Es war ein schöner, unschuldiger Sonntagmorgen, wie er in einem Bilderbuch nicht hätte eine bessere Figur abgeben können. Die Sonne schien und ich konnte es nicht unterlassen, stetig vor mich hin zu lächeln. Vielleicht waren daran die warmen Strahlen der Sonne Schuld oder aber vielleicht auch der leicht kühle Wind, der mich von allen Seiten her in sich einhüllte.
Ich lief euphorischen Schrittes die Bürgersteige dieser Stadt entlang und erfreute mich des Tages. Die nächsten Stunden verbrachte ich damit die Schaufensterauslagen zu betrachten, mich damit zu begnügen, nur die Auslagen anzuschauen, statt etwas zu kaufen, und die an mir vorbei schlendernden Menschen mit ihren unzähligen Einkauftüten zu beobachten, während ich auf einer Bank saß und eine Kugel Vanilleeis genoss.
Nachdem mein Eis vollständig den Weg von meiner Hand in den Mund gefunden hatte, lehnte ich mich zurück und schloss die Augen. Ich hörte, wie Menschen geschäftig, gemäßigten oder hetzenden Schrittes an mir vorbei gingen, wie die Geräusche der Lebenden, sobald sie in meine Nähe gelangten, lauter wurden und dann wieder leiser, wenn sie vorüberzogen, wie zwei Hunde kläffend miteinander rangen, wie ein Kleinkind schrie und die Mutter verzweifelt versuchte, es zu beruhigen, wie zwei Frauen kichernd an mir vorbeizogen und wie Vögel im Baum ihre Melodie zwitscherten. Ich schwelgte in diesem andauernden Summen meiner pulsierenden und lebendigen Umgebung und gab mich diesem hin. In mir wurde es plötzlich ganz ruhig und eine wohlige Leere breitete sich in mir aus. Die Welt in mir war plötzlich so still und friedlich und kreiste in jenen Sphären, die nur in solchen Momenten, wie diesen, zu erreichen waren. Und das alles trotz dieser eigentlich eher unruhigen Atmosphäre um mich herum.
Auf einmal spürte ich, wie jemand neben mir Platz nahm, und die Geschichte nahm ihren Lauf. Durch diesen Störenfried wurde ich wider Willen zurück in die Wirklichkeit katapultiert, da jeglicher Versuch zurück in die Sphären der völligen Glückseligkeit zu gelangen scheiterte. Enttäuscht schlug ich meine Augen auf. Viel zu schnell war ich aus meiner inneren Idylle gerissen worden, in der ich es mir gerade so gemütlich gemacht hatte. Mit einem leicht erbosten Seitenblick nahm ich den Übeltäter neben mir in Augenschein.
Statt aber ein böses Wort über diesen zu verlieren, packte mich das Entsetzen mit voller Wucht. Mit vor Schreck geweiteten Augen starrte ich die Person neben mir an. Anscheinend schien die Person meinen Blick zu spüren, denn nun drehte sie sich leicht zu mir und bedachte mich mit einem schelmischen Grinsen. Mehr brauchte es nicht und mein gesamtes Gesicht errötete vor Scham. Meine Augen starrten nun mit solcher Beharrlichkeit die grauen Steine mit Grasbewuchs zwischen den Fugen an, als wären sie ein bedeutendes Kunstwerk der Weltgeschichte. Nie in meinem ganzen Leben hatte ich mir so sehr gewünscht, einmal wirklich im Erdboden versinken zu können.
„Hallo.“, raunte eine Stimme an meinem Ohr. Ich zuckte zusammen und mir stellten sich die Nackenhaare beim Klang der dunklen, rauen Stimme auf. Nie wieder hatte ich diese Stimme hören wollen. Zwar erwiderte ich die Begrüßung nicht, jedoch sprach mein hochroter Kopf, der noch einen Farbton dunkler wurde, Bände. Nie wieder, so hatte ich gehofft, müsste ich dieser Person in diesem Leben hier begegnen. Mit der Annahme hatte ich wohl gründlich daneben gelegen.
Alles war an einem Sonntag, wie diesem hier, geschehen. Mit Freunden war ich auf einer Feier gewesen und hatte an diesem Abend eindeutig zu viel von diesen Mischgetränken getrunken, die mir gar nicht gut bekommen waren. Zwei Freundinnen hatten sich zwangsweise bereit erklärt, mich nach Hause zu begleiten, jedoch nach den ersten Metern war klar gewesen, dass wir es zu Fuß wohl nie bis dahin schaffen würden. Dazu muss ich anmerken, dass meine Freundinnen an diesem Abend auch ein wenig getrunken hatten und dass ihre Hemmschwelle, jemanden um Hilfe zu bitten, dadurch deutlich verringert worden war. Selbst wenn es sich bei diesem jemand, um jemand ganz und gar Fremden handelte. So hielten sie kurzerhand das nächstbeste, vorbeifahrende Auto an und fragten den Besitzer dessen, ob er sie vielleicht ein Stück mitnehmen könnte, da sie nicht mehr genug Geld für ein Taxi übrig hätten. Der Jemand willigte ein und meine Freundinnen stiegen bedenkenlos ein mit mir im Schlepptau natürlich. Im Nachhinein hätte ich sie für diesen Schritt erwürgen können, denn was nun geschah, geschah einfach aus einem natürlichen Reflex eines Menschen heraus.
Sobald der Wagen anfuhr, begann es schon in meinem Magen zu rumoren. Ich lallte ein paar Worte des Widerspruchs vor mich hin, aber ein wenig zu spät, denn ich saß ja schon im Auto und in meinem Zustand wäre ein Alleingang zu Fuß nach Hause nicht möglich gewesen. Der Wagen fuhr, wie sich ganz deutlich in meiner Erinnerung abzeichnet, viele Kurven, zu viele Kurven für meinen Geschmack. Plötzlich begann sich die Welt um mich zu drehen und es kam mir so vor, als führe ich nicht in einem Auto mit, sondern in einer Achterbahn. Hoch und runter, von links nach rechts und wieder zurück bewegte sich mein Blickfeld bis mir das Missgeschick geschah. Die vielen Mischgetränk meldeten sich bei dieser irrsinnigen Fahrt zu Wort und baten darum aussteigen zu dürfen. Was sie dann auch taten. Näheres dazu möchte ich nicht erläutern, denn allein die Erinnerung daran treibt mir die Schamröte ins Gesicht.
Zumindest soviel sei gesagt, nachdem die Mischgetränke meinen Mund verlassen hatten, mein Magen sich beruhigt hatte, war der Aufruhr der Insassen im Auto groß. Wir, meine Freundinnen und ich, verließen an der nächsten Kreuzung fluchtartig den Wagen und murmelten zum Abschied ein paar entschuldigende Worte. Zum Glück war es von diesem Punkt aus nicht mehr weit bis nach Hause und da mein Magen nun das Unbekömmliche losgeworden war, ging es mir etwas besser und ich schaffte es ohne weitere Missgeschicke nach Hause. Am nächsten Morgen und die nächsten Tage bemühte ich mich darum, das Geschehene zu verdrängen und zu vergessen, was mir bis zu diesem Aufeinandertreffen auch gelungen war.
Wahrscheinlich musste eine kleine Ewigkeit ins Land gezogen sein, denn es hatte begonnen zu regnen, obwohl für diesen Tag reiner Sonnenschein und ein wolkenloser, blauer Himmel angesagt worden war. Kleine Tropfen berührten meine Nase, Wangen und Mund. Ich blickte fasziniert auf meine Hände und beobachtete die kleinen Tropfen bei ihrer Arbeit, die meine Hände nach und nach nasser werden ließ. Plötzlich ergriff mich wieder eine Gänsehaut, diesmal aber ausgelöst durch die Kälte, die mit meinen durchnässten Kleidern einher kam. Ich schaute in den Himmel mit den tief hängenden, grauen Wolken über mir und dachte an die Sonne von heute morgen und wie unschuldig alles begonnen hatte. Dann sah ich hinüber zu der Person, die ich nicht hatte wiedersehen wollen an einem Tag, wie diesem.
Aufmerksam blickte mich der Mann, der neben mir Platz genommen hatte, an und ein wissendes Lächeln umspielte seine Lippen. „Soll ich dich vielleicht nach Hause fahren?“, fragte er mit leicht neckendem Unterton. Ich zögerte nicht lange und nickte, da mir einfiel, dass ich meinen Geldbeutel und damit das benötigte Geld für ein Taxi zu Hause gelassen hatte. Ich lächelte ihn schüchtern an und während wir zu seinem Wagen gingen, flüsterte er mir scherzhaft zu: „Dieses Mal musst den Inhalt deines Magen aber in dir behalten, versprichst du mir das?“ Ernst blickte ich ihn an und gab ihm mein Wort. Er lachte und ich lachte mit. Und am Horizont schien sich der dunkle Himmel wieder zu lichten, anscheinend war der Regenschauer nur von kurzer Dauer gewesen.
Bildmaterialien: Leonie D.
Tag der Veröffentlichung: 22.10.2013
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