„Wer sich zur Tat entschließt, dem gehört der Sieg.“
(Herodot)
Menschen
Eliad Sergain VI.: Graf von Dengist
Leela: Graf Sergains Tochter
Gwenda Berisha: Freischärlerin
Kalthas Berisha: Gwendas Bruder
Garwin, die Flinke Hand: Dieb
Asgliv Einauge: Piratenhäuptling
Sabian Maerland: Herzog von Kalenth
Cimedei: Hexe
Nannod Schwarzzahn: Hexenmeister
Elfen
Melunas II.: König von Amertharil
Feramon: Prinzregent von Amertharil
Sessar Hanorix: Elfenbaron
Gaudra Nachtschatten: Schwarzmagier
Halbelfen
Kirean Saliard
Zwerge
Greifax Goldfreund: König der Diebe
Bilfur Stahlklinge: Zwergenkönig
Götter
Tarkalos: Gott der Dunkelheit
Silghatara: Tarkalos´ Sohn
Erisan: Silghataras Gemahlin
Ramujel: Silghataras und Erisans Sohn
Malakhor: Meergott
Rania: Wettergöttin
Horat: Totengott
Llanshar: Herr der Täuschung
Ceridu: Königin der Nach
Die alten Sagen und Legenden erzählen von den göttlichen Kindern der Großen Mutter Anore und einigen Helden aus dem Menschengeschlecht, die immer wieder aufeinandertrafen, mal in Freundschaft, mal als Gegner im Kampf.
Was mich jedoch als Chronist, der ich diese Zeilen für die Nachwelt auf Pergament gebannt habe, leidenschaftlich interessierte, war das verborgene Handeln der Götter, die sich nicht um die Sterblichen kümmerten, es sei denn, sie verstrickten sich in die gefährlichen göttlichen Machtkämpfe.
In jenen Tagen, von denen nun die Rede sein soll, als die Menschen nur wenig über die verborgenen Existenzebenen hinter den Schleiern der sichtbaren Welt wussten und Paläste aus Obsidian und Karfunkel die himmlische Ebene Tar Belisan schmückten, während finstere Zauberer in endlosen Höhlen fleischgewordene Ängste und Albträume herbeirufen mochten, zeigten sich die Götter ihren sterblichen Dienern in zahlreichen Formen.
Sie waren Wesen des Lichts – ihre Feinde Dunkelheit und Tod. Sie glaubten sich erhaben über das Ringen zwischen Gut und Böse und mussten sich doch entscheiden. Denn unter den Göttern war einer, der hielt sich für klüger als alle anderen und wollte noch mehr Macht, um sich seine eitlen Wünsche zu erfüllen.
Tarkalos war sein Name.
Es geschah in Eiswind, dem nebelverhangenen Land am Ende der Welt, dass Tarkalos den ersten Krieg der Götter entfachte, der Anores Kinder in Licht und Dunkel spaltete. In seiner maßlosen Selbstüberschätzung trachtete Tarkalos danach, jene Geschöpfe des Chaos zurückkehren zu lassen, die von den Göttern einst bezwungen worden waren. Heimlich züchtete er grässliche Unholde, deren einziger Zweck darin bestand, Tod und Zerstörung zu bringen.
Nicht viel vermag ich über diesen Götterkrieg aus einem längst vergangenen Zeitalter zu berichten, in dem Götter und Elfen gemeinsam kämpften und der mit Tarkalos´ Niederlage endete. Seine missgestalteten Kreaturen, die sich selber Chaoskrieger nannten, wurden vernichtend geschlagen, nur wenigen gelang die Flucht nach Eiswind.
Tarkalos floh mit seinen Schergen vor dem Zorn der Lichtgötter nach Tar Keoma, eine trostlose Einöde in den anderen Welten, wo er seine finstere Festung Drachennacht errichtete.
Doch Tarkalos´ Sohn Silghatara war anders als sein heimtückischer Vater. Obgleich Silghatara aus der Dunkelheit kam und das Erbe seines Vaters in sich trug, wandte er sich dem Licht zu. Bei seinen einsamen Wanderungen durch Tarkalos´ schreckliche Festung, entdeckte er einen magischen Juwel von ungewisser Herkunft, täuschend funkelnd wie ein Stern, der dem Sonnenaufgang vorangeht. Jedoch bewirkte der Lichtstein, wie Silghatara seinen Fund hieß, keineswegs nur Gutes.
Allein Tarkalos kannte das Geheimnis des Juwels, dessen Licht bei Weitem zu düster war, um ihn zu beschreiben. Mithilfe des Lichtsteins wollte er die Seelen beherrschen und die Menschen unter seine grausame Herrschaft zwingen.
Als Silghatara vom Plan seines Vaters erfuhr, floh er mit dem Lichtstein nach Tar Belisan zu seinen himmlischen Brüdern und Schwestern, die ihn bald zu ihrem Anführer ernannten.
Tarkalos´ Zorn auf Silghatara und seine Gier nach dem Lichtstein waren der Grund, warum Götter abermals gegen Götter kämpften und großes Leid über sich und die Menschen brachten.
Angeführt von Tarkalos stürzten schreckliche Drachen und Kometen auf Nuadien nieder und verbrannten die Städte der Elfen und Menschen in einem Inferno von Flammen zu rauchenden Ruinen. Bei den anschließenden Kämpfen durchstießen die Gipfel der Feuerberge von Tar Keoma die himmlische Ebene Tar Belisan und ließen nur fürchterliches Wissen zurück.
Schon glaubten sich die guten Mächte besiegt, da richtete Silghatara die Macht des Lichtsteins gegen seinen Vater und verbannte ihn in die Schattenebene.
Fortan wuchs Tarkalos´ ohnmächtiger Zorn auf Silghatara mit jeder Sekunde, die er in der ewigen Verdammnis verbrachte. Seine Vasallen schworen Rache für Silghataras Verrat und wollten ihren tief gestürzten Herrn und Meistern aus der Verbannung befreien. Allen voran Silghataras Erzfeind Llanshar, Herr der Täuschung und der Zwietracht und die Göttin Ceridu, besser bekannt als die Königin der Nacht. Doch für ihren Plan brauchten sie den Lichtstein, den Silghatara in den Wirren des Krieges leider verloren hatte.
Nach der Schlacht zogen sich die Götter geschwächt in ihre Pantheons auf den anderen Ebenen zurück und überließen die Sterblichen ihrem Schicksal. Der Kampf um den magischen Juwel ging in die Annalen Nuadiens als der Lichtsteinkrieg ein.
Viele Jahrtausende vergingen, bis aus den Trümmern der alten Zeit eine neue menschliche Zivilisation entstand. Es war der Moment, als sich auch die Götter wieder für die Welt der Sterblichen interessierten, denn was sie alle einte, war das Streben nach Macht, wenn auch aus unterschiedlichen Beweggründen.
Silghataras Ruhm fand ein jähes Ende, als seine Gemahlin Erisan, die Göttin der Schönheit und der Treue, in Tar Belisan durch Gift ihr Leben verlor, denn in ihren menschlichen Avataren waren auch die Götter sterblich. Es heißt, kurz nach der feigen Tat habe Silghatara gesehen, wie ein Jüngling mit scharlachroter Robe aus seinem Palastgarten floh. Silghataras Freund, der Meergott mutmaßte, die Beschreibung würde zu Llanshars Lieblingsverkleidung passen, mit der er sich zu tarnen pflegte. Aber die anderen Götter glaubten Silghatara nicht, zumal ein tödlich verletzter Wachtposten, der als Einziger dessen Unschuld beweisen konnte, nicht mehr unter den Lebenden weilte. Der göttliche Rat hatte Fragen an Silghatara, die er nicht beantworten konnte. Er musste Llanshar finden, wollte er seine Ehre wiederherzustellen und Erisans Tod zu rächen. Und so floh er zusammen mit seinem Sohn Ramujel aus seiner göttlichen Heimat. Llanshars Spur führte nach Nuadien.
Einer von vielen Zauberpfaden, die einst von den Göttern als magische Verbindungswege zwischen den Welten geschaffen worden waren, sollte sie ins Elfenreich Amertharil führen, stattdessen landeten sie in Serai, einer von Menschen bewohnten Insel im Südwesten Nuadiens.
Die Matrix, aus der jeder Zauberer seine arkane Macht bezog, hatte während des Lichtsteinkriegs Risse bekommen. Die Wege der Magie hatten sich für alle Zeiten verändert. Die Zauberpfade funktionierten nicht mehr richtig.
In einem von Trollen vernichteten Zeltlager nahmen Silghatara und Ramujel die Gestalten von zwei Menschenkriegern an und gaben sich andere Namen, um von den anderen Göttern nicht erkannt zu werden.
Die Trolle und andere Ungeheuer aus der alten Zeit verhießen nichts Gutes für die Zukunft von Nuadien, in der es viele Konflikte voller Niedertracht, Grausamkeit und Verrat gab.
Die Menschen hatten sich schon lange von den alten Göttern abgewandt, die sie so schmählich in Stich gelassen hatten. Sie strebten nach Unabhängigkeit und wollten sich von der Vorherrschaft der Elfen befreien. Nordländerpiraten überfielen mit ihren Seeräuberschiffen Dörfer und Städte, brandschatzten und mordeten. Und in Prianos, einem Königreich der Menschen im Westen Nuadiens, regierte ein schwacher König, der von den Daugharn beherrscht wurde, einer fanatischen Sekte, die einen neuen Glauben verkündete, der auf Schuld, Gottesfurcht und den Schrecken der ewigen Verdammnis beruhte. Sie bekämpfen die alten Kulte und verfolgten alle Elfen als Dämonen, die es mit Stumpf und Stiel auszurotten galt.
Auch wenn die Daughar viel Zuspruch unter den Menschen fanden, die nach einem Licht in der Leere ihrer Herzen suchten, regte sich doch Widerstand gegen die Tyrannen.
So glaubten die Mönche des Klosters vom Orden der Rose in der Königsstadt Kalenth an die Macht des Wissens, und dieses Wissen gaben sie an ihre Schüler weiter. Einer ihrer Schüler war der junge Halbelf Kirean, den ein magisches Artefakt zur Dunkelheit verführen sollte.
Die Drachenklaue.
Als Kireans Eltern von Nordländerpiraten getötet wurden, behauptete Llanshar, ihm das Leben gerettet zu haben, und fordert dafür einen hohen Preis. Kirean sollte den Lichtstein suchen, denn in einer Prophezeiung stand geschrieben: Wer die Drachenklaue findet, wird auch den Lichtstein finden.
Ungeachtet der Geschehnisse in Prianos führte Silghataras seine Suche nach Llanshar in das verborgene Elfenland Amertharil. Dort entbot er dem Elfenprinz Feramon seine Dienste als Torda aus Serai, unter der Bedingung, seine Herkunft niemals preisgeben zu müssen. Feramon, Prinzregent von Amertharil und Protektor des westlichen Kontinents Andarell, konnte Hilfe gut gebrauchen, da die Menschen immer zahlreicher wurden und die Wälder der Elfen niederbrannten, um Platz für ihre Viehherden zu schaffen. Er fand sie in Torda, ohne zu wissen, wer dieser in Wahrheit war.
Ein Auftrag führte Silghatara mit Kirean zusammen. Er ahnte nicht, dass Kirean mit Llanshar einen verhängnisvollen Pakt geschlossen hatte und lehrte ihn den Schwertkampf; sein Sohn Ramujel, der sich nun Airas nannte, half ihm dabei.
Dies alles schien den Meergott Malakhor, der sich in seinem Palast Celiande im Großen Ozean selbst genug war, nicht zu interessieren, bis ihn die Sorge um Silghatara nach Kalenth trieb und er in seinem fremdartigen Naleeh-Avatar Tekah-der-die-Kraft-der-Monde-liebt, den Zorn der Daughar erweckte.
Das maritime Volk der Naleeh war einst von den Sternen gekommen und trieb Handel mit den Menschen. Seit die Daughar mit ihrem Hass die Herzen der Menschen vergifteten, kamen die Naleeh nur noch selten an Land. Eine geheime Patrouille der Daughar sperrte Malakhor in einen dunklen Kerker und klagte ihn der Ketzerei an. Nur mit Mühe gelang dem Meergott die Flucht. Sie führte ihn zur Diebesgilde von Kalenth, die den Widerstand gegen die Tyrannen organisierte.
Unterdessen suchte Kirean von Silghatara unbemerkt, heimlich weiter nach dem Lichtstein.
Niemand ahnte in jenen Tagen, dass ein weiterer schrecklicher Krieg seine Schatten vorauswarf, indem die Völker Nuadiens um ihr Überleben kämpfen würden.
In einer geheimen Verschwörung befreiten Llanshar und Ceridu die Feuerdämonen aus Taurach, einer verwunschenen Insel in den Außenräumen des Universums von Nuadien, in die sie einst von den Lichtgöttern verbannt worden waren. Shargol Siebenauge, König der Feuerdämonen, bedankte sich mit einem Tanz aus Feuer für seine Befreiung und nahm mit seinem als Onyxschloss getarntem Luftschiff Kurs auf Nuadien ...
- Geschichte Nuadiens, unbekannter Chronist -
Im Jahr 3480 nach dem Lichtsteinkrieg
Der junge Halbelf Kirean ritt hinter seinen Gefährten am Ufer des Siebenflusses entlang, dessen Strom im Sonnenlicht wie geschmolzenes Gold vorbeirauschte, nur unterbrochen von den Feenfischen, die nach Mücken sprangen und leuchtend violette Farbsprenkel bildeten. Eine friedliche Szenerie, wäre da nicht das letzte Treffen mit Llanshar gewesen, das ihm keine Ruhe ließ.
Den Lichtstein suchen? Das war doch verrückt. Aber da war der Pakt, den er mit Llanshar geschlossen hatte. Bei manchen Aufgaben, die unmöglich erschienen, stellte sich heraus, dass sie gar nicht so schwierig waren. Vielleicht war der Lichtstein ganz in der Nähe? Leider waren Torda und Airas das auch, und sie durften nichts von seinem Pakt mit Llanshar wissen, was seine Suche um einiges erschwerte.
Kirean ließ sein Pferd zurückfallen und spähte durch eine hohe Schilfgruppe am Ufer. Außer huschendem Getier und moosbewachsenen Steinen fiel ihm nichts Ungewöhnliches auf. Hier war der Lichtstein jedenfalls nicht. Wenigstens hätte Llanshar ihm sagen können, wie der Juwel überhaupt aussah? Im Buch der Götter wurde er als funkelnder Diamant beschrieben, doch das musste nicht stimmen. Die Geschichten waren erst viele hundert Jahre nach der großen Katastrophe von Elfenchronisten aufgezeichnet worden - sie hatten den Lichtstein niemals mit eigenen Augen gesehen. Vielleicht war der Lichtstein ganz unscheinbar wie ein Stück Fels oder die Drachenklaue, als er sie gefunden hatte.
Kirean trieb sein Pferd an und schloss wieder zu Torda und Airas auf. Die Gegend mit den sanft abfallenden Hügeln kam ihm vertraut vor. Von hier war es nicht mehr weit bis zu Erandels Haus der Heilung. Sein Herzschlag beschleunigte sich, als er Leela entdeckte. Sie stand vor der Veranda und widmete sich den Kräutern im Garten. Nun bemerkte sie die Reiter und eilte ihnen entgegen.
Zu gerne hätte er Leela von dem schrecklichen Naq´zah berichtet, der geheimen Prüfung und Llanshar, der Unmögliches von ihm verlangte, doch er würde nur seine Zeit verschwenden. Leela konnte sich nicht mehr an ihn erinnern, und vielleicht war das auch besser so, nach allem, was sie durchgemacht hatte.
Torda entbot Leela seinen Gruß und kam ohne Umschweife zum Grund seines Besuchs.
„Wir haben Befehl, dich nach Morgentau zu bringen“, sagte er. „Prinz Vindhar möchte dich sehen.“
„Wirklich?“ Leela krauste die Stirn. „Was will er denn von mir?“
„Wenn du dich beeilst, wirst du es bald erfahren.“
„Darf Erandel mitkommen?“
„Nein, ihr Platz ist im Haus der Heilung.“
Die alte Elfe gesellte sich zu ihnen. „Torda hat recht“, pflichtete sie ihm bei. „Ich muss hierbleiben, denn andere werden kommen und meine Hilfe brauchen. Aber du musst gehen, wenn Prinz Vindhar es befiehlt.“
„Beeil dich, Leela“, drängte Torda. „Ich gebe dir eine halbe Stunde, dann brechen wir auf.“
Leela lief ins Haus und packte ein paar Kleidungsstücke zusammen. Tränen rollten über ihre Wangen, als sie sich von Erandel verabschiedete, die für sie wie eine Mutter gewesen war.
Bald jedoch lenkte sie der Zauber des Einhornforstes von ihrem Kummer ab. Staunend betrachtete sie eine Reihe von Sträuchern am Wegesrand, die in der Sonne leuchteten wie Perlen auf dem Meeresgrund. Und als zwei bunt gefiederte Vögel mit goldenen Schnäbeln zwischen mächtigen Baumkronen hin und her flatterten, begann sie mit offenen Augen zu träumen, vielleicht, weil sich tief in ihrem Inneren ein Funken Erinnerung an ihre geheimnisvollen Reisen nach Amertharil regte.
Es stellte sich jedoch bald heraus, dass Leela nicht daran gewöhnt war, stundenlang im Sattel zu sitzen. Immer wieder mussten sie längere Pausen einlegen, und kamen nur langsam voran.
Gegen Abend zügelte Torda unvermittelt sein Pferd. Der Wind hatte sich gedreht, und er lauschte mit angehaltenem Atem. „Hört ihr dieses Scharren?“, fragte er.
Kirean horchte ebenfalls, vernahm aber nur das Rascheln der Bäume und gedämpften Tierlaute. Er drehte sich im Sattel um und blickte Airas fragend an.
„Ich höre es auch“, bestätigte Airas.
Torda glitt aus dem Sattel und suchte den Waldboden nach Spuren ab. „Etwas war hier oder ist es immer noch“, murmelte er.
„Wo sind wir?“, fragte Leela, froh über die unerwartete Pause.
„In der Nähe des Drachensees.“ Torda richtete sich wieder auf und deutete auf ein paar alte Weiden, zwischen denen dunkles Wasser schimmerte. „Der Drachensee verdankt seinen Namen den Silberdrachen, die einst in den Höhlen rund um den See wohnten. Später brachten die Faleneri sie zu den Grotten am Träumenden Meer.“
„Ich dachte, es gäbe keine Drachen mehr?“, sagte Leela überrascht.
„Doch, meine Liebe, es gibt sie noch, aber es sind nicht mehr viele. Die Silberdrachen sind schon sehr alt und werden bald Winterschlaf halten. Im Goldenen Zeitalter, als die Götter noch mitten unter den Sterblichen lebten, richteten sie die Schönsten und Kräftigsten unter ihnen als Kampfdrachen ab und ritten auf ihrem Rücken in die Schlacht. Leider wurden die meisten Silberdrachen im Lichtsteinkrieg getötet.“
„Vielleicht hat es ihnen in den Grotten nicht mehr gefallen und sie sind zurückgekehrt“, meinte Leela.
„Das glaube ich nicht“, meldete sich Airas zu Wort. „Die Silberdrachen leben schon seit vielen hundert Jahren in den Grotten. Wahrscheinlich würden sie den Drachensee gar nicht mehr finden oder auf dem Weg einfach einschlafen. Lieber lassen sie sich auf ihren alten Tagen von ihren Pflegern verwöhnen.“
Die Pferde begannen zu schnauben und zu tänzeln und ließen sich selbst durch gutes Zureden nicht zum Weitergehen bewegen. Schließlich saßen sie ab und führten die Tiere zu einer nahen Lichtung. Von dort konnten sie sehen, wie die Sonne am wolkenlosen Himmel versank und den Drachensee in violettes Licht tauchte.
„Airas und ich werden uns mal ein wenig in der Gegend umsehen“, sagte Torda. „Und du, Kirean, passt auf Leela auf, bis wir wieder zurück sind.“
Der Halbelf blickte ihnen nach, bis sie hinter einem Hügel verschwanden. Das erste Mal seit vielen Wochen war er mit Leela wieder allein. Er dachte an ihre Flucht durch die Nebelberge und musste sich beherrschen, ihr nicht die Wahrheit zu sagen. Warum hatte Feramon ihr bloß die Erinnerung genommen? Und jetzt wollte er sie auch noch wiedersehen! Warum ausgerechnet Leela? Es gab doch genug andere Elfenfrauen in seinem Palast, denen er seine Aufmerksamkeit widmen konnte. Warum ließ er Leela nicht einfach in Ruhe? In diesem Moment wünschte er, die Zeit zurückdrehen zu können, bis zu dem Tag, als er sie auf dem Marktplatz in Dengist kennengelernt hatte, aber das war leider nicht möglich.
Leela breitete eine Decke aus und ließ sich darauf nieder.
Sollte er sich neben sie setzen? Besser nicht. Sie liebte nicht ihn, sondern Feramon. Das musste er akzeptieren, auch wenn es ihm schwerfiel. Unter dem bösen Einfluss der Drachenklaue hatte er sie als Frau begehrt, jetzt liebte er sie wie ein Bruder seine Schwester, und er würde alles tun, um sie zu beschützen. An einem Strauch entdeckte er die scharlachroten Früchte, die Marak ihm gegeben hatte. Er pflückte einige davon ab und hielt sie ihr auf der geöffneten Handfläche entgegen.
„Was ist das?“, fragte Leela neugierig.
„Pekuas. Probier sie, und du wirst staunen.“
„Zauberfrüchte?“ Leelas Augen fingen an zu glitzern. Sie nahm eine Pekua, biss hinein und verzog das Gesicht. „Igitt, die schmeckt aber bitter.“
„Aber nur im ersten Moment. Denk an etwas, was du gerne isst.“
„Erdbeeren“, antwortete sie kauend. Ihr Gesicht erhellte sich. „Hast du noch mehr von den Dingern?“
Kirean reichte ihr eine ganze Handvoll.
Für eine Weile kaute Leela vor sich hin, dann verfinsterte sich ihre Miene. „Sieh nur, meine Finger ... das ist ja eklig. Sie sind vom Saft der Pekuas ganz klebrig.“
„Dann leck sie doch ab.“ Manchmal konnte Leela richtig anstrengend sein. Er hatte in den letzten Nächten kaum geschlafen. Müde ließ er sich unter den herabhängenden Zweigen einer Weide nieder und lehnte den Kopf gegen den knorrigen Stamm.
„Aber Kirean“, sagte Leela entrüstet. „So etwas schickt sich nicht für eine Dame.“ Ihre Augen wanderten zum Drachensee. „Ich geh schnell und wasch mir die Hände. Bin gleich wieder zurück.“
Es war sein erster Auftrag als Drachenritter. Er durfte Leela nicht aus den Augen lassen und musste sie begleiten, egal, ob müde oder nicht. Einen Moment, nur einen kurzen Moment noch, dachte er und lauschte dem Knacken der kleinen Zweige und Äste unter ihren Füßen nach. Seine Augenlider wurden schwer, und er schlief ein.
Die letzten Strahlen der Sonne versanken bereits hinter dem Horizont, als Kirean wieder aufwachte. Er fuhr hoch und blickte in alle Richtungen. Leela war nirgends zu sehen. Er rannte zum See ... und atmete erleichtert auf.
Leela stand bis zu den Fußknöcheln im Wasser. Ihr Seidenkleid hatte sie sorgfältig über den Knien zusammengebunden, damit es nicht nass wurde.
„Du bist mir ja ein schöner Aufpasser“, lachte sie.
„Tut mir leid, ich bin eingeschlafen.“
„Das bist du, in der Tat. Ich habe versucht, dich zu wecken, aber du hast geschlafen wie ein Murmeltier, also bin ich wieder zum See zurück.“
Ganz in der Nähe hörte Kirean ein schauriges Grollen, das im nächsten Augenblick wieder verstummte. „Was war das?“, keuchte er.
"Ein Gewitter, was sonst? Hast du etwa Angst vor Gewittern?“
Er spähte zum Himmel, der vollkommen klar war. „Seit wann gibt es Gewitter ohne Wolken? Hier ist etwas. Komm aus dem Wasser raus, Leela, schnell!“
Ohne jede Eile watete Leela an Land und ließ sich im weichen Ufersand nieder.
Schaudernd dachte er an die Geister des Zauberwalds, die ihn zu Leela geführt hatten. Es war das gleiche Bild: Sie saß an einem See und hatte ihm den Rücken zugewandt. Oder war es nur jener Augenblick der Dämmerung, in der das Licht grau und unsicher ist, das ihm angst machte?
„Kirean, sieh doch ... ein Seepferd.“ Leela beugte den Kopf nach vorne und ließ ihre Hände ins Wasser gleiten. „Und dort ... Ein ganzer Schwarm von Seepferdchen.“
Der Drachensee geriet in Bewegung. Ein riesiger schlangenförmiger Arm teilte die Wasseroberfläche, riss Leela mit sich fort und zog sie in die Tiefe.
„Nein!“, schrie Kirean und sprang hinterher.
Kaltes Wasser stürzte über ihm zusammen und erstickte seinen entsetzten Schrei. Er geriet in einen Strudel, der ihn wie einen Stein nach unten zog, obwohl er ein guter Schwimmer war. Verzweifelt versuchte er sich wieder an die Wasseroberfläche zurückzukämpfen, doch es gab kein Entrinnen. In seiner Panik öffnete er den Mund und schluckte Wasser. Je tiefer er sank, desto dunkler wurde es. Das Wasser presste die letzte Luft aus seinen brennenden Lungen und ließ seine Sinne schwinden. Das ist das Ende, dachte Kirean. Er würde jämmerlich ertrinken. Doch er sollte sich irren.
Als er wieder zu sich kam, stellte er überrascht fest, dass er wieder atmen konnte. Er lag in einer Grotte an einem unterirdischen See. An den Wänden wuchsen Pilze, die ein grünliches Dämmerlicht verströmten.
Mühsam stemmte sich Kirean auf die Ellbogen und würgte Wasser aus Lunge und Magen hervor.
Unter ihm schwammen zwei Nixen. Ihr Haar hatte die Farbe der Feuerlilie, ihre nackten Oberkörper endeten in Fischschwänzen, verziert mit Schnüren und Muscheln. Die Nixen flüsterten ihm zu:
„Gebunden ist Leela an dunklem Ort.
In sa na dae heißt das Zauberwort.
So wird befreit aus Bao´gras Bann,
was List und Tücke einst ersann.“
Als die Nixen geendet hatten, verschwanden sie im dunklen unergründlichen See der Grotte.
Schon wieder eine Kreatur, die Kirean nicht kannte, aber wenigstens kannte er ihren Namen.
„Leela, wo bist du?“ Seine Frage wurde vom verzerrten Echo seiner eigenen Stimme beantwortet.
Von Panik getrieben, rannte er durch ein Gewirr von Stollen und Gängen. Je tiefer er in die Höhle eindrang, desto schwächer wurde das unwirkliche grüne Licht. Überall hörte er das Rauschen von Wasser. Vermutlich ein unterirdischer Fluss, ganz in der Nähe.
In einer Halterung an der Wand fand Kirean eine Fackel, die er rasch entzündete. Die Decke des nächsten Gangs war so niedrig, dass er gebückt weitergehen musste. Dahinter lag eine Treppe, die sich in bodenloser Tiefe verlor. Von den Wänden tropfte Wasser, das in dem unterirdischen Labyrinth gespenstisch widerhallte.
Vorsichtig stieg er die nassen und glitschigen Stufen hinab. Unten angekommen, gaben seine Stiefel bei jedem Schritt durch den zähflüssigen Schlamm ein schmatzendes Geräusch von sich.
„Leela, bist du hier?“, fragte er angstvoll.
Keine Antwort.
Nur mit Mühe gelang es Kirean, seine Panik niederzukämpfen, als er aus einem düsteren Gang ein dumpfes Scharren vernahm. Mit gezogenem Schwert folgte er dem Geräusch und erreichte ein riesiges Gewölbe, dass Platz für drei ausgewachsene Drachen bot. Seine Stiefel versanken knöcheltief in dem Morast, der nach Alter und Fäulnis stank. Auch hier gab es Pilze, doch ihr Licht vermochte die dräuende Dunkelheit kaum zu erhellen. „Leela“, rief er verzweifelt, „sag doch etwas!“
„Ich bin hier.“ Leelas Stimme klang gequält.
„Wo?“
Das scharrende Geräusch wurde lauter. Zur Mitte des Gewölbes erhob sich eine lebensgroße Kriegerstatue, das Haupt von einer Krone aus Muscheln gekrönt. Mit grimmigem Gesichtsausdruck zielte die steinerne Statue halb knieend, halb stehend mit ihrem Speer in Kireans Richtung, als wäre sie lebendig zu Stein erstarrt.
Schaudernd wandte Kirean sich ab. Gewaltige Felsquader versperrten ihm die Sicht. Er konnte Leela nicht sehen, doch er spürte ihre Nähe, und er spürte noch etwas anderes, etwas Bedrohliches, das ihn anstarrte und belauerte.
Bao´gra oder ein Raubtier, das in dieser lichtlosen Welt seine Witterung aufgenommen hatte?
Sein Herz hämmerte, als etwas von hinten seine Beine betastete - kalt und glitschig. Keuchend wich er zurück und drehte sich mit einem Ruck herum.
Eine Kreatur, schwarz wie die Nacht, kauerte in einer Felshöhle und starrte ihn aus glühenden Augen an.
Das musste Bao´gra sein. Neben ihm lag Leela in ein Netz eingewickelt.
„Kirean, hilf mir!“, flehte sie mit erstickender Stimme.
Die Monstrosität richtete sich zur vollen Größe eines ausgewachsenen Mannes auf. Armdicke Tentakel wanden sich aus ihrer Brust, weitere entsprangen ihrem Leib.
„Noch mehr Besuch ... wie schön“, zischte das Scheusal in der allgemeinen Umgangssprache und tätschelte mit einem Tentakel Leelas Rücken, die gepeinigt aufschrie.
„Aus dem Weg, Bao´gra!“, rief Kirean und hob drohend sein Schwert.
„Schöner Name ... hübsches Kind“, zischte Bao´gra.
„Wenn du Leela nicht freigibst, werde ich dich töten!“, versprach Kirean.
Bao´gra stieß einen tiefen grollenden Laut aus. Seine Tentakel zuckten peitschend über den Boden und schleuderten Kirean den stinkenden Schlamm von Jahrhunderten ins Gesicht. Von hinten wand sich ein Fangarm um seinen Hals, ein anderer entwand ihm das Schwert und warf es in den Morast.
Kirean ließ die Fackel fallen, die zischend versank. Von völliger Dunkelheit umgeben, versuchte er verzweifelt, sich mit bloßen Händen aus dem würgenden Griff zu befreien, doch seine Kräfte erlahmten. Schon glaubte er zu ersticken, da sah er plötzlich ein Licht, und eine vertraute Stimme hinter ihm rief:
„Bao´gra, komm her zu mir!“
„Ah ... gut ... noch mehr Besuch ... wer da ... wer spricht?“ Das Ungeheuer wandte den Kopf, wobei es den Griff um Kireans Hals etwas lockerte.
„Ich heiße Torda und bin ein Schwertkämpfer aus Serai.“
„Nicht gut“, fauchte Bao´gra.
Kirean nützte den Moment der Überraschung und riss sich den Fangarm vom Hals. Angeekelt wischte er sich den morastigen Brei aus den Augen und spuckte Schlamm, der ihm in den Mund geraten war. Er stürzte zu seinem Schwert und schlug Bao´gra mit einem einzigen Hieb den Kopf ab.
Eine Fontäne von stinkendem schwarzem Blut schoss aus dem zuckenden Rumpf der Albtraumkreatur.
Kirean unterdrückte das dringende Bedürfnis, sich zu übergeben, und durchschnitt Leelas Fesseln.
Bao´gras Kopf starrte ihn mit rollenden Augen an. „Mehr kannst du nicht?“, krächzte er.
Entgeistert sah Kirean, wie Bao´gra seine Tentakel nach dem Kopf ausstreckte und ihn wieder auf seinen Schultern zurechtrückte.
Torda rannte Kirean entgegen. „Wir bekommen gleich Gesellschaft“, keuchte er.
„Was?“ Für den Bruchteil einer Sekunde starrte Kirean ihn verständnislos an, bis er begriff, was Torda meinte.
Wie aus dem Nichts waren zwei weitere Kreaturen aufgetaucht, die Bao´gra glichen wie ein Ei dem anderen.
„Gib mir Deckung, Kirean!“ Der Seraier nahm Leela auf den Arm und rannte zu einem Nebengang, der auf halber Höhe aus der Höhle führte.
Bao´gras Doppelgänger setzten Torda nach. Auch der echte Bao´gra richtet sich auf und folgte ihm.
„Nicht so hastig!“ Kirean verstellte dem richtigen Bao´gra den Weg.
„Lauf weg, Kirean!“, rief Torda.
Kirean spurtete los, dicht gefolgt von Bao´gra.
Airas stand auf halber Höhe in einem Nebengang und zog Leela hoch, während Torda grimmig auf die Gliedmaßen der Doppelgänger stampfte, die nach ihm zu greifen versuchten. „Meisterlauscher!“, rief er atemlos. „Kennst du vielleicht einen Zauberspruch, damit die Biester wieder verschwinden?“
„Ja, aber er fällt mir nicht ein.“
„Denk nach!“
Kireans Gedanken überschlugen sich. Was hatten die Nixen noch mal gesagt?“
„Beeil dich!“
Kirean dachte fieberhaft nach. In sa ... und weiter ...? „In sa na dae!“, rief er.
Kaum hatte er geendet, geriet die Kriegerstatue mit der Muschelkrone in Bewegung und schwang ihren Speer wie einen Zauberstock.
Bao´gras Doppelgänger schrillten vor Wut, als die Finsternis einem blauen Licht wich, dass die Höhle bis in den letzten Winkel erfüllte.
Voller Zorn rief die zum Leben erwachte Statue mit donnernder Stimme:
„Bao´gra, hinfort aus meinem Reich!
Strafen will ich den Frevel sogleich.
Was du geschaffen mit dunkler List,
soll vergehen, bis du vernichtet bist.“
Der Drohung folgte ein ohrenbetäubendes Rauschen. Wasser brach wie ein reißender Fluss von allen Seiten in die Höhle ein.
„Raus hier!“, brüllte Torda mit überschnappender Stimme.
Mit einem einzigen Satz sprang Kirean in den Nebengang und rannte hinter Torda durch einen engen Stollen, der sich in steiler Neigung nach oben wand, während die tosenden Fluten unaufhörlich näher rollten.
„Hierher!“, rief Airas, der sich mit Leela auf eine Treppe gerettet hatte und einen Stein aus der Mauer zog. Die Wand bewegte sich und zeigte einen schmalen Durchstieg. Sie schafften es gerade noch hindurch, bevor sich die Wand hinter ihnen wieder schloss.
Gespenstischer Nebel wirbelte um Kirean herum, dass er kaum die Hand vor Augen sehen konnte.
„Fasst euch bei den Händen“, sagte Torda. „Airas kennt den Weg, er wird uns führen.“
Wie lange ihre Flucht dauerte, wusste Kirean später nicht mehr zu sagen, nur, dass der rettende Gang wie durch ein Wunder von den Wassermassen verschont blieb. Schließlich verblasste der Nebel, und der Gestank nach Fäulnis mischte sich mit dem modrigen Geruch von Erde und frischer Luft. Ein schwacher Lichtschein wies ihnen den Weg aus dem Höhlensystem.
Draußen versank die Sonne am Horizont. Eine schwache Brise kräuselte die Wasseroberfläche des Drachensees, als wäre nichts geschehen.
Torda und Airas gingen zum Zelt. Leela riss sich von Kirean los, rannte zum Ufer und kauerte sich in den Sand. Der Halbelf griff nach einer Decke und ging ihr nach.
„Alles in Ordnung bei dir?“, fragte er besorgt.
„Mir geht es gut“, antwortete sie schleppend.
„Warum kommst du nicht zum Zelt?“, fragte er.
„Das geht nicht. Ich muss hier warten.“
„Warten … auf wen?“
„Bao´gra natürlich.“
„Hat er dir das gesagt?“
„Ja.“
Kirean legte die Decke um Leelas Schultern und ließ sie allein. Vielleicht wussten seine Gefährten, was plötzlich in sie gefahren war. Er brauchte sich nicht mit langen Erklärungen aufzuhalten.
Torda hatte Leela beobachtet und sagte kopfschüttelnd: „Bao´gra hat von Leela Besitz ergriffen. In diesem Zustand können wir sie nicht nach Morgentau bringen. Sie wäre nicht nur für uns, sondern auch für andere eine Gefahr.“
„Ihr wollt Leela zurücklassen!“, fragte Kirean entsetzt.
„Du solltest mich besser kennen, Meisterlauscher. Ich habe noch nie jemanden zurückgelassen. Unser Befehl lautet, Leela nach Morgentau zu bringen, und das werden wir auch tun. Aber ohne Bao´gra - der bleibt hier.“ Er half Airas vor dem Zelt ein Feuer zu entzünden und fragte mit Blick auf Kirean: „Weißt du überhaupt, wie lang du mit Leela im Drachensee gewesen bist?“
„Eine Stunde, vielleicht auch zwei?“
„In einer Stunde wärst du nicht mal bis zum Grund des Drachensees gekommen. Es waren zwei Tage und zwei Nächte. Bao´gra hat dafür gesorgt, dass die Zeit im Drachensee anderen Gesetzen gehorcht. Hättest du seine dunkle Magie nicht gebrochen, der Cumaleen zu Stein erstarren ließ, würden wir jetzt nicht hier zusammen sitzen.“
„Meint Ihr unseren Freund mit der Muschelkrone?“
„Cumaleen ist der Herr des Drachensees.“
Kirean fragte sich, wie sicher Amertharil noch war, wenn Bao´gra im Drachensee sein Unwesen treiben konnte? Aber das sagte er nicht laut.
Airas hatte einen Tee gekocht. Vorsichtig öffnete er eine kleine Phiole und gab einige Tropfen der goldgelben Flüssigkeit in Leelas Becher.
„Das dürfte reichen“, sagte Torda. „Sobald Leela den Tee getrunken hat, wird Bao´gra höllische Kopfschmerzen bekommen und sich wünschen, diesen Tag nie erlebt zu haben.“
Kirean dachte nach. Seit dem Zauberwald war Leela nicht mehr sie selbst. Erst hatte die Alraune sie in den Wahnsinn getrieben, dann hatte Feramon ihr auch noch die Erinnerung genommen und sie zum Objekt seiner Begierde gemacht, zu einer Rose ohne Stacheln.
„Was du für Begierde hältst, ist der Zauber der Liebe“, sagte Torda unvermittelt.
Er hatte mal wieder seine Gedanken belauscht. Zuerst hatte es Kirean gestört, mittlerweile hatte er sich daran gewöhnt. Mehr als einmal hatte er versucht, in Tordas Gedanken zu lesen, doch er war nur auf eine undurchdringliche Mauer gestoßen. Warum das so war, wusste er nicht. Er hatte auch nicht weiter nachgeforscht, weil er es nicht richtig fand, in den Gedanken anderer Menschen herumzustöbern.
„Wird Zeit, das Bao´gra aus Leelas Kopf verschwindet.“ Torda nahm den Becher und ging zu ihr. Leela brütete dumpf vor sich hin. Als er sie ansprach, erwachte sie aus ihrer Erstarrung. Er redete eine Weile mit ihr, aber Kirean konnte nicht verstehen, was er sagte, dafür war er viel zu weit entfernt. Schließlich nahm Leela den Becher entgegen und trank das Gebräu aus. Sekunden später fuhr sie mit der Hand über ihre Stirn und sank bewusstlos zu Boden.
Torda trug sie zum Zelt und sorgte dafür, dass sie bequem lag. Als er Kireans besorgtes Gesicht bemerkte, sagte er augenzwinkernd. „Keine Sorge, Leela wird ein paar schöne Träume haben und sich an keine Dämonen mehr erinnern, wenn sie wieder aufwacht.“
Der Gedanke, dass er ohne Schlaf tagelang im Drachensee gewesen war, bewog Kirean, sich ebenfalls zum Schlafen niederzulegen.
Am nächsten Morgen rüttelte Airas ihn wach. „Steh auf“, sagte er knapp. „Wir brechen gleich auf.“
Leela schlief noch immer.
Torda beugte sich über sie und fuhr mit einer Handbewegung über ihr blasses Gesicht. Ihre Augenlider hoben sich flattern.
„Wie spät ist es?“, fragte sie verschlafen.
Viele Stunden lang waren sie durch den Einhornwald geritten. Nun trieben hoch über ihnen Seemöwen im Wind, die von der nahen Küste des Träumenden Meeres kündeten. Bunte Blumenteppiche schmückten sanft gewellte Haine, aus denen die ersten Häuser der alten Königsstadt Morgentau auftauchten. Kurze Zeit später versetzte Kirean der Anblick des berühmten Elfentempels in helles Entzücken.
Zwölf schlanke Türme aus gleißendem Gold und gesprenkeltem Silber hoben sich wie Spindeln in den Himmel und schimmerten lieblich im Licht der Sonne. Auf den ersten Blick erweckte der filigrane Tempel den Eindruck, als würde er beim kleinsten Lufthauch in sich zusammenstürzen, doch das täuschte. Die einst von Elfenschmieden errichteten Mauern des Tempels waren hart wie Stahl und konnten einer ganzen Armee standhalten.
Nirgends entdeckte er eine Stadtmauer, sie war auch nicht nötig. Die Waldsäume des Einhornforstes schützten Morgentau und zeigten die enge Verbundenheit der Faleneri mit den Kräften der Natur.
Im Inneren der Stadt boten Händler, Handwerker und umherstreifende Elfen feinste Seide, wertvolle Felle von exotischen Tieren, Gewürze, köstliche Speisen, Heilmittel und seltene Zauberzutaten an.
Wie überall auf dem westlichen Kontinent wurde auch in Morgentau gefeilscht und gehandelt, jedoch nicht so laut und marktschreierisch wie in Kalenth oder Camerly, sondern ungewöhnlich diszipliniert und leise. Nur die ärgerliche Stimme eines Schmieds, der versuchte, die Hufen eines störrischen Rappen zu beschlagen, störte die friedliche Atmosphäre ein wenig.
Nach einer Weile lag der Markt hinter ihnen, und sie näherten sich Feramons Elfenpalast. Das Tor aus rosafarbenem Quarz wurde geöffnet, und sie ritten in den Innenhof.
Kirean half Leela aus dem Sattel. Sofort eilten Stallknechte herbei und kümmerten sich um die Tiere. Gemeinsam mit Torda und Airas gingen sie durch einen weiteren Innenhof zum herrschaftlichen Palastflügel.
Eine Zofe in hochgeschlossenem Gewand steuerte auf Leela zu, als hätte sie bereits auf sie gewartet und knickste vor ihr.
„Wenn Ihr mir bitte folgen möchtet, meine Dame“, sagte sie in der allgemeinen Umgangssprache. „Gewiss habt ihr eine anstrengende Reise gehabt und möchtet ein wenig ruhen.“
Leela nestelte nervös an ihrem Mantel herum. „Sehr gerne“, sagte sie, da ihr gar nichts anderes übrig blieb, als der Aufforderung Folge zu leisten.
Torda fasste die Zofe ins Auge. „Unser Auftrag lautet, Leela zu Prinz Vindhar zu bringen“, stellte er klar. „Airas wird Euch begleiten.“
Nachdenklich betrachtete Kirean die Mosaike aus wertvollen Edelsteinen, die in kompliziert fließenden Mustern den Boden zierten, als stünde er in einem Beet voller Blumen. Nicht mehr lange, und Leela würde sich freuen, dem Mann aus ihren Träumen leibhaftig begegnen, doch es fiel ihm schwer, ihre Freude zu teilen. Im Stillen liebte er Leela noch immer, auch wenn er wusste, dass es hoffnungslos war. Nur gut, das Torda ihm nicht aufgetragen hatte, Leela zu begleiten.
Seufzend blickte er sich um. Einige Diener und Boten hasteten durch einen Flur des Palastes, indem eine Gruppe von Elfen stand, die ihn anstarrten. Doch er ließ sich nichts anmerken und versuchte gelassen zu bleiben, denn hier herrschte sein Cousin Feramon aus dem Herrscherhaus Vindhar, Prinzregent von Amertharil.
Natürlich wusste er, dass er als Ritter des Silberdrachenordens seinen mächtigen Cousin nicht mehr zu fürchten brauchte, dennoch sank ihm der Mut. All diese Pracht und der Reichtum schüchterten ihn ein. „Glaubt Ihr, Feramon wird mich empfangen?“, fragte er Torda etwas verunsichert.
„Warum nicht?“
Kirean fielen auf Anhieb eine Menge Gründe ein, warum Feramon ihn abweisen mochte, doch er schwieg.
„Warte hier!“, sagte Torda, als sie in eine große Halle kamen. „Ich muss mit Prinz Vindhar sprechen, bevor du ihm deine Aufwartung machst.“ Er ließ den Halbelfen allein, schob einen Höfling, der das Gespräch mit ihm suchte, unwirsch zur Seite und eilte die Stufen einer breiten Marmortreppe hinauf.
Kirean blickte sich um. Außer zwei Wachtposten, deren Gestalten hinter der sprudelnden Fontäne eines Springbrunnens verschwammen, war niemand zu sehen.
Staunend betrachtete er das säulengestützte Kristalldach, das vom Sonnenlicht in allen Farben des Regenbogens reflektiert wurde. Sein Blick glitt über die farbenfrohen Hochreliefs an den Wänden, die vom Leben der alten Götter in Nuadien und fernen Welten erzählten. Einfachen Elfen und Menschen fiel es schwer, die Dimensionen der anderen Welten auch nur zu erahnen. Aber Tilandria hatte ihm erklärt, wie sie zusammenwirkten.
Wenn du dir einen Kreis vorstellst, befindet sich Nuadien genau in der Mitte, hatte sie gesagt. Aber um Nuadien gibt es noch viele andere Existenzebenen, die nur Eingeweihte und Wissende sehen können. Sie breiten sich wellenförmig in alle Richtungen aus, wie ein Kieselstein, der ins Wasser fällt und seine Kreise zieht ...
Tilandria hatte noch viel mehr erzählt, aber es war schon spät gewesen, und Kirean war eingeschlafen. Die Erinnerung an seine Muter und ihren sinnlosen Tod erfüllte ihn mit Schmerz und Trauer. Für einen kurzen Moment glaubte er, ihre helle Stimme zu hören, doch sie verblasste wie Fußspuren im Sand.
Bedrückt ging Kirean weiter, bis er auf einem Relief eine lebensgroße Gestalt entdeckte. Sie stellte Silghatara dar, der vor einem Altar kniete. Er erkannte den Gott des Guten und des Lichts an seinem Symbol: Eine Sonne, die in seinen Umhang gemeißelt war und über dem Altar auf ihn herab schien. Und in der Hand hielt Silghatara einen funkelnden Kristall, der die Größe und Form einer Pekua hatte.
Kirean hegte keinen Zweifel, dass dieser Kristall den Lichtstein darstellte. Bestimmt war der Lichtstein auf dem Relief nicht echt, dafür war er viel zu kostbar. Doch der Kristall entfachte in Kirean eine eigentümliche Erregung, sodass er näher trat und die Hand ausstreckte, um ihn zu berühren.
Sogleich kamen die Wächter näher. Erschrocken zog er seine Hand wieder zurück. Offenbar war es verboten, den Stein zu berühren. Er fühlte sich plötzlich wie ein Dieb, der heimlich seine Beute in Augenschein nimmt. Hastig wandte er sich ab und ging weiter. Zumindest wusste er jetzt, welche Form der Lichtstein hatte, es sei denn, die Bildhauer hatten das Buch der Götter als Quelle der Inspiration für ihre eigene Vorstellung des Juwels benutzt.
Die meisten Geschichten auf den nächsten Reliefs kannte er, doch eins war darunter, dessen Bedeutung er nicht verstand. Es zeigte zwei Adler, die der Sonne entgegenflogen. Der Adler, der der Sonne am nächsten war, umklammerte mit seinen Klauen den Lichtstein, während der andere Adler hinter ihm herjagte.
„Kennst du ihre Bedeutung?“
Kirean fuhr zusammen und wandte sich um. Er hatte Tordas Rückkehr gar nicht bemerkt. „Nein.“
„Nun, es steht geschrieben, dass Silghatara eines Tages wieder in den Besitz des Lichtsteins kommen wird“, erklärte Torda. „Und wenn dies geschieht, wird er nicht allein sein. Silghatara muss fliehen und verwandelt sich in einen Adler, um den Lichtstein zu schützen. Der andere Adler ist böse. Er begehrt den Lichtstein ebenfalls und verfolgt Silghatara.“
Kirean glaubte, in Tordas Stimme ein leichtes Zittern zu hören, doch er verscheuchte den Gedanken. „Warum steht die Geschichte nicht im Buch der Götter?“, fragte er.
„Weil sie erst in der Zukunft stattfinden wird und die Schrift von der Vergangenheit berichtet. Aber die Faleneri besitzen mächtige Seher.“
„Und wer gewinnt den Kampf? Silghatara oder der böse Adler?“
„Das weiß niemand. Diese Halle ist erfüllt vom Geist der Götter, Kirean“, fuhr Torda andächtig fort. „Nie zuvor bist du den Göttern so nahe gewesen. Die Götter sehen in dein Herz und wissen, was du denkst.“
Von Ehrfurcht ergriffen, dachte Kirean an das Geheimnis, das er mit Llanshar teilte, und eine böse Vorahnung erfüllte ihn. Er spürte, wie Tordas Augen auf ihm ruhten, als wollten sie ganz tief in sein Herz blicken, als suchten sie nach etwas, dass er darin verbarg. Er wollte die Last des Schweigens loswerden, die Llanshar ihm auferlegt hatte, doch er konnte es nicht. Seine Kehle war wie zugeschnürt.
„Wir sollten uns eilen“, sagte Torda. „Prinz Vindhar erwartet dich.“
Seine Worte vertrieben Kireans Gedanken an Llanshar, und er konzentrierte sich auf das bevorstehende Treffen mit Feramon. Viele Monate waren seit ihrer letzten Begegnung verstrichen, und er war gewachsen. Seine Schultern wurden allmählich breiter, und sein Gesicht zeigte die ersten Spuren eines Bartes. Doch nicht nur äußerlich hatte er sich verändert. Bei Erandel hatte er sich wie ein dummer Junge benommen, und so hatte Feramon ihn auch behandelt. Respekt musste man sich verdienen, das hatte er gelernt und viele Dinge mehr.
Vor einem Portal blieb Torda stehen. Bis hierhin hatte er ihn begleitet, von nun an war er auf sich allein gestellt. Die Türflügel wurden geöffnet. Zögernd trat er ein.
Feramon stand in schimmernde Seide gekleidet, mit dem Rücken zu ihm vor einem Fenster. Jetzt drehte er sich um und schritt ihm gemessenen Schrittes entgegen.
„Kirean“, sagte er gedankenvoll. „Ich heiße dich in meinem Palast willkommen.“
„Ich danke dir für diese Ehre“, entgegnete Kirean respektvoll.
„Wie ich hörte, hast du die Prüfung bestanden.“ Der Elfenfürst maß ihn kühlen Blickes. „Bist du gekommen, um deinen Platz an meiner Seite zu finden?“
„Das ist zutreffend.“ Kirean beugte vor Feramon das Knie. „Ich bitte darum, als Ritter vom Orden der Silberdrachen in deine Dienste treten zu dürfen.“
„Eine solche Bitte habe ich noch niemandem verwehrt, doch ist der Lohn, den ich dir geben kann, nur gering, angesichts der Gefahr, in die du dich begibst.“
„Amertharils Feinde sind auch meine Feinde“, versicherte Kirean voller Eifer.
„Gut gesprochen, Cousin. Doch mag dich deine Jugend zu unbedachten Handlungen verleiten, die du später einmal bereuen magst. Du bist mir nicht zu Dank verpflichtet.“
„Ich habe mir meine Entscheidung gut überlegt.“
„Wenn das so ist, will ich deinem Wunsch nicht im Wege stehen. Komm, ich möchte dir etwas zeigen.“ Feramon führte ihn in sein Studierzimmer, in dem es nach Rosen duftete.
Ein leises Krächzen drang zu Kirean herüber. Er braucht nicht lange zu suchen, um seinen kleinen Freund zu entdecken. Spinnzack hockte auf einem Regal zwischen alten Folianten und zupfte sich mit den Krallen seinen Pelz zurecht.
„Ich dachte ...“
„Spinnzack wäre ... tot?“, vollendete Feramon den Satz mit einem flüchtigen Lächeln, wurde aber sofort wieder ernst. „Meine Krieger fanden ihn in Dengist und brachten ihn zu mir. Sein Flügel war gebrochen. Ich nahm ihn mit nach Morgentau und pflegte ihn gesund.“
Kirean wünschte, Spinnzack würde auf seine Schulter fliegen, doch er rührte sich nicht von der Stelle. Offenbar gefiel es ihm bei seinem Cousin.
Der Elfenprinz warf ihm einen verzeihenden Blick zu. „Spinnzack und ich kennen uns schon sehr lange. Llanshar hieß mich einmal auf ihn aufzupassen, als ich noch ein Knabe war.“
Bis jetzt hatte Kirean geglaubt, ihm allein wäre die Ehre zuteilgeworden, Llanshar zu begegnen, und für den Bruchteil einer Sekunde spielte er mit dem Gedanken, Feramon von seinem Pakt mit Llanshar zu erzählen. Aber er hatte ihm Leela genommen, deshalb schwieg er.
Der Elf griff in eine Schublade und reichte ihm ein Buch. Auf dem Einband war ein vielfarbiger Kreis mit verschlungenen Linien zu sehen, in dessen Mitte sich ein goldenes Drachenauge befand.
Das Buch der Götter.
„Was soll ich damit?“, fragte Kirean irritiert.
„Es ist ein besonderes Buch, geschrieben in der allgemeinen Sprache. Ich fand es in Graf Sergains Burg bei Leelas Sachen. Schlag die erste Seite auf, dann weiß du, was ich meine.“
Kirean hatte nur flüchtig in dem Buch geblättert. Die handschriftliche Widmung auf der ersten Seite hatte er übersehen.
Für meine Tochter Leela.
In Liebe, Belgan Lafarel
„Leela ist gar nicht Graf Sergains Tochter?“, fragte er überrascht. „Wer ist dieser Belgan Lafarel?“
„Ein Elf aus Amertharil“, erwiderte Feramon. „Meine Nachforschungen ergaben, dass Belgan in Camerly als Händler lebte und vor vielen Jahren bei einem Streit ums Leben kam. Gelegentlich hielt er sich in Dengist auf, um Sergain wertvollen Zobel zu verkaufen. In jenen Tagen hatte der Graf Jaline Cardem, eine Adelige aus Prianos, zur Gemahlin genommen. Doch der erhoffte Nachwuchs blieb aus, und er gab Jaline die Schuld für die Kinderlosigkeit der Ehe. Was dann geschah, lässt sich nur vermuten. Vielleicht wurde Jaline von Belgan verführt, vielleicht verliebte sie sich und wollte ein Kind von ihm, um ihren Gatten zu besänftigen. Sicher ist nur, dass Belgan die Gunst des Grafen genoss und genau zu der Zeit in Dengist war, als Jaline schwanger wurde. Neun Monate später gebar sie ein Mädchen und hieß es Leela.
Kirean fragte sich, warum er nie auf den Gedanken gekommen war, dass Leela eine Halbelfe sein könnte. Hatte sie ihm das Buch der Götter vielleicht gezeigt, weil sie ahnte, dass sie das gleiche Schicksal teilten und sie mehr über ihren richtigen Vater erfahren wollte?
„Warum hat sich Belgan nicht um Leela gekümmert?“, fragte er.
„Jaline war eine verheiratete Frau. Sie musste ihr Geheimnis für sich behalten, sonst hätte der Graf sie mit Schimpf und Schande verstoßen. Aber dann tat Belgan etwas, was Jaline vermutlich das Leben kostete. Er schenkte ihr das Buch der Götter mit seiner Widmung. Sergain muss es gefunden haben und entdeckte den Betrug. Als Jaline kurze Zeit später starb, war Leela zwei Jahre alt. Damals gab es Gerüchte, manche sprachen von Gift. Melcus Tagid muss davon gewusst haben und erzählte es Gaudra Nachtschatten. So konnten sie Sergain erpressen, und er ließ die Dunkelelfen in die Burg, um seinen Hals zu retten.“
„Dabei hätte ich schwören können, dass der Graf Leela aufrichtig liebte“, murmelte Kirean. „Er las ihr jeden Wunsch von den Augen ab.“
„Vielleicht hatte er ein schlechtes Gewissen oder er gewann Leela doch lieb, obwohl sie nicht seine leibliche Tochter war.“
„Wird Leela jemals erfahren, wer ihr richtiger Vater ist?“, sprach Kirean seinen Gedanken laut aus.
„Was würde ihr die Wahrheit nützen?“, gab Feramon zurück. „Manchmal ist es besser, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Ich werde dafür sorgen, dass es Leela in Morgentau an nichts mangelt.“
Der Wind pfiff eisig durch die rußgeschwärzten Wände, die nur notdürftig mit einer Mischung aus Lehm, Kalk, Stroh und Tierhaaren abgedichtet waren. Ein Strohsack diente Gwenda Berisha als Schlafplatz, ein stinkendes ausgedientes Fischernetz als Kopfkissen.
Die Rebellin wischte sich den Schweiß von der heißen Stirn. Sie hatte Fieber, wie so oft in den letzten Tagen. Das Fieber kam wie angeflogen und verschwand nach einiger Zeit wieder, dann kehrte es zurück wie ein schleichendes Gift, das ihren ausgemergelten Körper schüttelte.
Neben Gwenda lag ihr jüngerer Bruder Kalthas. Das trübe Licht einer Öllampe beschien sein wenig Vertrauen erweckendes bärtiges Gesicht mit den schwarzen überhängenden Augenbrauen.
Gwenda biss die Zähne zusammen, und goss aus einem Krug Wasser in eine Holzschale, die sie ihm reichte.
Stöhnend stemmte sich der Bruder auf die Ellbogen und trank so hastig, als wäre es das letzte Mal in seinem Leben. Er hatte bei den Kämpfen viele Fleischwunden davongetragen - keine lebensbedrohenden Verletzungen, aber der hohe Blutverlust hatte ihn geschwächt.
Jede Bewegung erinnerte Gwenda schmerzlich an die Pfeilspitze, die noch immer tief in ihrer rechten Schulter steckte. Kalthas hatte versucht, den Pfeil herauszuziehen, sich dabei aber so ungeschickt angestellt, dass der Schaft abgebrochen war.
„Wie fühlst du dich?“, ächzte der Bruder.
„Geht so“, murmelte sie.
„Wenn ich den Elf erwische, der dir den Pfeil verpasst hat, werde ich ihm eigenhändig die Haut abziehen.“
Gwenda schwieg in stummer Verzweiflung. Die Rebellen hatten in den letzten Wochen große Teile Rivanoes eingenommen. Sie waren bis zur Hauptstadt Naraika vorgedrungen und hatten den verhassten König Tarrish aus seiner Residenz vertrieben. Später hatten die Freischärler ihren Sieg gefeiert und den herrschaftlichen Weinkeller geplündert. Sie war nicht eingeschritten, auch nicht, als die Wachen rund um Tarrishs Burg heimlich Wein bis zum Umfallen tranken. Nach all den Entbehrungen der letzten Monate hatte sie ihnen das Feiern gegönnt. Dann waren die Elfenkrieger gekommen und hatten die Schläfer gnadenlos abgeschlachtet. Wer nicht vom Pfeilhagel getroffen wurde und noch laufen konnte, hatte die Flucht ergriffen.
Prinz Vindhar hatte seine Drohung wahr gemacht und Sayis Laval, den Kommandanten von Adlers Wacht, befohlen, König Tarrish beizustehen. Im letzten Moment war es ihr mit Kalthas gelungen, nach Viard zu fliehen, einem kleinen Fischerdorf in der Nähe von Naraika.
Gwendas Magen knurrte lautstark. Was würde sie um ein Stück Brot geben, egal wie trocken und hart, aber ihre Vorräte waren aufgebraucht. Der Fischer, bei dem sie untergeschlüpft waren, hatte selbst kaum etwas zu essen. Die Elfenkrieger waren überall und durchsuchten jedes Dorf, die kleinste Hütte und jeden Schuppen nach Rebellen. Wenn man sie fand, würde der Fischer dafür mit seinem Leben bezahlen. Sobald es Kalthas besser ging, mussten sie fort von hier. Wohin, das wussten die Götter allein.
Gwenda hasste die Armut, die ihr aus jeder Ritze und aus jedem Winkel der Behausung entgegen starrte und den Geruch der Armut, der mit jedem Atemzug in ihren geschwächten Körper drang. Voller Bitterkeit dachte sie daran, wie alles begonnen hatte.
Ihre Eltern waren von Tarrishs Schergen von ihrem Hof vertrieben worden. Kurze Zeit später war zuerst der Vater, dann die Mutter gestorben. Verwandte gab es nicht, zu denen sie hätte gehen können. Sie waren tot oder in die unzugänglichen Berge geflohen.
Frierend und bettelnd war sie mit Kalthas durch Naraika geirrt, bis zu dem Tag, als Bruder Martim sie in einer nasskalten Gasse aufgelesen und zum Kloster vom Orden des Totengottes Onduil gebracht hatte. Die Brüder und Schwestern des Ordens glaubten, das Ende der Welt stünde kurz bevor und würde durch einen letzten Angriff der dunklen Mächte herbeigeführt werden. Dies zu verhindern und Onduils Gnade zu erflehen, auf dass er den Menschen einen letzten Aufschub gewährte, ihre schlechten Taten zu bereuen, war der einzige Sinn und Zweck ihres trostlosen Daseins.
Hinter feuchten und kalten Klostermauern hatte Gwenda schmerzlich gelernt, was richtiger Hunger bedeutete. Morgens gab es Brennnesselsuppe und abends einen Eintopf aus halbverfaultem Gemüse. Und wenn Bruder Koch jedem eine Kelle in die Schale goss, hatten sich die Kinder gierig auf
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Fiona White
Cover: Fiona White
Tag der Veröffentlichung: 08.07.2021
ISBN: 978-3-7487-8769-3
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