Der Abend legte sich über Täler und Hügel, über Wälder und Wiesen. Die sinkende Sonne tauchte alles in ein feuerrotes Farbenspiel und gab somit der gesamten Landschaft noch einen letzten warmen Kuss durch ihre rot-goldenen Strahlen, die alles und jenes durchwirkten und diesem einen unheimlichen sowie geheimnisvollen Glanz verliehen. Meine Haare wehten im Takte einer sanften Brise, die sich um meine Kleider wand und sie tanzen ließ. Wiegend und losgelöst von dieser Welt flatterten diese mit dem aufkommenden Lüftchen. Ich schloss meine Augen und atmete tief die vor Hitze schwelende Luft ein. Zwischen meinen Schulterblättern machte sich ein unangenehmes Prickeln breit, das sich nach und nach über meinen ganzen Körper erstreckte. Es kündigte davon, dass es bald regnen würde. Tage wie diese letzten drei waren unerträglich zu ertragen gewesen. Fortwährende Hitze, hohe Luftfeuchtigkeit und brühwarme, stehende Luft bei Tag und Nacht hatten diese drei letzten Tage zu den schlimmsten seit langem gemacht. Niemand war fähig gewesen, auch nur seiner Arbeit im Entferntesten nachzugehen. Alles um mich herum war zum Erliegen gekommen, wie als hätten die Zeiger der Uhr zum Streik aufgerufen und alle, wirklich alle, hätten diesem Ruf gefolgt. Doch meine innere Uhr hatte weiter getickt. Ich hatte Zeit zum Nachdenken, zum Träumen, gehabt. Sogar sehr viel Zeit, denn an Arbeit war bei dieser andauernden Hitze nicht zu denken. Ich hatte über mein Leben sinniert. Mir vorgegaukelt, dass ich etwas Besseres haben könnte, als was ich jetzt hatte. Ich hatte in einem Traum verweilt, der nie wahr werden würde. Oder vielleicht doch, flüsterte erneut die immer wiederkehrende Hoffnung in mir, die ich weder aus meinem Bewusstsein verbannen noch wegdenken konnte, denn ein klitzekleiner Teil in mir wollte ihren Worten, dem Versprechen auf eine glücklichere Zukunft als, wie ich sie vor mir hatte, glauben.
Ein stärkerer Luftstoß erfasste mich von Neuem. Mit ihm wurde meine Hoffnungen und Wünsche davongetragen. Leere, tief verwurzelt und irdisch wohlig, machte sich in mir breit. Nun war Platz geschaffen für die schöneren Dinge meines Lebens. Nämlich die Flucht vor dem Alltag. Für meine Träume, die kamen und gingen, wie es ihnen beliebte, die mich in dem einen Augenblick erfüllten und mich schon im nächsten leer zurück ließen, sobald sie an mir vorbei gerauscht waren. Doch die Momente, wo sie anwesend, ja fast greifbar waren, genoss ich in vollen Zügen. Durch sie wurde meine Seele mit der einzig wahren Kraft des Lebens erfüllt, nämlich die der leisen, unscheinbaren, oft unterschätzten Hoffnung auf etwas Besseres. Ich ließ mich ins vertrocknete Gras fallen und es erschien mir so, als würde ich mich in weichen, flauschigen Wolken betten. Halb versunken in einem weiteren Traum an diesem heißen Sommerabend blinzelten meine Augen in einen mit Blut bestrichenen Himmel, der nicht von dieser Welt zu sein schien, und schließlich schlossen sich meine Lider, damit ich endlich die Pforte der Traumwelt passieren konnte, um die Wirklichkeit nur für einen kurzen Moment vergessen zu können.
Ich erwachte auf einer grün-gelben Wiese mit schwarzen Tupfern oben auf den Spitzen eines jeden Grashalmes. Die in violett getauchte Sonne stach mir in die Augen und ergänzte sich nicht ganz mit dem giftgrünen Himmel. Ich lächelte froh dem Horizont entgegen. Hier war ich in meiner Welt. Hier gelten einzig allein meine Regeln. Mit der Zeit hatte ich gelernt meine Welt zu formen ganz nach meinen Wünschen und Bedürfnissen. Herausgekommen war dabei, dass alles in anderen Farbtönen erstrahlte als üblich, dass Wesen und Menschen anders waren als üblich, dass alles einfach anders war als üblich. Einen Augenblick lang konzentrierte ich mich ganz fest auf ein Bild in meinem Kopf, auf ein Schloss geschaffen nach einem Entwurf und mit den Bausteinen meiner eigenen Fantasie. Ich öffnete meine zuvor geschlossenen Augen und sofort spürte ich, wie mich die Vorfreude auf das erfasste, was gleich kommen würde. Meine Vorstellungskraft und mein Wille formten Kleider aus grau-weißer Seide, denn ich wollte schön sein. Ich warf einen kurzen Blick auf das Innere meines Schlosshofes, der ganz wie auch der Rest des Schloss aus Saphir bestand. Aus den Brunnen im Innenhof plätscherte pures Licht und um dieses schwebten abertausend kleine, summende Geschöpfe. Ihre Sinfonie, das Begrüßungskonzert, das sie mir bei jedem Besuch darboten, erfüllte mich wie jedes Mal aufs Neue mit Glück und vollkommener Zufriedenheit. Meine Aufregung senkte sich und mein wirkliches Ich mit all den Beschwernissen eines Lebens und seinen unerfüllten Wünschen rückte ganz und gar in den Hintergrund. Nun war ich vorbereitet auf das, was jetzt kommen würde. Ich hörte Schritte, würdevoll und in dieser plötzlich eintretenden Stille, als hätte die Welt im gleichen Atemzug wie ich aufgehört zu atmen, so laut wie donnernde Paukenschläge, auf mich zu kommen und mein Herzschlag glich sich den Schritten im Takt an, sodass keine Sekunden sondern Stunden zu vergehen schienen und meine Aufregung einen neuen Höhepunkt erreichte. Und dann auf einmal tauchte er im Torbogen des rechten Nordflügels auf und schritt mit einer Selbstverständlichkeit auf mich zu, die mein Herz noch höher und noch schneller schlagen ließ. Gänsehaut überzog meinen Körper, denn wenn ein Blick von diesen verwegenen, dunklen Augen mich nur streifte, spürte ich die Gefahr, die von ihm ausging. Das alles hier entsprach nicht ganz den Gesetzen der Natur, der Wirklichkeit, das wusste ein kleiner, aber sehr vernünftiger Teil meiner Selbst. Doch in diesem Augenblick ignorierte ich ihn. Alles in mir kribbelte und ich unterdrückte den Impuls, ihm in die Arme zu rennen, die sich so muskulös unter seinem schwarzen Leinenhemd abzeichneten. Ich wollte mich ihm aus einem Gefühl heraus nicht ganz ausliefern, obwohl ich die Herrin dieser Welt war und er nur ein Objekt, das ich für mich zum Vergnügen geschaffen hatte und welches immer mehr einen Platz in meinem Herzen eingenommen hatte. Ich wollte ihn und mich nicht betrügen. Alles sollte irgendwie doch echt wirken, auch wenn das niemals möglich sein würde. Ich konnte diesen Traummann, der ein gutes Bild von einem Mann abgab, zwar nach meinen Wünschen formen, was ich zu Anfang auch verstärkt getan hatte, jedoch nach einiger Zeit hatte ich bemerkt, wie sehr ich mir wünschte, dass es diesen Mann wirklich in meinem Leben geben würde und dass es in diesem dann nicht möglich wäre, ihn nach eigenen Begierden zu formen. So ließ ich diesen Traum geschehen. Verlegene Röte zeichnete sich auf unser beider Gesichter ab. Mein Augenpaar spiegelte sich ebenso vor Liebe funkelnd in seinem wieder. Am liebsten hätte ich ihn gedrückt, ihm alles gebeichtet. Ihm erklärt, dass er nur ein Produkt meiner Fantasie war, aber er würde es nicht verstehen. Wie sollte er auch? Hin und her gerissen diesen Moment einfach nur zu genießen oder ihn mit negativen Gefühlen wie einem schlechten Gewissen zu belasten, entschied ich mich für das Erste, denn dieser Augenblick war einfach zu kostbar, um ihn ungenutzt an mir vorbeiziehen zu lassen. Er schloss mich in seine starken Arme. Drückte mich fest an sich, so als wolle er mich nie wieder los lassen, was ich mir sehnlichst wünschte. Dann flüsterte er mir zärtliche Worte ins Ohr und zog mich mit sich. Und willenlos und betäubt von seinem liebevollen Umgang mit mir folgte ich ihm in eines der vielen Schlafzimmer, damit die Versprechungen, die er mir soeben ins Ohr geflüstert hatte, wahr würden.
Irgendwann fühlte ich, wie sich kühle Nässe auf meiner Haut breit machte, doch wo sie herkam, war nicht einzuordnen. Ich erhob mich und blickte auf den schlafenden Mann neben mir. Wohl war ich mitten im Traum eingenickt. Wie entzückend doch so ein Anblick von einem friedlich träumenden Mann war. Was Traummänner wohl träumten? Vielleicht von ihren Traumfrauen? Ich kicherte leise und wurde aber sofort wieder still, da sich der Mann neben mir zu regen begann. Er sollte nicht wach werden. Die kalte Nässe ergriff mich erneut, diesmal stärker, und ich fragte mich, woher sie wohl stammen mochte. Ich schaute aus dem Buntglasfenster des Schlafzimmers. Regen war dort nicht zu sehen. Eine erschreckende Erkenntnis packte mich. Die Nässe stammte nicht aus dieser Welt, sondern aus der wirklichen Welt, die meiner nicht wohl gesonnen war. Ich war kurz davor aufzuwachen. Ich hatte schon oft versucht, mich davon abzuhalten, hier weg zu müssen, aber jeder Versuch war vergebens gewesen. Ich drückte meinem Traummann zum Abschied einen Kuss auf die Stirn. Ich murmelte Worte, die verlauten sollten, dass ich bald wiederkommen würde, dass er hier auf mich warten solle und dass ich ihn die Zeit über, die ich ohne ihn war, sehr vermissen würde. Denn, was aus mir sprach, waren die Worte einer Liebenden, deren Liebe zu diesem Mann ganz im Ursprung ihres Herzens verankert war. Dann verblasste meine Gestalt immer mehr und ich verließ die Traumwelt mit gemischten Gefühlen, denn mir war bewusst, dass ich etwas zurück ließ, was ich sehr liebte, was ich aber niemals in der Wirklichkeit haben konnte, denn letzten Endes war alles doch nur ein Traum, der entstanden ist aus der Hoffnung und den Wünschen eines einzelnen Menschen.
Bildmaterialien: Leonie D.
Tag der Veröffentlichung: 04.07.2013
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