Düsseldorf, Samstag 18. Februar 2017
Ein knirschender Laut drang in sein Bewusstsein, ein Laut, der sich auf schwer zu bestimmende Weise gefährlich und feindselig anhörte.
Er blinzelte. Dunkelheit umgab ihn. Durch einen schmalen Spalt in den Samtvorhängen sickerte das graue Licht der nächtlichen Straßenbeleuchtung, aber es reichte kaum aus, um die Hand vor Augen zu sehen.
Er tastete nach dem Lichtschalter, konnte ihn nicht finden. Geisterhafte Schatten. Die Vorhänge bewegten sich. Ein kalter Luftzug streifte sein Gesicht. Jetzt konnte er flüsternde Stimmen hören.
Einbrecher, schoss es ihm durch den Kopf.
Gab es eine Alarmanlage in seiner Suite? Er wusste es nicht, hatte sich nie damit beschäftigt. Keine Zeit, weiter darüber nachzudenken. Er war allein und vollkommen nackt. Zu spät, um Hilfe zu holen.
Sein Krummdolch, ein handgeschmiedeter Kandschar, ohne den er niemals verreiste, lag unter dem Kopfkissen. Er griff unter das Kissen, zog die zweischneidige Klinge aus der Schwertscheide und schwang die Beine aus dem Bett. Auf Zehenspitzen schlich er die wenigen Meter zum Schreibtisch, presste sich in den Schutz eines Schranks. Gerade noch rechtzeitig.
Sie kamen durch das Fenster und sprangen mit katzenhafter Geschmeidigkeit in sein sündhaft teures Domizil. Schwarz gekleidete Gestalten, die Gesichter hinter Skimasken verborgen, mit Schlitzen für Augen und Mund. Und sie fühlten sich vollkommen sicher. Die Lichtkegel ihrer Stabtaschenlampen zuckten über den halb geöffneten Baldachin, der sich über seinem Schlafgemach wölbte, weiter über die Bettdecke, unter der er soeben noch gelegen hatte und fixierten den Zimmersafe mit altmodischem Zahlenschloss über der Minibar.
Hastig verbarg er die Klinge hinter seinem Rücken, damit sich auf dem Metall kein verirrter Lichtstrahl brach, der ihn verriet. Sie wollten ihn berauben? Dann hatten sie sich den Falschen ausgesucht. Er würde sie gebührend empfangen, mit hartem Stahl in den Rücken. Die Gelegenheit dazu kam schneller, als er zu hoffen wagte.
Ein Maskierter, schlank und hochgewachsen, näherte sich seinem Versteck und blieb nur eine Handbreit neben ihm stehen. Als der Strolch weitergehen wollte, stieß er mit dem Kandschar zu.
Im letzten Moment bemerkte der Strolch die Bewegung, fuhr herum und lenkte die Stichwaffe von seinem Hals ab. Es reichte nicht ganz – die gesägte Klinge streifte die Schulter des Eindringlings, der mit einem schmerzhaften Aufschrei zurückprallte.
Wutschnaubend packte er den Räuber, griff Halt suchend nach dessen Ohren unter der Skimaske und versuchte ihm mit den Daumen die Augäpfel einzudrücken.
Instinktiv riss der Einbrecher die Arme hoch und wehrte den Fingergriff ab. Im flackernden Licht einer LED-Quelle blitzten für den Bruchteil einer Sekunde eisblaue Augen auf, die sich tief in sein Gedächtnis eingruben. Die Attacke sollte sich jedoch als Fehler erweisen.
Ein weiterer Halunke sprang von der Seite herbei und rammte ihm fluchend sein Knie in die Magengrube, ein anderer schlug ihm die Faust ins Gesicht. Er verlor die Balance und stürzte der Länge nach über einen Glastisch, der unter seinem Gewicht zerbrach. Mühsam kam er wieder auf die Beine und stach noch in der gleichen Bewegung wild um sich.
Völlig überrascht von der Gegenwehr duckten sich die Ganoven hinter umgekippten Sesseln und benutzten heruntergerissene Bilder und Kissen als Schutzschilder, wobei das Gestänge des Baldachins zusammenkrachte. Keuchend vor Anstrengung ließ er den Krummdolch fallen und versuchte stolpernd nach einer Stange zu packen, doch seine Hände griffen ins Leere.
Sie stürzten sich auf ihn und brachten ihn zu Fall. Schläge und Tritte prasselten auf ihn ein. Mit aller Kraft bäumte er sich auf, schrie und trat um sich, aber gegen die Übermacht seiner Peiniger hatte er keine Chance. Eine Stiefelspitze krachte in seine Rippen und drückte ihm die Luft aus den Lungen. Er lag auf dem Boden, mit dem Gesicht nach unten und rang nach Atem.
Jemand presste ein Knie in seinen Rücken. Seine Hände und Füße wurden zusammengezwungen und mit Klebeband umwickelt. Warmes Blut glitscht unter seinen nackten Körper, als sie ihn an den Haaren über den Teppich schleiften und an einen Metallpfosten des Bettgestells fesselten. Gemurmelte Flüche in einer Sprache, die ihm vertraut vorkam. Sie hatten geglaubt, niemand wäre in der Suite. Sie hatten sich geirrt.
Der Mann mit den Eisaugen, bei dem es sich offenbar um den Anführer der Gangster handelte, drückte ihm die kalte Mündung einer Pistole an die Schläfe, forderte den Zugangscode für den Safe.
Er wollte nicht sterben, nicht jetzt und hier, fern der Heimat. Er wollte ihm die Kombination verraten, doch in seiner Todesangst fiel ihm die Zahlenkombination nicht ein.
Eisauge verstärkte den Druck der Pistole und wiederholte seine Forderung.
Er brachte kein Wort hervor, presste die Lippen zusammen. Auf den Gedanken, falsche Zahlen zu nennen, kam er nicht. Es hätte auch nichts genutzt.
Ein scharrendes Geräusch. Eisauge zog den Pistolenlauf durch.
Er hielt den Atem an, sein Puls raste.
Klick. Doch die Explosion in seinem Schädel blieb aus.
Eisauge lachte, den Finger am Abzug.
KLICK. KLICK. KLICK.
Plötzlich ein dumpfer Schlag gegen die Schläfe – dann Schwärze.
Als er wieder zu sich kam, war die Räuberbande verschwunden, sein Rücken ein einziger Schmerz. Vergeblich versuchte er das Blut wegzublinzeln, das aus einer Wunde an der Stirn in seine Augen tropfte. Bei dem Versuch, sich von den Fesseln zu befreien, scheuerte er sich die Handgelenke auf. Ein Knebel verhinderte, dass er um Hilfe rufen konnte. Und so lag er da, ein Auge von Schlägen und Tritten fast zugeschwollen und starrte auf den leeren Safe. Entehrt und seiner Würde beraubt.
Eine Straßenbahn rollte heran und kam an dem langen Bahnsteig zum Stehen. Dort wartete Oberkommissar Paul Mehring, bis die Hydrauliktüren zischend aufschwangen und ließ eine Gruppe von Schülern aussteigen, bevor er einem Herrn mit altersfleckiger Glatze in den hinteren Bereich der Bahn folgte.
Mit einer Flinkheit, die dem Alten Hohn sprach, schnappte er ihm den letzten Sitzplatz vor der Nase weg und zog aus seiner Jacke eine Tageszeitung hervor.
„Grippewelle rollt auf Düsseldorf zu“, titelte das Boulevardblatt.
„Artpraxen und Ambulanzen erwarten Ansturm von Grippekranken.“
Der Glatzkopf schlug umständlich die zweite Seite auf, und Mehring las kostenlos mit, eine Unart, wie er sehr wohl wusste.
„Was Sie jetzt über Grippe wissen sollten. Unsere Expertin vom Robert Koch Institut beantwortet die wichtigsten Fragen.“
Große Menschenansammlungen meiden ... häufig die Hände waschen ...“
Aha. Wohl dem, der nicht mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fahren muss, dachte Mehring verdrießlich. Die Heizradiatoren unter den Sitzen verströmten eine warme stickige Luft, die sich mit der feuchten Kleidung und den Ausdünstungen zu vieler Menschen auf zu engem Raum mischte.
Er wischte sich die Schweißperlen von der Stirn, öffnete seinen Mantel und lockerte seinen Wollschal. Ein stechender Schmerz durchzuckte seinen Oberkiefer. Sein Eckzahn oben rechts machte seit Wochen Ärger. Der Besuch beim Zahnarzt war wie eine Folter im finstersten Mittelalter gewesen und hatte ihm gründlich den Samstagmorgen vermiest.
Neben ihm stand ein Typ mit langer Matte und nieste vehement in seine Richtung. Zu spät drehte Mehring den Kopf zur Seite. Speicheltröpfchen trafen seine Wange und sprühten auf die Zeitung. Sehr gesund.
Der Greis ließ das Boulevardblatt sinken, wandte ruckartig den Kopf und starrte die lange Matte über die dicken Gläser seines Kassenbrillengestells böse an. „Schon mal was davon gehört, die Hand vor den Mund zu halten?“
„T´schuldigung“, murmelte der Gescholtene.
„Haltestelle Jan-Wellem-Platz“, säuselte eine elektronische Frauenstimme in eintönigem Singsang. Endlich. Hier musste Mehring aussteigen. Bloß raus aus der mit Grippeviren verseuchten Bahn. Musste ja nicht sein, dass jeder die Grippe bekam, nur weil einige Zeitgenossen keine Rücksicht kannten.
Draußen fegte ihm ein eisiger Wind dicke Regentropfen ins Gesicht. Fluchend schob er seine Schiebermütze aus braunem Tweed tiefer in die Stirn und hievte seinen massigen Körper von über hundert Kilo über die schlüpfrigen Gleise zum nächsten Bürgersteig. Ärgerlich, dass sein Audi A3 ausgerechnet heute zur Inspektion in der Werkstatt stand, sonst wäre er ganz gewiss nicht mit der Bahn in die Stadt gefahren. Helene Fischers Atemlos-Klingelton schmetterte in seiner Manteltasche.
Er zog sein Handy hervor und wischte über das Display. Kollege Ralf Petzold. Ralf arbeitete mit ihm zusammen beim KK 11, dem Kriminalkommissariat für Todesermittlungen, Sitten- und Branddelikte. Außerdem war Ralf sein Freund. Sie trommelten zusammen in der Blaskapelle Hövelhof. „Was gibt’s, Ralf?“ Seine Frage wurde von Polizeisirenen verschluckt. Ralf sagte etwas, doch er konnte ihn nicht verstehen. „Warte mal einen Moment!“ Mehring öffnete die Tür eines nahen Schreibwarenladens und schlüpfte hinein. „So, jetzt ist es besser. Was hast du gesagt?“
„Morgen“, krächzte Ralf. „Wie war´s beim Zahnarzt?“
„Schrecklich.“ Mehring seufzte abgrundtief. „Entzündeter Eckzahn oben rechts. Doktor Hoger meinte, da würde nur noch eine Wurzelbehandlung helfen, wenn ich den Zahn behalten möchte. Betäubung bräuchte ich nicht, der Nerv sei schon lange tot. Aber das stimmte nicht. Ich habe Höllenqualen gelitten.“
„Tja, so ist das, wenn man Angst vorm Zahnarzt hat. Was ich sagen wollte ...“ Ralf unterbrach sich und hustete vernehmlich. „Du wirst die nächsten Tage leider ohne mich auskommen müssen.“
„Wieso?“
„Bin krank.“
„Ach, was hast du denn?“
„Na, was wohl? Die Grippe natürlich. Krankmeldung kommt per Post, nur, damit du schon mal Bescheid weißt.“ Ein weiterer Hustenanfall folgte, so trocken, als hätte Ralf Kreide gegessen.
„Dann fällt die Probe heute Abend in Hövelhof wohl flach für dich, hm?“
„So sieht´s aus. Ich kann mich kaum auf den Beinen halten.“
Ausgerechnet jetzt, kurz vor Rosenmontag. Wie jedes Jahr hatte Mehring für den kilometerlangen Karnevalsumzug durch die Düsseldorfer Innenstadt Urlaub aus besonderem Grund eingereicht. Hochzeiten und Beerdigungen waren ein besonderer Grund, aber leider nicht die Blaskapelle Hövelhof, die beim Rosenmontagszug für Stimmung sorgte. Seinem Urlaubswunsch stand das polizeiliche Sicherheitskonzept für hunderttausende von Besuchern entgegen, wofür alle verfügbaren Kräfte gebraucht wurden. Das letzte Mal hatte er vor fünf Jahren freibekommen, aber noch wollte er die Hoffnung nicht aufgeben - vielleicht klappte es ja dieses Jahr.
„Bloß keine Panik“, erreichte ihn Ralfs arg lädierte Stimme vom anderen Ende der Leitung. „Bis Rosenmontag bin ich wieder fit.“
„Ja, dann ... gute Besserung.“
Mehring beendete das Gespräch und schaltete den Ton aus, bevor noch ein weiterer Kollege auf die Idee kam, ihn an seinem freien Wochenende anzurufen. Er verließ den Laden, beäugt vom finsteren Blick einer Verkäuferin, die es gar nicht schätzte, dass er in den Laden hinein- und wieder herausspazierte, ohne etwas gekauft zu haben.
Regen tropfte in seinen Nacken, kalt wie Eis. Er schlug den Mantelkragen hoch und marschierte über die Schadowstraße zur Königsallee, eine der führenden Luxuseinkaufsstraßen in Europa, die zahlungskräftige Kunden aus aller Welt anlockte.
Von hier aus waren es nur noch ein paar Schritte bis zur Galeria Kaufhof. Mit einer Rolltreppe gelangte er trockenen Fußes zur Lebensmittelabteilung im Untergeschoss, das in eine Unterführung führte.
TAATÜÜTAATAA. TAAATÜÜÜTAAATAAA.
Schon wieder Sirenen. Was war denn da los? Zusammen mit anderen Schaulustigen eilte Mehring die Stufen einer Treppe nach oben. Ein Streifenwagen mit Blaulicht raste an ihm vorbei und parkte hinter einem Krankenwagen ganz in der Nähe des Luxushotels Habakuk.
„Gehen sie wieder nach unten!“, rief Jasmin Krause, eine hübsche Streifenpolizistin in wind- und Regen abweisender Uniform den Neugierigen zu, die aus der Unterführung drängten. „Hier gibt´s nix zu sehen!“
Die Aufforderung ignorierend, stahl sich Mehring an Krause vorbei, den Blick auf das Hotel gerichtet, indem er den Grund des Übels für den Großeinsatz vermutete.
„He, Sie da! Sind Sie taub? Sie sollen zurückgehen!“ Er blieb stehen und wandte sich um.
„T ... tut mir leid, Herr Mehring“, stotterte Krause errötend. „Ich habe Sie nicht sofort erkannt.“ In der Kälte formte ihr Atem kleine Wölkchen, die vom regnerischen Wind sofort wieder fortgeblasen wurden.
Mehring kannte Krause flüchtig. Sie arbeitete bei der Polizeiwache Bilk, die im Präsidium unweit des Eingangs untergebracht war. „Schon gut.“ Er wedelte ungeduldig mit der Hand. „Sagen Sie mir einfach, was hier vorgeht?“
„Juwelenraub im Habakuk. Ein Scheich wurde verletzt. Der Notarzt ist bei ihm.“
„Gibt es noch mehr Verletzte?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Tote.“
„Nein.“
Krause widmete sich wieder den Gaffern. „Zurück!“, rief sie mit antrainierter Strenge. „Haben sie nicht gehört? Sie sollen zurückgehen! Das Hotel ist weiträumig abgesperrt. Hier kommen sie nicht weiter.“
Unterdessen trugen zwei Sanitäter eine Bahre, auf dem ein regloser Mann lag, zum Rettungswagen der Feuerwehr. Die metallisch schimmernde Decke aus wasserdichtem Polyester schützte den Verletzten vor Unterkühlung und bildete einen scharfen Kontrast zu seinem schwarzen Kraushaar. Zunächst glaubte Mehring, der Mann sei bewusstlos, doch er rührte sich und legte stöhnend eine Hand über seine Augen. Vermutlich der Scheich. Im Weitergehen hörte Mehring, wie die Hecktüren des Krankenwagens zugeknallt wurden.
Streifenwagen mit blau kreisenden Lichtern blockierten alle Zufahrten zum Habakuk. Uniformierte und Sachverständige umlagerten das Hotel. Rufe überall. Funkgeräte rauschten und knisterten. Die Konzentration der Einsatzkräfte verhieß nichts Gutes. Hier ging es um mehr, als einen verletzten Scheich und gestohlene Juwelen.
Ein Mann trat aus dem Haupteingang des Hotels und klappte das Visier seines Helms auf. In seinem 25 Kilo schweren Schutzanzug bewegte er sich schwerfällig wie Bib, das Michelinmännchen in seinen Reifen. Ihm folgten grimmig dreinschauende Männer der Hundestaffel mit Sprengstoffspürhunden.
„Bombenalarm“, raunte eine sonore Männerstimme neben Mehring. „Vor einer guten halben Stunde gab´s Entwarnung. Die Kollegen vom KDD brauchten Verstärkung und haben mich aus dem Bett geklingelt. Hab versucht, dich zu erreichen, aber du bist nicht dran gegangen.“
Mehring drehte sich um und blickte in das regennasse Gesicht seines Partners Peter Arnold, einen drahtigen Mann Anfang vierzig mit dichten Brauen, blitzenden Augen und kurz geschorenen Haaren, um die kahlen Stellen zu kaschieren. Wegen seiner antrainierten Sixpacks wurde er von Freunden und Kollegen „Arnie“ genannt.
„Schöner Schlamassel“, brummte Mehring. „Unser freies Wochenende können wir wohl abschreiben, was?“ Manche Ganoven hatten immer noch nicht mitbekommen, dass der Kriminaldauerdienst auch am Wochenende rund um die Uhr ermittelte. Bei schweren Straftaten, wozu ein bewaffneter Raubüberfall zweifellos gehörte, mussten die Fachkommissariate rauskommen. Im Stillen fragte er sich, warum Krause ihm den Bombenalarm verschwiegen hatte? Vielleicht hatte die eifrige Polizistin es nicht mitbekommen oder in der Hektik vergessen.
„Die verdammten Gauner haben uns in der Scheich-Suite einen tickenden Rucksack hinterlassen“, erboste sich Arnie. „Der Überfall passt zu der georgischen Bande, die in den letzten Wochen zwei Juwelierläden in der Innenstadt ausgeräumt hat. Die gleiche Masche, nur dass es kein tickender Rucksack war, sondern Bombenattrappen.“
„Was war in dem Rucksack?“, erkundigte Mehring, den so schnell nichts aus der Ruhe bringen konnte.
„Ein mechanischer Glockenwecker, auf alt getrimmt. Das blöde Ding hat uns zwei Stunden auf Trab gehalten. Während du beim Zahnarzt deine Beißleisten schön weit aufgesperrt hast, mussten wir alles, was Beine hat, aus dem Habakuk evakuieren. Mit den Hotelangestellten gab´s keine Probleme - die waren wie der geölte Blitz im Freien. Aber eine feine Dame ...“, Arnie spie die letzten beiden Worte wie einen schlechten Nachgeschmack aus, „mit Turbo-Titten und High Heels, dass mir beim Hinsehen schon ganz schwindelig wurde, hat vielleicht ein Theater veranstaltet. Wollte unbedingt noch ihre Reichtümer in Sicherheit bringen, als hätte sie alle Zeit der Welt. Rausscheuchen mussten wir sie, fast mit Gewalt.“ Er zeigte auf den hoteleigenen Parkplatz, gesäumt von mächtigen Eichen und Strauchwerk. „Da hat sie gestanden, die Ziege und geflucht wie ein Kesselflicker, weil ihre Füße nass wurden. Ich sage dir, diese Reichen sind eine Plage.“
„Fängst du schon wieder damit an?“
„Ist doch wahr.“
Arnies war ein Sozi, seine Einstellung zum Blutsaugerkapitalismus hinreichend bekannt. Sinnlos darüber mit ihm zu diskutieren. „Wo sind die Hotelgäste jetzt?“, fragte Mehring.
„In der Lobby. Sie müssen noch als Zeugen vernommen werden. Bin nur kurz raus, um eine zu qualmen.“ Arnie fischte aus seiner verschlissenen Lederjacke eine zerbeulte Packung West und versuchte sich eine Zigarette anzuzünden, aber sein Plastikfeuerzeug, von dem bereits die rote Farbe abblätterte, funktionierte nicht. „Mist. Hast du mal Feuer, Paul?“
„Nein. Ich habe vor einem Jahr mit dem Laster aufgehört. Schon vergessen?“ Mehring drehte sein Gesicht aus dem Regen und spähte zu einem Team der Spurensicherung in weißen Plastikoveralls, die ein morastiges Dickicht durchstöberten und jeden Zweig umdrehten.
Eine karge Wiese trennte die Experten von den Schaulustigen, die wohlig schaudernd Anteil an menschlichen Tragödien und Sensationen vorheuchelten. Dicht gedrängt harrten sie hinter einem rot-weißen Flatterband unter ihren Regenschirmen aus, dazwischen einige Asiaten, die Fotos fürs Familienalbum schossen, Schüler, die vermutlich den Unterricht schwänzten und Mütter mit quengelnden Kleinkindern an den Händen. Selbst die Wildgänse im nahen Weiher reckten die langen Hälse und schnatterten empört, weil sie sich in ihrer Ruhe gestört fühlten.
Hinzu kamen Kameraleute einer lokalen Fernsehstation, und Journalisten der hiesigen Klatschblätter riefen Mehring lauthals Fragen zu, die er weder beantworten wollte, noch konnte. Sie kannten das Prozedere, wussten, sie würden sich bis zur Presseerklärung gedulden müssen. Da sie keine verlässlichen Informationen bekamen, widmeten sie sich den Gaffern und gaben ihnen das Gefühl wichtige Zeugen zu sein, obwohl die meisten vermutlich gar nichts wussten.
„Da fällt mir ein, ich habe doch heute Morgen ...“ Arnie durchwühlte seine Hosentaschen. „Ah, da ist es doch.“ Er zog ein Sturmfeuerzeug hervor, zündete den Glimmstängel an und nahm einen tiefen Zug auf Lunge. „Scheißwetter“, schimpfte er. „Bin noch keine fünf Minuten draußen und schon wieder klatschnass.“
„Kaffee?“ Ein Kollege hielt eine Thermoskanne in die Höhe.
„Hier!“, ächzte Arnie. „Am besten einen doppelten Espresso.“
Gute Idee, dachte Mehring, der ebenfalls reichlich durchnässt war. Aber erst wollte er sich den Tatort ansehen. „Wo finde ich die Suite des Scheichs?“, fragte er Arnie.
„Dritter Stock, Zimmer 307.“
Ein besonders nerviger Pressefritze hatte es geschafft, durch die Absperrung zu kommen, und stürmte auf sie zu.
„An deiner Stelle würde ich den Hintereingang nehmen.“ Arnie bleckte die Zähne, bereit, die Nervensäge zu empfangen. Ein Kollege reichte ihm einen Becher mit dampfendem Kaffee, den er dankend entgegennahm.
Mehring verschwand durch die Hintertür und stieg die Treppe zum dritten Stock des Habakuk hoch. Den Namen verdankte das Hotel einer Skulptur von Max Ernst, die vor der Kunsthalle in der Altstadt stand. Nach einigem Suchen – zunächst folgte er einem Gang in die falsche Richtung und landete vor einer Wand mit geblümter Tapete im Landhausstil –, fand er die Scheich-Suite. Die Tür stand offen. Obwohl das Fünfsternehotel schon häufig den Besitzer gewechselt hatte, erfreute es sich bei Gästen aus Politik, Wirtschaft und Kultur großer Beliebtheit. Heute zeigte es sich jedoch von seiner dunklen Seite.
Die Suite bot ein Bild der Verwüstung. Alle Schubladen und Schränke waren durchwühlt, der Baldachin über dem Bett zusammengestürzt.
Auf dem Boden glitzerten die Scherben eines Spiegels, gekrönt von einem Ölgemälde mit aufgeschlitzter Leinwand. Überall flogen exotisch anmutende Kleidungsstücke in leuchtenden Farben herum und Paradekissen, aus denen Federn quollen. Zerrissene Vorhänge aus Samt und Seide zogen sich kreuz und quer durch den Raum und verdeckten teils das kostbare Teakholz-Mobiliar. Zweifellos hatte hier ein Kampf stattgefunden.
Experten der Spurensicherung bewegten sich vorsichtig zwischen Scherben und herumfliegenden Federn, steckten Haare und winzige Fasern in Asservatenbeutel und nahmen Blutproben vom Boden, dem Bett und der Wand dahinter. Ob es sich um Frauen und Männer handelte, wusste er nicht zu sagen, denn in ihren Schutzanzügen sahen sie alle gleich aus.
Seine Augen hefteten sich auf Ines Wanke, eine schlanke Frau um die dreißig mit pflegeleichter Kurzhaarfrisur. Sie leitete das Team der Spurenermittler und war gerade dabei, eine Faser von einem Fußabdruck abzukratzen, der sich auf einem Teppich abzeichnete. Nun richtete sie sich auf, versenkte ihren Fund in einen transparenten Beweismittelbeutel und beschriftete ihn sorgfältig. Als sie fertig war, öffnete sie den Reißverschluss ihres Overalls, der ihre pastellblaue Bluse entblößte und eine Goldkette mit einem Glücksbringer in Form eines vierblättrigen Kleeblatts.
„Hallo, Paul“, grüßte sie. „Wo bist du gewesen? Ich habe dich schon vermisst.“
Heuchlerin. Mehring dachte an die Zeit zurück, als Ines ihn wirklich vermisst hatte, als sie es gar nicht erwarten konnte, bis er an ihren Ohrläppchen geknabbert und mit seinen Händen die Innenseite ihrer wohlgeformten Schenkel massiert hatte. Aber das war lange her. Liebe war nicht im Spiel gewesen, nur Sex und Begierde. Ines war nicht traurig gewesen, als seine Besuche ausgeblieben waren. Sie hatte sich durch das halbe Kommissariat gevögelt.
„Wie heißt der Scheich?“, fragte er sie.
„Kasun bin Achmed“, antwortete Ines wie aus der Pistole geschossen. „Steinreicher Geschäftsmann aus Kubai.“
„Konntest du mit ihm sprechen?“
„Ja, aber nur kurz. Der Bereitschaftsarzt hat ihm eine Beruhigungsspritze verpasst. Bin Achmed war gestern geschäftlich in Berlin. Er wollte erst heute nach Düsseldorf zurückkommen, dann änderte er seine Pläne und kam schon gestern Abend.“
„Offenbar verfügen die Halunken über Insiderwissen, sonst hätten sie nicht gewusst, dass er im Habakuk logiert.“
„Sieht ganz danach aus.“
„Was sagt die Videoüberwachung?“
„Nichts. Die Scheißkerle haben die Kabel gekappt. Danach hatten sie reichlich Zeit die Beute einzusacken und im Schutz der Dunkelheit zu verschwinden.“ Ines´ Lippen verzogen sich zu einem Grinsen. „Aber sie rechneten nicht damit, den Scheich im Bett zu finden. Er hat sich gewehrt. Darum das viele Blut. Schade, dass er überwältigt wurde, sonst hätte er das Gaunerpack gleich bei der nächsten Polizeiwache abliefern können.“
„Wie viele waren es?“
„Drei, vielleicht auch mehr. Bin Achmed schlief bereits. Als sie durchs Fenster kletterten, wurde er wach. Im Dunkeln konnte er nicht viel erkennen.“
„Wann war das?“
„Nach Mitternacht, zwischen eins und zwei. Später haben sie den Zimmertresor aufgebrochen und seine Juwelen geraubt.“
„Konnte er die Täter beschreiben?“
„Sie waren maskiert und trugen Handschuhe.“
„Wie die Hälfte aller Räuber. Hört sich nach einer organisierten Bande aus Osteuropa an, die von den offenen Grenzen in der EU profitiert.“ Mehring rieb sich den buschigen Schnauzbart. „Habt ihr schon irgendwelche Werkzeuge oder Waffen gefunden?“
„Bis jetzt nur einen blutigen Krummdolch. Die Scheide, in der der Dolch steckte, ist mit Edelsteinen verziert. Sieht orientalisch aus. Könnte bin Achmed gehören.“
„Hat er die Kerle erwischt?“
„Gute Frage, das wüsste ich auch gern. Leider war er von dem Beruhigungsmittel schnell benebelt und ist weggedämmert. Vielleicht hat er sie erwischt, vielleicht auch nicht. Wir haben Blutspuren gefunden, die noch analysiert werden müssen.“
„Falls das Blut nicht von bin Achmed stammt, und wir die DNA in der Zentraldatei finden, schnappen wir die Halunken. Hat er sonst noch was gesagt, eine Besonderheit vielleicht?“
„Mann, Paul, du bist heute echt hartnäckig.“
„Denk nach! Wir müssen einen bewaffneten Raubüberfall aufklären.“
„Die Täter sollen englisch mit schottischem Akzent gesprochen haben.“
„Na, das macht die Sache doch interessant. Woher weiß bin Achmed das?“
Ines zuckte die Schultern. „Er wäre nicht der erste Scheich, der in Großbritannien studiert hat und mit der englischen Sprache und ihren Dialekten vertraut ist.“
„Das wäre möglich, ja.“
„Heiß hier.“ Sie nestelte an ihrem Schutzanzug herum. „Kann mal jemand die Heizung runterstellen?“
„Schon geschehen“, sagte Olaf, der diensthabende Fotograf vom Erkennungsdienst, ein kleiner Mann mit Nickelbrille, der mit seiner Digitalkamera Fotos vom Tatort schoss.
Mehrings Blick fiel auf einen schwarzen Rucksack, der als Beweismittel verpackt, neben der Tür stand. Das Teil musste schon ein paar Jahre auf dem Buckel haben, denn die roten Querstreifen waren kaum noch zu erkennen. „Hast du mal reingeschaut, Ines?“
„Noch nicht. Unmögliches wird sofort erledigt, Wunder dauern etwas länger. Ich bin erst seit zwanzig Minuten hier. Die Kollegen von der Bombenentschärfung meinten, im Rucksack sei nur der Wecker mit die Bombenattrappe gewesen.“
„Wo ist das Ding jetzt?“
„Schon eingetütet. Muss hier irgendwo rumstehen.“
„In den meisten Rucksäcken gibt es Fächer, vielleicht haben die Kollegen etwas übersehen.“ Mehring streifte Einweghandschuhe über und untersuchte den Rucksack genauer.
Auf dem ersten Blick schien der Beutel tatsächlich leer zu sein, dann entdeckte er in einem Seitenfach ein Stück Papier von der Größe eines Tickets, wie man es im Theater oder Kino bekam. Es war in eine Falte eingeklemmt. Vorsichtig zog er seinen Fund heraus. Die blaue Farbe war verwaschen, die Schrift kaum noch erkennbar.
„Was steht da?“, fragte Ines neugierig.
„Weiß nicht. Kannst du das entziffern? Ich habe meine Lesebrille nicht dabei.“ Seine Augen waren nach fast vierzig Dienstjahren nicht mehr so gut.“
„Irgendwas mit der Endsilbe „d-e-e-n“ oder so ähnlich, mehr kann ich auch nicht erkennen. Entweder ist das Papier schon sehr alt oder in der Waschmaschine gelandet, vielleicht auch mehrmals.“
„Das könnte eine wichtige Spur sein.“ Er reichte Ines das Papier. „Die KTU soll sich darum kümmern.“
Für den Anfang hatte Mehring genug gesehen. Er nickte Ines zum Abschied kurz zu und fuhr mit einem Fahrstuhl in die Lobby. Ein schmerzhaftes Pochen erinnerte ihn an seine Zahnschmerzen. Er drückte aus einer Blisterfolie zwei Ibuprofen 400 und würgte sie trocken herunter.
Was für ein beschissenes Wochenende.
Stilvolle Deckenleuchten in Bronze und Alabasterglas tauchten die große Eingangshalle des Habakuk in behagliches Licht. Einige Gäste schienen noch immer schockiert und standen einfach nur herum, andere diskutierten den Vorfall, auf Sesseln und Sofas sitzend. Viele waren noch immer in Isodecken gehüllt, die man ihnen gegen die Kälte und den Regen draußen gereicht hatte.
Das Ambiente im Stil eines großen Wohnzimmers sollte Ruhe und Gemütlichkeit vermitteln, aber heute war alles anders. Niemand durfte das Hotel verlassen oder betreten. Gäste, die nach draußen wollten, wurden von Beamten zurückgehalten, ebenso wie Besucher und Zulieferer, die hineinwollten. Einige Hotelangestellte in schicken Uniformen, die ihren bleichen Gesichtern Hohn sprachen, liefen umher und reichten silberne Tabletts, auf denen Kristallgläser mit Orangensaft und Mineralwasser standen.
Eine übermäßig geschminkte Dame mit Marilyn Monroe Frisur erweckte Mehrings Aufmerksamkeit. Ihre Gesichtshaut war straff gezogen wie bei einer Vogelkralle. Sein Blick glitt weiter zu dem beigefarbenen Bleistiftrock, der sich unvorteilhaft um ihre knochigen Beine bis zu den Knien spannte. Dazu trug sie eine knallrote Bluse mit tiefem Dekolleté. Ein Tattergreis, mindestens einen halben Kopf kleiner als sie, leistete ihr Gesellschaft.
„Das ist die Ziege, von der ich dir erzählt habe“, raunte Arnie ihm zu.
Die Ziege zog ihren Pelzüberwurf enger um die mageren Schultern und stakste auf ihren High Heels wie ein Storch im Salat zur Rezeption.
„Hallo, ist hier jemand?“, flötete sie.
„Blöde Frage“, regte Arnie sich auf. „Ist doch offensichtlich, dass niemand am Empfang steht.“
„Kein Service“, schimpfte sie. „Schon beim Einchecken fing der Ärger an. Niemand da, der uns half. Wir mussten unser Gepäck ganz allein ins Foyer schleppen und obendrein noch eine Stunde warten, bis unser Zimmer endlich hergerichtet war. Und heute ... heute mussten wir schon wieder warten. Zwei geschlagene Stunden draußen im Regen bei eisiger Kälte. Kein Service und das bei der Preisklasse! Das nächste Mal werden wir ein anderes Hotel buchen, stimmt´s, Schatz?“
„Sehr richtig!“ Der Tattergreis neben ihr schwang erregt seinen Gehstock, wobei er fast die Balance verlor. Sein Anzug geriet in Bewegung und schlackerte um seinen klapperdürren Körper. Er musste schon über siebzig sein, dennoch klang seine Stimme erstaunlich kräftig.
„HAALLOO!“ Von ihrem Begleiter ermuntert, trommelte die Ziege mit ihren langen rot lackierten Krallen auf den Empfangstresen. „Ich habe einen Termin bei meinem Friseur. Kann vielleicht mal jemand kommen und mir ein Taxi bestellen?“
Arnie, bekannt für sein hitziges Temperament, marschierte zu ihr und baute sich breitbeinig vor ihr auf. „Ich fürchte, Ihr Frisör wird noch eine Weile auf Sie warten müssen, verehrte Dame“, sagte er in schroffem Tonfall. „Das Hotel ist noch nicht freigegeben.“
„Ach, wirklich?“ Sie hob ihre Brauen, bestehend aus zwei dünnen halbmondförmigen Linien und musterte mit grenzenloser Verachtung Arnies zerbeulte Jeans und die verdreckten Schuhe. „Wer sind Sie überhaupt?“
Eine berechtigte Frage, fand Mehring. Arnie hatte vergessen, sich auszuweisen.
Im nächsten Moment eilte Jan Nowak, der Geschäftsführer des Habakuk händeringend aus einem schmalen Gang neben dem Fahrstuhl herbei. Ein arroganter Fatzke mittleren Alters in eng sitzendem Anzug und Krawatte, das dunkle Haar mit reichlich Gel aus der Stirn nach hinten gekämmt. Ein auffallend breiter Mund dominierte sein glattrasiertes Gesicht. „Aber Frau Kiese“, wisperte Nowak nur wenige Zentimeter vor ihrem Gesicht. „Bitte beruhigen Sie sich wieder.“
„Ah ... gut, dass Sie kommen, Herr Nowak. Ich will sofort den Verantwortlichen für dieses Bomben-Trallala sprechen.“
Ehe Mehring etwas sagen konnte, zückte Arnie seinen Dienstausweis. „Der Verantwortliche für das Bomben-Trallala steht vor ihnen, Frau Kiese“, sagte er. „Ich bin Hauptkommissar Arnold von der Kriminalpolizei, Düssedorf. Und das“, er deutete mit dem Kopf auf seinen Partner, „ist Oberkommissar Mehring.“ Er schwieg für eine Weile, um seine Worte auf sie wirken zu lassen. „Wurden Sie eigentlich schon vernommen?“, fragte er, um sie zu verunsichern.
„Was ... wieso?“ Selbst durch die dicke Schminkschicht konnte nicht verbergen, wie die alte Schachtel erbleichte. „Soll das heißen, Sie verdächtigen mich? Oh ... das ist ja schrecklich. Ich habe nichts Unrechtes getan. Wie war doch gleich Ihr Name? Ach, ich bin ganz durcheinander.“ Sie wandte den Kopf zur Seite, und zischte dem Tattergreis zu: „Sag doch was, Herbert!“
Der Angesprochene räusperte sich. „Ich bitte um Entschuldigung, Herr Hauptkommissar. Edith ... äh ... meine Gemahlin“, berichtigte er sich schnell, „ist heute etwas unpässlich. Der Bombenalarm macht ihr zu schaffen, sie steht noch unter Schock.“
„Ich verstehe“, gab sich Arnie verständnisvoll. „Sicher haben Sie nichts dagegen, wenn ich Ihrer Gemahlin ein paar Fragen stelle?“
„Durchaus nicht, sofern ich dabei sein darf. Sie sehen ja, in welchen Zustand sich Edith befindet, sie braucht meine Hilfe.“
Arnie gab Mehring ein Zeichen mit der Befragung fortzufahren.
Lieber hätte Mehring das Ehepaar getrennt vernommen, jetzt, wo die Erinnerungen noch frisch waren und mangels Gesprächen weitgehend unverfälscht. Aber wenn er die Beiden gegen sich aufbrachte, würde er gar keine Informationen bekommen, und so gab er nach und neigte zustimmend den Kopf. „Gibt es hier einen Raum, indem wir ungestört sprechen können?“, fragte er Nowak. Er kannte den Geschäftsführer von früheren Ermittlungen im Habakuk. Die feinen Herrschaften waren nämlich keineswegs immer so nobel, wie es den Anschein machte. Manchmal verließen sie das Hotel, ohne ihre Rechnungen zu bezahlen.
„Selbstverständlich.“ Nowak zeigte auf den Empfangstresen. In der holzvertäfelten Wand dahinter befand sich eine Tür. „Mein Büro steht zu Ihrer Verfügung.“
Mehring schnappte sich einem Beamten, den er vor Nowaks Arbeitsraum postierte, während Arnie auch schon die Gäste von der Sitzgruppe verscheuchte, um Platz für weitere Zeugenbefragungen zu schaffen. Unnötig zu sagen, dass sie sich die Arbeit teilten. Sie arbeiteten seit vielen Jahren zusammen und waren ein eingespieltes Team.
Jetzt brauchte Mehring nur noch jemanden, der die Aussagen protokollierte. Seine Wahl fiel auf Jasmin Krause, die das Pech hatte, gerade in der Nähe zu stehen. Im Büro zog er seine nasse Schiebermütze und den Mantel aus, hängte sie an die Garderobe und setzte sich auf den Bürostuhl hinter Nowaks Schreibtisch. Krause rückte sich am Fenster einen Stuhl zurecht und zückte Schreibblock und Kugelschreiber. Edith und ihr Gatte nahmen auf den Besuchersesseln Platz.„Wir machen jetzt eine Zeugenbefragung“, erklärte Mehring nach kurzem Schweigen. „Ich muss sie darüber belehren, dass sie als Zeugen zu wahrheitsgemäßen Angaben verpflichtet sind und nichts Wichtiges auslassen dürfen. Sie dürfen niemanden zu Unrecht beschuldigen oder entlasten, sonst machen sie sich der Falschaussage schuldig. Haben sie das verstanden?“
Zustimmendes Nicken.
„Scheich bin Achmed wurde heute Nacht überfallen und ausgeraubt“, richtete er das Wort übergangslos an Edith Kiese. „Ist Ihnen zur fraglichen Zeit etwas Ungewöhnliches aufgefallen?“
„Nein.“ Sie schüttelte so heftig den Kopf, dass ihre Marilyn Monroe Perücke verrutschte und ihre grauen Haare sichtbar wurden. Hastig rückte sie ihr Haarteil wieder zurecht, bevor sie weitersprach: „Wir wohnen auf Ibiza und sind in Düsseldorf, um Verwandte zu besuchen“, erklärte sie. „Ich gehe früh zu Bett und habe tief und fest geschlafen. Ist es nicht so?“ Sie schielte zu ihrem Ehegespons.
Herbert nickte eifrig.
„Und Sie ... Herr Kiese“, fragte Mehring. „Ist Ihnen zur fraglichen Zeit etwas Ungewöhnliches aufgefallen?“
„Zunächst nicht, Herr Kommissar“, entgegnete Herbert. „Edith wollte eine dieser schrecklichen Seifenopern sehen und hatte den Fernseher laut gestellt. Sie ist ein bisschen schwerhörig, müssen Sie wissen. Als sie eingeschlafen war, schaltete ich das Gerät aus. Später ... ja ... da habe etwas gehört. Von oben, um genau zu sein. Die Suite des Scheichs befindet sich nämlich genau über unserem Zimmer. Ein Poltern und Krachen war das ... als wären Möbel umgefallen.“
„Wann war das?“
„Ich habe nicht auf die Uhr geschaut. Lassen Sie mich nachdenken ... Die Serie lief bis kurz vor Zwölf, danach kamen Nachrichten. Nach Mitternacht würde ich sagen.“
„Ist Ihnen der Lärm mitten in der Nacht nicht seltsam vorgekommen?“
„Ein wenig schon, aber ich habe mir keine weiteren Gedanken darüber gemacht. Der Scheich logiert mit seinen beiden Ehefrauen über uns, da geht es manchmal hoch her.“
Mehring wurde hellhörig. Wenn das stimmte, war bin Achmed nicht allein gewesen. Wo zur Hölle waren dann seine Ehefrauen? Hatte man sie etwa entführt? Nein, dann wären Spuren gefunden worden, gab er sich selbst zur Antwort. Es musste eine andere Erklärung geben. „Haben sie seine Frauen gestern im Habakuk gesehen?“
„Nein. Gestern Abend erwähnte der Scheich, sie seien noch in Berlin.“
„Sie haben mit ihm gesprochen?“
„Wir haben mit ihm zu Abend gespeist. Er wirkte müde und ist danach sofort auf sein Zimmer gegangen. Wahrscheinlich waren wir die Letzten, die ihn gesehen haben, bevor er überfallen wurde.“
„Wann war das?“
„Gegen 22.00 Uhr.“
„Sind Sie mit Scheich bin Achmed befreundet.“
„So würde ich das nicht nennen. Wir haben uns beim Frühstück im Hotel kennengelernt und ein paar Worte miteinander gewechselt.“
„Worum ging es bei dem Gespräch?“
„Was Touristen in Düsseldorf halt so interessiert. Sehenswürdigkeiten in der Stadt, Einkaufsmöglichkeiten auf der Königsallee ... solche Sachen.“
„Wie lange kennen Sie Herrn bin Achmed schon?“
„Seit letztem Dienstag. Wir haben zusammen eingecheckt.“
„Hat er sich gestern Abend anders benommen als sonst? War er vielleicht nervös?“
„Nein, er war ruhig und bedächtig, wie immer. Nach dem Abendessen bin ich noch mal runter zur Bar und habe mir zwei Cognacs genehmigt. Danach bin ich zurück ins Zimmer und eingeschlafen. Wer konnte denn ahnen ...“ Herbert hob mit einem fatalistischen Seufzer seine knochigen Hände und ließ sie im nächsten Moment wieder sinken, dabei verlor er seinen Gehstock, der klappernd zu Boden fiel. „Als ich wieder aufwachte, wurde es bereits hell.“
Krause bückte sich und reichte ihm den Stock.
Mehring blickte den Greis forschend an. Es fiel ihm schwer, zu glauben, dass er den Scheich rein zufällig kennengelernt hatte. „Hatten Sie ein besonderes Interesse an Herrn bin Achmed? Geschäftlich vielleicht?“
„Nein, bestimmt nicht.“
„Hatte er Feinde?“
„Davon weiß ich nichts. Möglich wäre es natürlich. Jeder in seiner Position hat Feinde.“
„Wie lange werden Sie im Hotel bleiben?“
„Wir wollen uns den Rosenmontagszug noch ansehen. Am nächsten Tag, also Dienstag, fliegen wir zurück nach Ibiza.“
„Gut, dann weiß ich, wo ich Sie finden kann, sollte es noch Fragen geben.“ Er blickte zwischen dem ungleichen Paar hin und her. „Danke für ihre Hilfe“, sagte er. „Die Polizistin am Fenster hat Ihre Aussage protokolliert. Sie braucht noch Ihre Personalien und ihre genaue Adresse auf Ibiza.“
Die nächste Zeugin war Sandra Gerlach, eine unscheinbare Frau Mitte zwanzig. Grauer Mantel, Bluejeans, weiße Bluse, fliehendes Kinn, die Haare zu einem Dutt hochgesteckt. Arbeitet als Zimmermädchen im Habakuk und hat den Scheich gefunden, las Mehring die Notiz, die man ihm gereicht hatte. Die junge Frau machte auf Mehring einen schüchternen Eindruck. Sie hielt den Blick gesenkt und wagte nicht, sich zu setzen, bis er sie dazu aufforderte. Viele Menschen fühlten sich unwohl, wenn sie es mit der Polizei zu tun bekamen, selbst wenn es nur um eine Zeugenbefragung handelte.
„Wie geht es Ihnen, Frau Gerlach?“, fragte er in mildem Tonfall, nachdem er sie über ihre Rechte und Pflichten belehrt hatte.
„Ganz gut.“
„Erzählen Sie mir, was passiert ist, bevor sie Scheich bin Achmed gefunden haben?“
„Also, das war so ...“, begann sie umständlich. „Heute Morgen wollte ich in Zimmer 307 sauber machen, aber das ging nicht, weil ... an der Türklinke hing das Bitte-nicht-stören-Schild.“
„Wann war das?“
„Wie meinen Sie das?“
„Wie spät war es?“
„So genau weiß ich das nicht. Ich darf mein Handy auf der Arbeit nicht dabeihaben. Normalerweise komme ich gegen zehn Uhr zu Zimmer 307 und so war es auch heute. Ich wollte schon weitergehen, als ich plötzlich ...“ Gerlach, die auf Mehring keinen besonders intelligenten Eindruck machte, verstummte und schien nach den richtigen Worten zu suchen.
„Was geschah dann?“, ermunterte er sie zum Weitersprechen.
„Aus der Suite kamen so komische Geräusche, als würde jemand Schnarchen oder Stöhnen. Wir ... äh ... ich meine ... also ... ich dachte, der Scheich wäre vielleicht krank oder verletzt. Er ist ja nicht mehr der Jüngste, wissen Sie? Manchmal werden ältere Gäste krank oder sie rutschen beim Duschen aus und schlagen sich den Kopf auf. Ich wusste nicht, was ich tun sollte und rief Frau Schumann.“
„Ihre Chefin?“
„Ja. Frau Schumann ist die Hausdame und besitzt eine elektronische Karte für alle Zimmer. Sie hörte die Geräusche auch und öffnete. Und da lag er ... der arme Scheich, gefesselt an sein Bett und geknebelt. Er war verletzt. Überall war Blut. Frau Schumann rief sofort einen Krankenwagen und die Polizei.“
Mehring machte sich unauffällig Notizen. Gerlach hatte kurz von „wir“ gesprochen und sich dann schnell berichtigt. „Ist heute Morgen außer ihnen und Frau Schumann noch jemand auf dem dritten Stock gewesen? Eine Mitarbeiterin vielleicht oder Gäste, die nach dem Frühstück zurück in ihre Zimmer gegangen sind?“
„Nein, niemand“, entgegnete die junge Frau eine Spur zu hastig.
„Sind Sie sicher?“
„Ja.“
Mehring glaubte ihr nicht, behielt seine Zweifel jedoch für sich. Alles andere wäre unprofessionell gewesen und hätte das Vertrauen, dass er benötigte, um an brauchbare Informationen zu kommen, sofort wieder zerstört. „Ist Ihnen vielleicht in den letzten Tagen etwas Außergewöhnliches aufgefallen?“, arbeitete er den üblichen Fragenkatalog ab.
"Da war etwas ... aber ich weiß nicht, ob es wichtig ist?“
„Alles ist im Moment wichtig, Frau Gerlach. Auch Kleinigkeiten.“
„Zwei Handwerker sind vor zwei Tagen in die Suite des Scheichs gekommen und wollten den Wasserkran im Bad reparieren. Ich hatte das Wasser kurz davor benutzt und sagte ihnen, der Kran wäre nicht kaputt. Aber sie wollten einfach nicht gehen und haben sich überall umgesehen. Ich fand das irgendwie komisch.“
Mehring spürte, wie sein Adrenalinspiegel anstieg. „Wie sahen die Handwerker aus?“
„Einer war groß und stark wie ein Bär.“
Eine sehr vage Beschreibung, wie so oft. „Können Sie sein Gesicht beschreiben?“
„Leider nicht. Er stand mit dem Rücken zu mir.“
„Die ganze Zeit?“
„Ich habe nicht weiter auf den Mann geachtet, weil ... ich musste doch arbeiten.“ Gerlach holte aus ihrer kopfkissengroßen Handtasche ein Formular. „Das hat mir Herr Nowak gegeben. Ich sollte es ausfüllen und Ihnen geben, Herr Kommissar.“ Sie stand auf und reichte es ihm über den Schreibtisch.
Es war ein mehrseitiges Merkblatt mit Verhaltensregeln für Hotelangestellte bei Bombendrohungen und Überfällen. Auf der letzten Seite befand sich ein Vordruck, auf dem Angaben zu den Tätern angekreuzt werden konnten, ob sie männlich oder weiblich waren, dick oder dünn, welche Kleidung sie trugen und so weiter. „Sie haben nur einen Mann beschrieben, Frau Gerlach“, forschte er weiter. „Sagten Sie nicht, es wären zwei gewesen?“
„Das stimmt, aber da war kein Platz mehr auf Blatt. Der zweite Mann war Chinese und kleiner und dünner.“
„Geht es vielleicht etwas genauer?“
„Schlitzaugen. Er hatte Schlitzaugen.“
Sehr aufschlussreich. „Ist Ihnen in den letzten Tagen vielleicht ein Auto vor dem Hotel aufgefallen oder Leute, die sich verdächtig benommen haben?“
„Ein Auto nicht, aber da war ein ...“ Sie schüttelte den Kopf, als wollte sie die letzten Worte ungeschehen machen, knabberte an ihrer Unterlippe.
Langsam wurde Mehring ungeduldig. „Frau Gerlach, Sie dürfen uns nichts verschweigen, was wichtig für die Ermittlungen sein könnte. Sagen Sie uns, was Sie gesehen haben?“
„Einen Motorradfahrer“, räumte sie widerwillig ein.
„Wo?“
„Vor dem Hotel“
„Wann?“
„Gestern.“
„Morgens, mittags, abends?“
„Mittags.“
Ein Motorradfahrer im tiefsten Winter? Wollte er den Rest seines Lebens im Rollstuhl verbringen? „Was hat er vor dem Hotel gemacht?“
„Er saß auf seinem Schlitten und gab kräftig Gas, immer und immer wieder.“
„Hat er auf jemanden gewartet?“
„Keine Ahnung. Herr Nowak hat ihn vertrieben.“
„Können Sie den Motorradfahrer beschreiben?“
„Er trug einen Helm.“
„Welche Farbe?“
„Schwarz.“
„Jacke und Hose, waren die auch schwarz?“
Sie nickte.
„Keine Streifen oder Abzeichen von Rocker-Gangs.“
„Ich habe ihn nur von hinten gesehen.“
„War er groß oder eher klein?“
„Groß.“
„Kräftige Figur, breitschultrig?“
„Ja, genau.“
Gerlach hatte fast alle seine Vorschläge bestätigt und kaum etwas zur Beschreibung beigetragen. Mehring bezweifelte, dass sie den Mann nur von hinten gesehen hatte. „Wo sind Sie heute zwischen ein und zwei Uhr morgens gewesen?“, fragte er weiter.
Das Zimmermädchen riss die Augen auf, die jeden Glanz vermissen ließen. „Aber ich ... ich habe mit dem Überfall nichts zu tun.“
„Das ist eine Routinefrage, die ich jedem Zeugen stellen muss. Bitte beantworten Sie meine Frage.“
„Zu Hause, bei meiner Tochter. Ihr Blick huschte zur Tür. „Darf ich jetzt gehen, Herr Kommissar? Ich muss meine Tochter vom Kindergarten abholen.“
„Ja. Danke für Ihre Hilfe.“ Doch sein kriminalistischer Spürsinn sagte Mehring, dass Gerlach ihm etwas verschwieg, und er würde die Wahrheit schon noch herausfinden. Nicht nur ihm, sondern allen Kollegen, die mit dem Fall befasst waren, stand ein anstrengendes Wochenende bevor. Wie es aussah, würde er es heute Abend nicht nach Hövelhof zum Trommeln schaffen.
Einen Tag später ...
Der Nachmittag war grau und trüb. Mehring saß in seiner Dienststelle vor dem Schreibtisch, der mit Papierbergen und Aktenordnern übersät war, die sich um den überquellenden Eingangskorb gruppierten und ackerte einen Stoß Vernehmungsprotokolle durch.
„Pizzaservice!“, rief eine sonore Männerstimme im Flur des Präsidiums. Arnie schob sich mit zwei Pizzakartons auf der Hand durch die Tür und parkte sie auf Mehrings Schreibtisch. „Ah, endlich. Ich habe einen Mordshunger.“ Welche ist meine?“
„Die mit dem Kreuz. Pizza Schinken, Ananas war doch richtig, oder?“ Arnie zog aus seiner Lederjacke eine Coladose, stellte sie neben die Kartons und hielt die Hand auf. „Macht zusammen neun Euro.“
„Träumst du?“ Mehring schob Arnies Hand beiseite. „Ich habe das letzte Mal bezahlt. Du bist dran!“ Er öffnete den Karton und nahm ein Stück Pizza in die Hand. „Was haben wir bis jetzt?“
„Eine Bande von Strolchen, die uns das Wochenende versaut hat und einen verletzten Scheich.“
„Sehr komisch. Hat die Befragung deiner Zeugen etwas gebracht?“
„Nein. Nichts sehen, nichts sagen, nichts hören, wie die drei japanischen Affen, wenn´s um was Schlechtes geht, das erspart Ärger.“ Arnie ließ sich in seinen Bürostuhl plumpsen, sodass sie sich gegenüber saßen und schlug die Zähne in seine Pizza Mafioso. Öl und geschmolzener Käse klatschten in den Karton. „Wie war´s bei dir?“, nuschelte er mit vollem Mund.
„Ein Motorradfahrer hat sich laut einer Zeugin vor dem Hotel herumgetrieben.“
„Klingt gut.“
„Findest du?“
„Er könnte den Tatort ausspioniert haben. Viele Rocker gehören kriminellen Gangs an.“
„Organisierte Kriminalität? Das fehlt uns noch. Hast du die Hausdame vernommen?“
„Kann sein. Wie heißt sie?“
„Renate Schumann. Besitzt einen Generalschlüssel für alle Hotelzimmer.“
„Nie gehört. Sind die Mistkerle nicht durchs Fenster geklettert?“
„Richtig, das hatte ich ganz vergessen.“ Mehring öffnete die Cola. Der Inhalt zischte sprudelnd aus der Dose und schwappte über den Ballistik-Bericht eines ungeklärten Falls. „Verdammter Mist.“ Er griff über den Tisch und schnappte sich Arnies Serviette. „He, das ist meine“, protestierte Arnie.
„Stell dich nicht so an.“ Er tupfte die Seiten mit der Serviette ab und legte die Akte zum Trocknen auf die Heizung. „Wohin hat man den Scheich eigentlich gebracht?“
„Nach Bilk, ins Evangelische Krankenhaus.“
„Warst du schon im EVK?“
"Gestern Abend und vor einer halben Stunde. Unser wichtigster Zeuge ist noch nicht vernehmungsfähig.“
„So schlimm?“ Mehring musterte das halb aufgegessene Stück Pizza in seiner Hand. „Liegt er auf Intensivstation?“
„Dort lag er zur Beobachtung. Heute Morgen wurde er auf eine normale Station verlegt. Ich habe kurz mit dem Stationsarzt gesprochen. Bleibende Schäden sind nicht zu erwarten. Er wird wieder ganz gesund.“ Arnie spülte den letzten Bissen Pizza mit einem Schluck Mineralwasser herunter. „Vielleicht steckt bin Achmed ja mit den Gaunern unter einer Decke. Er hat die Klunker aus Kubai mitgebracht und Leute angeheuert, den Schmuck zu stehlen. Sie verticken das Zeug bei einem Hehler, geben ihm seinen Anteil, und später kassiert er noch mal bei der Versicherung ab.“
Arnie neigte zu einfachen Lösungen. Stellten sie sich im Laufe der Ermittlungen als falsch heraus, ging kostbare Zeit verloren. „Warum sollte sich bin Achmed deshalb zusammenschlagen lassen? Ich an seiner Stelle wäre in Berlin geblieben.“ Mehring schüttelte den Kopf. „Der Mann hat Geld wie Heu. Gier ist nicht sein Motiv. Er ist der Geschädigte. Der Schmuck dürfte seinen Ehefrauen gehören.“
„Ehefrauen?“, echote Arnie. „Wie viele hat er denn?“
„Zwei, so weit ich weiß. Einem Zeugen zufolge sind sie noch in Berlin. Die Aussage muss noch überprüft werden.“ Mehrings Zahn schmerzte noch immer, weshalb er nur den inneren Teil der Pizza aß, die harten Ränder ließ er liegen.
Er verschränkte die Hände im Nacken und versuchte die verschiedenen Details des Falls gedanklich zu sortieren. Ein Feuerwerk von Gesichtern, Stimmen und Bildern erschien vor seinem geistigen Auge. So viele Puzzleteile, von denen er nur die wenigsten kannte.
Es klopfte.
Olaf kam herein und wedelte mit einem Klatschblatt.
„Habt ihr schon die Schlagzeile auf der Titelseite gelesen? „Scheich gefesselt und geknebelt in Luxus-Hotel! Dreiste Diebesbande erbeutet Schmuck im Wert von zehn Millionen Dollar.“
„Dreist“ trifft es wohl nicht ganz. Die Ganoven sind äußerst brutal vorgegangen. Bin Achmed hätte an seinem Knebel ersticken können.“ Mehring zeigte auf eine große Pinnwand im hinteren Bereich des Büros, die einen Stadtplan der Landeshauptstadt halb verdeckte. „Sieh mal dort. Die Titelseite springt dir gleich entgegen.“
Olaf zog einen Flunsch. „Hier ist die Mappe mit den Beweisfotos von der Scheich-Suite. Ich war gerade in der Gegend und wollte sie euch persönlich vorbeibringen.“ Er legte die Mappe samt Zeitung auf dem Tisch und entschwand.
Arnie angelte sich das Klatschblatt und blätterte darin herum. „Verdammte Schreiberlinge“, murmelte er. „Stellen Fragen, statt uns in Ruhe unsere Arbeit machen zu lassen. Wollen wissen, ob es zwischen dem Juwelenraub und den Überfällen auf die Juwelierläden eine Verbindung gibt? Ein gefundenes Fressen für die sensationsgeile Presse.“
„Warum erzählst du mir das?“ Mehring blickte ihn über seine randlose Lesebrille an. „Glaubst du, ich weiß das nicht?“
„Schlecht gelaunt heute?“ Arnie klappte die Zeitung zusammen und knallte sie auf den Tisch.
„Ja.“
"Dann hab ich eine gute Nachricht für dich. Die Kollegen von der KTU haben das Papier aus dem Rucksack entziffert. Es handelt sich um eine Kinokarte aus Aberdeen. Was sagt uns das?“
„Schottland.“
„Mehr nicht?“
„Ich habe Zahnschmerzen.“
„Schon wieder?“
„Immer noch.“
„Dein Eckzahn oben rechts?“
„Der ganz besonders, und der Zahn daneben macht langsam auch Ärger.“
„Autsch. Vielleicht solltest du meinen Zahnarzt nehmen. Der fackelt nicht lange und zieht den Zahn, dann hast du Ruhe.“
Mehring starrte auf Ralf Petzolds leeren Arbeitsplatz am Fenster, wusste genau, worauf Arnie anspielte. Schließlich war er dabei gewesen, als Ralf ihm Dr. Hoger empfohlen hatte. Arnie konnte Ralf nicht ausstehen, weil dessen Vorgänge nie auf dem neuesten Stand waren. Zugegeben, Ralf war nicht die hellste Leuchte auf Erden, aber das war noch lange kein Grund, ständig auf ihm herumzuhacken. Jeder machte Fehler - auch Arnie.
„Könnte es sein, dass diese Gebiss-Ganoven absichtlich einen gesunden Zahn anbohren, damit sie die Kredite für ihre Wohlfühloasen mit vollautomatischem Folterstuhl bezahlen können?“
„Das wäre kriminell.“
„Genau. Leider kannst du solche Machenschaften als Patient schlecht beweisen, es sei denn, du bist selber Zahnarzt oder die Angestellten sagen zu deinen Gunsten aus. Aber darauf kannst du lange warten. Die halten die Klappe, weil sie sonst ihren Job verlieren.“
Je länger Mehring über Arnies Worte nachdachte, desto mehr beschlich ihn das Gefühl, der stechende Schmerz käme nicht nur von seinem Eckzahn oben rechts. Unsinn, rief er sich zur Ordnung. Warum sollte Ralf ihm einen schlechten Zahnarzt empfehlen? Er war doch sein Freund! „Lass mich mit deinen Verschwörungstheorien in Ruhe, ja.“
„Gut, dass du das erwähnst.“ Arnie stibitzte sich eine Kokosmakrone von Mehrings Schreibtisch. „Wie wär´s mit einer Bande von Schotten, die sich seit einigen Monaten bei uns im Rotlichtmilieu herumtreibt? Drogengeschäfte, Schutzgelderpressung, Banküberfälle, Prostitution. Die Nummer im Habakuk trau ich keinen Möchtegern-Gangstern zu. Das waren Profis, die haben sich wie Spiderman vom Dach des Habakuk abgeseilt.“
Kriminaloberrat Jürgen Rademacher betrat mit Gold gerahmter Brille schneidig das Büro, ohne anzuklopfen. „Tag, zusammen“, blaffte er, wie immer aus dem Ei gepellt, ausstaffiert mit Maßanzug und Krawatte. „Der Polizeipräsident hat mich gerade angerufen. Der Botschafter von Kubai liegt ihm in den Ohren und drängt auf eine rasche Lösung des Falls. Ihr wisst schon ... wegen der guten wirtschaftlichen Beziehungen. „Habt ihr schon eine Liste von Verdächtigen.“
„Noch nicht“, sagte Arnie.
Rademacher starrte den Hauptkommissar an, als wollte er ihn mit seinen mausgrauen Augen durchbohren. „Was soll das heißen?“
„Der Fall ist komplizierter, als es den Anschein hat. Vermutlich steckt eine Schottenbande dahinter.“
„Was?“ Rademacher blähte die Nüstern. Sein Mund verwandelte sich in einen dünnen Strich. „Wir haben schon genug mit der Russenmafia zu tun. Ich dulde keine Revierkämpfe in meiner Stadt.
"Nicht auszudenken, wenn es zu einem Bandenkrieg käme. Stellen Sie ein Sonderermittlungsteam zusammen und fordern Sie Unterstützung bei den schottischen Kollegen an!“ Auf dem Weg nach draußen wandte Rademacher sich noch einmal um und wünschte einen schönen Tag. Hinter ihm fiel die Tür mit einem dumpfen Knall ins Schloss.“
„Idiot“, murmelte Mehring.
„Bist du dabei?“, fragte Arnie.
„Habe ich eine Wahl?“
„Nein.“
„Wer ist denn bei uns für die schottischen Kollegen zuständig?“
„Oh Mann, jetzt wird’s kompliziert.“ Arnie kratzte sich am Kopf. „Schengener Abkommen fällt mir dazu ein. Und der Vertrag von Prüm, darin ist die grenzüberschreitende polizeiliche Zusammenarbeit zwischen den EU-Staaten geregelt.“ Er studierte eine Liste mit Telefonnummern. „Mal sehen, ob Uwe Eichberg im Haus ist, er hat gute Kontakte zum BKA. Die Kollegen in Aberdeen sollen uns Akteneinsicht gewähren.“
„Besser nicht. Die Akten sind alle auf Englisch. Wer weiß, wie dick die sind. Hast du Lust, die alle zu studieren? Ich nicht! Für solche Fälle gibt es bilaterale Polizeiabkommen mit Verbindungszentren, die auch Dolmetscher stellen. Am besten, die schicken gleich jemanden aus Aberdeen bei uns vorbei.“
Arnie griff stirnrunzelnd zum Telefon und gab Eichbergs Nummer ein.
Schottland, Montag 20. Februar 2017
Der Handy-Wecker schrillte.
Detective Chief Inspector Ray Duncan zog die Bettdecke über den Kopf und versuchte weiterzuschlafen.
Der Wecker schrillte weiter, laut und misstönend.
Duncan wälzte sich herum, schaltete den Alarm aus.
Fünf Uhr früh. Reglos blieb er liegen und lauschte seinem pochenden Herzschlag nach. Der vertraute Rhythmus hatte etwas Einschläferndes. Sein Wachbewusstsein drohte wieder in den Armen des Schlafs zu versinken. Bloß nicht wieder einschlafen.
Er rieb sich die Augen. Die Nacht war kurz gewesen. Zu kurz. Höchstens vier Stunden Schlaf, wenn überhaupt.
Seine Schwester Margaret hatte bis in die frühen Morgenstunden ihren Geburtstag gefeiert, mit Freunden und Nachbarn gefuttert und getrunken, den neuesten Dorfklatsch ausgetauscht und lautstark zu Oldies von Tom Jones und Abba gegrölt. Rücksicht war noch nie Margarets Stärke gewesen. Und dann war da noch der Albtraum, der ihn heimgesucht hatte, wie so oft in den letzten Jahren. Zunächst vage, dann immer deutlicher erinnerte sich Duncan an ein Mädchen mit langen schwarzen Haaren, dass man nach einer Großfahndung mit Hubschraubern und Spürhunden aus einem Sumpfloch gezogen hatte.
Es lag da wie Schneewittchen, die Augen geschlossen, als würde es schlafen. Eine blaue Plastikplane bedeckte den leblosen Körper bis zum Kinn. Doch da war dieser metallische Geruch nach Blut und Tod und er wusste: Schneewittchen würde nie wieder erwachen. Clyde Edwards, der Gerichtsmediziner, blickte ihn kummervoll an. „Du musst dir das nicht ansehen, Ray“, sagte er warnend.
Duncan schob Clyde zur Seite und hob das Laken, starrte mit versteinerter Miene auf die tiefen Schnitte am Hals, aus dem das Leben in pulsierenden Stößen herausgeströmt war. Er kannte das Mädchen. Sein Name war Mary-Ann Lowe.
Mary-Anns Eltern Rose und Michael wohnten in der gleichen Siedlung wie seine Schwester Margaret. Sie waren miteinander befreundet, sie und ihre Kinder. Die Kinder hatten zusammen gespielt, waren zusammen den Weg zur Schule gegangen und hatten dieselbe Klasse besucht. Bis zu jenem Tag, an dem Mary-Ann verschlafen hatte. Sie hatte sich allein auf den Weg zur Schule gemacht und sollte sie niemals erreichen.
„Mary-Ann hat nicht lange gelitten“, versuchte Clyde ihn zu trösten. „Der Tod ist sehr schnell eingetreten.“
Eine barmherzige Lüge, wie Duncan wusste, denn er arbeitete seit fast dreißig Jahren beim CID, dem Criminal Investigation Department in Aberdeen. Jemanden die Kehle durchzuschneiden, gehörte zu den grausamsten Morden. Wurde die Kehle nicht richtig durchtrennt und danach sah es bei Mary-Ann aus, konnte das Opfer nicht mehr sprechen und verblutete qualvoll. Der Tod trat erst nach Minuten ein.
Seit dem Verbrechen waren mehr als zehn Jahre vergangen, und der Mörder lief noch immer frei herum. Rose und Michael waren nicht zu Margarets Geburtstag erschienen. Mary-Anns Tod hatte nicht nur das Leben ihrer Tochter zerstört, sondern auch das ihrer Eltern. Nein, er wollte nicht mehr daran denken. Nicht jetzt.
In diesem Moment wünschte er, seine Frau Sharon würde neben ihm liegen, doch der Platz an seiner Seite war leer. Sharon hatte ihn rausgeschmissen, seine Klamotten in große Müllsäcke gepackt und vor das gemeinsame Haus in Peterhead geworfen. Seitdem wohnte er bei seiner Schwester Margaret und ihrem Mann Hamish in Boddam, einem winzigen Fischernest, drei Meilen von Peterhead entfernt. Er schlug die Bettdecke zur Seite und setzte sich auf.
Der Tag versprach anstrengend zu werden. Um spätestens zehn Uhr musste er am Flughafen im Aberdeener Stadtteil Dyce sein, wollte er seinen Flug nach Düsseldorf nicht verpassen. Ein Anruf von Oberkommissar Mehring kam ihm in den Sinn, den die CID-Zentrale zu ihm durchgestellt hatte. Bei dem Gespräch war es um einen bewaffneten Raubüberfall in Düsseldorf mit möglichen Verbindungen zur Unterwelt in Aberdeen gegangen. Diesmal schien die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen den Polizeibehörden zu funktionieren, was durchaus nicht die Regel war. Häufig misstrauten die Kollegen einander und innerpolizeiliche Machtkämpfe erschwerten die Ermittlungen.
Ein Fall, wie geschaffen für Duncan. Er war der Schottenmafia schon lange auf der Spur. Seine Akte über mögliche Verdächtige füllte mittlerweile viele hundert Seiten. Er konnte es gar nicht erwarten einigen untergetauchten Landsleuten, die er in Düsseldorf vermutete, einmal genauer auf den Zahn zu fühlen.
Ein dicker Kloß in seinem Hals erinnerte ihn an den bevorstehenden Flug. Der Gedanke, einer starren mit Technik überfrachteten Maschine sein Leben anvertrauen zu müssen, ließ ihn frösteln. Aber vielleicht lag es auch an der fehlenden Heizung in dem winzigen Gästezimmer unter dem Dach, dass er fror. Die Temperatur musste weit unter dem Gefrierpunkt sein. Dennoch war seine Stirn mit kalten Schweißperlen bedeckt - vermutlich eine Folge des Albtraums.
Zeit zum Aufstehen. Er tappte ins Bad und kletterte in die Duschkabine. Schaltete die Dusche an und genoss für eine Weile, wie das heiße Wasser die Kälte aus seinen Gliedern vertrieb.
Nach dem Duschen rubbelte er sich mit einem Handtuch trocken und wischte damit über den großen vom Wasserdampf beschlagenen Badezimmerspiegel.
Forschende Augen blickten ihm entgegen. Kurz geschnittenes graues Haar rahmte ein von tiefen Falten zerfurchtes Gesicht, das von einer Boxernase dominiert wurde. Eine Jugendsünde, die der schlauen Idee geschuldet war, bei einem Dorffest gegen einen Profiboxer in den Ring zu steigen, um einer Freundin zu imponieren. Ein Volltreffer auf die Nase hatte den Kampf rasch entschieden. Die Ärzte hatten ihm einen Großteil des Nasenbeins entfernt. Seine damalige Freundin hatte sich mit seiner neuen Nase nicht anfreunden können und ihm bald den Laufpass gegeben. Doch sein Makel wurde durch seinen gut gebauten Körper mehr als ausgeglichen, den das weibliche Geschlecht noch immer begehrte. Und damit das so blieb, ging er regelmäßig ins Fitnesscenter, obwohl er drei Jahre vor der Rente stand.
Als er fertig angezogen war, trug er ein hellblaues Hemd, das die Schwester ihm exakt auf Falte gebügelt hatte, einen dunkelgrauen Anzug und rückte seine Krawatte noch einmal zurecht. Dann setzte er sich auf die Bettkante, schlüpfte in seine Cowboystiefel und ließ den Verschluss seiner goldenen Rolex-Armbanduhr zuschnappen. Manche Kollegen beim CID hielten ihn für einen Angeber, weil er Gold und Markenkleidung trug, aber damit konnte er leben. Er arbeitete hart und legte Wert darauf, im Dienst immer korrekt gekleidet zu sein, auch wenn er seine Anzüge nur im Schlussverkauf bei Slaters kaufte – zu mehr reichte sein Gehalt beim CID nicht.
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Fiona White
Bildmaterialien: Pixabay Cc
Cover: Fiona White
Lektorat: Fiona White
Korrektorat: Fiona White
Tag der Veröffentlichung: 15.06.2021
ISBN: 978-3-7487-8570-5
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