pause kommt schneller als erwartet. Meine Augen fallen langsam zu, doch ich versuche mich wach zu halten. Wir sitzen auf einem Tisch im Garten. Scarlett schreibt eine Aufgabe von Hannah ab, die sie über die Ferien hatten machen sollen. Abby schaut verträumt hinauf in die Wolken, Hannah und Jane unterhalten sich über unseren neuen (scharfen) Ethik-Lehrer. Ich sitze einfach nur da, schwinge mit den Beinen, meine Gedanken drehen sich um Noah. Mal wieder. Ab und zu ein klein wenig Dean, aber ansonsten…
’Erzähl uns das jetzt endlich mal!’, fordert Jane mich auf. Genervt seufze ich und fange gequält an zu erzählen. ’Also, es ist ganz einfach: Wir waren da, und er hat mir gesagt…hat mir gesagt, dass er mich…mich liebt.’, schlucke ich den letzten Teil herunter, weil ich es immer noch nicht glauben kann. Er ist so atemberaubend. Alle vier fangen nach meiner Verkündung an, wie wild zu kreischen. Ich muss lachen. „Kommt runter, Mädels! Es ist doch nur ein Junge!“, versuche ich sie zu beruhigen. Obwohl ich eigentlich auch eher anfangen möchte zu jubeln. Für einen Moment vergesse ich wieder mal alles. Dean, Jason, Cole und Will, die Mädchen, meine Familie, Mira. Da sind nur noch ich und Noah. Ich stelle mir unsere Zukunft vor. Ich will nicht, dass es je endet. Nein.
Noch nie habe ich mich so zu einem Jungen hingezogen gefühlt. Seit ich ihn kenne, habe ich das Gefühl, ich hätte Herz-Rhythmus-Störungen. Dean hat mich geküsst. Nicht ich ihn.

Und dann falle ich wieder zurück zu den anderen, die sich gerade vor mich stellen, um mich zu schützen. Ich sehe Will, der Sunnyboy-mäßig auf uns zu kommt. Täusche ich mich oder hinkt er ein wenig? ’Verschwinde schnell, wir regeln das hier schon.’, flüstert mir Jane zu, aber ich schüttele den Kopf. ’Ihr könnt gehen. Das ist meine Angelegenheit, ich will euch da nicht mit reinziehen!’, wispere ich zurück. Ich trete einen Schritt vor, und sie machen erst Platz, nachdem ich sie zur Seite drücke. Entschuldigen werde ich mich später. ’Was willst du, Will?’, frage ich mutiger, als ich mich eigentlich fühle. ’Ich wollte nur hallo sagen! Gibt es ein Küsschen für den Will?’, fragt er großkotzig, und ich könnte ihm eine scheuern, was ich allerdings erstmal unterlasse. ’Jetzt sag schon!’, fordere ich ihn auf, woraufhin er lacht. ’Du hast mich durchschaut, kleine Lady!’, lobt er mich theatralisch, und ich erkenne einen Funken Wut in seiner Stimme. ’Du gehst jetzt zu dieser Clarisse, und sagst ihr, dass du mich auch küssen wolltest, und dass ich nichts gemacht habe. Mein Vater wird mich umbringen wenn er hört, dass ich von der Schule verwiesen werde! Ansonsten muss ich Dean leider Wehtun. Ich schlage keine Mädchen.’, zischt er. Sein Tonfall gefällt mir gar nicht. Ich will etwas erwidern, aber er dreht sich gerade um, und läuft in Richtung Schulgebäude. Seufzend setze ich mich auf den Tisch hinter mir, und stütze meinen Kopf auf die Hände. Abby und Scar setzen sich neben mich und legen mir jeweils eine Hand auf den Rücken. Tröstend flüstern mir alle vier zu, dass ich es nicht zurücknehmen sollte. Aber ich habe meinen Entschluss bereits getroffen: Ich werde zurückziehen. Ich bin nicht Martin Luther. Er soll niemanden schlagen. Also setze ich mich in Bewegung.

Kurz darauf finde ich Clarisse und lege mein ’Geständnis’ ab. Ein wenig betrübt nickt sie und wendet sich ab, um zu gehen.
Ich verlasse das Haus und gehe wieder in den Garten. Die anderen warten bereits. Nur wenig später klingelt es, und gemeinsam gehen wir zur nächsten Stunde. Erst jetzt bemerke ich ein Mädchen, dass uns anscheinend schon die ganze Zeit beobachtet hat. 'Wer ist das?', frage ich Abby neben mir. 'Das ist Ricarda. Sie geht in unsere Stufe, aber sie ist eine ziemliche Außenseiterin. Man erzählt sich, sie würde den Frust über den Tod ihrer Eltern an ihren Freunden auslassen, also hat sie keine mehr. Und dann zickt sie einen immer so an, das nervt echt.', antwortet sie auf meine Frage. 'Außerdem,", fügt sie hinzu, ' stand sie ne ziemlich lange Zeit auf Will, und er, man wird es kaum glauben, nicht auf sie. ' Ihre Stimme wird leiser als Ricarda sich erhebt und sich auf uns zu bewegt. Ja, genau, auf uns. Nervös zuckt sie zusammen, als sie direkt vor uns steht.
 Dann fängt sie an zu reden, mit dem komischsten italienischem Akzent, den ich je gehört habe. 'Was fällt dir eigentlich ein, dich schon so knapp nach deiner Ankunft an die heißesten Jungs unserer Schule ranzumachen?! Denkst du eigentlich nur die ganze Zeit an dich oder so? So bitchig, kein Wunder dass dich deine Eltern weggeschickt haben!', plappert sie aufgeregt auf mich ein, stampft auf und rennt dann weinend weg. 'Na super, nich noch ein Problem', stöhne ich und vergrabe mein Gesicht in meinen Händen. Die anderen klopfen mir aufmunternd auf den Rücken und führen mich zur nächsten Stunde. 

Mit den tausend Gedanken an Noah vergeht die Stunde schnell, und ich bemerke, dass ich bereits auf dem Weg zum Häuschen bin. Hannah läuft neben mir und erzählt mir ein wenig über die Geschichte des Campus. Der frische Wind pustet uns die Haare wild flatternd ins Gesicht, worüber wir ein wenig lachen müssen. Auf einmal hört sie auf zu reden und guckt mich schuldbewusst an. 'Stimmt es, was sie sagen? Lief da was zwischen dir und Dean?', fragt sie auf einmal, und bleibt stehen. 'Ich weiß es nicht genau. In den ersten Tagen kam er mir so vertraut vor, aber dann hat sich was verändert. Und dann- dann hat er mich nach dem Unterricht abgefangen, und… wir haben uns geküsst. Später an dem Tag hat er dann davon erfahren, dass ich mich mit Noah treffe. Deshalb ist er dann halt auch abgehauen. Weißt du, als ihr das erste Mal von Rose erzählt habt, ich glaub ich war sogar eifersüchtig.' Die Erinnerung an den Kuss treibt mir die Tränen in die Augen. Das kann doch nicht sein- Wie kann ich gleichzeitig etwas für zwei Jungs empfinden, etwas stärkeres als Freundschaft? Als ich Noah kennenlernte wusste ich sofort, dass er etwas besonderes ist. Und bei Dean war es genauso. 
Wir schweigen uns an, Hannah streift sich mehrere ihrer blonden Strähnen aus dem Gesicht. 'Weißt du warum Dean damals mit Rose Schluss gemacht hat? Er sagte, sie würde nicht zu ihm passen. Und du musst wissen, seit du da bist ist er ein Stückchen fröhlicher geworden. Er ist normalerweise nicht so, nicht bisher. Jarven, ich bin mir sicher, dass er mehr für dich empfindet als nur Freundschaft.' Ihre Worte haben etwas erschreckendes, tuen aber auch gut. Zu wissen, dass ich ihm wichtig bin. Natürlich, deswegen das alles. 'Und wenn du mich fragst, solltest du ihn nehmen, und nicht Noah', fügt sie noch hinzu. 'Du hast Recht. Entschuldige mich bitte', rufe ich ihr im Rennen zu, und ich sehe dass sich ihre Mundwinkel nach oben biegen.

Es dauert nicht lange bis ich ihn finde, aber mir dreht es den Magen um. Da steht er, mit seiner Hand unter Roses knappem Shirt, die sich am Baum anlehnt, und ihm genüsslich die Zunge in den Hals steckt. Ich könnte kotzen. 
Grade will ich mich umdrehen um zu gehen, als ich mitkriege wie Dean sich von ihr löst. Voller Panik verstecke ich mich hinter dem nächstem Baum und atme schwer ein. 'Ich kann das nicht Rose!', höre ich eine Stimme, die allerdings nicht von Dean kommt. Vorsichtig lehne ich mich um die Ecke und erkenne zwar einen Jungen, aber keine genauen Gesichtszüge, aber was mehr zählt- keinen Dean. Erleichtert atme ich aus. Anscheinend etwas zu laut. Rose kommt auf meinen Baum zu, und entdeckt mich. Wütend kreischt sie auf und hält mich am Kragen fest, reißt an meinen Haaren. Mit voller Wucht ramme ich ihr meine Zähne in den Arm, sie schreit auf, und ich höre wie der Junge begeistert 'Bitchfight' ruft, was ihm ein Fauchen von Rose einbringt. Der Boden ist matschig, sie rutscht mit ihren High Heels aus. Fluchend versucht sie sich aufzustützen, schmiert sich durch den Versuch aber nur noch mehr ein. Verzweifelt fängt sie an zu weinen. Sie tut mir doch tatsächlich ein wenig leid. Grade will ich ihr neuen Hand reichen, da fängt sie an, mich zu beleidigen. 'Du elendes Miststück!/ Was fällt dir eigentlich an du Schlampe?!/ Fick dich du hässliches Mannsweib!' sind nur einige der Beleidigungen die sie mir zuwirft. Kopfschüttelnd renne ich zurück zum Haus, wo die anderen Berits auf mich warten. 

Ich erzähle ihnen von Rose und der 'Bitchfight', sie hingegen nur von meinem Handy, das wohl unter SMS und Anrufen leiden würde. Lachend verschwinde ich im Zimmer, und tatsächlich: 16 verpasste Anrufe und mindestens doppelt so viele SMS. Ein Großteil von Noah, ein paar allerdings von Mira. Einzeln höre ich mir die Nachrichten an, Noah klingt aufgewühlt, und bittet um Rückruf. Das gleiche bei den SMS. Von Mira kommt auch nichts Ungewohntes. Gerade als ich Noah anrufen will, klopft es an die Zimmertür. 'Kommst du mit Essen?', fragt mich Abby und ich murmele etwas von wegen ausfallen lassen. Dann wiederhole ich den Versuch Noah anzurufen. Nach dem zweiten Piepton hebt er ab. 'Jarven?  Tut mir leid wegen dem Telefonterror, aber ich muss dir was wichtiges sagen. Wie schnell bist du vor euerem Schultor?', plappert mir seine vertraute Stimme durchs Telefon zu. 'In fünf Minuten. Warum? Soll ich jetzt losgehen?', Frage ich ihn neugierig. 'Ja, bitte. Ich bin auch gleich da.', beendet er das Gespräch und legt auf. Schnell schlüpfe ich in meine Schuhe und verlasse das Haus. 


17.
Draußen gießt es in Strömen, und ich bereue es, mich heute Morgen für ein weißes T-Shirt entschieden zu haben. Fröstelnd Laufe ich über den Hof in Richtung Tor, als ich plötzlich jemanden meinen Namen rufen höre. Verwundert drehe ich mich um, und sehe jemanden in meine Richtung laufen. Ich höre aus zu laufen, und klammere meine Arme um mich. 'Jarven!' 'Dean?' 'Jarven, wir müssen reden',sagt er, inzwischen einen Meter vor mir. Ich versuche etwas zu sagen, aber ich versage bei dem Versuch etwas zu sagen. 'Ist dir kalt?', fragt er besorgt und ich nicke. 'Dean, Hannah hat mir etwas klar gemacht. Oder nein, viel eher ich mir selber. Dean, ich-', versuche ich ihm zu sagen, doch er unterbricht mich' Du brauchst mich nicht, oder? Bei mir ist es nicht so Jarven. Ich liebe dich, verdammt. Und… und, ich wollte mich für dich freuen, aber ich kann es einfach nicht! Ich bin so ein egoistischer Hammel! Bitte verzeih mir, mein Verhalten ist unter aller Sau, und es tut mir einfach nur leid, dich da sitzen gelassen zu-' Weiter kommt er nicht weil ich meine Lippen bereits auf seine presse. Es dauert ein wenig, da fällt mir wieder Noah ein, der auf mich wartet. 'Dean, bitte lass mich dir das später erklären, aber ich habe noch etwas zu erledigen, okay?', verabschiede ich mich und renne auf das Tor zu. Ich meine ein 'Ja', zu hören, aber das könnte auch durch den Regen entstehen. 

Schon aus der Ferne erkenne ich die durch dem Regen gedämpften Scheinwerfer Noahs Motorrades. Er wartet bereits auf mich, und als er mich sieht kommt er auf mich zu und küsst mich. Mit Mühe schiebe ich mich von ihm weg. 'Was gibt's denn jetzt so dringendes?', frage ich ihn genervt. 'Hat sie es dir schon erzählt? Jarven, es war so dumm von mir, und ich hätte es nicht tuen dürfen, aber wir waren da noch nicht zusammen, und sie hat mich abgefüllt, und du weißt ich würde es sofort rückgängig machen wenn ich könnte! Es war nur dieses eine Mal, und es tut mir so leid, wirklich!' Geschockt sehe ich ihn an. 'Was meinst du? Und vor allem, wen?' Stille folgt, und ich frage ihn nochmal, aggressiver. Immer noch keine Antwort. Es regnet immer stärker. 'Ich habe mit Rose geschlafen.', sagt er auf einmal. Ein Schwall von Emotionen überkommt mich. Trauer, Wut, Fassungslosigkeit und vor allem Hass, Hass auf ihn und Rose. Ich hole aus und meine Hand trifft auf sein Gesicht. Tränen laufen mir das Gesicht hinunter. Er versucht mir die Hände auf die Schultern zu legen, aber ich wehre ihn ab. 'Du Mistkerl!', schreie ich ihm zu, aber er schwingt sich auf seine KTM und fährt weg, lässt mich im Regen stehen. 

Es dauert lange bis ich mich soweit beruhige, dass ich mich wieder aufrichten kann. Total fertig kehre ich zurück auf den Campus. Es ist noch nicht allzu spät, trotzdem sind kaum noch Schüler zu sehen. Ich setze meinen Weg fort, zu einem mir unbekannten Ziel.
Und es regnet es einfach weiter, als wäre nichts passiert. 


Fortsetzung folgt! (:
Was als nächstes passieren wird:
Jarven und Dean sind glücklich zusammen, doch es gibt immer noch diese Probleme mit Will, Vanessa, Rose, der wütenden Ricarda, die sich als wahre Zeitbombe entlarvt, einigen unerwarteten Personen, und vor allem Noah, der unbedingt ,seine‘ Jarven zurückhaben will. Dazu lässt er sich einiges einfallen, um die Beziehung zwischen Jarven und Dean zu zerstören. Werden die beiden das durchhalten? Die Frage bleibt offen.

Impressum

Texte: Alles von mir, bis auf das Foto vom Cover (;
Tag der Veröffentlichung: 23.01.2012

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