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Gedanken

Der frische Wind wehte durch meine Haare und die leichte Frühlingsbrise kitzelte an meiner Nase. Die Gardinen an meinem Fenster flogen in mein Zimmer hinein und das Zwitschern der Vögel war das einzige Geräusch, was ich wahrnahm. Die Augen hatte ich geschlossen und ich versuchte ruhig zu atmen, was mir schwerer viel, als erhofft. Mein Herz schlug unregelmäßig schnell und ich konnte es in meinem Kopf pochen hören. Schon lange hatte ich aufgehört zu verdrängen, dass mein Leben ein Scheiterhaufen ist. Zu viel Leid, welches ich ertrage und so viel Gleichgültigkeit, welches man mir entgegen bringt. Ich bin einsam, selbst wenn so viele Menschen um mich herum schwirren. Zu oft wurde meine Seele geschunden, als das ich ein ehrliches Lächeln aufsetzen könnte. Ich war so alleine...

>Mina, die Schule fängt gleich an< hörte ich meine Mutter rufen.

Ich stieß die Luft in meinen Lungen aus und öffnete die Augen. Mein Spiegel hing vor mir und ich graute mich jedes Mal, wenn ich hinein schaute. Ich schaute mein Ebenbild an, doch meine Blicke ruhten auf meinen Armen. Zierliche, dünne Narben konnte man unter der ganzen Schicht von Makeup erkennen. Bisher ist niemandem etwas aufgefallen, aber ich konnte es auch nicht wirklich beurteilen, da ich erst vor zwei Wochen hier her gezogen bin und nicht wirklich unter den Menschenmassen spazieren war. Ich kannte hier niemanden und niemand kannte mich. Das war auch gut so...

Ich würde mich einfach verstellen, eine Maske aufsetzen, die lächelte, aber nicht viel von sich preisgab. Hier würde niemand meine verletzte Seele sehen, dafür würde ich schon sorgen und ich würde auch nie wieder jemandem Blind vertrauen. Zu oft wurde ich hintergangen und zu oft hat man mich an meine Vergangenheit erinnert.

Ich wollte das nicht mehr durchmachen, nie wieder. Ich würde einfach mehr auf passen, noch vorsichtiger sein.

Als ich vom Bett aufstand richtete ich noch meine Kleidung, die aus einer leder Leggins, einem ärmellosen hellblauen Oberteil und einer Jeansjacke bestand. Viele würden sagen, dass ich nicht mehr alle Tassen im Schrank habe, weil es draußen doch eigentlich warm ist, aber ich kleidete mich wenn überhaupt nur im Sommer etwas freizügiger. Im Frühling war es noch angenehm kühl und ich wollte nichts riskieren.

Ich nahm meinen schwarzen Rucksack in die Hand und ging die Treppen hinunter. Meine Mutter wartete unten auf mich und reichte mir meine Wasserflasche und einen Kaffee im Pappbecher.

Sie lächelte mich aufmunternd an, doch die Sorge in ihren Augen war mir nur zu deutlich bewusst.

Ich zog meine lita Schuhe an, packte die Wasserflasche in den Rucksack und schulterte es mir.

>Wenn etwas ist, rufst du mich an und ich werde sofort losfahren, okay?<

>Okay, mach dir aber nicht so große Sorgen. Es wird bestimmt nicht schlimmer.< sagte ich und lächelte sie ebenso an, selbst wenn es gekünstelt war.

>Das hast du das letzte Mal auch gesagt< flüsterte sie und schaute automatisch auf mein Handgelenk.

Mir war es unangenehm, dass sie dahin starrte und als könnte ich es vor ihr verbergen, versteckte ich meinen linken Arm hinter meinem Rücken. Mit der noch freien Hand nahm ich ihr den Kaffee wieder ab. Ich setzte meine Sonnenbrille auf und ohne etwas zu sagen, weil ich keine Worte fand, ging ich.

Die Tür fiel hinter mir zu und ich steckte mir meine Kopfhörer in die Ohren.

Musik bedeutete für mich Zuflucht, wo ich sie sonst nicht bekam. Selbst bei meiner Mutter fühlte ich mich nicht so geborgen, wie bei der Musik. Ich liebte meine Mom. Sie war die einzige Person, die bei mir geblieben war und immer hinter mir stand, doch trotzdessen fühlte ich mich unwohl. Einfach unerwünscht und ich denke mir jedes Mal, dass es ihr besser gehen würde und sie glücklicher wäre, wenn es mich nicht gäbe…

 
 

Mina Winter

Ich lauschte der Musik, die meine Luft in ihre sanfte Melodie hüllte. Nichts anders nahm ich mehr war und um ehrlich zu sein, wollte ich das überhaupt nicht. Meine Gedanken konnte ich zwar nicht ausschalten, aber dafür übertönen und selbst wenn dieser Moment nicht ewig anhalten konnte, ich genoss sie.

Schlückchen weise trank ich meinen Kaffee und ging mit langsamen Schritten zu meiner neuen Schule, bis ich sie auch schon erblickte.

So viele Fragen lungerten in meinem Kopf herum.

Was würde passieren, wenn ich in die Klasse trete? Würde man mich akzeptieren? Doch wie soll man von Akzeptanz reden, wenn ich eigentlich gar nicht vor hatte, mich enger mit jemandem anzufreunden? Ich wollte dieses Risiko nicht eingehen, noch mehr in die Tiefe der Schlucht zu stürzen. Ich hatte schon längst die Hoffnung in die letzte Schublade geschoben, weil es mir nichts brachte. Ich wurde nicht berücksichtigt.

Schnaubend schmiss ich meinen Kaffeebecher in die Mülltonne, die auf meinem Weg lag.

Das letzte Mal genoss ich meine kurze Anonymität und die Musik, bis ich mich zusammenriss und mein Handy ausschaltete.

Das Gebäude wurde mit jedem Schritt, den ich tat, größer und einschüchternder. Grau und im Stil eines Schlosses, welches wohl viele Jahrhunderte noch gerade mal so überstanden haben muss. Es ähnelte Hogwarts, nur dass es dort von außen nicht so dunkel aussah.

Keine Menschenseele war auf dem Pausenhof oder auf den Parkplätzen. Doch was machte ich mir denn Sorgen? Noch schlimmer kann es ja wohl nicht kommen.

Ich ging ins Gebäude hinein und eine große Pausenhalle erschien vor mir. Zwei Säulen streckten sich rechts und links empor, bogen zueinander und trafen sich genau in ihrer Mitte, welches über mir war. Die Decken schienen so weit nach oben zu gehen, was mich an eine Kirche erinnerte. Die Decken dort waren auch immer sehr hoch angelegt, nur funkelte es hier nicht bunt, durch irgendwelche farbigen Fensterscheiben. Hier war es eher... Nun ja, normal irgendwie. Dunkle Holztische mit ihren angebauten Banken lagen verteilt und kleine Schaufenster mit Fotos hingen an der Wand.

Mein Blick fiel auf ein Schild, welches ebenfalls an der Wand befestigt war, worauf Verwaltung stand.

Ohne weiter auf die Umgebung zu achten, ging ich in die Richtung und vor mir erschien eine Tür und ich klopfte zweimal an, bis ich ein >Herein< hörte.

>Guten Tag, mein Name ist Mina Winter. Ich bin die neue Schülerin und man hatte meiner Mutter am Telefon gesagt, dass ich mich zuerst hier melden soll.<

Ein Lächeln erschien auf den schmalen Lippen der Sekretärin, die den Stapel, die sie in den Händen hielt und wahrscheinlich bis vorhin noch durchgesehen hatte, hinlegte und zu mir rüber kam.

>Ja, genau. Du gehst in die 11a und deine Bücher liegen in deinem Spind. Ich bringe dich kurz dorthin und dann in deine Klasse<

Ich nickte zögerlich.

Sie kam zu mir rüber und hielt mir die Hand hin. Sie reichte mir bis zu den Schultern und wenn ich flachere Schuhe angezogen hätte, wäre sie wahrscheinlich auch nicht gerade viel größer. Ihre Lockigen, etwas kurzgeschnittenen, grauen Haare rahmten ihr Gesicht ein, wodurch sie wie die nette, ältere, fürsorgliche Oma wirkte, die ich nie hatte.

Ich nahm ihre Hand in meine und nach dem kurzen Schütteln ging sie schon voraus und sagte mir, ich solle ihr folgen. Meine Tasche drohte runterzufallen, weshalb ich sie erneut schulterte und ihr nach ging.

Ich achtete nicht wirklich auf den Weg, viel zu sehr war ich beschäftigt ihr zuzuhören. Sie erklärte mir einige Regeln, wie zum Beispiel, dass man nicht schwänzen darf und während der Schulzeit das Schulgelände nicht verlassen darf. Das übliche, was auch bei anderen Schulen eine große Rolle spielt. Nichts Neues.

Vor einem der vielen Schließfächer hielt sie an. Nr. 1054

>Dein Pin steht auf diesem Zettel hier<

Sie überreichte mir einen kleinen, quadratischen Zettel, worauf eine Nummer stand und genau diese gab ich beim Zahlencode ein.

745940

Ich zog an dem kaum zu sehenden Griffel und sah die säuberlich aufeinander gestapelten Bücher. Mein Stundenplan hing an der Spindtür.

Ich hatte heute acht Stunden und dementsprechend holte ich die Lektüren heraus.

Nach dem ich dir dunkelgrüne Tür wieder schloss, redete die Frau weiter.

>Hast du alles?<

Ich nickte.

>Gut. Jetzt bringe ich dich in die Klasse<

Wieder folgte ich ihr, doch dieses Mal ging sie etwas schneller, als vorhin. Nach dem wir an unzähligen Gängen abgebogen waren, blieb sie vor einer Tür stehen und klopfte.

>Herein<

Die Sekretärin öffnete die Tür und wir beide gingen ins Klassenzimmer, wobei sie zu dem Lehrer hastete und sagte, dass ich die neue Schülerin sei.

Ich hielt den Kopf gesenkt und spürte das schlagen meines Herzens, welches unregelmäßig gegen meine Rippen stieß.

Plötzlich hörte ich, wie die Tür hinter mir zustieß und ich zuckte kurz zusammen, als ich bemerkte, dass mich der Lehrer ansprach.

>Wie bitte?< fragte ich unsicher.

>Kannst du bitte deine Sonnenbrille abnehmen, bevor du dich der Klasse vorstellst?<

Anstatt ihm zu antworten gab ich ihm die ärztliche Bescheinigung, die besagte, dass ich die Brille aufbehalten dürfte, weil meine Augen empfindlich auf die Sonne reagierten. Er stutzte kurz, bevor er dann nickte und sagte, dass es okay sei, ich mich aber trotzdem bitte vorstellen soll.

Ich wandte mich der Klasse zu, schaute aber nicht auf die einzelnen Gesichter, da ich mich einfach nicht traute, jemanden direkt anzuschauen.

Ich war kompliziert. Eingeschüchtert und zugleich Knallhart. Wenn ich mich jemandem überhaupt öffnen würde, was ich nicht vorhabe, und die Person dann etwas Falsches sagt, würde es wieder von vorne anfangen, damit man mein Vertrauen gewinnt.

>Hallo. Ich heiße Mina Winter, bin 17 Jahre alt und vor kurzem hier her gezogen.<  Ich beendete meine kurze Vorstellung, weil ich nicht mehr verraten wollte und nichts anderes wusste, was ich sagen könnte, ohne etwas tiefgründiges von mir preiszugeben.

Ich sah, wie zwei Hände in die Höhe schossen.

>Ja, Joana?<

Die Hand senkte sich.

>Wieso nimmst du die Sonnenbrille nicht ab?<  Wiederwillig schaute ich der Person doch ins Gesicht und sah aus den Augenwinkeln, wie mir die ganze Klasse neugierige Blicke zuwarf.

>Weil meine Augen empfindlich gegenüber der Sonne sind.<

Noch eine Frage blieb offen, die mir die andere Person wohl stellen wollte.

>Vito?<

Die Hand senkte sich ebenfalls.

>Wieso bist du hierher gezogen?<

Sofort verkrampfte ich mich und ballte meine Hände zu Fäusten. Meine Fingernägel krallten sich in meine Handfläche und meine Augen brannten. Mein Atem beschleunigte sich, als ich wieder die Bilder aufkommen sah.

>Mina?< fragte mich der Lehrer und augenblicklich schüttelte ich leicht meinen Kopf, um vergeblich die Gedanken zu verdrängen.

>Aus persönlichen Gründen< sagte ich und machte meine Atemübungen.

Langsam, durch die Nase, ein und durch den Mund wieder ausatmen.

Ein und wieder aus.

Reiß dich zusammen, du kannst nicht jedes Mal, nur weil du es nicht vergessen kannst, in Panik ausbrechen. Schon gar nicht an deinem ersten Tag, Mina!

Ich focht einen inneren Kampf mit meinen Gefühlen aus und versuchte, mich am Riemen zu reißen, damit meine neuen Mitschüler nicht sofort dachten, ich hätte einen an der Klatsche.

>Du kannst dich an den freien Platz, am Fenster setzen. Neben Mattea<

Sofort erhob ein Mädchen sich von ihrem Platz und winkte mir zu.

Ohne weiter auf die Blicke der anderen zu achten ging ich auf meine neue Sitznachbarin zu.

Der Lehrer, dessen Namen ich inzwischen immer noch nicht wusste, sah mich noch einmal prüfend an, ehe er mit dem Unterricht weiter machte.

>Hi, ich heiße Mattea. Das wusstest du ja aber. Mina, richtig?< flüsterte mir das Mädchen von der Seite zu.

Ohne sie anzuschauen nickte ich. Ich fühlte mich gerade unwohl in meiner Haut und würde am liebsten einfach wieder nach Hause gehen.

>Du hattest bisher nicht die Chance, dir die Schule genauer anzusehen, denke ich mir zumindest. Soll ich dich etwas rumführen?<

Ich kam mit dieser Freundlichkeit nicht zurecht und drehte meinen Kopf zur Seite.

Sie schien etwas verunsichert, doch ihre Worte waren ernst gemeint.

>Vielleicht< sagte ich und drehte mich wieder zur Tafel. Das leise Seufzen von Mattea ignorierte ich.

Nachdem ich mein Heft raus gekramt und meine Stifte rausgeholt hatte, lehnte ich mich nach hinten an die Stuhllehne und schrieb mit.

Immer mal wieder spürte ich die neugierigen Blicke der anderen, die mich durchlöcherten und ich biss mir auf die Unterlippe, da ich mich mit der Zeit noch unwohler fühlte.

>Mina, kannst du mir bitte sagen, wie du die Aufgabe gerechnet hast?<

Die ganze Klasse horchte auf, als der Lehrer mich ansprach.

>Ich habe zuerst einen Winkel mit dem Kosinussatz berechnet, damit ich die Höhe berechnen konnte und damit habe ich dann die Fläche berechnet.<

Als er nickte, schaute ich wieder in mein Heft.

>So, und wenn ihr mit dieser Aufgabe fertig seid, dann rechnet bitte 11 und 17.<

>Mina?<

>Ja?< flüsterte ich, während ich weiter rechnete.

>Kannst du mir bitte helfen? Ich bin jetzt durcheinander.<

Das kann doch nicht normal sein. Ein normales Gespräch, als wären wir schon befreundet.

Solch eine Situation hatte ich schon lange nicht mehr erlebt.

Ich drehte mich zu ihr, schaute aber in ihr Heft.

>Wo ist das Problem?<

>Wie rechnest du mit dem Kosinussatz, wenn du den Winkel gar nicht hast und die Seite nicht gegeben?<

>Du musst die Formel umstellen und die Höhe muss man danach ausrechnen. Also zuerst musst du das ganze Dreieck nehmen und ihn dann durch zwei Teilen, damit du deine Höhe hast.<

Sie schaute konzentriert und nachdenklich in ihr Heft.

>Verstanden?< fragte ich sicherheitshalber.

>Ja, ich glaube schon<

Sie wandte sich mir wieder zu und lächelte.

>Danke<

Die zwei Stunden verliefen wie am Anfang und außer Mattea hatte mich niemand angesprochen. Wie denn aber auch, wir saßen im Unterricht und einen Mathelehrer, der uns mit Argusaugen beobachtete.

Als die Klingel die Stille mit sich riss, packte ich meine Sachen so schnell wie nur möglich ein und ging aus dem Klassenzimmer.

Die Kapuze zog ich mir über meinen Kopf und die Knöpfe machte ich auf, da es doch etwas wärmer wurde, doch ich wurde dieses Gefühl nicht los, von allen Seiten beobachtet zu werden.

Ich strich meine Haare mehr in die Kapuze, die ich dann noch weiter in mein Gesicht zog.

Ich hatte diese Frage noch nie leiden können.

Wieso sind deine Haare weiß? Färbst du sie dir, um wie eine alte Oma auszusehen?

Tränen bildeten sich in meinen Augen.

Oma. Oma. Oma. Du Freak siehst aus wie eine Oma! Wahrscheinlich bist du ansteckend, halt dich bloß fern von uns!

Ich blinzelte, um klarer Sehen zu können.

Mina ist ein Freak. Mina ist ein Freak. Haben sie die ganze Zeit gesungen und sind um mich herum getänzelt, wie Indianer, die ein Kreis bildeten, um das Feuer zu umzingeln.

Keinen Ausweg… Ich war auf mich alleine gestellt

Doch das waren keine Indianer. Das waren skrupellose Menschen, die sich daran aufspielten, andere runterzumachen. Ihnen machte es Spaß, zu zeigen, wie Mächtig sie waren. Das waren machtbesessene Wesen.

Ich atmete tief durch.

Ein und wieder aus, Mina. Ein und wieder aus.

Ich wiederholte die Übung und der Knoten in meinem Hals löste sich langsam.

>Kann ich dir helfen?<

Ich blinzelte verwirrt und schaute die Person vor mir an, die ich bis eben gar nicht bemerkt hatte.

>Wie bitte?<

>Ob ich dir helfen kann<

Ein Junge in meinem Alter, vielleicht etwas älter, stand vor mir und lächelte mich wissend an.

>Nein, wieso?< fragte ich.

>Weil du gerade auf der Jungentoilette bist<

Ich riss meine Augen geschockt auf.

Ich hatte gar nicht geachtet, wohin ich gehe und jetzt stand ich auch noch mitten in der Jungentoilette?

Wie tief war ich denn in meinen Gedanken versunken?!

>Tut mir leid, habe mich wohl doch verlaufen< sagte ich ruhig und drehte mich um, damit ich aus dieser peinlichen Situation entkommen konnte.

Ich wollte niemandem zeigen, was sich in mir abspielte.

Eine aufgesetzte Maske

Mit schnellen Schritten verließ ich die Toilette und hoffte, dass mich niemand hier sehen würde.

Ich seufzte frustriert und schüttelte meinen Kopf, um die Gedanken loszuwerden.

Du kannst doch nicht blind in einer Gegend rumlaufen, wo du dich noch nicht mal auskennst. Mina, du reitest dich gerade selbst in die Scheiße, ermahnte ich mich selbst.

Also noch mal von vorne. Ich musste herausfinden, wo ich war, um in die Cafeteria zu gelangen.

Ich schaute in alle Richtungen, bis ich einen Plan an der Wand hängen sah.

Na also, der erste Schritt ist schon einmal getan.

Ich suchte gerade die Stelle, wo ich mich befinden könnte, als ich jemanden räuspern hörte.

>Ja?< fragte ich, ohne mich umzudrehen und musterte den Plan weiter.

>Wenn du zu der Cafeteria gehen möchtest, dann musst du die Treppe hier runtergehen und dann links abbiegen. An der Wand steht ganz groß das, wonach du suchst.<

Ich drehte mich um und erkannte den Typen von vorhin, der mich auf der Jungentoilette abgefangen hatte.

>Danke< sagte ich zum zweiten Mal heute und ging an ihm vorbei und folgte dann seinen Anweisungen.

Als ich an der Wand ‚Cafeteria‘ las ging ich in den großen Saal, in dem fast alle Tische besetzt waren.

Nach kurzem umschauen sah ich einen kleinen Tisch am Fenster und kaufte mir noch kurz einen Kaffee, bevor ich mich dann zu dem freien Platz schlängelte, den ich gefunden hatte.

Dort ließ ich mich nieder und lehnte mich nach hinten. Ich schaute niemanden an, nicht einmal die Räumlichkeiten. Mich interessierte das alles nicht. Viele Mädchen in meinem Alter denken über süße Jungs nach, andere Menschen, über die sie vielleicht lästern, was mir nicht gerade abwegig erscheint. Ihre Figur, ihre Noten, die sie durch schummeln erreichen oder nur für einen kurzen Moment Glück hatten…

Ich war nicht so.

Du hast auch niemanden, sagte die trügerische Stimme in meinem Kopf.

Ich weiß, antwortete mein Herz und es zog sich zusammen.

Trübsal blasen bringt dir nichts, Mina. Wenn du mit der Schule fertig bist, kannst du weg. Irgendein Land, wo du noch nicht warst. Eine neue Kultur mit einer neuen Sprache. Vielleicht andere Menschen… die Hoffnung stirbt zuletzt, sagte mir mein Verstand.

Ich biss mir auf die Unterlippe und schloss für einen kurzen Moment die Augen, bevor ich weiter in den Stuhl sank und den Kaffeebecher gegen meine Lippen hob, um daraus zu trinken.

War es naiv von mir, auf eine bessere Zukunft zu hoffen?

Dummheit, weil ich mir versuchte nicht alles so schlimm zu reden?

War ich denn schon so verzweifelt, dass ich mir diese Fragen stellen musste?

Ja, sagte mir die Stimme wieder.

Oh Gott. Man würde mich für verrückt halten, weil ich mit drei verschiedenen Stimmen in mir eine Auseinandersetzung führe.

Mina, du bist reif für die Irrenanstalt, willst du wieder da hin?

Ich schüttelte kaum merklich meinen Kopf und zog aus meiner Jackentasche meine Kopfhörer raus, die ich mir gleich in die Ohren stöpselte. Schnell machte ich die Musik an und stellte sie lauter, damit ich die Gedanken nicht mehr hören konnte und sie von der Musik verdrängt wurden.

Ich stützte mich an die Scheibe und schaute nach draußen. Den Kaffee hob ich immer mal wieder an meine Lippen und trank daraus.

Ich liebte Frühling. Die Pflanzen stellten sich in den verschiedensten Farben zur Schau und die verschiedensten Gerüche flogen in der Luft. Eine leichte Windbrise kühlte die Hitze deines Körpers etwas ab und die Sonne lächelte dich trotzdessen freundlich an.

Ich genoss diese Momente, wo ich unbeschwert in meiner Fantasie rumschwelgen konnte.

Das Klingeln der Schulglocke, riss mich aus meinen Gedanken und nahm meine Kopfhörer aus meinen Ohren. Die Musik stellte ich ab und nach dem ich meine Tasche geschultert hatte, ging ich auf den vollen Gang und suchte die Wände nach einem Schulplan ab. Als ich einen fand holte ich meinen Stundenplan heraus und guckte, welches Fach ich als nächstes habe.

Zwei Stunden Physik, besser konnte es ja wirklich für einen Montag nicht laufen, was?

Als ich auf dem Plan den Raum entdeckte ging ich den Weg lang, den ich mir gemerkt hatte.

Kurz nachdem ich angekommen war, wurde die Tür in den Physiksaal auch schon aufgeschlossen und die Klasse stürmte rein.

Ich suchte nach einem freien Platz und fand ihn am Rand, wo niemand saß.

Ich setzte mich also auf rechte Seite des Tisches, welches in den Raum zeigte und holte meinen Block und einen Kuli heraus.

Ohne irgendwelche Bedeutung kritzelte ich etwas auf das weiße Papier und wartete auf den Lehrer, der sich ganz schön lange Zeit ließ.

>Das ist mein Platz< hörte ich jemanden sagen und schaute auf.

Ein Mädchen mit blondierten Haaren, welches man am braunen Haaransatz erkennen konnte, stand vor mir. Ihre Hände hatte sie sich in die Hüften gestemmt, die knochig aussahen. Ihre Nägel, die meiner Meinung nach zu lang waren, trommelten auf ihrem Oberteil herum.

>Hey! Bist du schwerhörig?< rief sie mir zu und wedelte kurz mit ihrer Hand vor meinem Gesicht rum.

Inzwischen hatte sich die ganze Klasse zu uns umgedreht und keiner gab einen Mucks von sich.

War ja auch zu interessant, die Neue mit der Tusse streiten zu sehen, schnaubte ich innerlich.

Ich wurde wütend und zugleich machten sich die Bilder in meinem Kopf bereit und alles geschah Revue.

>Dann setz dich dieses Mal wo anders hin< sagte ich ruhig und kritzelte wieder auf meinem Block herum.

>Ich glaube, du weißt noch nicht, welchen Rang du hier hast<

Du bist unter uns, du hast nichts zu sagen, du Freak, hörte ich die Stimmen der Vergangenheit in meinem Kopf.

Wie im Mittelalter. Zuerst die Könige, dann die Adeligen, die dem König in den Arsch krochen und dann kamen die Bauern. Ihrer Meinung nach war ich ein Bauer. Stellte sich nur noch die Frage, ob sie die Königin oder doch die Adelige war.

>Ich weiß, dass du wohl in den Rang der Mädchen gehörst, die sich für etwas Besseres halten und um Aufmerksamkeit zu bekommen, jeden Mist bauen, die sie nur hinbekommen können< sagte ich immer noch ruhig.

Meine Gefühle und mein Benehmen passen nicht zueinander.

Das verschreckte, ängstliche und zerbrochene kleine Kind im Körper eines Teenagers und die unnahbare, kalte, ‚gefühllose‘, die nicht alles mit sich machen ließ.

Ja, ich glaube, diese Maske gefällt mir. Wenn man erst einmal versteht, dass ich nicht alles mit mir machen lasse, von außen hin betrachtet, wird man mich mit der Zeit in Ruhe lassen. Bestimmt.

Das ist Humbuck, Mina. Das kannst du doch nicht ernsthaft glauben!

Es ist einen Versuch wert und wenn es nicht klappt…

Was dann? Willst du weglaufen? Das kannst du nicht dein Leben lang, du wirst daran noch mehr zerbrechen! Du schadest dir doch selber und du merkst das nicht.

Was habe ich denn für eine andere Wahl?

Es wurde still in mir, keines meiner drei Gesprächspartner antwortete mir.

>Jetzt hör mir mal zu. Du bist neu, also werde ich dir deinen  Weg weisen und sagen, wie du dich mir gegenüber zu verhalten hast.<

>Nein, danke. Ich würde dir sowieso nicht zu hören< sagte ich und hörte, wie manche scharf die Luft einsogen.

>Du kleines-<

>Rachel, setz dich jetzt auf deinen Platz< sagte der Lehrer, der gerade hereinkam und uns sah.

>Das würde ich ja gerne, aber dieses Mist-<

>Rachel!< unterbrach er sie wieder.

>Das ist nicht dein Platz. Du sitzt in der ersten Reihe, hast du das über Nacht etwa vergessen?< fragte er sie mit strenger Miene.

>Ach, das ist dein Platz, ja?< fragte ich belustigt.

>Schnauze< zischte sie und ging mit ihren Sachen zu ihrem richtigen Platz.

In der Klasse hörte man vereinzelt, wie manche kurz auflachten oder leise prusteten.

>Darf ich fragen, wer sie sind?< fragte der ältere Mann mit dem weißen Bart.

>Mina Winter. Ich bin neu hier< sagte ich und sah auf.

>Würden sie bitte die Sonnenbrille bitte abnehmen im Unterricht?< fragte er mich, worauf ich nur Bescheinigung vom Arzt holte, den ich zuvor dem Mathelehrer gezeigt hatte.

Ich ging nach vorne und gab sie ihm. Nachdem er sie sich angeschaut hatte, nickte er und lächelte mich freundlich an.

>Na dann. Ich bin Herr Laumen.<

Ich nickte und ging wieder auf meinen Platz, auf dem ein Zettel lag. Kurz stutzte ich, bevor ich mich hinsetzte.

 

Wann soll ich dir die Schule zeigen? :)

 

Ich schaute auf und suchte nach Mattea, die eine Reihe schräg vor mir saß.

Sie lächelte mich an und wank mir flüchtig zu.

Dieses nette Lächeln kann ein weiterer Abgrund sein, vergiss das nicht, sagte die trügerische Stimme.

Ich weiß, sagte ich zu mir selber und zuckte mit den Schultern.

Sie schien zu verstehen, doch trotzdem tat sie so, als würde sie auf den Zettel schreiben, um mir zu deuten, dass ich antworten solle.

 

Keine Ahnung, wenn es sich mal ergibt.

 

Ich warf ihr den Zettel unauffällig zu und folgte dann dem Unterricht.

Richtig so. Gute Noten haben, damit du überall gute Chancen haben kannst, wenn du abhaust.

Die zwei Stunden vergingen träge und ich dachte, dass ich für immer hier sitzen und mir die Unterschiede zwischen einem Elektromotor und einem Generator weiter anhören müsste.

Ich packte meine Sachen wieder in meine Tasche und ging ohne ein weiteres Wort hinaus.

>Mina!< hörte ich jemanden hinter mir rufen und instinktiv ging ich schneller.

>Mina, warte doch!< hörte ich wieder und bevor ich um die Ecke bog, zog mich jemand nach hinten.

Ich sah in das keuchende Gesicht von Mattea.

>Ich muss zugeben, du kannst sehr schnell sein, wenn du willst.<

Ihre Hand legte sie auf die Brust und atmete noch ein paar Mal ein und aus, bis sich ihre Atmung beruhigt hat.

Mir ging es ebenfalls so, nur das es nicht wegen der Schnelligkeit war. Ich war nur so schnell, weil ich von meinen ehemaligen Mitschülern manchmal verfolgt wurde oder von ihm…

Mit der Zeit wurde meine Kondition besser und ich konnte auch unbemerkt nach Hause, weil mich die anderen nicht mehr so schnell in die Finger bekamen.

>Alles wieder gut?< fragte sie mich und beäugte mich, doch wirklich etwas sehen kann sie wegen der Brille und der Kapuze nicht, denke ich mir zumindest.

>Das sollte ich wohl eher dich fragen. Du scheint so was nicht gewohnt zu sein<

>Jemandem hinterher zu laufen, nicht wirklich, außer mal so aus Spaß, aber das kommt auch nicht oft vor. Ist alles okay bei dir?< fragte sie mich noch mal.

>Ja<

>Wieso bist du dann weggelaufen?<

>Ich wollte dich testen. Mal gucken, ob du schnell bist oder nicht< sagte ich schmunzelnd und ich würde um 100 Euro wetten, dass sie wusste, dass ich log.

>Du bist eigenartig<

Autsch.

>Ich mag eigenartig< sagte sie, während sie lächelte.

>Okay?< fragte ich etwas irritiert.

Das war neu für mich.

>Als du reinkamst schienst du schon Einzigartig und das du eigenartig bist, macht dich noch einzigartiger<

Dieses Mädchen ist komisch.

>Soll ich das jetzt als Kompliment aufnehmen?< fragte ich zur Sicherheit.

>Definitiv< sagte sie und packte mich am Arm.

>Was soll das?< fragte ich ruhig, doch irritiert war ich immer noch.

Bisher bin ich immer auf jemanden zugegangen und wurde dann verarscht, oder man ist erst nach einer Zeit auf mich zugekommen, aber nie hat man darauf beharrt, mich durch die Schule zu führen und solche Komplimente habe ich auch noch nie bekommen.

Soweit es manche als Kompliment auffassen.

>Wir gehen jetzt zusammen in der Cafeteria essen und dort stelle ich dir meine Freunde vor< sagte sie stolz und hakte sich bei unter den Arm, so dass ich keine andere Wahl hatte.

Von ihr aus gesehen. Ich hätte mich schon losbekommen, doch irgendetwas verleitete mich dazu, ihr zu folgen und nicht mein gekränktes Herz sprechen zu lassen.

>Übrigens dachte ich mir, dass ich dich nach der  Schule rumführe. Das ist doch okay?< fragend sah sie mich an.

Irritiert schaute ich sie an. Immer noch wusste ich nicht, was ich tun sollte und einschätzen konnte ich sie jetzt erst recht nicht.

Wir gingen durch Gänge, die ich noch nicht gesehen hatte und ich kam mir vor wie in einem Labyrinth.

Wir gingen irgendwo um die Ecke und vor uns erschien die Cafeteria. Sie zog mich mit sich hinein und blieb kurz vor einem Tisch stehen. Doch das komische war, dass mich die meisten in diesem Saal anschauten und manche anfingen zu tuscheln.

>Das ist Mina< stellte mich Mettea  vor und die Jungendlichen am Tisch schauten auf. Die Einzigen, die mich bisher nicht angestarrt hatten, doch das änderte sich schnell.

Die Erste, die sich aus der Starre löste lächelte mich an, als wäre gerade nichts Besonderes passiert und hob ihre Hand.

>Hi, ich bin Sophie. Schön dich kennenzulernen< sagte sie und stupste den Typen neben ihr an.

Der löste sich ebenfalls aus seiner Starre und reichte mir unsicher die Hand.

>Noah< sagte er kurz und lächelte dann aber.

Ich zögerte, ehe ich meine entgegenstreckte und sie schüttelte.

>Ich bin Severin, hi< sagte ein anderer Typ, der gegenüber von den anderen beiden saß.

>Nenn mich Lenny <sagte der neben ihm und reichte mir ebenfalls die Hand.

Wieder zögerte ich.

>Ich bin Noemi, erfreut< sagte sie nur kurz und stand auf.

Ich wusste nicht, was ich machen sollte, als sie mich plötzlich umarmte.

>Und mich kennst du ja bereits. Ich bin Mattea, aber bitte nenn mich Matti<

Sie lächelte und setzte sich hin. Als sie mich anschaute zog sie eine Augenbraue in die Höhe.

>Willst du dich neben mich setzen?<

>Ist es okay, wenn ich jetzt erst einmal gehe?< fragte ich und ohne auf eine Antwort zu warten, ging ich.

>Mina! < rief mir Mattea hinter her, doch ich achtete nicht darauf.

Was war das? Wieso sind sie so… anders?

Die wollen dich wieder benutzen. Zuerst einen auf beste Freundin tun und dann alles ausplaudern, auf dir rumhacken und dich nieder machen. Du darfst ihnen nicht vertrauen, sie werden es ausnutzen und dein Herz rausreißen.

Ich will nicht noch mehr verletzt werden, sagte ich mir selbst im inneren.

Kann die Schule nicht endlich vorbei sein?!

Verdammt, ich bin so am Ende, dass ich nichts mehr voneinander unterscheiden kann…

 Es wurde alles zu viel.

Wie schon in der letzten Pause, holte ich mein Handy raus und stöpselte mir die Kopfhörer in die Ohren, um meine Gedanken zu verdrängen.

Mach es noch lauter, du kannst mich immer noch hören, sagte mir die trügerische Stimme hämisch und als ich die Musik auf die höchste Lautstärke stellte, konnte ich nichts mehr wahrnehmen.

Nicht die Stimmen, nicht das Klopfen meines Herzens, nicht meine Atmung, selbst den Lautpegel, der von außen auf mich zu dringen sollte, nahm ich nicht war.

Ich war wieder alleine und das war gut so. Niemand konnte meine Gefühle mehr durcheinander bringen oder einfach mit seiner Art verwirren. Ich war jetzt geschützt von der Außenwelt.

Vor mir erstreckte sich ein Baum, der einen Schatten auf den Boden warf und ich setzte mich darunter, weil mir die Sonne doch mehr zu schaffen machte, als erwartet. Der Rasen kitzelte an meinen Fingern, als ich mich kurz abstützte.

Ich zog meine Beine an mich und tippte zum Rhythmus der Musik auf mein Knie.

Einzelne Schüler zogen an mir vorbei und schauten mich interessiert an.

Für einen Moment schloss ich meine Augen, um zu vergessen, dass ich gerade hier saß. Einfach, das ich in einer Welt lebte, die von Machtgier, Egoismus und Arroganz besessen war.

Doch lange konnte ich nicht mehr fliehen. Irgendwann würde ich zusammenbrechen und an meinen eigenen Problemen ersticken.

Welche Probleme? Du lebst in einer neuen Umgebung mit neuen Menschen und keiner weiß etwas über dich. Du musst niemandem etwas anvertrauen, was du nicht willst und vielleicht werden sich zwar Gerüchte verbreiten, doch niemand wird die Wahrheit wissen. Niemand wird erkennen, wer du wirklich bist, wenn du dich verstellst. Was willst du mehr?, fragte mich mein Verstand.

Sterben…

Und was dann? Willst du deine Mutter alleine lassen, die wegen dir so vieles durchmachen musste? Willst du sie noch mehr verletzen, als ohnehin schon?

Nein, aber ich denke, sie wäre ohne mich besser dran…

Ach, hör auf dich selbst zu bemitleiden. Hast du es nicht langsam satt, alleine zu sein? Auf dieser Welt rumzuwandern, wie eine leblose und ohne Freunde?

Was soll ich denn sonst tun? Ich kann einfach nicht! Meine Wunden sind schon zu tief und meine Seele wurde vergewaltigt! Ich kann einfach nicht mehr! Ich kann nicht dieses Wagnis eingehen, wieder und wieder verletzt zu werden. Ich ertrage das nicht mehr…

Tränen bildeten sich in meinen Augen, die ich verzweifelt versuchte weg zu blinzeln.

Woher willst du wissen, dass es dieses Mal genauso ist?

Gar nicht. Ich habe einfach nicht mehr genug Hoffnung, die ich aufbringen kann. Sie liegt vergraben unter der Erde.

Wütend stand ich auf und versuchte die Musik lauter zu stellen, die meine Gedanken nicht lange genug aus meinem Kopf verbannt hatte, doch der Versuch scheiterte und ich riss mir die Stöpsel aus den Ohren.

Mit oder ohne. Jetzt ändert sich sowieso nichts, schnaubte ich innerlich und steckte mir mein Handy wieder in die Jackentasche.

Die laute Pausenklingel ertönte und ich ging wieder rein. Das Klassenzimmer fand ich dieses Mal, ohne mich zu verlaufen und als ich die Tür öffnete sahen mich meine neuen Klassenkameraden an. Ich atmete tief aus, während ich auf meinen Platz ging. Das ungute Gefühl nahm Besitz von mir, als es mich an früher erinnerte, wo mich auch alle angestarrt hatten. Ebenso am Anfang, wo ich wieder die Schule gewechselt hatte und wie es geendet hatte, kann man sich ja nur zu gut vorstellen.

>Mina, wo warst du? Ich habe dich gesucht!< sagte Mattea, die auf mich zu kam und mich komisch anschaute.

War das Besorgnis oder eine Art Vorwurf in ihren Augen?

Ich sagte nichts und starrte konzentriert aus dem Fenster.

>Mina, ich rede mit dir. Ich war beunruhigt, als du plötzlich verschwunden warst<

Ich leckte mir über die Lippen und wusste nicht, wie ich reagieren sollte.

Gereizt? Sollte ich mich entschuldigen? Sollte ich ihr klar machen, dass ich keinen Bock auf Schauspieler hatte, die einem etwas vorspielten?

Verdammt, das alles ergibt doch keinen Sinn!

>Ich habe etwas in meinem Spind vergessen und musste es dringend holen< log ich und drehte mich letztendlich zu ihr.

Ungläubig schaute sie mich an, doch fragte nicht weiter nach, weshalb ich ihr sehr dankbar war.

>Das nächste Mal sag dann aber Bescheid, ja?<

>Nächste Mal?< fragte ich und zog eine Augenbraue hoch.

>Ja, wenn ich dich nächste Pause mitnehme< sagte sie lächelnd. Ihre Aussage schien keine Frage zu sein.

>Vielleicht< murmelte ich und bemerkte ihren Blick, der mich von der Seite aus musterte.

>Also meine lieben Schüler, wie ich gehört habe, haben wir ein Neuzugang?< fragte eine Frau, geschätzt um die vierzig Jahre alt.

Ihre Blicke wanderten durch die Klasse und als sie mich erblickte, lächelte sie.

>Kannst du dich mir bitte vorstellen? Ich denke die Klasse konnte dich schon kennenlernen<

Wie oft habe ich mich heute eigentlich schon vorgestellt?

>Ich heiße Mina Winter, bin 17 Jahre alt<

Das Lächeln, welches man sich eigentlich aus Höflichkeit aufzwingen sollte, setzte ich nicht auf. Es fühlte sich komisch an. So ungewohnt.

>Ich bin Frau Laumen und ab heute deine neue Deutschlehrerin. Freut mich, dich kennen zu lernen.<

Ich nickte und stutzte aber kurz beim Nachnamen. Als hätte Mattea meine Gedanken gelesen, sagte sie  >Die Frau von Herr Laumen<

Ich nickte wieder und folgte dann dem Unterricht. Um ehrlich zu sein, war es bei dieser Lehrerin nicht so langweilig, wie zuvor bei dem Mathelehrer, der meine Nerven sehr strapaziert hatte.

Als die Stunde vorbei war, kam auch schon die nächste Lehrerin, um die nächste Unterrichtsstunde anzufangen. Wir hatten Englisch und als ich mich auch kurz bei ihr vorgestellt hatte, sie mir ihren Namen genannt hatte, Frau Seidel, und ich ihr die Bescheinigung zeigte, begannen wir auch schon. Wir machten mehr mündlich, als schriftlich und manchen viel es schwer Sätze zusammenzusetzen. Also ein normaler Englischunterricht, welches die Erinnerungen der Vokabeln letzten Jahres erforderte.

>Gut, also als Hausaufgabe übt ihr noch an eurer Aussprache und lernt die Vokabeln. Ihr dürft gehen< sagte sie und sofort stürmten die Schüler aus der Klasse, als würde ihr Leben davon abhängen.

Ich ließ meine Tasche im Klassenzimmer und holte meine Kopfhörer wieder raus, die ich mir sogleich in die Ohren stöpselte. Kurz danach ertönte die sanfte Melodie und ohne auf Mattea zu achten, ging ich. Da diese Pause etwas länger dauerte, ging ich in die Cafeteria und holte mir Kaffee. Hunger hatte ich keinen. Wahrscheinlich lag das an der neuen Umgebung und da konnte ich einfach nicht wirklich an Essen denken.

Wieder war der Platz leer, wo ich zuvor saß und ich ging dorthin.

Wenn die weiter so glotzen, als hätten sie gerade erfahren, dass es noch Dinosaurier gibt, gehe ich nach Hause. Das ist doch nicht zum aushalten!

Ich setzte mich hin und legte meine Füße auf den Fenstersims, der nahe am Boden war und breit genug für mein Vorhaben. Die Kapuze, die ich bisher nicht abgenommen hatte, zog ich mir tiefer ins Gesicht. Ich spürte, wie die Sonnenstrahlen meine Nase kitzelten, wie schon am Morgen und mich überfiel ein wohliger Schauer.

Ich liebte die Momente, wo ich einfach in der Sonne stehen konnte, ohne mir Sorgen zu machen oder von meiner Mutter in den Schatten gelotzt zu werden. Sie hatte immer noch Angst um mich, aber war es ihr zu verüben?

Du bereitest deiner Mutter nur Kummer und Sorgen…

Ich schüttelte den Kopf, als hätte es eine Bedeutung, doch in meinem Herzen wusste ich, dass es der Wahrheit entsprach.

Ich nippte an meinem Getränk und spürte, wie es warm meine Speiseröhre hinab lief und mir wurde plötzlich warm. Fast schon brennend heiß.

Zieh deine Jacke aus, niemand wird etwas bemerken, solange du nicht mit deinen Armen herum wedelst oder mit deinen Haaren rumspielst.

Witzig, mich schauen doch schon fast alle an und früher oder später werde ich eh wieder die Kapuze abnehmen müssen.

Eine andere Wahl hast du nicht.

Ich lasse die Jacke an.

Das solltest du nicht. Ist nicht gut für dich…

Ich seufzte und zögerte etwas, bevor ich den Reisverschluss an meiner Jacke runter- und sie auszog. Die Kapuze rutschte mir vom Kopf und mein hellblaues Top bedeckte noch meinen Oberkörper.

Die Sonnenstrahlen fielen auf meine Haut, doch ich ignorierte es und schaute stattdessen unauffällig durch den Saal, wo die Jugendlichen ihre Blicke weiter auf mir ruhen ließen.

Mir wurde die Situation sehr unangenehm und ich war kurz davor, mir die Jacke wieder überzuziehen.

Nein, zeig ihnen, dass du stark bist. Zieh dich jetzt nicht zurück, du hast nämlich schon genug Aufmerksamkeit auf dich gelenkt, als du in der letzten Pause weggerannt bist.

Ich atmete tief ein und aus und drehte meinen Kopf weg, damit ich diese Blicke nicht weiter sehen musste. Reichte schon, dass ich mich wie ein Objekt im Museum fühlte, welches man betrachtete und nicht jedem unbedingt gefiel, was er sah.

Ich nahm meinen Kaffee in die Hand und wärmte zugleich meine Hände daran auf, als ich daraus trank. Von innen heraus wärmte es mich und ich lauschte wieder der Musik in meinen Ohren.

Ein paar Minuten konnte ich mich zumindest etwas entspannen, bis mich jemand von hinten antippte.

Sofort versteifte ich mich und mein Herz zog sich zusammen.

Ich drehte mich um und setzte meine Maske wieder auf, die ich für kurze Zeit nicht aufrechterhalten hatte.

Irgendwoher kannte ich dieses Gesicht, ich glaube es war einer von denen, die am Tisch saßen, wo Mattea mich hin geschleift hatte.

Ich zog meine Kopfhörer raus, als ich sah, wie sich seine Lippen bewegten, doch ich nahm keines dieser Wörter war, bis die Musik verstummt war.

>Wie bitte?<

>Ob der Platz vor dir frei ist<

Ich nickte zögernd und drehte mich wieder auf meine alte Position, als er sich vor mir auf den Stuhl plumpsen ließ.

Mit hochgezogener Augenbraue schaute ich ihn an.

>Wie kann ich dir helfen…< ich ließ das Ende des Satzes offen, um noch mal seinen Namen zu erfahren.

>Severin. Ich wollte eigentlich nur mit dir reden< sagte er und lehnte sich nach hinten.

Zwischen uns machte sich Stille breit und er schien mich zu mustern, was mir sehr unangenehm war, doch währenddessen kann ich ihn mir ja auch mal genauer ansehen…

Er hatte kurze schwarze Haare, die mit den Haarspitzen in die Höhe zeigten. Reine, goldbraune Haut und dunkelbraune Augen, die aussahen wie flüssige Schokolade. Er hatte einen starken Körperbau, und das T-Shirt stellte dies mehr zu schau.

Ich schaute wieder weiter nach oben und mir stockte der Atem, als seine Augen direkt in meine Blickten. Ich konnte noch nie wirklich lange Augenkontakt halten und schon gar nicht, wenn man es so direkt tat. Ich fühlte mich unwohl und am liebsten würde ich aufstehen und wegrennen.

Ich atmete unbemerkt ein und aus, bevor ich sprach.

>Du wolltest reden- Rede.< sagte ich und die Gelassenheit in meiner Stimme, erschreckte mich selbst.

>Warum bist du abgehauen?< fragte er ebenso ruhig.

Es fühlte sich an, als würden wir mit unseren Stimmen kämpfen, die allerdings Wörter mit sich brachten, die harmlos waren.

>Ich hatte etwas in meinem Spind vergessen<

Mein Mund fühlte sich trocken an, weswegen ich einen Schluck von meinem Kaffee nahm.

>Ich muss sagen du bist eine gute Lügnerin<

Ich zuckte mit den Schultern und schaute nach draußen, da dieses Gespräch für mich eigentlich beendet war.

>Du musst mir nicht glauben<

>Du musst es mir nicht erzählen, ich hatte nur etwas Hoffnung< sagte er und beugte sich etwas mehr nach vorne, so dass er sich mit seinen Unterarmen am Tisch abstützte und mit seinem Oberkörper näher kam.

>Kann ich dir noch behilflich sein?< fragte ich und wollte ihn los werden, doch stattdessen lächelte er nur leicht.

>Sei nicht so hart zu Matti. Sie meint es nur gut und wie es scheint hat sie dich sehr gern<

>Sie kennt mich nicht einmal, wieso sollte sie mich dann so schnell mögen?<

Er zuckte mit den Acheln.

>Ich mag dich auch, trotz deiner kalten Art. Ich kann dir keine wirkliche Begründung geben, aber hattest du das nicht auch mal? Du hast jemanden gesehen und wusstest gleich, dass du die Person magst und mit ihm befreundet sein willst?<

Ja und das war mein verderben.

>Nein<

>Magst du uns denn?< fragte er und schaute mich eindringlich an, was ich auf mir spüren konnte. Als würden sie sich in mich bohren.

Ich wusste darauf nichts zu sagen. Mochte ich sie?

-Vielleicht.

Doch was ist, wenn sie nicht anders sind, als die anderen?

Soll ich dieses Wagnis eingehen? -Ich weiß es nicht

>Ich kenne euch nicht< antwortete ich stattdessen.

>Dann lerne uns kennen<

Wieder sagte ich nichts, doch ich drehte mich wieder zu ihm, um in seine Augen zu schauen.

Vielleicht verrieten sie etwas? Ob er log oder nicht…

Doch ich konnte nur die Ernsthaftigkeit erkennen, welches mir aber keine Garantie gab.

Das wäre ein Sprung ins kalte Wasser.

>Kommst du mit?< fragte er und stand auf, wobei er mir seine Hand entgegenstreckte, doch ich sah nur auf diese und schüttelte den Kopf.

>Noch nicht< sagte ich und schaute wieder in seine Augen.

>Wieso?<

Das verstehst du nicht

>Ich möchte erst einmal alleine sein. In den nächsten Tagen vielleicht< letzteres flüsterte ich.

Er schob seine Hand, die er ausgestreckt gehalten hatte, in die Hosentasche und nickte.

>Bis in ein paar Tagen< sagte er das letzte Mal, bevor er ging und ich blieb alleine zurück.

Beschwere dich nicht, das hast du dir selbst zuzuschreiben.

Ja, ich weiß…

Es klingelte kurz darauf und ich ging in das Klassenzimmer, welches aufgeschlossen wurde. Die Stunde verlief wie die anderen, nur das man hier mehr mitmachte, weil wir bei Werte und Normen unsere Fantasie spielen ließen und die verschiedensten Möglichkeiten auflisteten, wie die Zukunft aussehen könnte.

Ich machte zwar im Unterricht mit, aber meine Gedanken huschten immer wieder zu dem Geschehnis von vorhin rüber.

Würde ich es dieses Mal auch bereuen?

Als es das letzte Mal an diesem Tag klingelte zog ich mir meine Sweatjacke über und schulterte meine Tasche. Ohne Mit jemandem noch ein Wort oder ein Blick zu wechseln, ging ich. Die Hitze wurde langsam unerträglich und da ich mir nicht sicher sein konnte, dass ich nicht doch schneller einen Sonnenbrand kriege, ging ich größtenteils im Schatten.

Als ich unser neues Haus erblickte, ging ich schnell und erleichtert über die Straße und nach dem ich die Tür hinter mir geschlossen hatte, lehnte ich mich erleichtert an die Tür, die meinen Rücken abkühlte.

Diese Temperaturschwankungen sind echt nervig.

Ich seufzte und ließ die Tasche von meiner Schulter gleiten und mit einem leisen plumpsen fiel er auf den Boden.

Nach dem ich meine Schuhe und meine Socken ausgezogen hatte, ging ich Barfuß über den gefliesten Boden.

Als ich oben in meinem Zimmer angelangt war, zog ich mir ein weißes, großes Hemd an, dessen Ärmel ich bis zu den Ellenbogen hochkrempelte und dazu eine Pyjamashorts, die mir viel Bewegungsfreiheit hab.

Ich öffnete die Fenster in meinem Zimmer und stieg die Treppen hinunter, wo wir eine kleine Veranda mit einem angegrenzten Garten hatten und ich öffnete die Schiebetüren.

Gerade meckerst du noch wegen der Hitze rum und jetzt lässt du sie rein?

Jetzt hatte ich Sachen an, die Hitzefreundlich waren und dazu die Kühle im Haus, war eine passend Kombination.

Wärme kam mir entgegen, doch die kühle Luft im Haus glich es wieder aus und jetzt hätte ich sagen können, dass ich glücklich bin.

Doch das wäre nicht die Wahrheit.

Was war ein kleiner Moment des Glücks, wenn man ansonsten nur von Unglück verfolgt wurde?

So gut wie nichts.

>Ich vermisse die Unbeschwertheit, die man als Kind hatte.< flüsterte ich zu mir selber, doch die Worte in meinem Mund hinterließen einen bitteren Nachgeschmack.

Welche Unbeschwertheit? Redest du dir gerade wirklich so einen Schwachsinn ein? Du warst ein Kind mit einem Unbeschwerten Leben? Konntest du denn so lachen? Bist du abends glücklich eingeschlafen? Ohne Angst? Du musst noch naiver und dümmer sein, wenn du dir versuchst das einzureden.

Ich bin schon so verzweifelt, dass ich versuche mir eine Fantasiewelt auszumalen. Ich will aber nicht mehr diese Erinnerungen haben und so gut wie jede Sekunde daran denken müssen. Diese Bilder im Kopf haben und diese Schmerzen in meinen Träumen nach empfinden. Alles noch einmal durchleben.

Ist dieser Wunsch denn verkehrt?

Danach kam nichts mehr. Mein Kopf schien wie leer gefegt und Ruhe machte sich breit. Ob es angenehm war konnte ich nicht wirklich sagen. Es war einfach ruhig.

Nur das Gezwitscher der Vögel drang zu mir durch und das Rascheln der Blätter, die auf dem Bäumen vom Wind sanft hin und her geweht wurden.

Ich tapste in die Küche und holte aus dem Kühlschrank ein Orangensaftpackung, dessen Inhalt ich in ein Glas füllte. Nach dem ich einen Schluck daraus getrunken hatte, machte ich mich ans Herd und kochte eine Kleinigkeit für mich. Meine Gedanken schwiegen in der Zeit.

>Hallo?< ertönte es an der Haustür, doch ich reagierte nicht.

>Mina? Wo bist du?< die Stimme meiner Mutter klang besorgt, weswegen ich kurz >Hier< von mir gab.

Schritte kamen näher und als ich mich umdrehte schaute ich in das erleichterte Gesicht meiner Mutter.

>Wie war die Schule, liebes?< fragte sie und streifte mit ihren Lippen meine Wange.

>Wie jeder erste Schultag. Viel gestarre, das hin und her mit der Bescheinigung und fragende Blicke aller anderen< sagte ich und stützte mich mit den Handflächen auf dem Tresen ab, während ich auf den Boden schaute und kurz die Augen schloss.

Diese Blicke halte ich nicht mehr länger aus.

 

Kennenlernen

Mein Wecker gab ein fürchterliches Piepen von sich und die Geschehnisse des letzten Tages fluteten wie eine Welle auf mich ein. Nach dem ich zuhause war, hatte ich nichts großartiges mehr getan, außer über alles nachzudenken.

Meine Handfläche landete auf dem Aus-Knopf und Stille durchfuhr den Raum. Sonnenstrahlen kitzelten auf meiner Nase und erschrocken wich ich zurück.

Du hättest dich gestern eincremen sollen.

Ich schlug die Decke zurück und atmete erleichtert auf, als ich im Schatten stand und in das angegrenzte Bad rüber schlich.

Meine Paranoia war grenzenlos, wenn es um die Sonne und um mich ging. Oder einfach nur um Menschen, die mir zu nah kamen. Nach den Geschehnissen konnte ich mich nicht wirklich jemandem intimer als eine normale Berührung Nähern, ohne in Panik auszubrechen.

Im Badezimmer angekommen, streifte ich meine Klamotten von meinem Körper, die zu Boden fielen und in der Dusche machte ich das Wasser an, welches dann heiß über meine Haut lief. Meine Muskeln lösten sich von ihrer Morgenstarre und entspannten sich. Die Tropfen, die einzeln über meine Haut liefen, erwärmten mich und ich fühlte mich für einen kurzen Moment geborgen.

Wasser mochte ich schon immer. Es war sozusagen mein Element, aber auch mein Untergang, welches vor noch nicht einmal einem halben Jahr fast mein Leben gefordert hatte.

Du warst selber schuld daran…

Ja und ich hatte es auch nicht bereut. Nur die Sorge meiner Mutter machte mir zu schaffen.

>Mina, dein Kaffee steht noch in der Kanne und du musst es dir selbst umfüllen, weil ich früher zur Arbeit muss. Ist das okay, oder willst du, das ich anrufe und bescheid gebe, das ich etwas später komme?< hörte ich meine Mutter durch die Tür rufen.

>Danke, geh ruhig. Mach dir keine Sorgen< rief ich zurück und das letzte, was ich noch von ihr wahrnahm war ein >Bis heute Abend.<

Nach dem ich fertig war, stieg ich aus der Dusche und wickelte ein großes Handtuch um meinen Körper und ging zum Spiegel rüber, der vom Wasserdampf beschlagen war.

Ich wischte einmal mit meiner Handfläche darüber und sah mein Ebenbild.

Ich wusste nicht, was ich von meinem Aussehen halten sollte. Es war für viele oder wohl eher für jeden außer meiner Mutter, gruselig. Sie hatten Angst vor mir und ich glaube immer noch, dass es nicht anders ist oder gar sein wird. Mir war es eigentlich ganz recht, dass ich eine getönte Brille trug. So würde niemand meine Augen sehen, die in meinem ganzen Leben die Leute um mich herum verschreckt haben.

Wäre ich jetzt im Mittelalter geboren, hätte man mich für eine verfluchte Hexe gehalten und hätte mich mitten in der Stadt verbrannt, wo alle Leute zu sehen konnten. Komisch, wie sich die Zeiten geändert haben.

Ich schüttelte meinen Kopf und Tuschte meine weißen Wimpern schwarz. Makeup benutzte ich sehr selten, das Einzige war die Wimperntusche und das nur, um die Wimpern zu ‚verstecken‘.

Als dies getan war und ich die Sonnencreme aus dem Schränkchen an der Wand holte, mit dem Lichtschutzfaktor 50+, fing ich an, diese auf meiner Haut zu verteilen. Die Farbe des Inhalts glich der Hautfarbe meiner Haut, doch ich hatte mich damit schon abgefunden, dass ich anders als die anderen war. Das einzige, womit ich nicht zurechtkam waren die Menschen selbst, die mich wie Dreck behandelt hatten und dazu kommt noch der Körperkontakt zu anderen Leuten- mal von meiner Mutter abgesehen.

Als ich fertig war, ging ich mit dem Handtuch um den Körper in mein Zimmer und suchte mir Klamotten aus, die mir keinen Hitzeschock verpassen würden und in denen ich gemütlich rumlaufen konnte, ohne mehr Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen und den Eindruck zu erwecken, ich sei ein Asi.

Meine Haare ließ ich Lufttrocknen und in der Wärme der Luft trockneten sie auch schnell und fielen mir lockig über die Schulter. Die Sonnenbrille schob ich mir in die Haare und die vorderen Strähnen wurden nach hinten gedrängt.

Solange ich noch zuhause bin, möchte ich meine Freiheit genießen.

Meine Tasche war schon mit den Büchern, die ich heute benötigen würde, gefüllt. Das Geld, welches ich in der Kantine ausgeben würde, warf ich mit der Wasserflasche hinein, die auf meinem Schreibtisch bis vor kurzem noch gelegen hatte.

Ich zog mir noch kurz meine Lederjacke über, die meine Körpertemperatur abkühlte und die Tasche hielt ich in der Hand, während ich die Treppe runter, in die Küche ging.

Wie meine Mutter gesagt hatte, stand die Kaffeekanne in der Maschine und dampfte vor sich hin. Mein Geruchssinn nahm gemahlene Kaffebohnen war und ich schloss genießerisch die Augen.

Nach kurzem Zögern, füllte ich das Gebräu in einen anderen Behälter um und mit diesem ging ich zum Flur, wo ich meine Chucks anzog.

Die Tasche schulterte ich und die Schlüssel hielt ich in der gleichen Hand, wie den Kaffeebecher. Mit der anderen Hand setzte ich die Sonnenbrille auf meine Nase und die Sicht um mich herum verdunkelte sich automatisch mit. Die Kopfhörer nahm ich von dem kleinen Tisch neben der Tür und stöpselte sie mir wie gestern in die Ohren.

Nach dem ich die Tür geöffnet und hinausgegangen bin, schloss ich die Tür hinter mir ab und dann landeten die Schlüssel auch schon in meiner Jackentasche. Mein Handy gab ein kurzes Summen von sich, als ich es auf Vibration stellte, doch die Musik machte ich an und sie erfüllte den Hintergrund meines Tuns. Als ich aus dem Schatten trat und langsam zur Schule schreitete, bestrahlte mich die Sonne mit ihrer Wärme und ihrer Helligkeit, die mich kurz blinzeln ließen. Schluck für Schluck trank ich meinen Kaffee, das immer weniger wurde und Schritt für Schritt kam ich der Schule näher, die mehr Abstand zwischen mich und meinem Zuhause brachte und langsam konnte ich in der Ferne schon die Umrisse des großen Schlosses sehen, welches Hogwarts glich.

Ich fühlte mich langsam wie eines dieser Schüler, die in Sachen Magie unterrichtet wurden und mit ihren Besen durch die Gegend flogen.

Komisch, zu meiner Hexentheorie würde es auch passen.

Mein Becher war wieder so leicht, wie vorhin, als noch nichts drinnen war und ich schmiss es in die Mülltonne, die mir auf dem Weg entgegenkam.

Als ich weiter ging und meine Schritte immer langsamer wurden, weil ich versuchte den Moment hinauszuzögern wo ich noch draußen war, trat ich auch schon im nächsten Augenblick über die Türschwelle.

Ich kramte meinen Stundenplan aus der Tasche und schaute, was für ein Fach ich jetzt hatte.

GSW. Also entweder Erdkunde, Politik oder Geschichte.

Ich ging in den Klassenraum, dessen Weg ich mir gestern noch gemerkt hatte und fand die Tür offen. Da ich meine Kopfhörer auf dem Weg hier her um mein Handy geschlungen hatte, drang mir der Lärm entgegen, welches Gespräche in verschiedenen Themenbereichen und Gelächter beinhaltete.

Ich hielt die Luft an, während ich zu meinem Platz rüber ging und stellte fest, dass ich immer noch die Aufmerksamkeit auf mich zog.

Genervt setzte ich mich auf meinen Platz und die Blicke folgten mir.

Ich fühle mich echt wie eine Außerirdische.

Sie warten doch nur darauf, dass du ausrastest, damit die etwas haben um über dich zu reden. Gib ihnen nicht die Chance dazu und bleib ruhig und unauffällig, so gut es geht.

Allerdings schien die Aufmerksamkeit auf mir nicht nur mich zu nerven, sondern auch das Mädchen von gestern.

Wie hieß sie noch?

>Hört mal auf zu geiern und macht weiter.< rief die ‚Adelige‘ oder die ‚Königin‘ zu den Bauern und schaute mich an, als hätte ich ein rotes Tuch vor ihr Gesicht gehalten.

Ich lächelte sie spöttisch an und ich konnte mir im geistigen vorstellen, dass der rote Strich im Fieberthermometer in die Höhe schoss und der höchste Punkt zerbrach, weil der Strich noch höher steigen wollte.

>Was glotzt du so?< zischte sie mich an, doch ich sagte nichts und schüttelte grinsend den Kopf.

Treib es nicht zu weit. Du sollst nur zeigen, dass du dich nicht runter kriegen lässt. Wenn du so weiter machst, hetzt sie alle anderen gegen dich auf und dann bist du mit deiner Gefühlswelt wieder am tiefsten Punkt und dieser ganze Stress hat wieder nichts gebracht.

Am Ende machst du dich selbst noch zum Opfer!

 Kurz bevor sie etwas sagen konnte, kam der Lehrer und fing mit dem Unterricht an. Seine Kollegen hatten ihm wohl die Sache mit meiner Sonnenbrille erzählt, denn er ging darauf nicht ein, als er mich in der neuen Schule willkommen hieß. Die Stunden vergingen wie im Flug und nach dem die Klingel ertönte, stürmten die Schüler aus den Klassen. Meine Sachen ließ ich auf meinem Platz liegen, da wir die nächsten drei Stunden auch hier hatten. In den Gängen war es etwas eng und ich versuchte so gut es mir gelang, niemandem zu nah zu kommen. Kurz bevor ich die Treppen hinunter, zur Cafeteria ging, hastete ich kurz zu den Toiletten. Zwei Mädchen waren beim Waschbecken vertieft in ihr Gespräch und bemerkten mich nicht, als ich in eine der Kabinen schlüpfte. Als ich dann nach kurzer Zeit heraus kam, war niemand mehr da und ich seifte meine Hände ein. Kurz danach wusch ich mir die cremige Schicht ab.

Mein Spiegelbild zeigte mir ein Mädchen, das fast genauso blass war, wie die Fliesen, die an der Wand klebten.

Hatte Schneewittchen nicht auch weiß-rosane Haut?

Ja, aber keine weißen Haare.

Dafür aber genauso rosa Lippen wie du.

Versuchst du mich jetzt hübsch zu reden? Schneewittchen entstammt aus einem Märchen und sie hatte auch nicht solche Augen wie ich. Sie war nicht lichtempfindlich und sie konnte in der Sonne rumlaufen, ohne sich Gedanken machen zu müssen, ob sie auch Sonnencreme aufgetragen hatte. Das einzig negative in ihrem Leben war, das sie eine Hexe als Stiefmutter hatte, die ihr den Tod wünschte, doch sie hat die besiegt. Ich allerdings habe keine Stiefmutter, die mir den Tod wünscht. Ich habe viele Menschen, die mich aus dieser Welt haben wollen. Ich denke, das ist ein großer Unterschied.

Ich seufzte und schüttelte den Kopf, ehe ich das Gestell auf meiner Nase zurecht rückte und dann aus der Toilette ging. Zu meinem großen Glück stieß ich jedoch mit jemandem zusammen und ein schriller Schrei erklang darauf hin.

>Du Miststück! Meine Stirn tut weh, du elender Tollpatsch! Kannst du nicht-< dann sah sie mir in die Augen und als Rachel jetzt wusste, wer dieser ‚elende Tollpatsch‘ war, funkelten ihre Augen.

>Was denkst du, wer du bist? Habe ich dir nicht gesagt, dass du aufpassen sollst? Du hast meine Nerven schon genug strapaziert! Ich sage es dir noch einmal. Ein letztes Mal. Geh mir aus dem Weg und versuch erst gar nicht, dich mit mir anzulegen, sonst lernst du mich erst richtig kennen<, zischte sie.

>Und ich sage dir jetzt, dass du mich nicht interessierst. Ich bin keine, mit der du so umgehen kannst, wie du willst. Nur weil du denkst, du seist eine aus einem hohen Rang, den du dir erträumst, dann täuscht du dich.<

Zu große Worte für deinen Mund.

Ihre Augen wurden groß und die Wut auf mich größer. Ich bin nicht so. Ich bin nicht stark, ich bin verletzlich, doch diese Maske schützte mich.

Ihre Hand erhob sich und sie holte aus und als ich ihr Vorhaben mit meinen Sinnen wahrnahm, spürte ich den Druck auf meiner Brust. Mein Herz zog sich zusammen, als sich einzelne Bruchstücke meiner Erinnerungen vor meinem geistigen Auge abspielten.

Ich schloss die Augen, was sie durch die Brille nicht hätte sehen können, und bereitete mich auf den Schmerz vor, der mich erwartete. Als jedoch nichts kam und ich die Augen aufmachte, traute ich meinen Augen nicht.

Die Hand, die eigentlich hätte meine Wange treffen sollen, wurde festgehalten. Rachel starrte fassungslos zu der Person hin, die sie zurückhielt, ihren Zorn an mir auszulassen. Mein Blick glitt ein Stückchen höher und ich schaute in dunkle, fast schwarze Augen, die von einem dichten Wimpernkranz umgeben wurden. Makellose Haut, die goldbraun gebrannt von der Sonne war. Schwarze Haare, harte Gesichtszüge.

>Was soll das werden, wenn es fertig ist?<

Die Stimme klang angenehm, trotz der zischenden Tonart. Eine rauchige, tiefe Stimme.

>Chrissi, was tust du da?< fragte sie kaum übersehbar entrüstet.

>Die Frage ist wohl eher, was du da tust.<

Er ließ sie los und ihr Arm sank hinab.

>Ich zeige ihr, wie sie sich mir gegenüber zu benehmen hat.<

>In dem du sie schlägst?<

Sie sprachen, als wäre ich gar nicht hier.

>Aber, Chrissi, sie hat mich provoziert!< Sie verlieh ihrer Stimme Nachdruck und schaute ihn mit glänzenden Augen an.

Ich muss sagen, sie ist eine hervorragende Schauspielerin.

>Ich kenne dich schon lange genug, um zu wissen, wann du lügst und wann nicht< sagte er und schaute dann mich an.

>Wie heißt du?<

Als er mich plötzlich ansprach, brachte ich kein Wort heraus.

Hast du deine Zunge verschluckt?! Jetzt sag endlich was!

>Mina<

>Hier scheint keine Sonne, es ist unhöflich, wenn ich dir beim Sprechen nicht in die Augen schauen kann< bemerkte er nebenbei.

>Das habe ich auch die ganze Zeit zu den anderen gesagt. Wahrscheinlich will die nur Aufmerksamkeit, die sie sonst nicht bekommt<

Sie ignorierte mich. Diese selbstverliebte, arrogante Kuh sprach hemmungslos, als wäre ich nicht da!

>Ich muss mich vor dir nicht rechtfertigen<, sagte ich.

Die Blicke von ‚Chrissi‘ begutachteten mich, ehe sie mich abzustempeln schienen, wie ein Objekt im Museum, über das er sich eine Meinung gebildet hatte, die man ihm nicht mehr hätte ausreden lassen können.

>Dein Bruder hat mich gebeten, dich abzuholen, weil du angerufen haben solltest. Ich finde aber nicht, das du so krank aussiehst, wie du vorgegeben hast< lenkte er vom eigentlichen Thema ab.

Das was er mit ihr zu bereden hatte, ging mich nichts an, weshalb ich mich umdrehte, um zu gehen, doch wieder wurde ich aufgehalten, indem man mich am Arm hielt und zurückdrehte, jedoch war das keine sanfte Geste und das ‚drehen‘ könnte man eigentlich mit ‚schleudern‘ ersetzen. Ehe ich mich versah, fiel das Gestell auf meiner Nase, auf den Boden und erschrocken darüber, riss ich reflexartig die Augen auf.

>Wir sind noch nicht fertig!< zischte mich Rachel an.

Ich schaute schnell auf den Boden und ließ mir die weißen Haare ins Gesicht fallen, damit man mir nicht in die Augen schauen konnte.

>Ich rede mit dir.<

Ich riss meinen Arm aus ihren Fängen und suchte den Boden nach meiner Brille ab.

Knapp drei Meter rechts von mir, lag sie zerbrochen.

>Nein< sagte ich und ging darauf zu.

>Hey, Mina! Kommst du zu un-< eine weitere Stimme ertönte und hörte mitten im Satz auf zu reden, doch ich nahm das nicht wahr und schritt zu meiner Brille, um sie aufzuheben.

Du kannst jetzt nicht kaputt sein! Nein, nein, nein.

>Jetzt mach kein Drama um dieses billige Stück Plastik.<

Die genervte Stimme von Rachel löste die Alarmglocken aus.

>Was ist denn hier los?<

Panik überkam mich. Sie sollen mich nicht so sehen, sie würden mich wieder nieder machen, wie es in den anderen Schulen schon immer war…

>Mina?<

Die Stimme von vorhin war ganz nah bei mir und ich presste die Augenlider aufeinander.

>Ich bin es. Severin. Alles okay?<

Ich schüttelte meinen Kopf.

>Wir sind noch nicht fertig mit einander habe ich gesagt!< Rachel schrie wie eine wildgewordene Furie.

>Halt dich zurück. Ich bringe dich jetzt zu deinen Eltern< zischte der Typ, der sie davon abgehalten hatte, mich zu schlagen.

>Guck mich an, ist alles in Ordnung?< fragte Severin und hob mit seiner Hand meinen Kinn, doch meine Augenlider presste ich weiterhin aufeinander.

>Mach die Augen auf< flüsterte er und ich konnte seine Blicke auf mir spüren.

Ich schüttelte den Kopf, während ich meine Hosentasche abtastete.

Wo ist nur dieses verflixte Handy?

Als ich es endlich ertastet hatte, hörte ich im Hintergrund die Drohungen von Rachel, das wütende Knurren von ‚Chrissi‘ und die Bitte von Severin.

Er war bisher normal zu mir gewesen. Normal zumindest im Sinne von nett und wenn ich jetzt meine Augen öffne, wie würde er wohl reagieren? Wenn er mich abstoßend finden würde, könnte ich es ihm noch nicht mal verübeln…

>Du willst nicht, das ich dir in die Augen sehe<, sagte ich schlicht und hielt ihm mein Handy hin.

>Wieso sollte ich das nicht wollen.<

>Im Telefonbuch steht Mom. Kannst du auf Anrufen tippen und mir das Handy dann geben?<

>Mach die Augen auf.<

Er ignorierte das Handy in meiner Hand, welches ich ihm hin hielt.

>Bitte< flüsterte ich.

Lange schwieg er. Nur seine Atemzüge waren zu hören und ich fragte mich, ob er vor hatte, mir überhaupt zu antworten.

>Damit ist die Sache aber nicht erledigt<, sagte er und nahm mir das Telefon aus der Hand, welches er mir nach kurzer Zeit wieder reichte.

>Es klingelt.<

>Mina? Ist alles in Ordnung?<

Meine Mutter war besorgt, das konnte ich nur zu deutlich heraushören.

>Kannst du mir eine neue Sonnenbrille bringen?< fragte ich und senkte meinen Kopf.

>Wieso, was ist passier?<

>Ich bin hingefallen und dann ist sie runtergefallen. Ich brauche eine neue.<

>Ich bin sofort da. Hast du dir auch nichts verletzt?<

>Nein. Wenn du ins Gebäude kommst, musst du die Treppen hoch gehen und wenn du immer geradeaus gehst, siehst du mich.<

>Ich beeile mich, Schätzchen.<

>Bis gleich.<

Damit legte ich auf und stützte meine Stirn an meine Handfläche.

>Wozu?< fragte Severin, nach einer kurzen Zeit der Stille.

>Was meinst du?<

>Die Sonnenbrille.<

>Meine Augen sind lichtempfindlich.< seufzte ich. Das war allerdings nur die halbe Wahrheit.

>Hast du das von Geburt an?<

>Ja<

>Hier ist aber kein Licht<

>Trotzdem ist die Helligkeit für mich eine Zumutung, da ich auch eine leichte Sehschwäche habe. Ich kann alles erkennen, nur manchmal ist es verschwommen. Wie, wenn Asphalt durch die Hitze die Luft flimmern lässt.<

>Es muss schwer sein<

Das Problem ist nicht die Lichtempfindlichkeit oder die leichte Sehschwäche, sondern meine Augen selbst.

>Geht<

>Deswegen kannst du mich ohne die Brille nicht ansehen?<

>Nein.<

>Und was liegt dir dann auf dem Herzen?<

Ich seufzte. So viele Fragen.

>Wir kennen uns nicht. Ich kenne dich nicht, da werde ich dir wohl kaum erzählen, was mir auf dem Herzen liegt.<

Es war nicht böse gemeint und ich hoffte, er wüsste, was ich meinte.

>Dann lerne mich doch kennen. Ich bin kein übler Typ, ehrlich.<

Aus seiner Stimme hörte ich ein Lächeln heraus.

>Vielleicht hast du recht< sagte ich, ging aber nicht weiter darauf ein, da ich nicht vor hatte, mich mit ihm anzufreunden und die Gefahr einzugehen, das Gegenteil herauszufinden.

>Ich gebe dir Zeit und werde dich nicht unangenehm bedrängen, doch wenn du nach einer Zeit trotzdem von unserem Tisch fernbleibst und von uns ebenfalls, werde ich dich dort hin schleppen, ob du willst oder nicht.<

Wieso bist du so freundlich?

>Wir werden sehen.<

>Ja, das werden wir.<

Kurz nach dem er seinen Satz beendet hatte, hörte ich meine Mutter nach mir rufen. Ihre schnellen Schritte hallten im Gang wieder, bis sie vor mir kniete und mir die Sonnenbrille aufsetzte.

>Ist wirklich alles in Ordnung bei dir?<

>Ja, mach dir keine Sorgen. Es tut mir leid, das ich dich von der Arbeit abgehalten habe.< sagte ich wahrheitsgemäß und blinzelte, ehe sich meine Augen wieder an die leichte Helligkeit gewöhnt hatten, die von den getönten Brillengläsern dunkler erschien.

Sie gab mir einen Kuss auf die Stirn und half mir beim aufstehen.

>Guten Tag, Ms. Winter. Ich bin Severin< stellte sich mein ‚Sitznachbar‘ vor und reichte meiner Mom die Hand.

>Oh, entschuldige< sagte sie, schaute ihn aber etwas misstrauisch an.

>Schön dich kennenzulernen, Severin<

Das schrille Klingeln deutete uns, das die Unterrichtsstunde anfing und meine Mutter schreckte kurz auf.

>Geht es dir wirklich gut?< fragte sie jetzt an mich gerichtet.

Einzelne Schüler rannten die Treppen rauf und die Menge verdichtete sich mit jeder Sekunde mehr.

>Ja, geh du nur zurück, bevor du wegen mir ärger bekommst< sagte ich und setzte mir ein Lächeln auf.

>Okay, wir sehen uns dann zuhause< sagte sie, drückte mir einen Kuss auf die Wange und gab Severin zum Abschied die Hand, bevor sie ging.

>Deine Mutter scheint dich sehr zu lieben< sagte Severin und dieses Mal sah ich dieses ehrliche Lächeln, welches an mich gerichtet war.

Ja und manchmal tut es mir echt leid…

 

 Die restlichen Stunden verliefen ruhig und niemand kam mir zu nahe. Nur hatte Mattea mich einmal angesprochen, ob ich nicht bei ihnen sitzen wolle, doch Severin hat sie dann mit sich zum Tisch gezogen und mir Blicke zugeworfen, die mir sagten, dass ich keinen Ausweg hatte und am Ende sitzen würde. Rachel war nach der Aktion nicht mehr aufgetaucht und ich wurde nicht mehr gestört bei meinen Gedanken. Die letzte Stunde war jetzt vorbei und ich packte meine Sachen ein.

>Vergesst die Sachen nicht, die ihr in der nächsten Stunde brauchen werdet< rief die Kunstlehrerin in die Klasse und es ertönte ein Gegrummel.

Wir hatten Theorie gemacht und besprochen, was wir alles malen könnten. Ich war von der Stunde nicht begeistert, weil ich die Praxis eher beherrschte und die Theorie langweilig und so gut wie schleichend vorüber gegangen ist.

Die Tasche schulterte ich mir auf dem Weg nach draußen und als mir die Sonnenstrahlen entgegenkamen schloss ich für einen kurzen Moment die Augen.

Meine Sinne verschärften sich und ich hörte die Vögel deutlicher, die zwitscherten. Der Wind wehte ganz leicht und die Blätter auf den Bäumen raschelten sanft. Die Gerüche vermischten sich, als Schüler an mir vorbei gingen. Zu viel Parfüm vermischte sich mit den Düften der Natur und ich zog meine Nase kraus.

Die hat wohl in diesem scheußlichen Gebräu gebadet, was die als gut riechend bezeichnen.

Ich öffnete wieder die Augen und ging mit langsamen Schritten den Weg entlang, der zu meinem Zuhause führte. Die Kopfhörer ließ ich in meiner Tasche und genoss die Stille, die sich in mir breit machte. Keine nervigen Stimmen, die mein Gehör in Anspruch nahmen und keine Menschen, die mir über den Weg liefen. Die Stimmen in meinem Kopf waren wie ausgelöscht, als würden sie mir eine Pause von dem ganzen gönnen.

Seufzend nahm ich die Schlüssel aus meiner Hosentasche und öffnete die verschlossene Tür.

Kühle Luft drang zu mir und hüllte mich ein, als ich im Haus stand. Hinter mir fiel die Tür ins Schloss und mein Rucksack landete auf dem Boden. Ich zog die Chucks aus und lief Barfuß über die kalten Fliesen. Der Flur führte direkt ins Wohnzimmer, die keine Tür besaß und in die Küche. Hunger hatte ich keinen, weshalb ich ins Wohnzimmer ging. Auf dem créme-weißen Sofa machte ich es mir gemütlich und schloss die Augen.

Was für ein Tag.

Rachel die Zicke, der fürsorgliche Severin, bei dem ich mir nicht sicher bin, ob er wirklich so ist und er. Chrissi, wie Rachel ihn genannt hatte.

Der heißt bestimmt Christian oder Chris.

Der Typ war komisch. Ich schätzte ihn so um die zwanzig Jahre, doch das was mir komisch vorkam, war seine Art. Er kannte mich überhaupt nicht und versuchte Rachel von mir fernzuhalten.

Bilde dir nichts ein. Das war nur, um Rachel zu schützen, damit sie kein Ärger bekam.

Er hat mich gefragt wie ich heiße, obwohl das nichts zur Sache tat.

Wahrscheinlich nur, um Rachel zu sagen, dass sie sich nicht auf dich herab begeben soll. Der Name würde nur zum Erwähnen dienen.

Ich schüttelte den Kopf.

Du hast recht. Ich bilde mir zu viel ein. Meine Fantasie spielt mir nur etwas vor und versucht die verlorene Hoffnung aufkommen zu lassen.

Wieso denkst du an ihn? Hast du dich verliebt?

Nein.

Fandest du ihn anziehend?

In dem Moment nicht.

Und jetzt?

Ich weiß nicht.

Rast dein Herz, wenn du an ihn denkst?

Nein, tu ich nicht, antwortete es.

Gott, du bist so tief am Abgrund, dass du nicht mehr weißt, wozu das alles noch zu gebrauchen ist. Hoffnung? Schmink es dir ab, die gibt es nicht, die bringt dir überhaupt nichts. Fantasie, Träume? Bitte, tu was du nicht lassen kannst. Am Ende wachst du auf und stellst fest, dass es keinen Sinn mehr hat. Trauer? Bringt dir ebenso wenig. Angst? Misstrauen? Ja, das ist es, was dich ausmacht. Du hast es nicht anders gelernt. Traue niemandem, sie können dich verletzen und die Angst hält dich davon ab, Dummheiten zu begehen.

Wie lange soll das denn noch weiter gehen? Werde ich von diesem Fluch nie erlöst werden? Diese… diese Krankheit, die abscheulichen Erinnerungen, die mich in einer Endlosschleife verfolgen.

Das Telefon fing an zu klingeln und ich wurde aus meinen Gedanken gerissen. Hetzend lief ich dahin, wo das Geräusch her kam und nahm ab.

>Hallo?< fragte ich in den Hörer.

>Schatz, ich wollte dir nur sagen, dass dein Flügel am Wochenende ankommt. Du kannst ja schon mal den Raum einrichten, wenn du möchtest.<

>Ja, mach ich. Ich muss sowieso heute noch einmal raus, weil ich Sachen für Kunst brauche< sagte ich und lehnte mich an die Wand.

>In die Stadt? Heute ist es aber sehr-< bevor sie weiter sprechen konnte, unterbrach ich sie.

>Ich weiß.<

Seufzen erklang am Ende der Leitung und ich konnte mir bildlich vorstellen, wie meine Mutter ihre Schläfen massierte und besorgt einen Punkt anstarrte.

>Na gut, aber creme dich noch einmal ein. Ich möchte nichts riskieren.<

>Ich habe keine Behinderung, mom. Ich kriege auch keine Anfälle. Ich bin nur etwas empfindlich, das wars.<

Wieder ein seufzen.

>Pass auf dich auf.<

Die tiefsinnigere Bedeutung war kaum zu überhören und ich schloss meine Augen, als ich meine Wange an die kalte Wand lehnte.

>Bis dann.< sagte ich, ohne etwas weiteres zu erwähnen und legte auf.

>Ich bin kein Kleinkind mehr. Niemand kann mit mir so umgehen, wie er will.< redete ich mir selbst flüsternd ein.

Tief Luft holend stieß ich mich von der Wand ab und ging in mein Zimmer, um mich einzucremen und um mir mein Geldbeutel und meine Handtasche zu holen, die ich schulterte, als ich die Treppen wieder hinab stieg.

Ich zog mir wieder die roten Chucks an und fischte meine Schlüssel aus der Schale am Eingang und schloss hinter mir ab.

Die Sonne stand ganz hoch am Himmel und strahlte auf die Stadt hinab. Das Blau des Himmels strahlte und kein Wölkchen war weit und breit zu sehen. Aus meiner Hosentasche fischte ich mir mein Handy mit den Kopfhörern dran und stöpselte mir diese in die Ohren, während ich die Straße hinauf ging. Die Musik brummte mir sogleich in die Ohren mit ihren Bassklängen, die mit dem Schlagzeug begleitet wurde. Die Tasten des Piano wurden benutzt und die zu Anfang harten Klänge, bekamen einen sanften Unterton und nach kurzem setzte die Stimme ein, die das Lied vollkommen machte. Der Glockentrum, der in der Stadtmitte erbaut wurde, wurde mit jedem Schritt, den ich tat immer größer und die Menschenmasse wurde mehr. Einzelne Läden erstreckten sich in der alten, breiten Gasse. Der erste Schein erinnerte mich ans Mittelalter, wo noch alles älter war. Die Gebäude waren zum Teil erneuert, doch der Mittelalterliche touch blieb trotzdem.

Mein Gang wurde langsamer und ich schaute mich nach einem Laden um, wo ich einen Teil der Sachen finden könnte, die ich brauchte. Zuerst schaute ich nach einem Dekoladen und nach kurzem suchen wurde ich fündig. Das kleine Geschäft war übersichtlich und schön eingerichtet. Regale und kleine Stände in der Mitte standen mit brauchbaren Gegenständen. Ich fand einen silbernen Kerzenständer, den ich sofort ergriff. Zusätzlich fand ich schwarze, lange Kerzen und ging dann zur Kasse, um diese zu bezahlen.

Eine ältere Dame mit grauen Haaren, die sie zu einem strengen Zopf zusammengebunden hatte, lächelte mich an. Die Krähenfüße um ihre Augen vertieften sich und ihre Augen leuchteten.

>Guten Tag< sagte ich höflich und lächelte leicht zurück.

>Guten Tag< erwiderte sie und scannte die Sachen, die ich ausgesucht hatte.

>14, 98 Euro<

Ich griff in meine Tasche und holte mein Portmonee heraus.

>Bitte< sagte ich und reichte ihr fünfzehn.

Die Kerzen nahm ich zuerst und legte sie in die Tasche. Der Kerzenständer war zu groß, weswegen ich sie in die Hand nahm.

>Warten Sie, ich gebe ihnen eine Tüte.< sagte sie, nach dem sie mir die zwei Cent Rückgeld gegeben hatte und beugte sich runter.

>Danke<

Ich nahm die große Tüte entgegen und legte den Leuchter hinein.

>Schönen Tag noch< sagte sie und lächelte mich an.

>Danke, Ihnen auch<

Dieses Lächeln fehlt in meinem Leben.

Ich ging aus dem Laden raus und schlenderte ein bisschen rum, als ich ein Eiscafé am Straßenrand entdeckte. Mein Magen grummelte leise und ich schlug den direkten Weg dorthin ein.

Ich drückte die Tür auf und zum Vorschein kam ein süß eingerichtetes Café. Die Wände waren in zartem Rosa und auf den weißen Tischen stand jeweils eine rote, eine orangene und eine rosa Rose. Der Tresen war ebenfalls in weiß und rosa und eine kleine Vitrine gab mir die Aussicht auf verschiedene Kuchensorten frei.

Da draußen alle Tische besetzt waren, setzte ich mich an einen Tisch drinnen, welches halb in der Sonne lag.

Eine Kellnerin kam zu mir rüber und lächelte mich an.

>Hallo, was kann ich Ihnen bringen?<

>Ein Himbeermilchshake und eine Pizza Margherita, bitte.<

Die Gesichtszüge entglitten ihr ein kleines Stück und sie schaute an mir hinab.

>Das wär`s?< fragte die Bedienung dann und ich nickte kurz, ehe sie hinter der Theke verschwand.

Die Blätter, die an den vielen Ästen hingen, wehten leicht im Wind und die Sonnenstrahlen tänzelten auf dem steinernen Boden. Jugendliche, etwa in meinem Alter gingen von Laden zu Laden und lachten. Eine ältere Frau saß auf der Bank neben einem noch älteren Mann und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Beide schienen zu schweigen, doch ein Lächeln zierte beider Gesicht, was sie glücklich aussehen ließ. Fast friedlich. Zwei kleine Kinder rannten durch die Stadt. Ein Mädchen mit geblümtem Kleid, welches beim Laufen im Wind flatterte und ein Junge mit einem Spielzeug in der Hand. Beide lachten, als hätten sie nie etwas Schlimmes in ihrem bisherigen Leben erlebt. Als gäbe es gar keine Trauer, kein Schmerz, kein verzweifeln.

Meine Mundwinkel zogen sich leicht nach oben, als ich daran dachte, dass die Härte des Lebens noch auf sie zukommen würde.

>Ein Himbeermilchshake und eine Pizza Margherita. Guten Appetit<, sagte die Kellnerin von vorhin an mich gewandt und nach dem sie die Leckereien auf dem Tisch stehen ließ, ging sie wieder an ihre Arbeit.

Die Pizza war schon in acht Teile geschnitten worden, weswegen ich das Messer weg ließ und gleich mit der Hand zu einem Stück griff, um im nächsten Moment einen Bissen davon zu nehmen.

Der Käse zog sich in die Länge und die einzelnen Kräuterstücke intensivierten den Geschmack in meinem Mund.

Als ich wieder aus dem Fenster schaute fühlte ich, wie Ruhe in mich einkehrte, welches mich nur selten heimsuchte.

Ein junger Mann, ein paar Jahre älter als ich, setzte sich seitlich vor die Glasscheibe, aus der ich heraus schaute. Damit setzte er sich auch vor die Aussicht, die ich hatte und wie ein Blitzschlag wurde mir klar, dass ich den Mann schon einmal gesehen hatte.

In der Schule. Wo ich den Vorfall mit Rachel hatte.

 

Ich schaute auf mein Milchshake und veruchte die Tatsache, dass der Mann von vorhin hier in meiner Reichweite saß, zu ignorieren. Was für einen Unterschied machte es schon? Seine Anwesenheit war nicht von Belang. Sie sollte nicht von Belang sein.

Ich sog einen Schluck aus dem Strohhalm und biss noch einmal von meiner Pizza ab. Ich wusste nicht wirklich, was man bei solchen Situationen machte. Ob man überhaupt etwas machen oder sagen sollte. Es war, als wären meine Gedanken auf Stumm geschaltet worden. Mein Appetit wurde weniger und die Lust, hier zu sitzen ebenfalls. Ich seufzte und versuchte meine Laune nicht von einem Außenstehenden beeinflussen zu lassen. Stattdessen aß und trank ich weiter, bis meine bestellte Mahlzeit aufgegessen war. Bevor ich der Kellnerin signalisierte, dass ich bezahlen wollte, wagte ich einen kurzen Blick auf den Platz vor der Fensterscheibe und stellte fest, dass `Chrissi´ immer noch dort saß. Dieses mal allerdings nicht alleine. Eine Frau, etwa in seinem Alter, strich sich gerade die Haare aus dem Gesicht und ließ sie über ihren Rücken fallen. Mittellange braune Haare wellten sich über ihrer Schulter. Ich sah sie nur vom Profil aus. Sie war hübsch, hatte eine reine Haut und feine Gesichtszüge. Schmale Lippen und große Augen vollendeten das beinahe elfenhafte Werk.

>Das wären dann 6,70€.<

Die Stimme der Kellnerin drängte sich in den Vordergrund und verlangte nach meiner Aufmerksamkeit. Etwas stutzig griff ich in meine Tasche und holte mein Portemonnaie heraus, wobei ich ihr sieben Euro in die Hand drückte.

>Stimmt so.<

>Dankeschön und einen schönen Tag noch< sagte sie, worauf ich nur höflich nickte.

Ich nahm meine Tasche und die Tüte mit dem Kerzenständer drinnen und ging hinaus. Zu meinem Pech stellte ich fest, dass ich an den beiden vorbei musste, weil ich den Laden für die Kunstsachen in ihrer Richtung sichtete. Unsicher schritt ich voran und konnte es mir nicht verkneifen, ihn aus dem Augenwinkel anzusehen.

Gott sei Dank trage ich eine Sonnenbrille, dachte ich erleichtert. So kann er nicht sehen, wie ich ihn beobachte.

Eine leichte Brise wehte meine Haare von meinen Schultern in die Luft und ehe ich außer Sichtweite war, sah er mich prüfend an. Im Laufschritt marschierte ich zum Geschäft rüber und die Strecke wurde immer kürzer. Je näher ich kam, desto größer wurden die Artikel im Geschäft und desto erleichterter wurde ich, weil ich in dem Gedanken schwebte, einen Fluchtort gefunden zu haben.

Im Laden angekommen atmete ich erleichtert auf, bevor ich einen neuen Malblock und Kohlstifte suchte. Schnell fand ich, was ich suchte und nach dem ich bei der Kassiererin bezahlte ging ich so langsam wie nur möglich aus. Ich lugte aus der Tür, um zu sehen, ob er noch dort saß mit der Frau, doch sie waren nicht mehr da. Etwas irritiert ging ich schneller und fand meinen Weg zurück nach Hause. Meine Gedanken schwirrten um meinen Kopf, wie eine lästige Fliege.

Er ist ein Niemand in deinem Leben, also brauchst du auch nicht so viel aus dir zu machen. Spiel dich nicht auf und kümmere dich um deine anderen Probleme, Du unsicheres, kleines Mädchen.

Freund oder Feind?

 

Ich schmiss mich auf das Sofa und wartete geduldig in der Hoffnung, dass die Tür klingeln würde. Den ganzen Tag hätte ich mir ersparen können. Die Begegnung mit Rachel, das Gespräch mit Severin, ebenso wie die Erkenntnis, dass es ein Typ namens ,Chrissi´ gab.

Ist es denn zu viel verlangt, wenn man einfach abstand von der Menschenheit haben möchte?

Ich seufzte. Das beklommene Gefühl, dass morgen die Geschehnisse weiter seinen Lauf nehmen, bereitete mir eine Gänsehaut.

Ein kurzer Blick auf die Uhr verriet mir, dass heute mein Flügel nicht kommen würde und ich nichts anderes tun könnte, außer zu lernen oder fern zu sehen. Vielleicht sollte ich meinen Gliedern auch einfach etwas Ruhe gönnen, in dem ich mir ein heißes Bad nahm. Entschlossen raffte ich mich auf und trottete ins eigene Badezimmer, und ließ heißes Wasser in die Wanne laufen. Ich entledigte mich meiner Klamotten und legte mich in die Badewanne hinein. Meine Haut brannte wegen der hohen Hitze und meine Muskeln zogen sich für einen kurzen Moment zusammen, doch ich schenkte alle dem keine Beachtung, da es keine so große Einwirkung auf meine Gedanken hatte, wie das geschehene. Es wäre ein Segen, wenn ich etwas finden würde, was mich glücklicher macht als meine Träume. Ich verlor jedoch immer mein Durchsetzungsvermögen, was das halten meiner Wünsche anbelangt. Zu schnell gab ich auf und das mein Verhängnis.

So oft habe ich mich bisher gefragt, ob das Verhalten der Menschen so ist, weil ich so aussehe, wie ich geboren wurde oder ob sie mich versuchen nieder zu machen, weil ich ihnen mit nur einem Blick meine Schwächen zeige. Vielleicht habe ich deswegen auch angefangen in diesem neuen Abschnitt, ein anderes Ich dar zu legen. Mich nicht offenbaren und eine eiserne Maske aufbehalten, die aber wieder Risse bekommt.

Ich habe mich schon wieder verraten, in dem ich Rachel heute einfach machen lassen habe und Severin keine all zu harte Seite gezeigt habe. Das Selbstbewusstsein spielte eine große Rolle in diesem Abschnitt. Obwohl ich selbst wusste, dass ich Komplexe hatte, musste es doch kein anderer wissen.

Ich schüttelte meinen Kopf und sank ins Wasser hinein, bis ich die Luft anhalten musste.

Hätte ich mich nicht mit Händen und Füßen dagegen gewehrt zu einem Psychologen zu gehen, so hätte ich vielleicht die Chance haben können eine Hypnosetherapie zu beanspruchen. Mir wäre jetzt vieles erspart gewesen und ich könnte wesentlich besser ein Leben führen als jetzt, doch wäre es dann kein Verrat gegen mich selbst gewesen?

Die Luft entwich meinen Lungen und ich kam in Atemnot.

Welch ein Deja vú...

Ich riss meinen Oberkörper aus dem Wasser und holte japsend Luft.

Das Wasser schwappte über das Becken und der Boden wurde mit einer spiegelnden Schicht bedeckt.

Es klopfte Wild an der Tür.

>Mina? Mina?<

Meine Mutter rief verängstigt meinen Namen.

>Ja?<

Meine Tonlage sollte ihr sagen, dass ich keinen dummen Versuch unternommen hatte und ich hörte kurz darauf hin ein erleichtertes Seufzen.

>Mom, was ist denn?<

>Du hast Besuch.<

Besuch? Um diese Uhrzeit?

>Wer ist es?<

>Ein Mädchen aus deiner Klasse. Sie wartet in der Küche.<

Mein Herz ließ einen Schlag aus.

War es Rachel? Wollte sie Rache für eine nicht nennenswerte Tat und ist bis zu mir nach Hause gekommen?

Ich stieg aus dem Wasser und hüllte meinen Körper in einen roten Bademantel. Mit zitternden Fingern schnürte ich das Band fest an meinem Bauch zusammen, damit der Bademantel nicht ungewollt rutschen konnte. Auf dem Rand am Waschbecken lag meine Sonnenbrille, die ich mir aufsetzte.

Als ich die Tür auf machte und die Treppen runter ging, wurde mir Bewusst, wie schwach ich in diesem Moment wirken musste. Ich atmete tief ein und aus.

Die Tür zur Küche war weit offen und als ich hinein ging wusste ich sofort, wer es war.

 Mattea.

Sie saß auf dem Stuhl, mit dem Rücken zu mir. Ich hatte keine Ahnung, warum sie hätte hier sein können.

Ich tapste mit meinen nackten Füßen über den kalten Boden und umrundete die Kochinsel, wo ich ihr gegenüber stand. Ich wusste nicht wirklich, wie ich reagieren sollte und fühlte mich hilflos in diesem Moment, doch ich durfte mir keine Schwächen erlauben.

>Hi< sagte ich und lehnte mich an die Platte hinter mir.

Mattea schreckte auf, als hätte sie mich nicht bemerkt, doch dann lächelte sie mich freundlich an.

>Hi, wie geht es dir?<

>Deswegen bist du spät abends hier? Weil du mich fragen möchtest, wie es mir geht?<

War ich zu hart?

Ihr Lächeln veränderte sich so, als würde sie verstehen und bedauern zu gleich. Was wollte sie hier?

>Sei Severin nicht böse, aber< Er hat es ihr erzählt > er hat mir erzählt, was in der Schule passiert ist.<

>Ich lasse so etwas nicht an mich heran, es geht mir gut. Beantwortet das deine Fragen?<

Doch, ich lasse es an mich heran und genau deswegen geht es mir nicht gut.

>Nein. Das tut es nicht, aber ich glaube nicht das ich weiter komme, wenn ich dich mit Fragen überhäufe.<

>Weiter kommen wobei?< fragte ich alarmbereit.

>Ich weiß nicht, ob dir das schon einmal passiert ist, aber wenn man eine Person neu sieht hat man sehr selten das Gefühl, dass man mit ihr befreundet sein muss. Vielleicht schreckt dich das ab, aber ich würde mich freuen, wenn du mal einen Tag mit uns verbringst. Wenn du es nicht unter vielen Menschen magst, dann können wir auch etwas alleine unternehmen. Wenn du dann denkst, dass wir keine Freundschaft eingehen können, dann brauchst du das nur zu sagen und wir belästigen dich nicht mehr.<

Was hat sie vor?

>Wir?<

>Severin, ich und die anderen fanden dich am Anfang interessant und wir wollten dich näher kennenlernen. Gerade auch, weil wir wissen wie schwer ist, einen Neuanfang zu starten, wenn man noch keinen kennt und sich alleine um etwas schlagen muss um etwas zu erreichen.<

>Und ich brauche euch, um etwas zu erreichen?<

>Unsere Freundschaft und das langsam verdiente Vertrauen, dass wir mit der Zeit aufbauen würden.<

Ich schwieg, zu sehr war ich irritiert von dieser Offenheit. Das was sie sagte war... unwirklich. Es schien unwirklich. Wer würde bitte zu jemandem hingehen, den man nicht kennt und sagen: Hey, ich habe das Gefühl das wir befreundet sein sollten. Wenn du mich brauchst bin ich da, du musst den Deal nur eingehen.

Wie surreal war das denn? Vor allem jetzt. Wenn es einen Gott dort oben gibt, warum schickst du mir jetzt Leute, die hinter mir stehen sollen anstatt früher? So viel Leid hätte mir erspart bleiben können und jetzt - urplötzlich - kommt jemand und empfängt mich mit offenen Armen? Das ist einfach zu schrecklich, als das ich das glauben könnte.

>Wieso tust du das?<

Meine Stimme war ernst, ich hatte nicht den Nerv dazu um zu scherzen.

>Wie schon gesagt, weil wir wissen wie schwer es am Anfang ist und das man Menschen braucht, um sich nicht allein-< Ich unterbrach sie.

>Nein. Das meine ich nicht. Ich meine, wieso tust du das?<

Sie seufzte und ihre Stimme wurde etwas leiser.

>Weil ich dich mag und ich glaube, dass du Freunde brauchst um nicht so negativ von den Menschen zu denken.<

Ihre Worte trafen mich wie ein Schwall kaltes Eis. Ich schüttelte den Kopf und schaute auf den Boden.

>Woher willst du schon wissen, was ich denke?<

Sie schob ihren Stuhl zurück, umrundete die Insel, die als Barriere gedacht war und stellte sich mir gegenüber. Wie in einem Nahkampf, wo man dem Feind in die Augen sehen musste.

Ich schloss meine Augen in der Hoffnung, die dunklen Plastikscheiben würden das nicht preisgeben. Das Letzte was ich sah, war ihr ernster und verständnisvoller Blick, der sich in mein Gehirn bohrte.

>Ich sehe es dir an.<

 Ich atmete tief ein uns aus. Als würde ich versuchen, mich selbst zu beruhigen oder vielleicht einfach nur weil ich es hasste, mich verraten zu haben. Vielleicht, weil sie mich hätte anlügen können und vielleicht, weil ich sie so nah an mich heran gelassen hatte. Es hätte alles und zugleich keines von allem sein können.

>Wenn du das glaubst.< sagte ich ruhig.

Sie erwiederte nicht. Schaute mich nur durch die dunklen Brillengläser an und bewegte sich nicht.

Es war für eine kurze Weile still und von außen betrachtet würde diese Situation sicher komisch aussehen, doch das war sie nicht. Es war definitiv nicht komisch.

Ich hörte sie laut ausatmen und dann lächelte sie.

>Wir sehen uns in der Schule und ich hoffe du setzt dich dieses mal zu uns.<

Dann drehte sie sich um, sagte meiner Mutter tschüß und das Letzte, was ich noch von ihr hören konnte war, wie die Haustür hinter ihr zu ging.

>Was war das?< murmelte ich verwirrt vor mich hin und holte mir ein Glas aus dem Schrank, um es mit kaltem Wasser zu füllen.

 

 

Impressum

Texte: Diese Geschichte ist meiner Fantasie und somit auch meiner Feder entsprungen und alle Rechte der Geschichte liegen bei mir.
Bildmaterialien: Google
Tag der Veröffentlichung: 19.02.2014

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