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Nichts währt ewig

Der Regen trommelte laut gegen die Scheiben der stehenden Straßenbahn. Beständig und unaufhaltsam. Tropfen vereinten sich zu größeren, die traurig das Glas hinabflossen, sobald sie zu schwer waren, so zumindest kam es mir vor. Mein Herz war auch schwer. Nur so strotzend vor Schmerz und ungeweinten Tränen. Ich schaute aus dem Fenster. Die Bahn war immer noch nicht abgefahren. Denn die Schnelllebigkeit der hetzenden Menschen hatte noch nicht mit der berauschenden Geschwindigkeit der Straßenbahn abgenommen. Wann würden die Geschäfte, die Menschen und einfach alles dort draußen in einem bunten Strom aus Farben und Formen miteinander verschmelzen? Ich lehnte mich in meinen Sitz zurück und schloss meine Augen. Irgendwann würde das verdammte Warten ein Ende haben. Irgendwann würde diese ruckartige Bewegung einsetzen, die die Bahn vom ihrem jetzigen Standort zwingen würde. Bloß wann würde das geschehen. In mir baute sich eine Anspannung auf, die mit jeder verstrichenen Sekunde ihrem Siedepunkt näher kam. Bis ich schließlich platzen würde. Ich stellte es mir wunderbar absurd vor, wie ich plötzlich still und geduldig dasitzend in tausend Teile zerspringen würde und keiner der Anwesenden wüsste, was geschehen sein mochte. Ich lächelte verträumt. Dieses groteske Bild erschien mir vor meinem inneren Auge und ich konnte mir selbst dabei zusehen, wie ich in Zeitlupe Stück für Stück in abertausend Teile auseinander stob. Die Vorstellung war wahnwitzig, hatte aber auch etwas Erheiterndes. Für einen kurzen Moment hatte ich hier einfach nur zurückgelehnt im Sitz sitzen und vergessen können, was ich hier eigentlich tat.

 

Schmerz. Dumpfer Schmerz pochte in meinen Adern. Meine Augen tränten, taten weh vom unterdrückten Schmerz. Nicht hier und nicht jetzt, wiederholte ich wie ein Mantra in meinem Inneren. Zu Hause. Bald, wenn du zu Hause bist, kannst du deinen Gefühlen freien Lauf lassen, versprach ich mir. Wie gerne ich jetzt in tausend Teile zerspringen würde, um einfach loslassen zu können. Nie deswegen weinen zu müssen. Verdammt noch mal, schimpfte ich innerlich, wann würde diese Bahn ihre Fahrt antreten und mich für einen kurzen Moment all mein Leid vergessen lassen, wenn die Farben und Formen dieser Welt vor meinen Augen verschwimmen? Meine Finger krallten sich in die Armlehnen. Immer fester und fester. Ich wollte schreien. Der Welt meinen Schmerz überlassen, damit ich frei sein könnte, wenn auch nur für einen klitzekleinen Moment. Ich wand meinen Kopf in Richtung Fahrerkabine. Fünf oder sechs Schritte und ich wäre da bei ihm. Bei dem Mann, der jetzt so seelenruhig und genüsslich seinen Kaffee trank, und ich könnte ihm sagen: „Fahren Sie doch endlich los!“ Aber ich würde brechen. Meine Selbstbeherrschung würde von der tosenden Flut des Schmerzes mitgerissen werden und ich wäre hilflos, verzweifelt, allein mit meinem Schmerz in diesen Fluten gefangen.

 

Meine Muskeln spannten sich an. Die Zeit schritt nur in winzig kleinen Schritten voran, wie es mir mein Gefühl vermittelte. Sandkorn für Sandkorn rann in der Sanduhr hinab. Nicht greifbar. Nicht veränderbar. Immer im gleichen, langsamen Rhythmus der Zeit. Warten würde ich müssen. Warten, wie sehr ich dieses Wort zu hassen begann. Ich konnte nicht mehr warten. Das Fass in meinem Inneren war kochend heiß und bald würde es überlaufen. Und ich wäre dem Schmerz, dem Leid ausgeliefert. Hilflos, verzweifelt, allein. Mein Kiefer spannte sich an. Ich schluckte erneut einen Tränenkloß hinunter. Lange würde ich nicht mehr dagegen ankämpfen können. Kriege tobten in mir. Heiß und leidenschaftlich. Auf der gegnerischen Seite der Schmerz und auf der anderen Seite in einer fallenden Burg verschanzt meine Selbstbeherrschung, mein Ich, so kümmerlich und zerbrechlich, so verletzt.

 

Plötzlich machten mir Kopfschmerzen, pochend und stark, das Denken unmöglich. Meine Verteidigungslinie wurde immer schwächer. Wie ein Kanonenhagel prasselten sie auf mich herein. Meine Hände fuhren an meinen Kopf. Doch gegen den Schmerz waren sie zwecklos. Das Monster wollte ausbrechen. Die Macht über mich an sich reißen. Tränen traten in meine Augen. Die ungeweinten Tränen. Ich konnte sie nicht mehr zurückhalten. Machtlos gegen diese Naturgewalt ergab ich mich ihr. Tränen flossen mein Gesicht hinab. Meinem Schmerz wurde freien Lauf gelassen. Die Kopfschmerzen schwächten ab. Das Leid in meinem Inneren hatte mich besiegt. Die Anspannung fiel, wie nie dagewesen, von mir. Ich fühlte mich auf einmal unendlich frei in diesem Meer aus Schmerz. Es war besser zu weinen, denn nur so konnte man seinen Schmerz überwinden und zum Schweigen bringen. All die unterdrückten Gefühle bis zu dieser Stunde verloren sich in Zeit und Raum. Für mich schien die Zeit stehen geblieben zu sein. In einem leeren Raum stand ich nun ohne jegliches Zeitgefühl zu besitzen mit klarem, schmerzfreien Verstand. Die Gewissheit, die Erkenntnis und die Realität packten mich an den Schultern und holten mich zurück in die wirkliche Welt. Alle Verleumdung, Zurückweisung war vergessen. Sie waren wirklich tot. Gestorben. Ums Leben gekommen. Meine Mutter und mein Vater waren tot.

 

In diesem Moment setzte sich die Bahn in Bewegung. Farben und Formen verschwammen wie gewünscht vor meinen Augen und mir wurde klar, dass ich mich die gesamte Zeit über selbst belogen hatte. Ich hatte nicht glauben wollen, dass meine geliebten Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren. Aber nun wieder zurück in der Wirklichkeit konnte ich mich nicht mehr vor der Wahrheit verstecken. Sie war über mir, wie eine schwebende, tiefschwarze Gewitterwolke, die erst weiter ziehen würde, sobald wieder die Sonne in mein Leben treten würde.

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Tag der Veröffentlichung: 10.06.2013

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