Es waren nicht die hellen Sonnenstrahlen, die direkt durch das kleine Fenster neben ihrem Bett in das Zimmer fielen, die sie vom Schlaf abhielten. Es war das Wissen, dass dies der letzte sonnige Morgen sein könnte, den sie zu erleben bestimmt war. Das kräftige Strahlen der Sonne durchdrang an diesem Tag schon früh die sonst herrschende Wolkenmauer über den Bergen. Es versprach ein schöner Tag zu werden und dennoch stieg sie nicht mit einem Lächeln auf den Lippen aus dem Bett, sondern mit demselben kalten Blick, den sie wahrte, seit sie vor wenigen Monaten die Diagnose erhalten hatte. Es waren nicht die ständigen Kopfschmerzen gewesen aufgrund derer sie sich dazu entschieden hatte, dem Rat ihrer Freunde zu folgen und einen Arzt aufzusuchen und auch waren es nicht die Schwindelanfälle, oder die sonstigen Beschwerden gewesen, von denen sie geplagt worden war, sondern ein leises, fast übersehbares Glimmen in ihr. Eine Ahnung. Mit wackeligen Knien und Angstschweiß hatte sie auf die Ergebnisse gewartet, doch als der Arzt ausgesprochen hatte, was sie eigentlich in die Knie hätte zwingen sollen, überkam sie eine Ruhe, wie sie sie ihr gesamtes Leben über nicht verspürt hatte. Mit einem einzigen Wort nahm man ihr die Angst vor der Ungewissheit und gleichzeitig ihr ganzes Leben, ihre ganze Zukunft. Diagnose: Hirntumor. Lebenserwartung: wenige Monate. Man sagt, dass im Moment des Todes das gesamte Leben an einem vorbeizieht. In diesem Moment der Erkenntnis, dem Moment der Erkenntnis, dass sie nicht mehr lange leben würde, war genau das geschehen. All die schönen und auch unschönen Erinnerungen ihres jungen Lebens waren an ihr vorbeigezogen wie ein Film. Eine bittersüße Erfahrung. Alles worauf sie sich gestützt hatte, war ihr genommen worden. Sie wurde ausgelöscht, abgestempelt, und in die Warteliste für die Sterbeurkunden eingetragen. Sie fühlte, wie es war, als junge Frau jegliche Chancen auf ein selbstbestimmtes und normales Leben genommen zu bekommen, sie fühlte die Hilflosigkeit, das Erlöschen des Funkens der Hoffnung, den ein jeder in sich trägt. Sie fühlte es alles und doch fühlte sie nichts. Anstelle von Trauer oder Wut, war sie sonderbarerweise von nichts als Apathie erfüllt.
Man hatte ihr Anlaufstellen empfohlen, man hatte sie bedauernd angeschaut, man hatte ihr Mitleid bekundet und ihr Trost spenden wollen. Doch nichts davon war auch nur von geringster Bedeutung gewesen, denn sie war bereits gestorben. Sie wusste, wie es war, Menschen gehenzulassen, und allein zu sein. Die Umstände hatten es erfordert, dass sie mit dem Alleinsein leben lernte, doch selbst zu gehen schien ihr immer ein weit entferntes Unterfangen zu sein. Bis zu diesem Tag. Ihr ganzes kurzes Dasein hatte sie die Hoffnung auf ein langes Leben voller Zufriedenheit und Glück gehegt, das sie für all die Trauer und den Schmerz entschädigen würde, dem sie in jungen Jahren ausgesetzt war. Dass sie nicht dazu bestimmt war, dieses zu erleben, war kein allzu großer Schock. Es überraschte sie nicht, dass sie sterben würde und es überraschte sie genauso wenig, dass es deutlich früher als geplant eintreten würde. In all ihrer Apathie erschien es ihr doch eher wie eine Unannehmlichkeit.
Stöhnend stieg sie aus ihrem weichen Bett und trat zum Fenster. Das gewaltige Naturschauspiel der Wolken betrachtend schien ein wenig der Bitterkeit aus ihrem Gesicht zu schwinden, brachte die Zärte ihrer Züge zum Vorschein. Doch sofort als sie das Gesicht vom Fenster wegnahm, trat wieder eine tiefe Furche zwischen ihre Augenbrauen, die viel zu harsch aussah für den Ausdruck ihrer jungen grünen Augen. Die nackten Füße auf den kalten Holzboden ihres Zimmers stampfend, lief sie ins Badezimmer und versuchte jeglichen Blick in den Spiegel zu meiden. Sie würde sowieso nur die gleichen emotionslosen und starren Augen erblicken, wie seit Monaten. Wieso sollte sie also damit ihre wenige Zeit verschwenden?
Sie spritzte sich ein wenig Wasser auf die rosigen Wangen, um etwas wacher zu werden und ging dann die Treppe hinab, die zu ihrer kleinen Küche führte, die von dunklem Holz dominiert war. Mit den orangenen Wänden und dadurch, dass viel Licht durch das große Fenster über der Küchenzeile in das Zimmer fiel, strahlte der Raum eine beruhigende und warme Atmosphäre aus. Sie drückte den Knopf der Kaffeemaschine, ihre Bewegungen genauso monoton wie das Geräusch der Maschine, unmenschlich, fast schon einstudiert. Die Tasse in der Hand nahm sie die kleine Schachtel, die auf der Kommode in ihrem Wohnzimmer lag, und öffnete die Tür, die auf die Terrasse hinausführte. Der Ausblick aus dem Fenster schien trügerisch gewesen zu sein, denn draußen begann sie in ihren kurzen Schlafhosen und dem ärmellosen dünnen Top zu frieren, was sie stoisch zu ignorieren versuchte und sich dennoch einfach auf den kleinen Korbstuhl neben der Tür setzte. Zitternd nahm sie eine Zigarette aus der Schachtel und zündete sie an. Als die erste Rauchschwade in Richtung Himmel zog, nahm sie die geblümte Tasse von dem kleinen Tisch vor ihr, der ebenfalls aus einem hellen Korbgeflecht bestand und wärmte ihre Hände an ihr. Die bitter zusammengepressten Lippen verhärteten ihre Züge und ließen sie um einiges älter wirken, als sie eigentlich war. Früher hatte sie ihr haselnussbraunes Haar immer offen getragen, sodass die Locken ihr weiches Gesicht umspielten hatten, doch nun trug sie es immer zu einem strengen Zopf zusammengezogen, was ihrem Gesicht eine zusätzliche Härte verlieh. Der letzte Rauch war aus ihrem Blickfeld verflogen und noch immer zitternd stand sie auf und ging wieder ins Haus, wo die Wärme sogleich ihre kalten Glieder umhüllte. Sie seufzte. >>Warum bin ich eigentlich nicht auf die Malediven gezogen?<< Die Tasse mit dem verspielten und farbenfrohen Motiv fand ihren Weg in das Spülbecken und die junge Frau stellte nach einem Blick in ihren Kühlschrank fest, dass es Zeit war, dem kleinen Laden ein paar Straßen weiter einen Besuch abzustatten. Seufzend schloss sie die Tür des Kühlschranks und ging die Treppe nach oben, um sich ein paar wärmere Klamotten überzuwerfen. Einen großen Hehl machte sie nicht um ihr Äußeres. Mittlerweile war es ihr sogar vollkommen egal, wie sie aussah. Es gab niemanden, für den sie sich hätte zurechtmachen müssen, also wozu die Arbeit. Sie zog sich einen weiten und warmen roten Pullover an, machte sich nicht einmal die Mühe, das Top darunter, das sie zum Schlafen angehabt hatte, vorher auszuziehen. Eine einfache Jeans und abgetragene Schuhe rundeten das Ganze ab und mit etwas Geld in der Tasche und Kopfhörern in den Ohren, aus denen die Jahreszeiten Vivaldis dröhnten, lief sie los.
Auf dem Weg die Straße hinab beobachtete sie, wie die Sonne noch immer ihr Wechselspiel mit den schneeweißen Wolken vollführte und neben dem Geräusch ihrer Schritte auf dem rauen Asphalt war einzig und allein noch das Pfeifen des Windes zu vernehmen. Die kühle Luft wirbelte um ihr Gesicht herum und die Wangen der jungen Frau wurden ein wenig rosiger, als sie es ohnehin schon waren. Mit zusammengekniffenen Augen lenkte sie ihren Blick auf die Häuser um sie herum und erinnerte sich, wie sie als Kind schon durch diese Straßen gelaufen war. Nichts hatte sich verändert. Weder die beeindruckenden Berge, die das Tal mit dem kleinen Dorf darin umgaben, noch die Häuser an sich. Sie waren klein mit schäbigen Fassaden, verkommen, so als würde sich niemand um sie kümmern. Um einige Häuser rankte sich Efeu und auf so manchem Fensterbrett stand noch der ein oder andere kleine Blumentopf mit im Wind wehenden bunten Blumen, die das einzige Indiz dafür waren, dass die Gebäude noch bewohnt waren. Die Mischung aus rauen Fassaden und geblümten Fenstervorhängen gab den Häusern ein verspieltes Aussehen, fast schon märchenhaft, so als seien sie einem Kinderbuch entsprungen und willkürlich in der tristen Natur platziert worden, wo sie sich, wie die hier lebenden Bewohner dazu entschlossen hatten, ihre Wurzeln zu schlagen. Wer hier sesshaft geworden war, der würde diesen Ort wahrscheinlich auch nicht mehr verlassen. Doch es war kein Gefängnis. Die Menschen hier strotzten geradezu vor Lebensfreude und Energie, waren so unschuldig und lieblich wie die Blumen, um die sie sich so hingebungsvoll kümmerten. Der jungen Frau entwich ein Seufzen. Wurzeln waren immer etwas gewesen, wonach sie sich gesehnt hatte. Doch gefunden hatte sie diese nie, war immer wie eine Getriebene von Ort zu Ort gereist, von Mensch zu Mensch, von Chaos zu Chaos.
Ohne Wurzeln in dieser Welt, nichts, das sie daran band, ohne Anker, schien das Leben für sie nur ein Zwischenstopp zu sein.
Ein Zwischenstopp, wie es ihr Dorf für einen streng aussehenden Mann im Anzug hätte sein sollen. Nachdem er lange Zeit überlegt hatte, ob er es ohne Zigaretten wohl noch die restlichen Kilometer zum Krankenhaus schaffen würde, hatte er sich zähneknirschend dazu entschlossen, die Abfahrt zu nehmen, um seinen Vorrat aufzustocken. Ohne sonderlich auf Verkehrsregeln oder Geschwindigkeitsbegrenzungen zu achten war er in wenigen Minuten auf dem Parkplatz vor dem kleinen, schäbig aussehenden Supermarkt gelandet, den er zu betreten eigentlich wenig Lust hatte. Der Laden wirkte wenig einladend, doch er wusste, wie unrealistisch es war, dass er das bevorstehende Treffen ohne die dringend benötigte Nikotinzufuhr überleben würde, also hielt er an. Zigaretten. Er hasste dieses Laster. Es war alles, was aus seinen drogengetränkten und wilden Jugendtagen noch übriggeblieben war, und es schien an ihm zu kleben, wie all die schlechten Erinnerungen, die er aus dieser Zeit mitgenommen hatte. Erinnerungen, die er jetzt nicht mehr in Alkohol oder Drogen zu ersticken versuchte, egal wie sehr es ihn reizte.
Mit etwas zu viel Schwung öffnete er die Autotür und sprang aus dem Wagen, knallte die Tür zu, sodass das Geräusch über den gesamten Parkplatz zu hören war und ging mit zusammengezogenen Augenbrauen den Weg zur Ladentür. Mit mürrischem Blick trat er hinein, die Augen ausschauhaltend nach den kleinen erlösenden Schachteln mit den widerlichen der Abschreckung dienenden Bildern darauf. Er war der einzige Kunde und zwischen den hohen voll beladenen Regalen entschied er sich dazu, noch nach einer kleinen Entschädigung für seine Freundin zu suchen.
Er hatte sich am vorherigen Abend mal wieder nicht sonderlich charmant verhalten und was er nicht mit seinem Charme ausbügeln konnte, konnte ihm wenigstens sein Geld retten. Also überhäufte er sie immer mit irgendwelchen überteuerten Geschenken, die von Pralinen bis hin zu Diamantohrringen variieren konnten. Es war einfach. Je größer der Streit, desto größer natürlich die Entschädigung. Wie viel ihn das kostete, kümmerte ihn nicht, denn sie war genau das, was er brauchte. Eine hübsche und vorzeigbare Frau, die man ungeniert der Gesellschaft präsentieren konnte. Er hatte Jessica auf einer der Benefizgalas kennengelernt, zu denen sein Vater ihn immer geschleppt hatte und nach einiger Zeit der Freundschaft waren sie sich immer nähergekommen. Sie liebte ihn so sehr, dass sie ihm alles verzieh, solange er ihr die richtigen Geschenke kaufte.
Da der Laden dem Dorf angemessen klein war, stand nicht sonderlich viel zur Auswahl und er musste sich wohl oder übel mit dem lächerlich kitschigen Teddybären mit einer roten glitzernden „I love you“- Aufschrift begnügen. Stirnrunzelnd blickte der Mann auf das Kuscheltier in seiner Hand und verdrehte innerlich die Augen über das überteuerte und grässlich klischeehafte Geschenk, wusste jedoch gleichzeitig, dass es seinen Zweck erfüllen würde. Gerade als er den Blick wieder hob und zur Kasse gehen wollte, deutete die kleine Glocke über der Ladentür an, dass ein weiterer Kunde hereingekommen war. Entgegen seiner Erwartung, hier nur alte Menschen in hässlichen bunten Strickwesten und Pullundern anzutreffen, betrat eine junge Frau den Laden. Sein Blick fiel auf ihren knallroten übergroßen Strickpullover. >>Nicht sonderlich viel besser.<< Ohne dem fremden Mann auch nur einen Blick zuzuwerfen, ging sie zielstrebig zur Tiefkühltruhe. Er stand da und beobachtete sie, wie sie ihre Kopfhörer aus den Ohren zog und sich nach den Pizzen in der Truhe bückte. Sie schien weder ihn, noch seinen Blick überhaupt zu bemerken, so als wäre sie in ihrer ganz eigenen Welt gefangen. Gefesselt von ihrem geradezu unscheinbaren Anblick fiel es ihm schwer, sich loszureißen, doch er wollte weder dem schäbigen Laden, noch der unscheinbaren Frau noch mehr seiner kostbaren Zeit opfern und ging zielstrebig in Richtung Kasse, um der Frau und dem Dorf so schnell wie möglich wieder den Rücken zu kehren. Er wollte das bevorstehende Treffen möglichst schnell und bald hinter sich bringen könnte.
Gerade als er noch im Gehen sein Portemonnaie zückte, um den Bären und die Zigaretten zu kaufen, schien die Frau ebenfalls zur Kasse treten zu wollen und war damit um wenige Sekunden schneller als er. Innerlich verfluchte er sich dafür, dass er Zeit damit verschwendet hatte, das verdammte Geschenk auszusuchen und die unbekannte Frau anzustarren, da er doch eigentlich schon längst wieder unterwegs sein wollte. Sie legte zwei Pizzen und eine Schachtel Zigaretten auf die Theke und zückte das Geld aus ihrer Hosentasche während sie ihn immer noch keines Blickes würdigte. Dabei stand er doch direkt neben ihr. Ein wenig kränkte es ihn. Immerhin zog er die Blicke normalerweise geradezu auf sich. Sie schien jedoch vollkommen resistent zu sein gegen seinen Charme oder besser gesagt den Charme seines Auftretens und seines teuren Anzugs. Stattdessen widmete sie der alten Frau hinter dem Tresen ein halb erzwungenes schiefes Lächeln, bei dem die Furche zwischen ihren Augenbrauen für einen kurzen Augenblick zu verschwinden schien. Die ältere Frau tippte die Preise der Einkäufe manuell in eine heruntergekommene Kasse ein und ließ sich dabei keineswegs aus der Ruhe bringen von dem ungeduldigen Auftreten des jungen Mannes. Seelenruhig wechselte sie das Geld der jungen Frau und fragte anschließend noch mit großmütterlicher Stimme, wie es ihr ginge. >>Verdammt, dafür habe ich keine Zeit.<< Ohne die Antwort der jungen Frau abzuwarten, riss dem Mann der Geduldsfaden und er schmiss deutlich zu viel Geld für seine Einkäufe auf den Tresen, um dann mit einem entnervten Seufzen zügigen Schrittes einfach den Laden zu verlassen. Das Geräusch seiner teuren Lederschuhe auf dem Boden einzig übertönt durch das Läuten der Glocke, die über der Ladentür hing. Als er gerade fast schon sein Auto erreicht hatte, wurde er plötzlich durch das energische Rufen einer wütenden Stimme aufgehalten. Die Augen verdrehend drehte er sich um und erblickte die junge Frau, die strammen Schrittes und mit noch bitterer verzogener Miene auf ihn zukam. Die Furche zwischen ihren Brauen war nun noch ausgeprägter zu erkennen und ihre Lippen waren streng zusammengepresst, als sie ihn wutentbrannt anschaute, als hätte er grade vor ihren Augen einen Welpen getreten.
„Entschuldigen Sie bitte, aber was genau haben Sie sich gerade dabei gedacht?“
In ihrem Blick standen Wut und Anschuldigung und ihre Stimme war härter, als er erwartet hätte. Viel zu bestimmt und tief für die zierliche Frau, doch es passte zu ihrem Auftreten.
„Hören Sie mal zu-“, wollte er die bevorstehende Diskussion gleich abwenden.
Die Frau jedoch ließ ihm nicht einmal die Möglichkeit einer Stellungnahme, da ergriff sie gleich wieder das Wort. Diesmal mit noch bestimmterer Stimme und noch vehementer.
„Nein Sie hören mir zu! Was fällt Ihnen eigentlich ein? Denken Sie etwa, die ganze Welt dreht sich nur um Sie? Dass jeder spurten muss, wenn Sie angerannt kommen, nur weil sie es zufälligerweise eilig haben? Dass es in Ordnung wäre, einfach Geld auf einen Tresen zu werfen, und heraus zu stürmen, ohne ein gottverdammtes Wort zu sagen? Sind Sie sich dafür etwa zu schade? Das war vollkommen…vollkommen.“ Sie stockte.
Die plötzliche Verlegenheit um Worte nahm ihrem Monolog jeglichen Wind aus den Segeln. Er fand die Situation lächerlich. Immerhin hatte er deutlich mehr als genug Geld dagelassen und war nun einmal in Eile. Da könnte man ihm ein wenig mangelnde Höflichkeit wohl verzeihen.
„Ich glaube das Wort, nach dem sie suchen, ist ‚inakzeptabel‘. Genauso inakzeptabel übrigens, wie einen fremden Mann grundprinzipiell grundlos auf offener Straße anzuschreien.“
Seine Stimme war ebenso fest, wie die ihre, nur wurde er nicht laut. Ausdruckslos blickte er in ihr Gesicht und beobachtete, wie ihre Nasenflügel leicht zitterten bei jedem Atemzug, den sie nahm. Er nutzte die Gelegenheit, sie etwas näher zu mustern und stellte fest, dass sie tatsächlich sehr schön war hinter ihrer Maske aus abweisender Bitterkeit. Kurz brach eine Wolkendecke auf und ihr Gesicht wurde in warmes Sonnenlicht getaucht, das ihre weichen Gesichtszüge betonte und das satte Grün in ihren Augen hervorbrachte. Sie musste gerade einmal um die 20 sein und dennoch wirkte alles an ihr viel älter. Der grässliche Strickpulli fiel an ihrer zierlichen Statur herab, wie ein Sack, sodass sie darin zu versinken schien. Ihre Gestalt schien ein wenig gekrümmt zu sein, so als habe sie Schmerzen vom Aufrechtsein und ihre zarten Finger klammerten sich an die Kartons der Pizzen, als würde sie sich daran festhalten. Sie musste seinen musternden Blick bemerkt haben, denn sie zog nur prüfend eine Braue nach oben, wobei kein bisschen der Härte aus ihrem Blick zu verschwinden schien. Sie standen sich so einige wortlose Sekunden gegenüber. Erst dachte er, sie wolle noch etwas sagen, doch dann schien sie die unausgesprochenen Worte einfach herunterzuschlucken, drehte sich schnaubend um und verließ entschlossenen Ganges den Parkplatz in Richtung Straße.
Kopfschüttelnd riss er sich von der immer kleiner werdenden Gestalt der Frau ab und öffnete seinen Wagen, die kitschige Plüschfigur unbedacht auf den Beifahrersitz werfend und setzte sich selbst auf den Fahrersitz. Er startete den Motor nicht gleich, schien noch ein wenig gefangen in dem seltsamen Aufeinandertreffen mit der Frau. Mit einem verächtlichen Blick riss er die Packung Zigaretten auf und steckte sich sogleich eine an. Er hasste diese widerlichen Bilder, die sie zur Abschreckung auf die Packungen druckten, doch er ging nicht davon aus, dass es tatsächlich Leute gäbe, die sich von diesen abschrecken ließen. Ein Blick auf die Uhr ließ ihn entnervt seufzen und den Motor anlassen. Er hatte viel zu viel Zeit hier verschwendet. Also müsse er wohl mal wieder einige Verkehrsregeln missachten, um es noch rechtzeitig ins Krankenhaus zu schaffen. Die Wolkendecke zog sich gerade wieder zu, als er vom Parkplatz runter auf die Straße fuhr und mit leerem Blick durch die Scheibe starrte, während er sich innerlich auf das bevorstehende Treffen vorzubereiten versuchte.
Mit harten und stampfenden Schritten lief sie die Straße zurück hinauf zu ihrem Haus, ihre kurzen und heftigen Atemzüge lediglich unterbrochen von einem gelegentlichen Schnauben, während sie sich innerlich über den fremden Mann echauffierte. >>Was für ein arrogantes Schwein! Gottverdammter Anzugträger! Wie ich solche Menschen hasse!<< Genervt verdrehte sie die Augen und verfluchte ihre vorherige peinliche Wortverlegenheit. Normalerweise war es für sie mehr als einfach, sich angemessen zu artikulieren, vor allem, wenn es darum ging, jemandem die Leviten zu lesen. >>Dass solche aufgeblasenen Schnösel auch immer denken müssen, ihnen gehöre die Welt.<< Ihrem strammen Schritt zu verdanken stand sie nach nur wenigen Minuten wieder vor ihrer Haustür und kramte ungeschickt in ihrer Hosentasche nach ihrem Schlüssel, während sich ihr Herzschlag langsam wieder beruhigte. Streitgespräche waren für sie schon immer eine Herausforderung gewesen, was sich danach deutlich an ihren verschwitzten Händen und den geröteten Wangen ablesen ließ.
In einer etwas uneleganten Bewegung öffnete sie die Tür und versuchte die Pizzakartons in einer Hand balancierend das Gleichgewicht nicht zu verlieren, als sie die Tür mit einem Fuß wieder zutrat. Der Knall ließ sie ein wenig aus ihrer Wut aufschrecken und sie ärgerte sich über ihr Temperament, das jedes Mal mit ihr durchging, sobald der kleinste Konflikt auftrat. Den Schlüssel warf sie in eine kleine grüne Holzschale, die auf der dunkelbraunen Kommode neben ihrer Tür stand. Nach wenigen Schritten, die sich auf dem dunklen Holzboden ihres Wohnzimmers noch wütender anhörten, als auf dem grauen Asphalt der Straße, legte sie ihre Einkäufe in der Küche ab und schmiss ihre dünne Jacke achtlos über den zierlichen braunen Holzstuhl, der etwas deplatziert wirkend neben dem kleinen runden Esstisch stand. Sie stockte. Der Stuhl passte keineswegs zu ihrer restlichen Einrichtung, weder farblich, noch vom Design. Er hob sich unelegant vom dunklen Ebenholz der restlichen Küche ab und ging inmitten der kräftigen Farben regelrecht unter. Aber dennoch hatte sie es nie übers Herz gebracht, ihn wegzugeben. Sie kannte jede einzelne Furche darin, konnte die Maserung aus dem Gedächtnis nachzeichnen und jeder noch so kleine Makel war ihr bekannt und sie liebte jeden einzelnen davon. Dieser fast schon winzige hellbraune Stuhl mit seiner unbequemen Rückenlehne und dem aschigen Farbton war eine der wenigen Sachen, die ihr noch von ihren Eltern geblieben waren. Ein Relikt aus Zeiten, an die sie sich kaum erinnern konnte, eine zugleich schmerzhafte Erinnerung an das, was sie verloren hatte, aber gleichzeitig ein tröstender Rückzugsort, wenn ihr die Welt außerhalb über den Kopf gestiegen war. Wenige Zentimeter über ihrer Augenhöhe war an der Wand über dem Stuhl ein unscheinbares kleines Foto angebracht. Es zeigte einen dunkelhaarigen Mann um die 30 Jahre auf besagtem Stuhl sitzend, der über beide Ohren strahlt mit einem ebenso lächelnden Kleinkind mit widerspenstigen roten Locken auf seinem Schoß. Als das Bild geschossen wurde, war sie um die 3 Jahre alt gewesen, hatte ihr junges Leben in vollen Zügen genossen und hatte auch allen Grund dazu gehabt, so zu strahlen, wie sie es auf dem Foto tat. Nicht lange danach war es geschehen, dass ihr all diese Dinge genommen wurden und auch heute noch, wenn sie auf das Bild blickte, sehnte sie sich mit ganzem Herzen nach diesem Glück, das sie seitdem nicht mehr empfunden hatte.
Nachdem sich ihre Augen wieder von dem Bild gelöst hatten, war ihre Wut komplett verflogen. Stattdessen machte sich das Gefühl von allumfassender Einsamkeit in ihr breit und sie musste sich anstrengen, den Kummer nicht Überhand gewinnen zu lassen. Den Arm auf dem robusten Holz des Tisches abgestützt starrte sie in die Leere und versuchte, ihre Atmung zu beruhigen und keine Tränen kommen zu lassen. Es war nicht so, als würde sie ihre Trauer nicht ausleben, das hatte sie durchaus getan, sogar in großem Maße, aber irgendwann hatte sie gemerkt, dass es nicht besser werden wollte, egal wie viel Zeit sie sich ließ. Sie kam nicht mehr alleine aus ihrer Depression hinaus, wenn sie sich ihr hingab, also tat sie von da an ihr Möglichstes, um ihre emotionalen Ausbrüche zu vermeiden. Einige Zeit hatte es funktioniert und sie hatte begonnen, sich besser zu fühlen, hatte wieder atmen können. Doch über die Jahre hinweg hatte sich eine beißende Apathie in ihr breitgemacht und in all ihrer Verzweiflung hatte sie das Laster mit offenen Armen begrüßt. Sie hatte keinen Weg gefunden, mit dem Schmerz klarzukommen, also flüchtete sie sich von da an in die Taubheit und tat dies immer noch, sobald sie den Funken von Kummer verspürte. Es war nicht gesund, das wusste sie, aber sie hatte es aufgegeben, zu versuchen, glücklich zu werden.
Nachdem sich ihre Atmung langsam wieder beruhigt hatte und sie sich sicher war, dass sie ihre Tränen zurückhalten könnte, entspannte sich ihr Körper. Sie wusste, dass sie allein war und, dass ihr niemand beistehen würde, aber sie konnte ihre Augen nicht davon abhalten, sehnsüchtig um sich zu blicken, suchend nach einer tröstenden Umarmung oder wenigstens nur einer Stimme, die ihr sagen würde, dass alles wieder gut werden würde. Vielleicht war es menschlicher Instinkt, in solchen Situationen nach Beistand zu suchen, nach Hilfe zu suchen, oder vielleicht übernahm ihre Einsamkeit auch langsam nur die Überhand. Sie wusste nicht mehr, ob sie sich einfach nach menschlichem Kontakt und nach Nähe sehnte, oder ob sie langsam verrückt wurde, und es interessierte sie auch nicht mehr. Sie war an dem Punkt angekommen, an dem es ihrer Meinung nach unsinnig war, sich um solche Banalitäten zu sorgen, also tat sie es auch nicht. Die verschwitzten Hände an ihrem Strickpulli abwischend, atmete sie tief durch und versuchte diese Gedanken vorerst beiseite zu schieben.
Mit dem Rücken an die Autotür seines Wagens angelehnt stand Ian auf dem großen Parkplatz des Krankenhauses. Entgegen seiner Erwartung war dieser fast leer, was sich perfekt in die sonstige Szenerie seiner Umgebung einordnete. Nur wenige Autos standen vollkommen verlassen und verstreut auf dem Parkplatz, sie alle waren grau, silbern, oder schwarz und passten so zum wolkenverhangenen Himmel über ihnen. Die Luft schien unendlich geladen, machte alles schleppend und kein Vogel flog am Himmel und nicht ein Windhauch blies. Vom Stummel seiner gerauchten Zigarette stieg noch immer ein wenig Rauch auf. Er hatte sie achtlos auf den Boden geworfen und sich nicht einmal die Mühe gemacht, sie mit dem Fuß auszutreten. Jetzt stand er nur da, die Arme verschränkt, einen nicht grimmigen aber besorgt nachdenklichen Gesichtsausdruck aufgelegt und beobachtete aus einem Meter Entfernung, wie der Rauch nach wenigen Metern im Grau des Himmels unterging. Nach einigen Momenten, die er an seinen Wagen angelehnt verharrt hatte, strich er sich mit den Händen übers Gesicht, um wieder aus seiner Lethargie herauszukommen. Er war sonst kein Mann, der sich allzu lange von einer Situation aufhalten ließ, aber die stickige und geladene Luft gepaart mit seiner Unlust auf das bevorstehende Treffen mit seinem Vater hatten ihn unheimlich träge gemacht. Er fühlte sich auf einmal um Jahrzehnte gealtert, aber dennoch unwissend wie ein Kind. Im Weggehen drückte Ian den Knopf an seinem Schlüssel, um seinen Wagen abzuschließen und registrierte das Piepsen des Wagens nur noch peripher. Mit jedem Schritt, den er machte, wuchs die Anspannung in ihm erheblich und er hatte das Gefühl, sein Herz würde gleich stehenbleiben. Er versuchte sich durch tiefe und langsame Atemzüge zu beruhigen, doch gleichzeitig schrie jedes Molekül seines Körpers, dass er sich einfach umdrehen solle. >>Jetzt reiß dich endlich zusammen. Du bist schneller wieder draußen, als du schauen kannst und dann musst du ihn nicht mehr sehen. Es sind immer wieder die gleichen Dinge, die er sagt. Du kennst dich damit aus. Du kannst das. Du kannst das.<< Er wiederholte sein simples Mantra innerlich, um seinen Herzschlag zu beruhigen, und um Mut zu sammeln. Wenige Schritte vor der Eingangstür wischte er sich seine mittlerweile verschwitzten Hände achtlos an seiner dunkelgrauen Anzughose ab und betrat das große Gebäude. Inmitten der rauen Natur wirkte es so unbeholfen und deplatziert, dass man kaum glauben konnte, dass hier einige der besten Ärzte des Landes beschäftigt waren. Die grellen weißen Wände blendeten Ian, als er die ersten Schritte zum Empfangstresen lief, und seine Laune verschlechterte sich augenblicklich. Dass der Empfangstresen nicht besetzt war, schien ihm den Rest zu geben. >>War ja klar. Drecksladen.<< Sein Vater hatte ihm natürlich nicht gesagt, in welchem Zimmer er lag, also musste Ian dies erst ausfindig machen. Die Augen auf den dunkelgrauen Teppich unter seinen Schuhen gelenkt, bemerkte er die junge Frau erst nicht, die ihn jedoch gleich noch einmal etwas energischer ansprach. „Guten Tag, was kann ich für Sie tun?“ Aus seinen Gedanken gerissen blickte der junge Mann etwas verdutzt auf und kniff sofort die Augen zusammen, als das Weiß der Wände ihn wieder blendete. Die Empfangsdame war noch sehr jung und machte keinen Hehl daraus, dass sie den jungen Mann vor ihr interessant fand. Sie versuchte einen Schmollmund zu machen, was Ian aufgrund ihrer schmalen Lippen als etwas kläglich empfand und klimperte mit ihren Wimpern. Innerlich verdrehte er die Augen und versuchte, sich zusammenzureißen und die junge Frau nicht zu blamieren. Also setzte er sich ein gezwungenes höfliches Lächeln auf und fragte nach der Zimmernummer seines Vaters. Die Frau drehte sich ein wenig, um im Computer nachzuschauen, wobei ihr Pferdeschwanz leicht wippte. Mit ihren zierlichen blassen Fingern tippte sie kurz auf der Tastatur und drehte sich dann mit einem reizenden Lächeln zurück zu Ian um. „Zimmer 204 im zweiten Stock.“ Mit einem kurzen Nicken und einem mehr geflüsterten „Danke“ wandte der junge Mann sich ab und wollte gehen. „Soll ich Sie hinführen?“ Mit hoffnungsvollen Augen blickte die Empfangsdame zu ihm und klimperte erneut mit den Wimpern. „Danke, ich finde es alleine.“ Ihren enttäuschten Gesichtsausdruck registrierte er kaum noch und machte sich davon. Er spürte ihre Blicke noch in seinem Rücken, doch das war ihm egal. Seine Verärgerung über die Verzögerung war schon wieder verflogen und machte dem flauen Gefühl in seinem Magen Platz, das er immer verspürte, wenn er sich seinem Vater stellen musste. Die große Empfangshalle war sehr minimalistisch eingerichtet und offen strukturiert, sodass man über den gesamten Eingangsbereich blicken konnte. Außer ihm waren nur sehr wenige Menschen dort. Einige waren alleine und saßen in Ecken, um zu lesen oder außerhalb des Trubels der meist überfüllten Cafeteria etwas zu essen. Andere saßen zusammen und unterhielten sich, manche lachten, doch er nahm keines der Geräusche wirklich wahr. Selbst die Menschen registrierte er nur wie schemenhafte Silhouetten während er zum Aufzug lief. Dieser stach aus der sonst blanken weißen Wand hervor. Im gesamten Eingangsbereich standen nur zwei grüne Pflanzen und Ian konnte auch nur zwei wenig bunte Gemälde an den Wänden ausmachen. Es wirkte alles so surreal auf ihn, dass er sich wie in Trance bewegte.
Er war alleine im Aufzug und starrte lethargisch sein Spiegelbild an, das mit leeren Augen zurückblickte. Seine Tränensäcke führten ihm seinen Schlafmangel vor Augen, sein Bartschatten ließ ihn fahl aussehen und seine Wangen waren etwas eingefallen. Außer ihm fiel das niemandem auf, denn niemand schaute ihn so aufmerksam an. Die Männer blickten nur neidisch auf die teure Uhr und den teuren Anzug und die Frauen sahen in ihm nur Geld und Macht gepaart mit einem hübschen Gesicht. Wie viel Kummer darin geschrieben stand, interessierte niemanden und er hatte aufgegeben, nach der Person zu suchen, die hinter die Fassade blickte. Vor langer Zeit war Jessica diese Person für ihn gewesen. Mit einem Seufzen wandte er den Blick ab und trat nach draußen. Da die Gänge gut ausgeschildert waren, hatte
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Tag der Veröffentlichung: 29.06.2018
ISBN: 978-3-7438-7372-8
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für meine Mutter, die mich gelehrt hat, zu leben und auch loszulassen.