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Prolog

   »Verfluchter Wind!« Die jungen Wald-Ilyea tummelten sich um einen großen Baum.

   »Was ist passiert?«, fragte der Dorfälteste und schaute zur Krone des Baumes.

   »Der Wind hat seinen Hut in den Baum getragen!«, rief eines der Kinder und zeigte auf einen kleinen, weinenden Jungen.

   »Aber, aber«, meinte der Alte und schlurfte zum Baum. Seine runzligen Hände legte er auf den glatten Stamm und schloss die Augen. Die Äste rund um den Hut wichen zur Seite, sodass er dem kleinen Jungen direkt wieder auf den Kopf fiel.

   Einige der jungen Ilyea lachten.

   »Wieso hat der dumme Wind das überhaupt getan?«, murmelte der Kleine und zog sich den Hut über das beschämte Gesicht. »Ich hab ihm doch gar nichts getan!«

   »Die Luft ist ein unberechenbares Wesen, mein Sohn. Ihre Wege scheinen manchmal unergründlich zu sein. Kommt, ich werde euch eine Geschichte erzählen.«

   »Sie handelt von einem jungen Mädchen namens Aeryn...«

Aeryn

  »Hab keine Angst«, flüsterte er und strich ihr über das seidige schneeweiße Haar. »Alles wird gut.« Seine bernsteinfarbenen Augen ruhten sanft auf ihren und gaben ihr das seltsame Gefühl von Geborgenheit. Sein Lächeln ließ sie schweigen, obwohl so viele Fragen auf ihrer Zunge brannten. Fragen, die ihr Innerstes betrafen und die ihr ganzes Leben entscheiden können. Doch sie schwieg und sah ihn davon ziehen. Erst als er zwischen den Bäumen verschwunden war, löste sie sich von ihrem Platz und lief ihm hinterher.

  

   »Aurin!«, schrie sie und rannte ihm nach. Sie kratzte sich an Sträuchern und Ästen die Arme auf, aber sie rannte weiter.

 

   »Aurin!«, peitschte sie durch das Dickicht und stand vor einem Abgrund. Vor ihr lag das glitzernde Meer hinter dem sich ein neuer Tag hervortat. Dicke Tränen rannten ihr Gesicht hinunter und nur der Wind konnte ihre Klagen davontragen.

 

 

   Sieben Jahre waren seit jenem schicksalshaften Tage vergangen und Aeryn hatte ihn nie wieder gesehen. Die Frau, zu die Aurin sie gebracht hatte, war eine mürrische alte Wald-Ilyea, die sich tief in diesen Wald zurückgezogen hatte, weil sie mit den anderen Ilyea nicht parat kam. So zumindest hatte Aeryn es von ihr gehört. Aber oft fiel es ihr schwer, die alte Dame wirklich als Wald-Ilyea zu akzeptieren. Zwar beherrschte sie die Magie, die nötig war, um die Pflanzen nach ihrem Willen zu formen, doch lebte sie ganz anders als man es von einer entsprechenden Ilyea hätte erwarten können. Ihr kleines Haus bestand nicht aus Blättern oder Gräsern und lag auch nicht auf einem der Bäume versteckt. Das kleine Haus stammte aus Holz und Stein - so wie die Menschen lebten. Denn die alte Dame hatte das Leben mit den Pflanzen beendet. Nie sprach sie über die anderen Ilyea oder den Grund, warum sie nicht mit ihnen zurechtkam. Selbst nach all diesen Jahren wusste Aeryn nicht einmal, wie sie hieß, denn Namen waren nicht nötig, um sich mit einander zu verständigen. Meistens genügte ein kurzes Fingerschnippen der alten Dame und Aeryn wusste, dass sie etwas für sie zu erledigen hatte.

 

   Wieder einmal schnippte die alte Dame mit ihren Fingern, doch dieses Mal fuchtelte sie ihr dabei vor der Nase herum. Sofort erschrak Aeryn aus ihrem Tagtraum und blickte zu dem Kessel auf der Feuerstelle.

   »Du hast es anbrennen lassen«, murrte die Alte und blickte mit ihren leuchtend grünen Augen missbilligend in den schwarzen Kessel. Am Boden klebte eine schwarze Kruste, an der hier und dort noch ein paar Bläschen aufplatzten.

   »Konzentrier dich, Mädchen«, knurrte sie und schlurfte zur Tür. »Jetzt muss ich neue Kräuter sammeln gehen.«

   »Tut mir Leid«, murmelte Aeryn, doch die Alte hörte ihr nicht mehr zu, nahm den Weidenkorb zur Hand, öffnete die Tür und verschwand.

 

   Seufzend nahm Aeryn den Kessel von der Feuerstelle und verzog die Nase. Ein übelriechender Geruch biss sich mit ihren Geruchsnerven. Eigentlich sollte es ein Trank gegen Erkältungen werden. Die Alte hatte sich nämlich der Aufgabe angenommen, Aeryn in Kräuterkunde zu unterrichten. Zwar hatte sie ihren Bund mit den Naturgeistern aufgegeben, doch die Tage waren lang und Aeryn hatte sich ohnehin nur gelangweilt.

 

   Sehnsuchtsvoll blickte sie aus dem Fenster und sah wie ein kleines Vögelchen auf dem Ast eines Baumes landete.

   »Wenn ich doch nur ein Vogel wäre«, murmelte Aeryn und sah, wie der kleine Vogel sich wieder in die Lüfte schwang. »Dann wäre ich frei dorthin zu gehen, wo mich meine Flügel tragen. Vielleicht würde ich ihn dann auch finden.«

   Doch es nützte alles nichts. Sie war hier gefangen. Wann und ob er wieder kommen würde, dass wusste sie nicht. Sie konnte es nur hoffen. Tagein tagaus nur hoffen.

 

   Gedankenverloren ging sie zu dem kleinen Fluss im Wald. Der Kessel musste sauber gemacht werden und Aeryn war nicht gerade erpicht darauf, noch einmal von der Alten gescholten zu werden. So setzte sie sich an das Ufer des kleinen Flusses und hielt den Kessel gegen die Strömung. Plätschernd floss das Wasser in die Öffnung und färbte sich dunkelrot durch die angebrannten Kräuter. Die Farbe ähnelte Blut.

 

   »Mama, nein!« Der leblose Körper schwamm in seinem eigenen Blut. Dickes, alles zerfressendes Blut.

 

   Sie erschrak und ließ den Kessel fallen. Wasser spritzte zu allen Seiten und traf Aeryn ins Gesicht. Sie zitterte am ganzen Körper und blickte mit weit aufgerissenen Augen auf den dünnen, roten Faden, der sich durch den Flusslauf zog. Ihr Herz schlug ihr bis in den Hals.

   Langsam beruhigte sie sich wieder und atmete tief durch. Nur Erinnerungen, nur Einbildungen. Sie schlug sich sanft auf die Wange, um sich wieder selbst aus ihrem Koma zu erwecken. Alles war in Ordnung. Sicher griff sie nach dem Kessel und säuberte ihn gründlich. Möglichst ohne dabei auf das rote Wasser zu blicken.

   »Es ist kein Blut«, sagte sie sich immer wieder selbst. »Es ist kein Blut.«

   Doch die Dämonen der Erinnerung ließen sie nicht los, egal, wie sehr sie sich auch etwas anderes einzureden versuchte. Diese blasse Erinnerung war vorhanden und sie hatte sich tief in ihr Gedächtnis eingebrannt.

 

   Als der Kessel wieder sauber war und der rote Faden davongespült wurde, klopfte sich Aeryn den Staub von ihrem Kleid. Die Alte hatte es zweimal umnähen müssen über die sieben Jahre. Kaum zu glauben, doch damals hatte der blaue Stoff bis zum Boden gereicht. Nun ging er ihr gerade einmal über die Knie. Es war ein Kleid ›wie die Menschen es tragen‹, hatte sie ihr gesagt. Es bestand aus zwei Teilen. Oben war es weiß mit Ärmeln, die ihr mittlerweile nur noch bis zu den Ellbogen reichten und unten erstreckte sich der kobaltblaue Stoff. Zusammengehalten wurde beides durch dunkelbraune Lederstreifen, die auf ihrem Rücken zusammengebunden waren. Und obwohl die Alte ihr schon oft angeboten hatte, ihr ein neues Kleid zu machen, so hatte Aeryn jedes Mal abgelehnt. Denn das Kleid war das einzige, woran Aurin sie noch erkennen könnte. Ohne es, hatte sie sogar Angst, dass er niemals wieder kommen würde.

   Tatsächlich fürchtete sie sich am meisten vor diesem Gedanken. Was, wenn er sie vergessen hätte? Ja, wenn er nicht einmal mehr wüsste, dass es sie noch gab? Oder schlimmer: was, wenn es ihn nicht mehr gab?

   Sie schüttelte den Kopf in der Hoffnung, dass damit auch die bösen Gedanken verschwinden würden. Aber sie krallten sich weiter an ihr fest.

   »Aeryn!«, rief die Alte nach ihr. »Wo steckst du schon wieder?«

   »Ich komme!«, rief sie und strich sich die langen, weißen Strähnen aus dem Gesicht. Flink rannte sie zurück zum kleinen Haus, wo die Alte auch schon auf sie wartete.

   »Was hat das so lange gedauert?«, schnaufte sie und begutachtete den Kessel. »Na ja, ganz sauber ist er nicht. Aber dafür wird es wohl reichen. Die Kräuter stehen auf dem Tisch.« Dann ging sie wieder hinein und Aeryn folgte ihr gehorsam. Zuerst hing sie den Kessel wieder über die Feuerstelle und schnitt dann die Kräuter klein.

   »Feiner«, meckerte die Alte. »Das ist noch viel zu grob. Mach das mal ordentlich. Also eine Wald-Ilyea bist du schon einmal nicht. Das kann da jedes Kind besser als du.«

   »Ich weiß, dass ich keine Wald-Ilyea bin«, entgegnete Aeryn geduldig. »Genauso wenig bin ich eine Meer-Ilyea.« Sie legte das Messer beiseite und häufte die kleingehackten Kräuter in den Kessel. Herrlich duftende Aromen stiegen ihr in die Nase, als sie sie langsam vor sich hin köcheln ließ.

   »Ich glaube ja, dass du ein Mensch bist«, schnaubte die Alte und lehnte sich in ihrem alten Stuhl zurück. Manchmal wusste Aeryn nicht, ob der Stuhl oder ihre Knochen so knackten. Doch bei ihrem Alter hätte es sie nicht gewundert, wenn es die Knochen gewesen wären. Die Alte war klein und besaß komplett silbernes langes Haar, welches sie an den Spitzen zusammengeflochten hatte. Ihre Haut war ledrig und mit Falten versehen, die kein Ende zu haben schienen.

   »Aurin weiß es bestimmt«, murmelte Aeryn und die Alte rollte mit den Augen.

   »Geht das schon wieder los«, seufzte sie.

   »Hat er dir nicht gesagt, wann er wieder hier sein wird? Wieso hat er mich überhaupt zu dir gebracht?«

   »Wie oft soll ich dir das denn noch erzählen? Nein, er hat nicht gesagt, wann er wieder kommen wird. Er hat mir nur gesagt, dass ich auf dich aufpassen soll. Er dachte wohl, dass du hier sicherer wärst.«

   »Sicher vor was? Was ist damals passiert?«, fragte Aeryn verzweifelt. »Was ist mit meinen Eltern geschehen?«

   »Das müsstest du besser wissen als ich. Immerhin sind es deine Erinnerungen«, zuckte die Alte mit den Achseln. »Ich weiß von nichts.«

   Ja, es waren ihre Erinnerungen. Diese schrecklichen, kalten Erinnerungen, die sich oft in ihre Träume schlichen und dort alles vergifteten, bis nur noch Angst und Verzweiflung übrig blieben. Alles, was sie wusste war, dass sie ›Aeryn‹ hieß und, dass ihr Bruder Aurin sie hier vor sieben Jahren abgesetzt hatte. Damals, an jenem kalten, regnerischen Tag. Wer sie war und was mit ihren Eltern passiert war, wusste sie nicht. Geschweige denn, warum ihr Bruder sie hier zurückgelassen hat und wohin er verschwunden war.

   »Die Kräuter brennen gleich wieder an«, räusperte sich die Alte. Aeryn blickte in den Kessel und seufzte.

   »Also eine Wald-Ilyea bin ich ganz bestimmt nicht.«

   »Da stimme ich dir zu, mein Kind«, nickte die Alte weise. »Und jetzt sieh zu, dass ich nicht noch einmal Kräuter sammeln muss.«

Das vierte Element

»Mama, nein!« Ihre Stimme verhallte in dem düsteren Raum. Verzweifelt rannte sie ihr hinterher, aber jemand hielt sie fest. Sie schrie und sie trat um sich, doch sie bewegte sich nicht von der Stelle. Ihre Mutter drehte sich noch einmal um, aber Aeryn konnte ihr Gesicht nicht sehen. Sie sah nur ein Lächeln, dann hörte sie das Ziehen eines Schwertes und Blut befleckte den Raum.

   »Nein!«, schrie Aeryn aus Leibeskräften. »Mama, nein!«

   »Du kannst sie nicht mehr retten«, flüsterte eine Stimme. Die Welt wurde um Aeryn ganz rot. Sie wurde nicht mehr länger festgehalten, doch sie fühlte sich dafür nun unendlich hilflos.

   »Du wirst sie nie wieder sehen. Nie wieder«, echote die Stimme um sie herum.

   »Und du bist daran schuld!«

   »Das ist eine Lüge!«, rief Aeryn. »Ich habe nichts getan!«

   »Mörderin, Schuldige, Lügnerin!«

   »Nein, hör auf!«, kreischte sie und hielt sich verzweifelt die Ohren zu, aber die Stimme drang durch ihre Hände hindurch.

   »Lügnerin, Schuldige - «

 

   »Mörderin!«, rief Aeryn und schreckte aus ihrem Schlaf hoch. Sie lag auf der Matratze aus Stroh. Der Schweiß klebte ihre Strähnen an ihrer Haut fest und ihr Atem war flach und unruhig. Neben ihr schnarchte die Alte friedlich vor sich hin. Schwer atmend kroch Aeryn von ihrer Schlafstelle und wusch sich das Gesicht mit dem Wasser aus dem Eimer, der immer neben der Feuerstelle stand.

   »Nur ein Traum«, versuchte das Spiegelbild in dem Wasser sie zu beruhigen. Aber es nützte nichts, Aeryn glaubte nicht einmal mehr ihrem eigenen Spiegelbild. Ihr Hals fing an zu schmerzen und Tränen rollten über ihr Gesicht. Wer war sie nur? Und was hatte sie getan, dass diese Albträume sie jede Nacht heimsuchten?

   Sie hockte sich auf den kalten Boden und umschlang ihre Knie. Ganz dicht presste sie sie an den zitternden Körper und legte den Kopf auf die Kniescheiben. Dort saß sie solange, bis das Nass ihrer Tränen durch den Stoff ihres Kleides bis an ihre Haut durchdrang.

   »Aurin«, schluchzte sie. Sie wusste nicht einmal mehr, wie er genau aussah. Bernsteinfarbene Augen und ein sanftes Lächeln, das ihr alle Sorgen und all den Kummer von der Seele nahm. Was hätte sie nur dafür gegeben, dieses Lächeln jetzt zu sehen.

 

   Nach einer Weile, die sie dort auf dem Boden verbracht hatte, stand sie auf und verließ das kleine Haus. Oft war sie schon bei Nacht durch den dunklen Wald gegangen und kannte daher den Weg blind, den sie gehen musste. Ihre Füße trugen sie immer automatisch genau dorthin, wo sie sein sollte. Und so trugen sie sie auch in dieser Nacht an den Ort, an dem sie sein sollte. Sie erreichte das Ende des Waldes und sah den großen Abgrund vor ihr liegen. Genau an jener Stelle war sie vor sieben Jahren zusammen gebrochen und hatte nach ihm gerufen.

   Sie setzte sich auf einen Stein und sah in die sternenklare Nacht. Unzählige Diamanten strahlten dort auf dem nachtschwarzen Kleid, während eine sanfte Brise um ihr Ohr säuselte. Ganz zart streichelte sie ihre Wangen und strich ihr tröstend über die Haare.

   »Wenn du mich hören kannst, Luft, dann sag mir wo mein Bruder ist!«, verlangte sie und stand auf. Aber die Brise säuselte weiterhin nur um ihr Ohr.

   »Du bist doch eines der Elemente! Dir dürfte es nicht schwer fallen, meinen Bruder vom Himmel aus zu sehen! Du hast doch so viele Orte, so viele Gesichter gesehen! Bitte, sag mir, hast du unter ihnen auch meinen Bruder Aurin gesehen?«

   Doch Aeryn bekam keine Antwort.

   »Ich flehe dich an!«, schrie sie. »Ich kann nicht länger an diesem Ort bleiben, ich muss fort. Ich muss frei sein, um meinen Bruder zu finden!«

   Plötzlich wurde der Wind stärker und zerrte an ihrem Kleid. Er zog an ihren Haaren und drängte sie immer näher an den Abgrund. Verzweifelt legte sie sich auf den Bauch und krallte sich mit ihren Fingern an der Erde fest, doch sie war dem Wind nicht gewachsen und wurde von ihm hinab in die Tiefe gerissen.

 

   Aeryn schrie als sie den Boden verlor und in die Tiefe hinabstürzte. Ihre Haare peitschten ihr ums Gesicht und ihr Kleid flatterte an ihren Beinen. Der Wind riss sie einmal komplett um, sodass sie mit dem Gesicht den Abgrund entgegenschaute. Was hatte sie getan, dass sie den Wind so erzürnt hatte?

   Ihre Schreie hallten an den steinernen Wänden wider und schlugen ihr mitten ins Gesicht. Angst breitete sich in ihrem Körper aus und sie verlor beinahe den Atem.

 

   Doch plötzlich huschte ein weißer Schatten an ihr vorbei und sie landete hart auf dem Rücken eines Pferdes. Vorsichtig öffnete sie ihre Augen und sah ein weißes Pferd mit großen, kräftigen Flügeln vor sich. Das Pferd wieherte, schlug mit seinen Flügeln und preschte wieder in die Lüfte. Ängstlich klammerte sich Aeryn an seiner strahlenden Mähne fest und kniff die Augen zusammen. Als sie jedoch spürte, dass die Luft weicher und ruhiger geworden war, öffnete sie zögernd ihre bernsteinfarbenen Augen. Das Pferd hatte sie mit in den Himmel genommen.

   Staunend blickte Aeryn auf die winzige Welt unter sich. Der Wald, der ihr sonst als so groß und endlos erschienen war, sah nun nur noch wie ein kleiner Fleck auf einer Landkarte aus.

 

   Mit offenem Mund starrte sie über das Land, das sich vor ihr erstreckte. Firyon. Niemals hätte Aeryn gedacht, dass sie es aus dieser Perspektive sehen würde. Unsicher blickte sie denjenigen, der für ihre Rettung verantwortlich war, an.

   »Danke«, murmelte sie und das weiße Pferd nickte verständnisvoll.

   »Du... du bist ein Pegasus, habe ich Recht?« Das Pferd wieherte, schlug erneut mit den Flügeln und preschte nach vorne.

   »Warte! Hey!«, rief Aeryn, aber es hörte ihr nicht mehr zu. Unbeirrt flog es davon, während Aeryn nur noch zusehen konnte, wie der ihr bekannte Wald immer kleiner wurde.

   »Wohin bringst du mich?«, brüllte sie gegen den Wind an, als es ihr mit einem Mal glasklar wurde.

 

   »Aurin«, murmelte sie.

 

   Das vierte Element, die Luft, hatte ihre Gebete erhört.

   Zur selben Zeit, an einem ganz anderen Ort, saß ein gar düsterer Mann auf seinem Thron und leckte das Blut an seinem Dolch ab. Seine Augen brannten wie das unbändige Feuer in seiner Seele und sein markantes Gesicht war übersäht mit Narben unzähliger Toter, dessen verzweifelte Hilfeschreie von niemandem gehört werden konnten.

   »Wie lange ist es her, dass ich sie verloren habe?«, fragte er und seine tiefe Stimme ließ die Steine an den Wänden erzittern.

   »Sieben Jahre, mein Herr«, echoten die Dämonen und bösen Geister um ihn herum.

   Er grinste und rammte den Dolch in seinen Thron aus glänzenden, weißen Schädeln.

   »Dann wird es Zeit, dass ich sie endlich finde.«

   Die Dämonen und Geister um ihn herum fingen an leise zu lachen und ein Wiegenlied anzustimmen, das so schrill und so furchterfüllt klang, dass selbst die Ratten das Weite suchten.

Vidar

 

Weit waren sie geflogen. Aeryn wusste nicht einmal wie lange sie unterwegs waren. Nur ungefähr konnte sie am Stand der Sonne erkennen, dass es schon ein paar Stunden sein mussten. Noch tief stand der glühende Ball am Himmel und tauchte Firyon in ein zartes Rosa. Weiße Wolken tanzten vergnügt über den rosafarbenen Teppich, während der Wind eine liebliche Melodie dazu anstimmte.

   Aeryn fragte sich mittlerweile, ob der Pegasus sie wirklich zu Aurin brachte. Das weiße Pferd schien so mysteriös und dennoch allwissend zu sein, dass sie manchmal wirklich Angst vor ihm hatte. Was, wenn es sie an irgendeinen fremden Ort verschleppte? Wie sollte Aeryn dann jemals Aurin finden? Oder er sie? Was, wenn er in diesem Augenblick schon vor dem kleinen Haus stand und jetzt nach ihr suchte?

   Gerade, als sie so tief in ihren Gedanken versunken war, setzte der Pegasus zur Landung an. Ein Wald. Unsicher blickte sich Aeryn um. Nein, sie waren auch nicht im Kreis geflogen. Es war ein ganz anderer, dennoch seltsam vertrauter Wald.

   Preschend stürzte der Pegasus in die Tiefe und riss dabei Äste und Blätter mit sich. Aeryn kreischte und versuchte ihr Gesicht zu schützen, doch sie spürte, wie ihr Körper an sämtlichen Stellen aufgerissen wurde. Unsanft landete der Pegasus mitten im Wald. Der Lärm verflog und eine tröstende Stille legte sich über das Szenario.

   Stöhnend krabbelte sie vom Rücken des Pegasus, der mehr eine Bruchlandung vollführt hatte und nun auf der Seite lag.

   »Was sollte das?«, schimpfte Aeryn und klopfte sich den Staub aus dem Kleid. »Wir hätten auch außerhalb des Waldes landen können!«

   Der Pegasus gab keine Antwort von sich, sondern atmete nur noch schwer. Erst dann bemerkte sie, dass etwas nicht stimmte. Eine Pfeilspitze ragte aus seinem linken Flügel und dickes, rotes Blut tropfte von den langen Federn.

 

   Blut.

 

   »Mama, nein!«

   »Alles ist deine Schuld!«

 

   Mit schmerzverzerrtem Gesicht hielt sich Aeryn die Ohren zu.

   Nein, jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt für so etwas. Sie musste stark sein. Sie musste doch Aurin finden. Sie musste-

 

   Aus dem Gebüsch heraus hörte Aeryn ein Rascheln. Ganz leise, doch dann immer lauter. Etwas bewegte sich auf sie zu. Ängstlich blickte sie zu dem schwer atmenden Pferd zu ihren Füßen. Sie könnte rennen und es hier liegen lassen. Aber nach allem, was es für sie getan hatte, konnte sie das nicht.

   Durch das Gebüsch hindurch sprang ein junger Mann mit dunkelgrünem Haar und leuchtenden grünen Augen. Seine Kleidung bestand vollkommen aus Gräsern und Blättern und sein Gesicht war mit grünen Zeichen versehen, die sich von der gebräunten Haut abhoben.

   »Ein Wald-Ilyea«, flüsterte sie geschockt. Es war das erste Mal, dass sie - abgesehen von der Alten, obwohl die nicht wirklich zählte - einen echten Wald-Ilyea gesehen hatte.

   »Wer bist du?«, fragte der junge Mann sofort, als er Aeryn erblickte und richtete Pfeil und Bogen auf sie. »Was suchst du hier?«

   Aeryn erschrak und blickte auf die Pfeilspitze, die er ihr ins Gesicht hielt.

   »Was ich hier suche?«, fragte sie nervös. Doch dann verschwand ihre Nervosität, als sie auf den Pegasus am Boden hinabsah. »Moment einmal! Ich würde hier wahrscheinlich nichts suchen, wenn du mich nicht- ich meine, wenn du nicht meinen Pegasus vom Himmel geschossen hättest!«

   Der junge Mann blickte hinunter zu dem verletzten Pferd und zuckte mit den Achseln.

   »Jeder, der sich diesem Wald nähert ist ein Feind«, sprach er, steckte jedoch zu Aeryns Überraschung Pfeil und Bogen weg.

   »Aber du siehst mir nicht wie ein Feind aus. Wer bist du? Oder viel eher: was bist du?«

   Damit hatte er es genau auf den Punkt gebracht. Zwar hatte Aeryn sich diese Frage immer selbst gestellt, doch sie hatte nie damit gerechnet, dass es ihr so offensichtlich im Gesicht stehen würde. Und eine Antwort? Nein, die hatte sie nicht. Sie hätte ihre komplette Geschichte erzählen können, aber das erschien ihr als unpassend. Vor allem, da sie schlecht jemandem trauen konnte, der sie noch vor ein paar Sekunden vom Himmel geschossen hatte.

   »Mein Name lautet Aeryn. Ich bin auf der Suche nach meinem Bruder Aurin. Kennst du ihn?«

   Der junge Wald-Ilyea überlegte kurz, schüttelte dann jedoch den Kopf, sodass die zotteligen dunkelgrünen Haare tanzten.

   »Nein. Aber der Dorfälteste kennt jeden, der diesen Ort betreten und verlassen hat. Komm, ich führe dich zu ihm.«

   »Und mein Pegasus?« Aeryn vertraute ihm nicht. Welche Absicht verfolgte er, dass er ihr helfen wollte? Sie kannte ihn nicht und er kannte sie nicht- nicht gerade eine gute Basis, um einander zu vertrauen.

   Der junge Wald-Ilyea seufzte, ging zu dem Pegasus und zog den Pfeil aus seinem Flügel. Dann legte er seine Hand auf die blutige Stelle und Aeryn sah, wie Ranken aus dem Boden wuchsen und sich in großen weißen, kelchförmigen Blüten über die Wunde legten.

   »Mondtau«, erkannte Aeryn sofort und bemerkte, wie der junge Iylea sie misstrauisch ansah. Seine leuchtend grünen Augen gewannen dabei noch mehr an Intensität und Aeryn fühlte sich, als könnte er mitten durch sie hindurch blicken.

   »Ich kenne mich mit Kräutern aus«, antwortete sie und wusste, dass es mehr eine Lüge, als eine Wahrheit war. Sie kannte dieses Kraut nur, weil die Alte sie bestimmt tausend Mal gescholten hatte, wenn sie es mit einem ähnlichen Kraut - der Flusswurzel - vertauscht hatte.

   »Folge mir«, wisperte der Ilyea und ging voraus. Unsicher folgte sie ihm. Doch etwas anderes hätte sie ohnehin auch nicht tun können. Das Pferd war verletzt, sie war orientierungslos und dieser Ilyea schien der Einzige zu sein, der ihr weiterhelfen konnte. Nichtsdestotrotz war es nicht verkehrt, wachsam zu bleiben.

 

   Noch nie zuvor hatte Aeryn etwas Vergleichbares gesehen. Zwar hatte die Alte ihr einmal von den Dörfern der Wald-Ilyea erzählt, doch nie konnte sie sich etwas darunter vorstellen. Versteckt, kaum sichtbar lagen die Häuser in den Kronen der Bäume, während kunstvoll geschwungene Treppen sich an den Baumstämmen emporwanden und so die Häuser mit dem Boden verbanden.

   »Du kannst sie sehen«, bemerkte der junge Ilyea. »Unsere Häuser. Du kannst sie sehen.«

   Aeryn nickte und er gab ein verächtliches Knurren von sich. Sollte sie diese Häuser etwa nicht sehen?

   Als sie einen mit Steinen abgerundeten Platz erreichten spürte Aeryn wie unzählige Augenpaare auf ihr ruhten. Alle Dorfbewohner, die dem jungen Wald-Ilyea so ähnlich sahen, blickten neugierig zu dem Mädchen mit dem schneeweißen Haar und den bernsteinfarbenen Augen. Es versetzte Aeryn geradezu einen Schlag in den Magen. War sie wirklich so anders, als alle anderen?

   »Vidar, wer ist das?«, hörte Aeryn die Leute den jungen Ilyea fragen, doch er gab keine Antwort, sondern packte sie am Handgelenk und zog sie hinter sich her. Sie fühlte sich deutlich unwohl in ihrer Haut angesichts dieser Aufmerksamkeit, die ihr nun zuteilwurde.

   »Gawen!«, rief der junge Ilyea namens Vidar und ein alter Mann, der Aeryn seltsamerweise bekannt vorkam, drehte sich um und lächelte sie beide freundlich an. Seine Haut besaß noch recht wenige Falten und sein schütteres, silbernes Haar versuchte er mit einem kunstvollen Hut zu kaschieren, der zum Großteil aus Blättern bestand, hier und dort aber kleine, farbenprächtig Perlen aufwies, die das Ganze abrundeten. Wie alle anderen Wald-Ilyea bestand seine Kleidung allerdings auch aus Blättern und Grashalmen. Es war ein langes Gewand, welches bis zum Boden reichte.

   »Nanu, Vidar! Wen hast du denn dort mit in unser Dorf gebracht?«

   »Ich habe sie zusammen mit einem Pegasus vom Himmel geschossen«, antwortete er kühl und zog Aeryn vor sich. »Sie behauptet, dass sie ihren Bruder sucht.«

   »Ihren Bruder?«, Gawen, der Dorfälteste musterte das Mädchen mit Bedacht und blickte besonders eingehend auf ihr weißes Haar.

   »Noch nie zuvor habe ich jemanden in deinem Alter gesehen, dessen Haar so weiß wie das der Alten ist. Sag mir, mein Kind, welchem Volke gehörst du an?«

   Aeryn zögerte. Unzählige Augenpaare waren nur auf sie gerichtet und sie fühlte sich wie ein Tier, dass von seinen Jägern in die Enge getrieben wurde. Hilflos, schutzlos.

   »Mein Name lautet Aeryn«, antwortete sie und atmete tief ein. »Ich bin auf der Suche nach meinem Bruder Aurin.«

   Gawen blickte sie mit seinen leuchtend grünen Augen eindringlich an. Für einen kurzen Augenblick verzog er keine Mine, doch dann kam das freundliche Lächeln zurück, mit dem er ihr bereits zuvor begegnet war.

   »Ein schöner Name«, antwortete er sanft. »Er bedeutet ›wie Luft‹, wusstest du das? Komm mit, mein Kind. Ich möchte mit dir alleine sprechen. Vidar, du wirst jedoch mitkommen.«

   »Wieso ich?«, fragte er erschrocken.

   »Immerhin warst du derjenige, der sie gefunden hat«, sprach Gawen geduldig und breitete seine Arme aus. Aeryn folgte daraufhin dem Dorfältesten und Vidar musste wohl oder übel mitkommen.

 

   »Es tut mir aufrichtig Leid, falls dein Aufenthalt hier dir bereits einige Unannehmlichkeiten beschert hat«, entschuldigte sich der Dorfälteste und bot Aeryn einen Platz auf einem Baumstamm an. Gawen hatte sie in einen abgelegenen Teil des Waldes gebracht, wo ein großer mit Moos bewachsener Stein, das Zentrum einer großen, kreisrunden Lichtung ausmachte. Über Aeryns Kopf schlängelten sich Blätter und äste zu einem dichten Dach, durch das nur vereinzelt Licht hindurchdrang und gelbe Flecken auf die grüne Wiese warf.

   »In letzter Zeit, da kam es leider häufig vor, dass unser kleiner Wald vom Himmel aus angegriffen wurde.«

   »Angegriffen?«, fragte Aeryn. »Aber wieso?«

   »Dämonen brauchen keinen Grund um Chaos anzurichten«, meldete sich Vidar zu Wort, der seit ihrer Ankunft an diesem Ort kein Wort mehr von sich gegeben hatte und sich nur stur gegen einem Baum gelehnt hatte.

   »Sie suchen etwas«, fügte Gawen hinzu und das freundliche Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. Seine grünen Augen wurden plötzlich ganz dunkel und geheimnisvoll.

   »Nach was sie suchen, dürfen wir dir leider nicht sagen. Wir haben einen Schwur geleistet, es niemandem zu verraten. Was jedoch deinen Bruder anbelangt, so kann ich dir weiterhelfen. Vor vielen Jahren betrat er dieses Dorf und zog dann Richtung Norden zu den Berg-Ilyea.«

   »Vielen Dank«, lächelte Aeryn und wollte aufstehen, als Gawen seine Hand auf ihre Schulter legt und sie wieder nach unten drückte. »Sag, wie geht es meiner Schwester?«

   Aeryn sah ihn verwirrt an. »Wie bitte?«

   Doch Gawen schüttelte nur mit einem Lächeln seinen Kopf und ließ sie los.

   »Vidar, du wirst sie begleiten. Ich will, dass du sicher stellst, dass sie dort ankommt.«

   »Ja«, verbeugte er sich tief und sah Aeryn eindringlich an. »Folge mir.«

 

»Wieso hilfst du mir?«, fragte sie, als sie wieder zu dem Ort gingen, an dem sie sich das erste Mal begegnet waren. Zu Aeryns Erleichterung graste der Pegasus friedlich vor sich hin. Sein linker Flügel war wieder vollkommen verheilt.

   »Tut mir Leid, dass ich an dir gezweifelt habe«, streichelte sie über seine Nüstern. »Kommt nicht wieder vor.«

   Dann drehte sie sich wieder zu Vidar um. »Also?«

   »Das geht dich gar nichts an«, murmelte er, ging auf sie zu und ergriff ihre Hand. Erschrocken über diese plötzliche Berührung fuhr sie zusammen. Aber dann erkannte sie, dass er eine Blüte des Mondtaus in der Hand hielt, das übrig geblieben war und es nun auf ihre Hand presste. Plötzlich wurde ihr wieder bewusst, dass sie sich ja selbst einige Blessuren bei dem Sturz zugezogen hatte. Ein warmes, wohliges Gefühl ging von dem Mondtau aus und durchströmte Aeryns Körper.

   Als alle Wunden verheilt waren, ließ auch Vidar ihre Hand wieder los und vergrub den verdorrten Mondtau in der Erde.

   »Was machst du da?«, fragte sie.

   »Ich gebe der Erde das wieder, was ich mir von ihr geliehen habe«, antwortete er knapp.

   »Ich bin kein Dieb, der sich nimmt, was ihm nicht gehört.« Er sah auf Aeryns Kleider und zischte verächtlich. Sie zog es allerdings vor, diese bissige Bemerkung einfach zu ignorieren. Nun galt es, ihren Bruder zu finden. Alles andere war egal. Sie stieg auf den Rücken des Pegasus und sah Vidar auffordernd an.

   »Was ist nun?«

   »Vergiss es«, schüttelte er den Kopf. »Ich steige nicht auf das Ding da.«

   Der Pegasus wieherte beleidigt und Vidar zuckte zusammen.

   »Das Ding hat auch Gefühle«, bemerkte Aeryn bissig. »Außerdem ist es mir egal, ob du mitkommst oder nicht. Wenn du nicht willst, werde ich eben ohne dich meinen Bruder finden.«

   »Womit habe ich das nur verdient«, verdrehte er die Augen und stieg hinter ihr auf.

   »Wehe du fliegst nicht vernünftig!«

   »Das liegt nicht in meiner Macht«, zuckte sie mit den Achseln. »Immerhin fliegt er und nicht ich.« Da setzte der Pegasus auch schon zum Galopp an und peitschte wie ein Blitz durch den Wald. Knapp verfehlte er die Baumstämme und huschte geschwind an jedem Hindernis vorbei. Aeryn hörte wie Vidar hinter ihr schrie. Unwillkürlich musste sie lachen.

   Sie verließen den Wald und erreichten ein weites Feld - genügend Platz um abzuheben. Das sah auch der Pegasus ein, spannte seine Flügel und schlug kräftig mit ihnen, sodass Staub und Sand aufgewirbelt wurde und in Aeryns und Vidars Augen brannte.

   »Verdammt!«, fluchte er und rieb sich die tränenden Augen. »Was für ein Mistvieh.«

   Aeryn lachte nur und breitete die Arme aus. Sie spürte wie der Wind sich wie Seide um ihre Finger hüllte. Das Azurblau des Himmels strahlte auf sie hinab und wurde nur von ein paar einzelnen Wölkchen gestört.

   »Du bist so still«, bemerkte Aeryn und blickte zurück zu Vidar. Sein Gesicht war mittlerweile so grün wie seine Augen.

   »Geht es dir nicht gut?«

   »Was für eine Frage«, zischte er und schüttelte den Kopf. »Mach ich den Eindruck, als ginge es mir gut? Ich bin ein Wald-Ilyea verdammt! Ich sollte am Boden sein und nicht mit einem verrückten Gaul in der Luft rumschweben!«

   Der Pegasus wieherte gereizt und Vidar zuckte unwillkürlich zusammen. Welchen Gräuel er auch immer gegen den Pegasus hegte: Er wusste selbst, dass es klüger war, ihn nicht zu verärgern. Immerhin war er keine Katze und würde den Sturz aus dieser Höhe nicht so leicht überstehen. Selbst die Bäume wirkten aus dieser Entfernung wie kleine Pilze.

   »Außerdem«, fuhr er fort und deutete auf die weißen Wolken über ihnen. »Es wird bald einen Sturm geben. Wir sollten möglichst schnell einen Unterschlupf suchen.«

   »Aber ich kann die Berge bereits von hier aus erkennen«, maulte Aeryn. »Die paar Wölkchen werden schon nicht für einen Sturm sorgen. Du willst nur wieder Boden unter den Füßen spüren.«

   »Das Wetter kann sehr schnell umschlagen. Besonders in den Bergen«, beharrte er weiterhin. »Ich habe den Auftrag bekommen, dich heil dorthin zu geleiten. Aber das kann ich nicht, wenn du so stur bist!«

   »Jetzt hab dich nicht so! Ein Stück können wir noch weiterfliegen«, verrollte sie die Augen.

 

   »Es regnet«, bemerkte Vidar trocken. Es war als würde der Himmel über sie zusammenbrechen. Vor wenigen Augenblicken war es noch sonnig und schön gewesen und auf einmal befanden sie sich in einem wahren Regenstrom wieder. Schwarze Wolken kesselten sie zu allen Seiten ein und der Donner kroch unaufhörlich hinter ihnen her.

   »Hetz mich nicht!« Aeryn suchte verzweifelt nach einem Unterschlupf. Doch Nebel kroch von den Wäldern her hoch und verdeckte bald jegliche Sicht nach unten.

   »Bald wird es anfangen zu blitzen. Na ja, ich hab es dir gesagt.«

   »Da!«, brüllte Aeryn und schlug Vidar auf den Arm. Sie zeigte auf einen kleinen Vorsprung im Felsen des Berges, wo dunkle Schatten einer Höhle ihr Unwesen trieben.

   »Bitte bring uns dorthin«, flüsterte sie dem Pegasus ins Ohr. Dieser gehorchte und setzte zum Landeanflug an. Jetzt verlor auch Vidar wieder etwas von seiner Gelassenheit. Verzweifelt klammerte er sich an Aeryn fest. Deutlich sanfter als zuvor landete das geflügelte Pferd jedoch auf dem Vorsprung und Vidar sprang sofort von seinem Rücken. Keine weitere Sekunde wollte er mehr auf diesem Ungetüm verbringen.

   Langsam stieg auch Aeryn ab und wrang sich das schneeweiße Haar aus. Dabei bemerkte sie wie Vidar sie beobachtete.

   »Ist etwas?«, fragte sie selbstsicher, obwohl sie genau wusste, dass er auf ihre seltsamen Haare starrte. Sie hatte es doch auch in dem Dorf der Wald-Ilyea gesehen. Alle starrten sie auf ihre seltsamen Haare.

   Vidar hingegen sagte nichts und setzte sich auf den staubigen Boden. Aus einem kleinen, aus Strohhalmen angefertigten Beutel nahm er eine Hand voll gelblich schimmernder Samen, die er in der Erde einpflanzte. Er pflanzte sie in einem Kreis an, legte dann seine beiden Hände auf die Erde und schloss die Augen. Zunächst konnte Aeryn es kaum erkennen, doch dann sah sie, wie die Samen keimten und die sprießenden Keime sich in dem Kreis ineinander verflochten und sternförmige, golden schimmernde Blätter hervorbrachten, die die Dunkelheit ein Stück weit vertrieben. Von ihnen kam auch eine wohlige Wärme, die Aeryns zitternden Körper besänftigte.

   »Wunderschön«, hauchte sie und setzte sich ihm gegenüber.

   »Nichts außergewöhnliches für einen Wald-Ilyea«, murmelte er und verschränkte die Arme vor der Brust. »So etwas konnte ich schon, als ich noch ganz klein war.« Zufrieden lächelte er vor sich hin. Das war das erste Mal, dass Aeryn ihn lächeln sah.

   »Angeber«, murmelte sie und blickte auf die sternförmigen Blätter.

   Draußen durchzog der erste Blitz den dunklen Himmel wie ein leuchtender Riss. Kurz darauf folgte ein Donnerschlag. Nun gesellte sich auch der Pegasus zu ihnen und legte sich neben Aeryn auf den Boden. Behutsam streichelte sie sein perlweißes Fell bis ihr Herzschlag mit seinem Atem im Einklang war.

   »Wie bist du an den gekommen?«, fragte Vidar unverblümt. Dabei scheute er sich bewusst davor, den Namen des Tieres auszusprechen.

   »Er hat mich gerettet«, antwortete sie knapp. »Danach bin ich mit ihm durch die Luft geflogen. Bis du uns runter geschossen hast.« Sie warf ihm einen bösen Blick zu.

   Er ging jedoch nicht auf diesen ein und fuhr fort: »Dir ist bewusst, dass es selten ist, einen wie ihn überhaupt zu Gesicht zu bekommen. Geschweige denn, dass er sich bequemt einem zu helfen.«

   »Wie meinst du das?«

   »Er ist ein Kind der Lüfte, ein unberechenbares Wesen. Wieso hat er dir also geholfen? Bist du einen Pakt mit der Luft eingegangen? Oder sogar mit dem Dämonenfürst selbst?«

   »Was soll das?«, fragte sie gereizt. » Wenn du mir etwas zu sagen hast, dann mach es gefälligst direkt!«

   Er öffnete den Mund, als ein lauter Donnerschlag ertönte und sie viele, schlurfende Schritte aus dem Inneren der Höhle vernahmen. Es waren lange, gezogene Schritte, als würde eine Gruppe etwas Schweres hinter sich herziehen.

   »Verdammt«, zischte Vidar, sprang auf und zog Pfeil und Bogen von seinem Rücken. Blitzschnell spannte er ihn und zielte auf das Innere der Höhle.

   »Was ist das?« Aeryn sprang auch auf und zog den Pegasus wieder auf die Beine. »Wer kommt da?«

   »Wenn wir Pech haben, unser Tod.«

   Doch das Geräusch versiegte und Stille trat ein. Vorsichtig ließ Vidar seinen Bogen sinken.

   »Sie sind weg«, murmelte er.

   Plötzlich griff Aeryn jedoch etwas von hinten. Sie schrie und stieß wie wild um sich.

   Sofort drehte sich Vidar um und zielte auf das Wesen, das Aeryn mit sich zog; sein Pfeil verfehlte sein Ziel jedoch und verschwand mit dem Wesen und Aeryn draußen im Regen.

Unverhoffte Begegnung

   »Lass mich los!», schrie sie und befreite sich aus seinem Griff. Das Wesen packt jedoch ihre Haare und schleifte sie an ihnen an dem Vorsprung des Felsens entlang. Nur einen kurzen Blick konnte sie auf das Wesen erhaschen. Es war groß und grün, besaß allerdings keinerlei Ähnlichkeit mit Vidar. Es hielt in seiner rechten, freien Hand eine riesige Keule, die er neben Aeryn mit hinter sich her schleifte. Er besaß große, spitze Ohren und einen widerlichen Geruch, der an verfaultes Fleisch erinnerte.

   Unter Schmerzen konnte sie erkennen, wie Vidar ihr folgte und den Bogen spannte.

   Der Pfeil traf diesmal sein Ziel und steckte im Hinterkopf des Ungetüms. Das Wesen stieß einen lauten, wütenden Schrei aus und schleuderte Aeryn durch die Gegend.

   Vidar spannte seinen Bogen erneut und traf das Wesen diesmal am Schienbein, als es sich umdrehte. Eine hässliche Fratze kam zum Vorschein. Ein breites Maul, in dem ein paar Zähne fehlten und eine große, mit Warzen übersäte Nase, die hinter zwei großen, buschigen Augenbraunen hervorstach. Zwei kleine, milchige Augen standen viel zu weit voneinander ab und gaben ihm einen irren Blick.

   »Ein Troll«, atmete Vidar zischend ein und ließ den Bogen sinken.

   »Jetzt schieß endlich!«, rief Aeryn und versuchte sich an der riesigen Hand des Trolls festzuklammern. Vidar stand jedoch nur stumm dort und starrte den Riesen an.

   »Vidar! Beeil dich!«, schrie sie sich die Seele aus dem Leib. 

 

   »Vidar, sieh mal, was ich gefunden habe!«

   »Das sind giftige Beeren, Phelan. Die kannst du nicht essen.«

   Der kleine Junge ließ die Beeren traurig sinken. Vidar sah dies und streichelte ihm aufmunternd über den braunen Schopf.

   »Keine Sorge. Bald wirst du wissen, welche Beeren man essen kann und welche nicht.«

   »Aber ich werde niemals so klug werden wie du.«

  Plötzlich ertönten Trommelschläge und Vidar und Phelan sahen, wie alle Dorfbewohner in ihre Häuser flohen.

   »Schnell, verschwindet!«, rief ihnen einer der Älteren zu, doch dann war es bereits zu spät und die Dämonen brachen über das Dorf herein. Sie setzten Häuser in Brand, zerstörten die Felder und nahmen mit sich, was ihnen gefiel.

   »Wo habt ihr es versteckt?«, brüllte einer der Dämonen Vidar an und schloss seine verkrusteten, kohleschwarzen Hände um seinen Hals.

   »Was?«, keuchte der Junge und starrte angsterfüllt in die roten Augen des Dämons.

   »Halt mich nicht zum Narren!«, brüllte dieser und würgte Vidar nur noch mehr.

   »Lass meinen Bruder los!«, schrie Phelan und trat nach dem Dämon. Ein kurzer Blick auf den kleinen Jungen, dann warf der Dämon Vidar in hohem Bogen in den Dreck und griff nach dem kleinen Jungen zu seinem Füßen.

   »Na, wenn ihr mir nicht geben wollt, was ich verlange, dann muss ich mich wohl oder übel hiermit zufrieden geben!« Ein teuflischen Grinsen breitete sich auf den zerfetzten Lippen des Dämons aus und Phelan wurde mit einem Mal bleich.

   »Vidar! Hilf mir!«

   »Phelan! Gib mir meinen Bruder zurück!«

   »Dann bring mir das, wonach ich suche!«, lachte der Dämon und zog Phelan hinter sich her.

   »Vidar! Beeil dich! Vidar!«

 

   »Vidar!«

   Er erschrak, spannte seinen Bogen schnell wieder an und schoss dem Troll zwischen die Augenbrauen. Schreiend sackte dieser nach hinten um und warf Aeryn dabei über den Vorsprung nach unten in die Tiefe.

   Blitzschnell sprang auch der Pegasus nach unten und fing sie auf, bevor sie unten ankommen konnte.

   »Danke«, atmete sie schwer und klammerte sich am Hals des weißen Pferdes fest. »Ich kann dir wirklich nicht genug danken.« Sicher brachte der Pegasus sie wieder zur Höhle, wo Vidar schon auf sie wartete.

   »Geht es dir gut?«, fragte er besorgt, drehte sich dann aber beschämt von ihr weg.

   »Ja, mir geht es gut«, antwortete sie, hatte sie doch nicht seine Reaktion mitbekommen.

   »Was war das für ein Wesen?«

   »Ein Troll. Er -... Sie kommen öfter in diesen Regionen vor.«

   »Aber was wollte er von mir?«

   »Was fragst du mich«, knurrte er und band sich seinen Bogen wieder auf den Rücken. »Von mir wollte er ja nichts.« Er blickte nach draußen. Nun regnete es nur noch sachte.

   »Der Sturm ist vorüber. Lass uns weiter ziehen.«  Ohne sie einen Blick zu würdigen, ging er an ihr vorbei und trat vor das geflügelte Pferd.

   »Den werden wir nicht mehr brauchen. Ich habe eben einen Aufstieg gesehen. Von hier aus können wir besser zu Fuß weitergehen.«

   »Er hat einen Namen.«

   »Wie bitte?«

   »Er hat einen Namen. Er heißt Skkylar.«

   »Hast du ihn etwa gerade so benannt?«

    »Und wenn schon. Jetzt, da er einen Namen hat, darf er uns auch überall hin begleiten. Vorausgesetzt, dass er möchte.«

   »Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass er dir antworten - « Skkylar verbeugte sich vor Aeryn.

   »Lass uns gehen«, schlug sie vor. »Ich kann es kaum erwarten, meinen Bruder wieder zu sehen!« Sie ging voraus und Skkylar folgte ihr. Sie hatte es nicht zugeben wollen, doch für einen kurzen Augenblick als sie in die Tiefe stürzte, hatte sie das Gefühl gehabt sich selbst sehen zu können. Sie konnte ihr eigenes Gesicht sehen, ihre aufgeschreckten Augen und sie hatte gespürt, wie sie nach sich selbst greifen wollte. Es war fast so, als hätte sie durch die Augen des Pegasus gesehen.

   Vidar hingegen war mit seinen Gedanken an einem ganz anderen Ort. Er erinnerte sich an die Geschehnisse von vor sieben Jahren, erinnerte sich an seinen Bruder Phelan und das Versprechen, dass er sich an jenem Tage gegeben hatte. Seine Augen wanderten zu Aeryn, die die etwas seltsame Gruppe anführte. Ihr schneeweißes Haar war ganz durchnässt und hing ihr strähnig über die Schulter. Noch nie zuvor hatte er jemanden in seinem Alter gesehen, der die Haare so silbern wie die Alten trug. Auch ihre Augen waren anders als er sie gewöhnt war. Er wusste zwar, dass sie keine Wald-Ilyea war, noch nicht einmal Ilyea an sich, doch auch den Eindruck eines Menschen hinterließ sie nicht bei ihm. Für Vidar war sie ein Wesen dazwischen. Irgendwie passte sie nirgendwo hinein und war dennoch genug für sich.

   Als er bemerkte, wie er sie beobachtete, biss er sich auf die Unterlippe und versuchte seine Gedanken beschämt zu ordnen. Er hatte eine Mission: Das durfte er nicht vergessen. Diese besaß höchste Priorität.

 

Nachdem sie einen engen Pass hinaufgestiegen war, hielt Aeryn inne und blickte nach oben. Der Himmel färbte sich in ein sattes Rot, welches einer reifen Johannisbeere glich. Zwischen den sich auflösenden Wolken trat die gleißende Sonne heraus und so mancher Stern wagte es hinter seiner weißen Decke hervor zu linsen. Der Sturm war vorübergezogen und für die Nacht schien es klar und angenehm zu werden.

   Sie fanden eine kleine Höhle, die genügend Schutz vor Windböen bot, die in diesen Höhen des Öfteren zu Besuch kämen, wie Vidar sie aufklärte. Zur Sicherheit - da sie nun doch recht nass geworden waren - pflanzte er erneut einen Kreis mit Ranken voller sternförmiger Blätter an, die Wärme und Licht spendeten.

   »Hier«, sprach er und drückte ihr eine alte, braune Wurzel in die Hand. »Sie schmeckt würzig, wenn man sie kocht.«

   »Wir haben aber keinen Kessel«, bemerkte sie und sah ihn verwirrt an.

   »Wir brauchen auch keinen«, knurrte er und formte die sternenförmigen Blätter zu einem runden Gefäß. Mühelos blieben die Blätter in ihrer Form und verwandelten sich so in einen leuchtenden, wärmenden Topf.

   »Ich werde Wasser holen gehen. Ich habe vorhin eine kleine Quelle in der Nähe sprudeln hören. Vor Anbruch der Dunkelheit werde ich wieder hier sein.«

   Dann stand er auf und stürmte aus der Höhle. Unsicher blickte Aeryn zu Skkylar, doch der Pegasus ließ sich nur neben ihr nieder und legte seinen Kopf auf ihren Schoß. Zwischen den Nüstern drang warme Luft hervor, während Aeryn seine Stirn langsam kraulte.

   »Irgendwie ist er seltsam, nicht wahr?«, fragte sie ihn und blickte auf die Wurzel in ihrer linken Hand. »Er weiß so viel. Wann ein Sturm aufzieht und welche Wesen in den Bergen leben. Er scheint schon selbstständig auf die Welt gekommen zu sein.« Sie lachte und schüttelte den Kopf. »Aber ich kann froh sein, dass er mir bei meiner Suche hilft.«

   Mit einem Mal fiel ihr ein, dass er keinen Grund dazu hatte, ihr zu helfen. Der Dorfälteste Gawen hatte es ihm zwar aufgetragen, doch band ein Versprechen die Wald-Ilyea so sehr, dass sie mit Wildfremden durch die Landschaft zogen? Doch ihr konnte es egal sein, nicht? Solange er ihr half, nach ihrem Bruder zu suchen.

   Am Eingang der Höhle regte sich etwas. Ein großer, schwarzer Schatten stand dort - die untergehende Sonne im Rücken, sodass ein schwarzer Fleck sich auf der roten Erde bildete.

   »Vidar?«, fragte sie und stand auf. Angestrengt kniff sie die Augen zusammen um seine Gesichtszüge erkennen zu können.

   Bernsteinfarbene Augen trafen sie und sie ließ die braune Wurzel aus der Hand gleiten.

Verschollener Bruder

   Quirlig sprudelte das Wasser vor sich hin, als Vidar aus einem aus Grashalmen angefertigten Krug in das kühle Nass eintauchte. Bilder, altvergessene Szenen spielten sich vor seinem inneren Auge ab und er erwachte erst, als sich die Sonne auf der Oberfläche spiegelte und grelles Licht in seine Richtung warf. Er fuhr hoch und sah zum Himmel. Vom höchsten Punkt des Himmelszeltes zog schon die Schwärze herbei und drängte die Sonne gen Horizont.

   Flink kletterte er den steilen Abhang hinab. Er war zwar kein Berg-Ilyea, doch im Klettern war er nie zu schlagen gewesen. Alle anderen Kinder hatten ihn beneidet um seine Ausdauer, sein Geschick und die enorme Schnelligkeit. Nicht umsonst hatte man ihm den Namen ›Vidar‹ gegeben. ›Waldkrieger‹ bedeutete es - so zumindest hatte Gawen es schon oft für ihn übersetzt.

   Bisher war er immer auf seinen Namen stolz gewesen.

   »Ich bin wieder da!«, rief er und schritt in die Höhle, als seine leuchtendgrünen Augen plötzlich zwei bekannte bernsteinfarbene Augen fixierten.

   »Vidar, das ist mein Bruder Aurin«, sprach Aeryn und lächelte überglücklich. Skkylar hielt sich am anderen Ende der Höhle auf.

   »Er hat auch nach mir gesucht!«, fuhr sie fort, als Vidar keinerlei Ausdruck zeigte. »Er hat meine Stimme gehört und ist ihr bis hierher gefolgt. Ist das nicht wundervoll?«

   Vidar fixierte den Mann mit den bernsteinfarbenen Augen, die von einem Kranz dunkler Wimpern umrahmt wurden. Dunkelbraune Locken kräuselten sich um ein markantes Gesicht. Groß und muskulös war er und ein liebevolles Lächeln ruhte auf seinen schmalen Lippen. Nur die Augenfarbe hatte er mit Aeryn gemein, in allem anderen entsprach er nicht Aeryn wie Vidar fand.

   »Ich bin dir dankbar, dass du meine Schwester bis hierher begleitet hast. Richte Gawen meinen Dank aus«, sprach Aurin und lächelte ihm aufmunternd zu. Dann ergriff er die Hand seiner Schwester und zog sie mit sich. »Komm, ich habe dir so viel zu erzählen und du hast auch bestimmt eine Menge Fragen.«

   »Unzählige«, hauchte sie glücklich und wollte ihm folgen, doch hielten ihre Füße sie zurück. »Moment, was ist mit Vidar?«

   »Er kann nun wieder nach Hause zurückkehren, Aeryn.«

   »Und was ist mit Skkylar?«

   »Du meinst das Pferd? Das kann er ja mitnehmen. Komm, ich bringe dich in ein Dorf nicht weit von hier. Die Ilyea sind dort sehr gastfreundlich.«

   »Du nimmst sie einfach so mit?«, fragte Vidar und drehte sich zu den beiden um. Mit seinen Händen umklammerte er den gräsernen Krug. Die Knöchel an seinen Händen traten schon weiß hervor.

   »Ich weiß, was du vorhattest«, sprach Aurin. »Und ich bin froh, dass ich noch rechtzeitig kam. Nun geh, bevor ich es mir anders überlege und dich für das büßen lasse, was du mit ihr vorhattest.«

   »Ach, was hatte ich denn vor?«

   »Spiel nicht den Ahnungslosen. Du steckst mit Gawen unter einer Decke.«

   »Wovon redet ihr?«, fragte Aeryn verwirrt.

   »Er wollte dich an den Dämonenfürst aushändigen«, peitschte Aurins Blick sie.

   »Das stimmt nicht!«, widersprach Vidar und fletschte die Zähne.

   »Ach wirklich?« Aurins bernsteinfarbene Augen begannen zu lodern, als wäre Feuer in ihnen entbrannt. »Vor sieben Jahren bat ich euer Dorf um Hilfe gegen die Dämonen, doch ihr habt uns vertrieben. Nur die Dorfälteste bat uns ihre Hilfe an und so konnte ich Aeryn in Sicherheit bringen. Ich weiß zwar nicht, wie du an Aeryn gekommen bist, doch dass ihr bis in die Berge gekommen seid, bestätigt nur meine Annahme: Du wolltest sie direkt in die Arme des Dämonenfürsten laufen lassen. Welchen Pakt ihr auch immer mit ihm geschlossen habt, ich werde nicht zulassen, dass du meiner kleinen Schwester etwas antust!«

   Aurin ergriff ihren Arm und zog sie aus der Höhle. Stumm blickte sie zurück zu Vidar, dessen Gesicht die Schatten verzehrten.

 

   Aurin brachte sie nicht zu jenem Dorf in den Bergen, von dem er ihr erzählt hatte. Ohne Rast stiegen sie den Berg hinab und durchquerten unzählige Wälder. Der Mond hatte bereits den ganzen Himmel überquert und die Sonne würde bald ihre ersten Boten losschicken, die die Welt um Aeryn eigentlich erhellen sollten. Doch egal wie viel Licht auf sie fiel, um sie herum blieb alles schwarz und düster.

   Gedankenlos irrte sie ihrem Bruder hinterher, der sie wie ein kleines Kind hinter sich herzog-  ungeachtet dessen, ob er sie dabei verletzte oder nicht.

   »Ich brauche eine Pause«, begann Aeryn. Ihre Beine schmerzten und ihr Kopf fühlte sich schwer an. »Bitte, lass uns irgendwo rasten.«

   »Nein«, antwortete er knapp, ohne sie anzusehen. »Wir müssen so weit wie möglich von hier fort.«

   »Wieso? Was will der Dämonenfürst von mir? Warum sucht er mich?«

   »Ein anderes Mal, Aeryn.«

   Das hatte sie schon einmal gehört. Vor sieben Jahren hatte sie ihn gefragt, warum er fort gehen musste, doch er hatte sie immer auf später vertröstet. Doch wieso war er nun hier? Wieso suchte er erst jetzt, nach sieben Jahren, nach ihr? Was wusste er, was sie nicht wusste? Und was hatte es mit Vidar auf sich? Die Gedanken überschlugen sich in ihrem Kopf.

 

   »Mama, nein!«

   »Mörderin, Schuldige, Lügnerin-«

 

   »Hör auf damit!«, schrie sie und krallte ihre Fingernägel in ihren Kopf.

   Aurin sagte nichts und ließ ihren Arm los. Langsam drehte er sich zu ihr um und streichelte über ihre schneeweißen Haare.

   »Hab keine Angst«, flüsterte er zart in ihr Ohr.

   Wieso sollte sie keine Angst haben?

   »Alles wird gut.«

   Woher wusste er das? Wie wollte er alles wieder gut werden lassen?

   »Lass uns erst zurückgehen. Nareen ist schon ganz krank vor Sorge.«

   »Nareen?«

   »Die Frau, die sich um dich gekümmert hat. Sie ist Gawens ältere Schwester, die Schwester des Mannes, der nun das Dorf leitet, in dem dieser Verräter lebt.«

   »Er ist kein Verräter!«, rief sie plötzlich und war selbst ganz erschrocken über ihre eigene Stimme. »Vidar... hat mich gerettet.«

   »Er hat versucht dich umzubringen, Aeryn«, erklärte Aurin geduldig. »Er wollte dich eintauschen.«

   »Und gegen was? Weißt du das auch?« Unbewusst wurde sie lauter.

   »Nein, das weiß ich nicht.« Nun wurde auch er immer gereizter. »Vielleicht gegen Gold oder andere Reichtümer. Die Ilyea sind gierige Wesen, Aeryn. Sie nehmen sich einfach, was sie wollen.«

   »Ach, und Menschen etwa nicht?« In ihrem Hals bildete sich ein Kloß, der sie zu ersticken drohte. »Weder Nareen, noch Vidar sind gierig. Im Gegenteil. Obwohl sie mich nicht kannten, haben sie sich um mich gekümmert.«

   Aurin schloss angestrengt die Augen und fuhr sich mit seiner Hand über die Schläfen.

   »Es war eine lange Reise. Lass uns einfach zurück zu Nareen gehen und das ganze einfach vergessen.«

   »Nein!«, schrie sie. Die Röte stieg ihr ins Gesicht und färbte ihre Wangen purpurn. Ihr war es gleich, ob sie sich wie ein Kind aufführte. Sie hatte genug von dem Ganzen. Genug von dieser Geheimnistuerei und genug von ihm.

   »Sieben Jahre lang hast du mich alleine gelassen! Hast dich nicht darum gekümmert, wie es mir geht. Ich musste sogar nach dir suchen! Und jetzt tauchst du einfach so auf und ohne jegliche Erklärungen willst du mich wieder in Unwissenheit leben lassen?«

   Aus dem Gebüsch raschelte es und Aurin sah sich besorgt um. Aeryn merkte auch die veränderte Situation, aber sie konnte nicht mehr aufhören.

   »Sieben Jahre lang wollte ich zu dir! Ich wollte endlich die Antworten auf meine Fragen hören, die ich dir nie stellen konnte. Wer bin ich Aurin? Wo komme ich her? Was ist mit meinen Erinnerungen passiert?«

   »Aeryn, hör sofort auf damit!«

   »Wieso höre ich diese seltsame Stimme immer und immer wieder in meinem Kopf? Warum hat Nareen mich aufgenommen und ihr Leben im Dorf für mich beendet? Und was will der Dämonenfürst von mir?«

   »Die Antwort können wir dir gerne geben«, zischte es hinter Aeryn. Furchtlos drehte sie sich um und sah in die feuerroten Augen eines Dämons. Seine Haut war verkrustet und schwarz wie Asche. Zwischen dem zerbröselten Lippen bleckte eine gespaltene Zunge die spitzen Zähne. Sie blickte sich um. Eine ganze Gruppe von Dämonen hatte sich an sie heran gepirscht.

   »Ich werde nicht zulassen, dass ihr meiner Schwester etwas antut!«, rief Aurin und zog ein langes, dünnes Gewehr aus seinen hohen Stiefeln. Mit einem lauten Knall zielte er auf die Dämonen und schoss. Dicke Rauchschwaden wirbelten durch die Luft und wurden von einem der Dämonen eingesogen.

   »Delikat«, legte er sich über die Finger und die anderen Dämonen fingen daraufhin an zu lachen.

   »Trotzdem muss ich diese Aktion als Beleidigung auffassen und dich leider fressen.«

   »Lasst ihn in Frieden«, sagte Aeryn und blickte Aurin direkt in die Augen. »Ich werde ohne Widerwillen mit euch mitgehen.«

   »Nein, das wirst du nicht!«, schrie Aurin erzürnt. »Jetzt spiel nicht die Heldin!«

   »Ich bin keine Heldin«, entgegnete sie. »Aber ich bin auch kein Kind mehr.«

   Dann drehte sie sich von ihm weg und folgte den Dämonen, während Aurin nur fassungslos seiner kleinen Schwester nachblicken konnte.

Im Herzen der Hölle

   Aeryn kannte den Geschmack der Finsternis. Sie hatte ihn schon einige Male gekostet, doch noch nie war der Geschmack so intensiv vernehmbar gewesen wie in jener Höhle, in die sie die Dämonen führten. Bitter war der Geschmack und roch so salzig wie vergossene Tränen. Eine Brise Einsamkeit wehte ihr um die Nase und zog sie näher in die Tiefe der Höhle; dort, wo die Hitze sich mit dem Blut unzähliger Opfer mischte und in klaren Schweißperlen zischend in der Lava zerrann.

   Zurück zum Berg hatten sie sie geführt, vorbei an den Höhlen, in denen sie vor wenigen Stunden noch mit Vidar ausgeharrt hatte. Vorbei an einer Quelle und hinein in eine große, von Trollen bewachte Höhle. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, doch selbst, wenn sie es wäre, hätte sie nie die Dunkelheit vertreiben können, die in dieser Höhle herrschte. Zu massiv, zu dickflüssig war sie, als das man sie je hätte beseitigen können.

   Auf einem schwarzen Thron, umgeben von gleißenden Magmabecken, saß der Dämonenfürst, halb Mann, halb Monster mit gleißend roter Haut, die der Farbe von Magma entsprach. Sein Haar war schwarz wie der Ruß, der die Luft verpestete und seine Augen so rot wie das Blut, das in seinen Mundwinkeln klebte.

   Eine Krone aus Knochen schmückte sein Haupt und untermalte die Schatten in seinem Gesicht, die sich wie Krater durch einen Berg zogen.

   »Aeryn«, begrüßte er sie wie eine alte Freundin. Seine Stimme war tief und dennoch seltsam melodiös, sodass sie eine beruhigende Wirkung auf sie hatte.

   »Komm zu mir. Man bringe ihr einen Stuhl! Sag mir, wie lange ist es her, dass wir uns gesehen haben? Sieben, acht Jahre? Du bist größer geworden und hast nichts an Schönheit und Liebreiz eingebüßt. Komm nur, setzt dich zu mir.«

   Ein Dämon stellte ihr einen schwarzen Schemel hin, sodass sie neben dem Dämonenfürst Platz nehmen konnte. Steif setzte sie sich hin und spürte, wie der Dämonenfürst sie anstarrte. Spitze, schwarze Fingernägel fuhren ihr durchs schneeweiße Haar.

    »Ich bin überrascht, dass du deinen Weg alleine zu mir gefunden hast. Die Luft steckt immer wieder voller Überraschungen.«

   Aeryn blickte ihn das erste Mal an und er genoss diesen verwirrten, ängstlichen Blick in vollen Zügen. Es war eine Genugtuung, nein, noch viel mehr. Es war wie die Linderung der Schmerzen, die er tief in sich verspürte.

   »Hat man es dir also nicht verraten? Armes Ding, verleugnet von jedem, der dir lieb ist. Ja, sieh mich nur weiter mit dem Blick der Ahnungslosigkeit an! Ich werde es sein, der dich von den Qualen der Unwissenheit befreien wird. Sag, träumst du nicht jede Nacht davon? Diese süße Erinnerung, als du alles zerstört hast? Der Moment, indem du deine Eltern umgebracht hast?«

 

   »Mama, nein!« Der leblose Körper schwamm in seinem eigenen Blut. Dickes, alles zerfressendes Blut.

   »Was hast du getan?«, fragte ihr Vater. Sein Blick war gefüllt mit Wahnsinn, sein Körper zitterte, als er die Hände nach seiner Frau ausstreckte.

   »Monster«, fluchte er. »Mörderin! Das Blut deiner Mutter klebt in deinem Gesicht, an deinen Händen - es ist überall. Du hast sie umgebracht!« Er blickte auf seine eigenen Hände.

   »Ich habe sie nicht umgebracht!«, weinte sie und ihr Herz verkrampfte sich.

   »Lügnerin!«, brüllte er, ließ seine Frau wieder sinken und nahm ein Messer vom Tisch. »Mich wirst du bestimmt auch noch töten wollen, habe ich Recht?«

   »Nein, Papa ich - «

   »Nein! Das wirst du nicht schaffen! Oh nein, nicht wenn ich dir zuvor komme!« Er rammte sich das Messer in die Brust und dickes Blut floss aus der klaffenden Wunde.

   »Nie mehr sollst du glücklich werden! Die Luft soll dir alles nehmen, hörst du! Dein Leben soll zur Qual werden!«

   »Papa!«, schrie sie und versuchte ihm das Messer aus dem Leib zu ziehen, doch er stemmte sich gegen sie und schnitt sie den Brustkorb komplett auf. Schwer fiel die Masse in Aeryns Arme und sie hielt ihren Vater so lange fest, bis er aufhörte zu zucken und gänzlich erstarrte.

   Sie schrie wie am Spieß und sackte unter dem Gewicht ihres Vaters ein.

  »Aurin!«

 

   Sie erwachte und atmete schwer. Der Dämonenfürst neben ihr lächelte begierig.

   »Wie gerne hätte ich deine süße Erinnerung geteilt. Ja, ich weiß, dass es viel Kraft braucht um die Luft an einen Menschen zu binden. Manche Menschen unterschätzten diese Kraft und verendeten daran. Und manche treibt der bittere Nachgeschmack des Wahnsinns zur Verzweiflung. Ich habe alles versucht, Aeryn!«

   Er stand auf und drehte sich um. »Unzählige Ilyea und Menschen habe ich verfolgt, habe sie von ihren Familien getrennt und sie der Luft geopfert. Habe sie den Stürmen zum Fraß vorgeworfen und in die Windböen der Meere geworfen, doch noch immer zeigte sich die Luft mir nicht gnädig. Nie ging sie einen Pakt mit mir ein, immer verweigerte sie sich mir. Und dann haben deine Eltern geschafft, was mir alle Jahre verwehrt blieb: Sie haben die Luft an deinen Körper gebunden. Ja, so ein schwaches kleines Geschöpf warst du. Kaum imstande zu leben und dennoch hast du ganze zehn Jahre überstanden. Aber dann, ach, welche Tragödie, haben deine kleinen Lungen versagt und du wärst doch glatt gestorben. Widerliche Heuchelei hat alleine genügt, um die Luft milde zu stimmen und dir den Lebensatem zu schenken! Dein weißes Haar ist das Indiz! Du bist einen Pakt mit dem Element der Vögel und Wolken eingegangen und hast die Kraft bekommen, nach der ich mich Jahrzehnte lang verzehre!«

   Seine Hände zitterten vor Ekstase und seine roten Augen weiteten sich im Wahn.

   »Nur ein jämmerliches Menschenleben hat es gekostet. Nur eins, das andere war nur geschenkt! Oh, wie lange habe ich auf diesen Tag gewartet! Endlich bekomme ich das, was niemand sonst haben kann!«

   Mit schnellen Schritten bewegte er sich auf Aeryn zu. Erschrocken sprang sie auf und stieß dabei den schwarzen Schemel um. Die Fratze des Dämonenfürstens verzog sich zu einem ganz eigenen Albtraum in ihr.

   Ängstlich schloss sie die Augen, als sie das vertraute Geräusch einer spannenden Sehne hörte. Dann schnitt etwas Spitzes die Luft in zwei Teile. Sie riss die Augen auf.

   Ein Pfeil steckte in der Stirn des Dämonenfürsten, aus der dickes schwarzes Blut seine Nase hinunter rann.

   »Elender Wald-Ilyea«, knurrte er und blickte hinauf zu Vidar, der auf einem Vorsprung in der Wand stand und bereits den nächsten Pfeil ansetzte. Mit einem erneuten Zischen raste er auf den Dämonenfürst, doch dieser konnte diesmal ausweichen, indem er zur Seite sprang und sich so von Aeryn entfernte. Schnell nutzte diese die Gelegenheit und rannte fort. Auch Vidar kletterte von dem Vorsprung in der Wand nach unten und folgte ihr.

   »Nein, so leicht werdet ihr mir nicht entkommen«, knurrte der Dämonenfürst und schnippte mit seinen Fingern.

   Aus den Spalten und Nischen krochen Dämonen, die sich auf Aeryn und Vidar stürzten. Mühsam versuchte er sie mit seinem Bogen auf Abstand zu halten.

   »Es sind zu viele!«, rief er jedoch und Aeryn wurde von einem der Dämonen ergriffen.

   Doch dann schlug ein weißes Pferd den Dämon mit seinen Hinterhufen davon und befreite sie.

   »Skkylar«, murmelte sie und das Pferd verbeugte sich.

   »Keine Zeit für Formalitäten! Schnell, steig‘ auf!«

   Zügig kletterte sie auf den Rücken des Pferdes und hielt Vidar die Hand hin. Unsicher blickte er sie an.

   »Du hast mich schon zweimal gerettet. Lass mich dich wenigstens einmal retten!«

 

   Rasant galoppierten sie durch die Höhle. Vidar kümmerte sich mit seinem Bogen um die ihnen folgenden Dämonen. Hochkonzentriert zielte er auf die Stirn eines Dämons, ließ den Pfeil durch die Luft zischen, doch wurde von dem Dämon mit einem Schlag zu Asche verbrannt.

   »Da vorne sind Trolle!«, rief Aeryn und zeigte auf die Kolosse, die sich soeben zu den beiden umdrehten. Mit erhobenen Keulen rannten sie dem rasenden Gespann entgegen. Vidar spannte erneut seinen Bogen und zielte auf die Trolle.

   »Jetzt komm schon!«, zischte er und feuerte den Pfeil ab. Diesmal verfehlte er nicht sein Ziel und bohrte sich durch die Stirn des nun aufkreischenden Kolosses.

   »Schneller!«, rief Aeryn Skkylar zu und der Pegasus gewann an Tempo. Sie passierten den zweiten, verwirrten Troll, welcher zu seinem toten Kollegen trottete.

   »Ich kümmere mich weiter um die Dämonen, such du nach dem Ausgang!« Er widmete sich wieder den Dämonen zu, deren Anzahl sich glatt verdoppelt hatte und die mit lodernden Körpern hinter den beiden herrannten. Erneut schoss er auf sie, doch immer wieder verbrannten sie die Pfeile und wurden nur noch wütender.

   »Verdammt. Warum muss ein Wald-Ilyea jetzt auch so nutzlos sein? Was hast du überhaupt getan, dass er so scharf auf dich ist?«

   »Erinnerst du dich noch, als du mich gefragt hast, ob ich einen Pakt mit ihm eingegangen wäre? Anscheinend sind meine Eltern einen Pakt mit der Luft eingegangen, um mich zu retten. Aber genau diese Kraft will er für sich haben.«

   »Wenn er Herr über Feuer und Luft wäre, dann könnte er ganz Firyon zerstören«, murmelte Vidar und Aeryn senkte den Blick.

   »Als der Troll mich mit sich geschleppt hat, wollte er mich zu ihm bringen, richtig?«, fragte sie vorsichtig. Vidar hinter ihr gab keine Antwort. Nur das Spannen seines Bogens war Antwort genug.

   »Du hast gezögert, als du ihn gesehen hast. Aber hast mich dennoch gerettet. Wie-«

   »Du hast mich genauso gerufen wie mein kleiner Bruder es auch getan hat, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe«, unterbrach er sie. »Nachdem du mit deinem Bruder in unserem Dorf aufgetaucht bist, haben die Dämonen uns überfallen und meinen Bruder mit sich genommen. Ich will ehrlich zu dir sein. Ich bin nicht hergekommen, um dich zu retten. Ich habe nach ihm gesucht.«

   Und obwohl er es nicht sagte, wussten sie beide, dass er sie dennoch gerettet hatte.

   »Ich habe ihn aber nicht gefunden. Er ist wohlmöglich längst schon tot. Aber wir haben momentan größere Probleme. Wenn wir nichts unternehmen, wird er dich nie in Ruhe lassen und womöglich ganz Firyon verwüsten.«

   Aeryn schwieg. Ihr Kopf wollte am liebsten zerbersten.

   »Hey, da vorne ist Licht!« Aeryn blickte auf und tauchte zusammen mit Vidar und dem Pegasus in gleißendes Sonnenlicht. Sie hatten die Höhle verlassen, die Gefahr war jedoch noch nicht gebannt. Die Dämonen folgten ihnen weiterhin und nutzen den nun zur Verfügung stehenden Raum, um Feuerbälle nach ihnen zu werfen. Skkylar weichte gekonnt aus und breitete seine Flügel aus.

   »Wir heben gleich ab!«, rief Aeryn Vidar zu und klammerte sich an den Hals des Pegasus. »Versuch sie noch ein wenig auf Abstand zu halten, bis Skkylar genug Anlauf bekommen hat.«

   »Keine Sorge, ich kann sie zwar nicht besiegen, aber uns einen kleinen Vorsprung verschaffen.« Er griff in seinen kleinen Beutel und zog eine Hand voll Samen heraus. Diese warf er dann mit aller Kraft auf den Boden, sodass die Erde darunter zerbarst und gleißendes Licht gen Himmel raste. Sofort erzielten sie ihren Effekt, denn die Dämonen waren angesichts des Lichtstrahls geblendet und blieben abrupt stehen.

   »So etwas funktioniert nur bei Tag. Jetzt beeil dich, die Wirkung hält nicht sehr lange!«

   »Skkylar, ich bitte dich!«, flehte Aeryn und der Pegasus gehorchte, schlug mit den Flügeln und hob ab. Der Wind schnitt ihnen durchs Gesicht und sie gewannen immer mehr an Höhe. Sie waren in Sicherheit.

   »Wohin?«, fragte Aeryn, doch Vidar schüttelte nur den Kopf.

   »Wir sind nirgends sicher. Kein Dorf wird uns mehr aufnehmen können, die Dämonen werden uns überall hin folgen. Lass uns zunächst zu dem großen Baum dort fliegen.« Er deutete auf einen großen Baum, der den Rest des Waldes überragte. »Er bildet das Herzstück dieses Waldes, seine Kraft wird vielleicht ausreichen, um uns vor den Dämonen zu verstecken. Außerdem gibt es jemanden, den wir dort treffen müssen.«

Der Geschmack der Finsternis

   »Aurin?« Sie erkannte ihn bereits, bevor Skkylar den Boden berührte. Er saß auf einem der gigantischen Wurzeln des Baumes und blickte zu seiner kleinen Schwester.

   »Was hat das zu bedeuten?«, blickte sie zu Vidar, doch er schwieg nur und nickte zu Aurin.

   »Ich habe Vidar gebeten, dich zu mir zu bringen, Aeryn«, sprach dieser, als der Pegasus sanft wie eine Feder auf dem mit Blättern übersäten Boden landete. Er hielt seiner Schwester die Hand hin, jedoch vergeblich. Aeryn sprang ab, ohne ihn anzusehen.

   »Ich weiß, was mit unseren Eltern passiert ist. Oder sollte ich viel eher sagen, mit meinen Eltern?« Stur blickte sie zu Boden. »Wieso kann ich mich an nichts erinnern, was vor ihrem Tod oder danach passiert ist? Wieso kann ich mich nicht an den Besuch in Vidars Dorf erinnern? Wieso erinnere ich mich nicht an dich?«

   Aurin blickte sie stumm an.

   »Sag etwas!«

   »Nachdem unsere Eltern den Pakt geschlossen haben und alles außer Kontrolle geriet, wollte ich dich hassen. Wärst du nicht so jämmerlich schwach gewesen, hätte ich noch Mutter und Vater. Aber du konntest nichts dafür. Du warst nur das Opfer des wechselhaften Willens der Luft. Ich dachte, dass, wenn ich dich verstecke, dass niemand dich finden würde. Ich dachte, dass ich dich auch vergessen könnte. Aber niemand wollte mir helfen. Niemand außer Nareen. Sie nahm dir deine Erinnerungen, um deine Kraft zu zügeln und die Spuren zu verwischen. Wüsste sie, was kurz darauf in ihrem Dorf passiert ist, sie hätte nicht davor gescheut, dich umzubringen - «

   »Das reicht!«, Vidar schob sich zwischen die beiden. Verstört blickte sie Aurin an. All die Jahre hatte sie diese Sehnsucht nach ihrem Bruder verspürt. Doch war sie immer nur einseitig gewesen. Zwar hatte sie es sich oft vorgestellt, dass er sie nicht suchte, weil er sie nicht mehr brauchte oder sie vergessen hatte, aber nie hatte sie auch nur in Erwägung gezogen, dass er sie hasste. Dass er sie willentlich zurückgelassen haben könnte, weil er sie vergessen wollte.

   »Wolltest du mir nur das sagen?«, fragte sie mit gebrochener Stimme. »Aber wieso wolltest du mich zurück zu ihr bringen? Wieso wolltest du mich beschützen, wenn du mich hasst, Aurin?« Ihre Stimme wurde immer lauter und sie schrie ihn beinahe an. Vidar drängte sie instinktiv immer weiter weg von Aurin.

   »Jetzt sag es!«

   »Weil ich es war, der den Pakt vorgeschlagen hat! Ich habe unsere Eltern überredet, es zu probieren! Du warst meine Schwester, ich wollte dich doch nur beschützen...« Tränen rannten über Aurins Gesicht.

   »Hätte ich gewusst, was es für Konsequenzen hat, dann hätte ich es nie getan... Es ist meine Schuld, deswegen muss ich dafür gerade stehen! Ich habe ein Monster erschaffen!«

 

   »Hab keine Angst«, flüsterte er und strich ihr über das seidige schneeweiße Haar. »Alles wird gut.«.

 

   Das war nie an sie gerichtet. Er hatte immer nur versucht, sich selbst Mut zu machen.

 

    Seine bernsteinfarbenen Augen ruhten sanft auf ihren und gaben ihr das seltsame Gefühl von Geborgenheit.

 

   Lügen, alles nur Lügen. Er hasste sie.

 

   »Mörderin, Schuldige, Lügnerin - «

 

   Sie schlug die Augen auf. Nacht.

   »Endlich bist du wach.« Sie drehte sich um und sah Vidar neben ihr sitzen. Er lehnte gegen den Stamm des großen Baumes und verschränkte die Arme vor dem Körper. In der Dunkelheit leuchteten seine Augen wie Smaragde.

   »Du bist plötzlich ohnmächtig geworden. Dein Bruder hat sich übrigens verzogen.«

   Es war also kein Traum gewesen. Tränen füllten ihre bernsteinfarbenen Augen.

   »Ich konnte ihn noch nie leiden«, murmelte Vidar und zog einen Dolch aus seinem Gürtel hervor. »Den hier hab ich ihm abgenommen, bevor er gegangen ist. Gar nicht mal so übel, was?«

   »Wieso ist er gegangen?«, fragte sie, obwohl sie die Antwort kannte.

   »Ich weiß nicht«, zuckte er mit den Achseln. »Hat nur gesagt, dass ich mich jetzt um dich kümmern soll.«

   Sie blickte auf die Spitze des Dolches. Silbern glänzte die scharfe Klinge im Mondlicht und schnitt Aeryns Gedanken entzwei.

 

   Still lag die Welt dar, als Aeryn zu Vidar sah. Er schlief. Friedlich wie ein Kind atmete er rhythmisch zur Melodie des Windes. Vorsichtig näherte sie sich ihm und Griff nach dem Dolch an seinem Gürtel.

   Kurz bewegte er sich, als wolle er aufwachen, blieb dann jedoch ruhig und atmete weiterhin rhythmisch. Flink zog sie den Dolch hinter dem Gürtel hervor und hielt ihn gegen das Mondlicht. Ihre bernsteinfarbenen Augen spiegelten sich darin. Das war das Einzige, was sie noch mit Aurin gemeinsam hatte.

   Dann schlich sie sich leise zu Skkylar hinüber und strich ihm über die Ohren. Sofort öffneten sich die silbernen Augen und er blickte sie neugierig an.

   »Komm mit, aber leise«, flüsterte sie ihm zu und der Pegasus erhob sich geräuschlos zu seiner vollen Größe.

 

   Die Nachtluft war kalt und der große Baum unter ihnen wurde immer kleiner, je weiter sie in den Himmel aufstiegen. Skkylar schlug kräftig mit seinen Flügeln und versetzte ihren Herzschlag in ein gleichmäßiges Trommelschlagen. In ihren Händen hielt sie den Dolch fest umklammert. Ihre Zeit war gekommen.

 

   Ihre Schritte hallten im Tunnel wieder und nahmen den gesamten Raum in ihren Gedanken ein. Ihr Körper bewegte sich ganz von alleine nach vorne.

   Keuchend blieb sie vor dem schwarzen Thron stehen.

   »Die Luft überrascht mich immer und immer wieder«, grinste der Dämonenfürst sie an. »Was verschafft mir die Ehre einen so seltenen Gast zu so später Stunde zu empfangen? Sehnsucht, meine Teuerste? Verzehrst du dich auch danach, mit mir eins zu werden?«

   Vorsichtig beugte sie sich nach vorne und schloss ihre Arme um ihn.

   »Ich habe genug«, flüsterte sie ihm ins Ohr und Tränen quollen aus ihren Augen hervor. Sie spürte wie er die Umarmung erwiderte und sie näher zu sich heranzog.

   »Ich werde dich von all deiner Qual erlösen«, säuselte er ihr ins Ohr. »Endlich werden wir beide für ewig vereint sein.«

   »Aber nur im Tod«, antwortete sie und rammte ihm dann den Dolch in den Nacken bis sie die Wirbel knacken und die Sehnen reißen hören konnte.

   »Du wirst aber mit mir gehen«, flüsterte er zurück und seine Augen weiteten sich.

   Seine Hand ragte aus ihrem Rücken hervor. An den Fingernägeln tropfte das rote Blut zu Boden und vermischte sich mit dem schwarzen Gift, welches aus dem Körper des Dämonenfürstens quoll.

   Aeryn atmete tief ein und umarmte die Finsternis mit Tränen in den Augen. Es war ein bitterer Geschmack der ihr auf der Zunge lag. Nein, noch nie hatte sie den Geschmack der Finsternis so intensiv verspürt wie in jener Höhle.

Epilog

   »Ihr Name war ›Aeryn‹. Das bedeutet ›wie Luft‹. Und obwohl sie keine Ilyea war, war sie ein Kind der Lüfte. Sie ist der Wind, der mit euren Haaren spielt und die Brise, die euch um die Nase weht.«

   »Hast du sie gekannt, Dorfältester?«, fragte ein ganz kleiner Wald-Ilyea. Das ganze Dorf saß in einem großen Kreis um den Alten mit den dunkelgrünen Haaren, die durch silberne Strähnen durchzogen wurden. In seinen leuchtenden grünen Augen funkelte etwas.

   »Ich habe mit ihr auf dem Rücken eines Pegasus die Welt von oben gesehen«, lächelte er und schloss die Augen. Eine sanfte Brise streichelte um seine alten Wangen. »Aber das ist schon unzählige Jahre her.«

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 16.06.2013

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