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Prolog



Endlich drängte der Wind die Wolken beiseite und offenbarte einen scheeweißen Vollmond. Er strahlte mir mit hypnotisierender Intensität durch das Laub entgegen. Tausend Klänge drangen in mein Ohr. Ich wartete nur auf ein einziges Zeichen.
Jetzt, wo ich wusste, was dort draußen wohlmöglich mit blutrünstiger Gier auf mich lauerte, wünschte ich mich wieder zurück in die geborgene Umarmung der Ahnungslosigkeit. Ich dachte daran, wie ich als kleines Mädchen gemeinsam mit Kieran den Wald erforscht hatte und schauderte bei der bloßen Erinnerung, wie wir uns manchmal selbst nachts aus den Häusern geschlichen hatten.
Als ich mich seufzend auf dem Waldboden niederlassen wollte, glaubte ich etwas gehört zu haben.
Den näherkommenden Bewegungen lauschend, versuchte ich eine exate Richtung auszumachen. Doch noch bevor eine Gestalt in der trüben Dunkelheit auszumachen war, ereilte mich ein Gefühl, dass es nicht derjenige war, den ich im Schatten erwartete.
Entsetzt blickte ich in ein nur schemenhaft erhelltes Gesicht, bevor sich meine Beine wie von selbst in Bewegung setzten. Ich wusste nicht ob er mir folgte; lief ohne zurückzublicken in die entgegengesetzte Richtung.
Das einzige, was ich deutlich vernahm, war das unerschöpfliche Schlagen meines Herzens, das in diesem Augenblick selbst in meinem Kopf als betäubendes Pulsieren zu spüren war. Ich versuchte schneller zu laufen, leiser zu atmen. Nichts, als mein eigener Tumult war zu vernehmen und dennoch war ich mir sicher, dass er dicht hinter mir war.
Gerade, als ich glaubte, auf der richtigen Spur zu sein, kam der erste Baum zum Fall. Er stürzte wie aus dem nichts vor mir zu Boden und ließ bebend den Wald und jeden meiner Knochen erzittern.
Plötzlich herrschte eisige Stille. Kein Käuzchen schrie. Die Tiere hatten spätestens jetzt bemerkt, dass etwas nicht stimmte. Erschrocken blieb ich stehen, um im nächsten Moment von Panik getrieben meine Richtung zu ändern. Die folgende Strecke terrorisierte meinen Körper mit unzähligen Adrenalinstößen, als immer mehr Bäume vor, neben und hinter mir zu Fall kamen. Die Welt um mich herum schien ein einziges, bedrohliches Beben zu sein. Mein Körper glühte, ich war schweißnass.
Ein plötzliches, immer lauter werdendes Rauschen überraschte mich. Er hatte mich zum Fluss getrieben.
Der Wasserfall. Ich hätte nicht die geringste Chance.
Atemlos kam ich vor den Fluten zum Stehen.
Kalter Nebel schwebte über der rasenden Gischt und tanzte verlockend in den schwindelerregenden Tiefen des Wasserfalls. Verzweifelt irrte mein Blick zwischen Wald und reißendem Strom hin und her.
Und da war er plötzlich. Zwischen den Bäumen. Seine finstere Gestalt näherte sich der meinen mit verdächtiger Gelassenheit. Uns trennten keine 5 Meter mehr.
"Spring!", rief plötzlich eine Stimme in meinem Kopf. Sie war friedlich drängend, doch ich dachte nicht im Traum daran ihr zu folgen. Ich würde lieber im Kampfe untergehen, als mein Leben so zu beenden.
Er kam immer näher. Das vorletzte Sandkorn fiel.
Irgendetwas schwor mir, dass alles Gut werden würde, wenn ich nur endlich sprang und aus einem schier unbegreifbaren Grund glaubte ich diesem Versprechen.
In dem Moment, in dem ich mich umdrehte und absprang während der Jäger zeitgleich nach mir zu greifen versuchte, verfluchte ich mich selbst dafür, einer unentdeckten, selbstmordgefährdeten Stimme in mir Folge zu leisten. Und noch während ich kreischend in die Fluten stürzte, betrauerte ich nicht das, was ich hinter mir ließ, sondern die Tatsache, was mein blindes Vertrauen angerichtet hatte.
"Ein Falle.", sagte mein Kopf.
Doch mein Herz schrie vehemend dagegen an.




Kapitel 1
début



Mit knatterndem Motor kam Charlie auf der Kieseinfahrt der Rosewells zum Stehen. Sie stieg von ihrer alten, heißgeliebten Vespa, zog den Helm vom Kopf und schüttelte kopfüber ihr langes, nasses Haar. Den Schlüssel zwischen ihren Händen hin und herwerfend, nahm sie mit Anlauf die Stufen der alten, weißgestrichenen Veranda und hörte sogleich das vertraute Klingen des Windspiels als sie die Haustür öffnete.
"Hallo", rief sie und warf die Badetasche sowie ihre ausgelatschten Riemchenschuhe auf den kunterbunten Teppich, der die dunklen Holzdielen des Eingangsbereichs bedeckte. Der Plattenspieler erklang aus dem Wohnzimmer und ein begleitendes Singen war aus der Küche zu vernehmen. Charlie zog die Luft ein und lächelte sofort zufrieden, als sie den köstlichen Duft von "Pasta à la Miranda" wahrnahm. Sie machte sich auf den Weg in die Küche, wo ihre Tante, umringt von tausend Kräutern den Kochlöffel schwang. Soweit Charlie sich erinnern konnte, hatte der Raum schon immer in gewisser Weise an ein chaotisches Labor erinnert. Unzählige Essenzen und Kräuter waren allesamt in Glasgefäßen in einem großen Schrankregal aufbewahrt. Nicht nur in der Küche, auch im Rest des Hauses gab es keinen Raum, der nicht mit Kräutern, Quarzen oder Kerzen ausgestattet war. Miranda war Heilpraktikerin und empfing ihre Patienten, meist weiblichen Geschlechts, zu Hause. Amanda, Charlies andere Tante führte eine Tierarztpraxis ganz in der Nähe und teilte das Faible für Esoterik mit ihrer Schwester Miranda. In Charlies Kindheit, hatte sie die Leidenschaft ihrer Tanten zur Spiritualität begeistert, mittlerweile akzeptierte und amüsierte sie diese Hingabe jedoch vielmehr.
“Hier riecht's aber gut.”, sagte sie, warf einen kurzen Blick auf die kochenden Töpfe und gab ihrer Tante gut gelaunt einen Kuss auf die Wange.
"Schätzchen .”, sagte Miranda. “Du kommst genau richtig."
Sie sang weiter, ihre Hüften zu einer ihrer alten Lieblings-LP's schwingend. Charlie grinste und setze sich im Schneidersitz an den rustikalen Holztisch, der von unzähligen Furchen geziert war. Es gab mit Sicherheit keinen Kratzer, der ihr unbekannt war, vor allem, da sie gewiss für einen stolzen Anteil verantwortlich war.
Während Charlie den Tisch deckte, waren vertraute Motorengeräusche zu vernehmen und wenige Augenblicke später gesellte sich Amanda zu ihnen. Ihre blutrotgefärbten, krausen Locken standen von der Motorradfahrt wirr in sämtliche Richtungen ab. Sie trug ihre Lederjacke und die dazugehörigen, abgetretenen, roten Halbstiefel. Ein unverwechselbarer Anblick. Amanda war eine große Frau, schon immer sehr schlank gewesen und hatte eine Charakternase, wie sie so gern sagte. Charlie fand ebenfalls, dass die leichte Hakennase Amandas Schönheit nicht abtat, sie unterstrich viel mehr ihre Persönlichkeit, die alles andere als gewöhnlich war. Im Großen und Ganzen sahen Amanda und Miranda sich kein bisschen ähnlich. Miranda war kleiner als ihre Schwester, hatte kurze, braune Locken und klagte des öfteren über ihre überflüssigen Pfunde. Sie hatte ein sehr feminines Gesicht mit Stupsnase. Was die beiden Schwestern jedoch unbestreitbar verband, waren die hellen, nahezu jadegrünen Augen, um die Charlie sie so sehr beneidete. Zu dem sahen sowohl Amanda als auch Miranda verhältnismäßig jung für ihr Alter aus. Amanda hatte vor zwei Wochen ihren 50ten Geburtstag gefeiert und ihre Schwester war 3 Jahre älter.
“Hab ich einen Kohldampf. ”, verkündete Amanda grinsend, zog sich die Jacke aus und warf diese über die Stuhllehne, bevor sie sich setzte.
“Du hast einen ordentlichen Sonnenbrand mein Schätzchen. “
Ihre Tante strich Charlie über die heißen, rötlich schimmernden Schultern, während diese ihr Teller und Besteck reichte.
Miranda schaltete sich sofort ein. “Ich mach dir gleich nach dem Essen eine Eichenrindentinktur.”, sagte sie und stellte die Töpfe auf den Esstisch.
“Zinköl oder Beinweilsalbe wirken auch wahre Wunder.”, meinte Amanda, eine Spaghetti aus der Schüssel fischend. “Aber zur Not sind auch Aloe Vera und Zitrone...”
Charlie verdrehte grinsend die Augen. Sie wusste was folgen würde.

Gerade als sie nach ihr rufen wollten, kam Charlies kleine Schwester durch das quietschende Tor im Rosengarten gerannt.
Keuchend gesellte Kathy sich zu den anderen. Sofort setzte sie sich auf ihren Platz und strich das blonde, feine Haar aus ihrem dreckverschmierten Gesicht.
“Was gibt's?”, wollte sie wissen. “Ich könnte ein ganzes Renozeros verdrücken.”
So etwas wie “Was ist mit Händewaschen?”, würde Kathy von ihren Tanten vermutlich nicht zu hören bekommen, doch als Charlie die Hände ihrer kleinen Schwester musterte, meinte sie grinsend: “Hey Kätzchen, wasch dir mal die Pfoten, ja?”
Kathy seufzte und trottete dann ins Bad, bevor die vier das Abendessen begannen.
Wie immer herrschte ein rege Unterhaltung unter musikalischer Begleitung.
Irgendwann meinte Charlie, im halben Schneidersitz auf ihrem Stuhl sitzend: “Ich wollte heute übrigens mit Anna und Nela weggehen. Ist das okay?” Sie sah ihre Tanten an.
“Wo wollt ihr hin?”, fragte Miranda.
“Ins Snakes.”
“In Bellfort?”
“Jap.”, antwortete Charlie mit vollem Mund.
“Super Schuppen.”, meinte Amanda, ihre Gabel gestikulierend nach vorne gestreckt. “Was haben wir da nicht gefeiert.” Grinsend sah sie ihre Schwester an.
“Ohja.”, sinnierte diese und ihre Augen leuchteten für einen Moment beim Gedanken an Vergangenes.
“Toll, dass der Laden immer noch unter dem selben Namen existiert."
“Und wie kommt ihr hin, meine Süße? Soll ich euch fahren, oder abholen?”, bot Amanda an.
“Nein, nein.Tom fährt uns. Sie holen mich um halb 10 ab."

Die spärlich-kalte Außenbeleuchtung des Clubs tauchte alles um sie herum in Grautönen, nur Nelas Lippen waren klar und deutlich als rot zu definieren. Charlie sah ihre Freundin an, die sich mit den Fingern durchs Haar fuhr, während sie in der Schlange Wartender langsam vorankamen.
"Ich hab ein gutes Gefühl bei dem Club.", meinte Nela mit einem selbstsicheren, zuversichtlichen Blick.
Charlie betrachtete die in neongrünem Licht leuchtende Schlange über ihnen, deren Eckzähne silbern blitzten. Der Ausdruck der Schlange war dem ihrer Freundin gar nicht so unähnlich. Charlie grinste. Sie kannte Nela gut genug, um zu erahnen, dass diese plante heute ausgiebig zu feiern.
Hinter ihnen waren Anna, Charlies andere, beste Freundin und ihr Freund Tom damit beschäftigt sich gegenseitig zu verschlingen.
"Hach, muss Liebe schön sein."
Ein Seufzen erklang neben ihr und Nela legte einen Arm um sie. Doch Charlie wusste das sentimentale Lächeln ihrer Freundin als nicht ernstzunehmend zu deuten. Nela verzichtete auf Liebe, Spaß reichte ihr für die nächsten Jahre vollkommen aus.
Als sie an den Türstehern ankamen, betete Charlie wie immer darum, ohne Kontrolle durchgelassen zu werden.
Ihr 18ter Geburtstag stand noch vor der Tür, doch meist wurde Charlie älter geschätzt und hatte generell keine Probleme mit Altersbeschränkungen in Clubs. Zumal die Türsteher ihre Freundinnen stets nach ihren Ausweisen fragten, nur Charlie nicht, was äußerst merkwürdig war. Selbstverständlich hatte sie kein Problem damit und amüsierte sich immer wieder aufs neue darüber, obwohl Nela und Anna zu Beginn etwas gekränkt waren, da sie im Gegensatz zu Charlie bereits durchaus volljährig waren.
Dieser Abend verlief nicht anders.
Charlie wurde wie selbstverständlich ohne Schwierigkeiten durchgelassen, nachdem sie dem Türsteher ein kleines Lächeln geschenkt hatte.

Die Köpfe vor ihr neigten sich im pulsierenden Beat der Musik. Das Licht zuckte nervös über ihnen. Rot. Grün. Blau. Nelas Hand reckte sich lasziv in die Luft und ein glockenhelles Lachen entschwand ihren Lippen. Sie wandte sich nicht um, tanzte sich bestimmt ihren Weg durch die Menge. Charlie sah ihr gebannt dabei zu, wie sie ihren Körper in unendlicher Entspanntheit an denen Fremder vorbei drängte. Langsam folgte sie ihr, warf einen Blick zu Anna, die ihr zuzwinkerte und sie mit rhythmisierenden Bewegungen antrieb. An ihrer Hand hielt sie ihren Freund Tom, einen riesigen, dünnen Kerl, der meist sehr schweigsam, jedoch vollkommen in Ordnung war. Charlie sah seine Brillengläser im hektischen Licht blitzen.
Als Nela an der elliptischen Bar ankam, lehnte sie sich über den schwarzen Lack des Tresens. Provokant reckte sie sich dem Barkeeper entgegen und bestellte drei Cocktails und ein Bier. Ihr blondes, gewollt zottiges Haar wirkte im Schein des diffusen Lichts nahezu weiß, der dunkle Ansatz hingegen schwarz.
Charlie ließ sich auf dem harten Kunststoffhocker neben ihr nieder.
"Und der Laden bringt’s?", wollte Anna wissen, als sie und Tom sich ebenfalls zu ihnen gesellten. Er setzte sich und zog seine Freundin zwischen die Beine.
Nela war bekannt für ihren zwielichtigen Geschmack, der sie schon einige Male in sehr ungelegene Situationen gebracht hatte. Doch dieses Mal schien ihre Wahl auf einen relativ normalen Schuppen gefallen sein.
"Mal sehen.", antwortete sie und leckte sich nebenbei über die karmesinroten Lippen. Ein diebischer Glanz hatte sich in ihre himmelblauen Augen gestohlen, die nun funkelnd die Discothek inspizierten. Nela war voll in ihrem Element.
"Meine Tanten meinten, zu ihrer Zeit wäre es hier wirklich abgegangen.", lachte Charlie.
„Na das muss was heißen.“, feixte Anna.
„Na dann Tchin-Tchin ihr Süßen!“, sagte Nela grinsend wissen, nachdem der Barkeeper ihre Getränke auf den Tresen stellte.
Sie stoßen ihre Gläser kurz aneinander, bevor jeder einen kräftigen Schluck nahm.
Charlie spielte mit der Cocktailkirsche in ihrem Glas während ihr Blick über die Tanzfläche striff.
Right about now…the funk soul brother, erklang es aus den zitternden Lautsprechern als Nela sich von der Bar abstieß und mit ausgestreckten Armen in die Menge tauchte. Charlie lachte während sie Anna an den Händen nahm und mit sich zog. Im nächsten Moment waren sie bereits eingeschlossen, umringt, inmitten des Treibens und zwischen den Tanzenden schwimmend.
Check it out now…
Charlie genoss es immer wieder in der Menge zu tanzen, wenn alle sich wie gleißende Fische im Meer drehten, dicht beieinander, gemeinsam ein treibendes Tier formend. Dann fiel es ihr nicht schwer sich vorzustellen sie sei anderswo, irgendwo.
Im einen Augenblick beobachtete sie noch, wie ihre Freundinnen sich im Takt wanden, wie Nela einem jungen, gut aussehenden Mann etwas ins Ohr raunte, wie Anna Tom leidenschaftlich küsste, bevor sie im nächsten Moment die Augen schloss und sich von der lüsternen Meute verschlingen ließ.


kapitel 2
danser



Ihr langes Haar glänzte wie dunkler Nektar, tanzte mit ihr. Ihre Wangen leuchteten rot. Die geschlossenen Lider hüllten ihre Welt in ein zuckendes Spiel, das alle Farben gedämpft in sich nahm. Ihre Lippen waren leicht geöffnet, die Weiblichkeit sinnlich schwingend. Charlie bemerkte all die Gestalten, die so eng an der ihren waren kaum. Und doch öffnete sie plötzlich die Augen, als eine bestimmte Berührung sie von Hinten erfasste. Charlie fühlte die Wärme eines Fremden an ihrem Rücken. Langsam lehnte er seinen Körper an den ihren und passte sich ihrem Rhythmus an, verwundert über den Schauer, der ihre Wirbelsäure hinab glitt, wie süßes Gift und ging völlig schamlos das Spiel ein.
Schwärmerisch verschränkte sie die Arme über ihrem Kopf, ließ die Hände federngleich schweben. Das Blut pumpte sich ientspannt durch die Adern. Ihre Augen schlossen sich erneut, ein zufriedenes Lächeln stahl sich auf ihr Antlitz. Ihre Hüften kreisten verspielt, als sie von denen des Fremden berührt wurden. Stumm öffnete sie den Mund, gab die brütende Nacht aus ihren Lippen frei. Die feinen Härchen in ihrem Nacken stellten sich auf während ein pulsierender Nebel ihre Gedanken umspielte .
Charlie nahm die ausdruckslosen Gestalten um sich herum nicht wahr, bemerkte nicht, dass ihre Freunde schon lange nicht mehr in ihrer Nähe waren. Unwillkürlich lehnte sie ihren Körper stärker an den seinen. Ein warmer Atem strich an ihrem Ohr vorüber, versengte wie heiße Glut ihre Haut. Sie fühlte die Erregung zwischen ihnen tanzen, den leichten Druck an ihrem Grat, der sie seltsamerweise nicht störte.
Ihr Rücken lehnte sich gegen eine harte Brust, als plötzlich die Musik verklang und eine kurze Ansage des DJ ertönte.
Augenblicklich wurde Charlie dem Rausch entrissen, öffnete verwirrt die Augen, um sie so bald nicht mehr zu schließen. Fahrig wandte sie sich um und fühlte die Hitze auf ihrem feuchten Gesicht, als im nächsten Moment der Beat den Boden wieder erbeben ließ. Die Lichter huschten über das nachtschwarze Haar des Typen, als sie ihn ansah. Seine Haut wirkte durch das diffuse Licht schneeweiß. Er war sehr groß und ausschließlich dunkel gekleidet. Charlie blickte in ein helles Augenpaar. Sein Gesicht war scharf und markant geschnitten.
>> Ich heiße übrigens Raven. <<, rief er, sich ihr zugeneigt und der Bass setzte ein.
Charlies Gesicht glühte als sie gegen die Drums ankämpfte.
>> Charlie. <<
Raven lächelte, ein seltsames, schönes Lächeln. Auf seiner rechte Wange zeigte sich ein tiefes Grübchen, das auf gewisse Weise fremd in seinem Gesicht wirkte. Die Farben schossen über ihnen hinweg.
>> Lass uns was trinken. <<, hörte Charlie ihn rufen und fühlte im nächsten Augenblick den warmen Griff um ihr Handgelenk, der sie aus dem tanzenden Meer hinter sich her zog.
Noch immer funkelten ihre Augen dunkel vom Fieber, als die beiden am Tresen ankamen.
Als Raven, wie sie verstanden hatte, zwei Drinks entgegennahm, stellte Charlie auf den zweiten Blick fest, dass sein Gesicht trotz harter, perfekter Kontur etwas an sich hatte, das die Vollkommenheit störte. Es war nur schwer einschätzbar, wie alt er war.
Ihre dunkle Jeans klebte nun noch enger an ihr und Charlie hoffte ihr weißes Top offenbarte nichts, was unoffenbart bleiben sollte. Sie raffte ihre wilde Mähne im Nacken zusammen und pustete sich einige Strähnen aus dem Haar, als Raven gerade den Blick abwandte.
"Ich habe dir wohl ganz schön eingeheizt.", meinte er mit einem selbstgefälligen Lächeln auf den vollen Lippen.
Scheinbar sah er nicht nur gut aus, er war auch außergewöhnlich eingebildet. Charlie verabscheute diese Art des männlichen Geschlechts. Sie stellte das Glas unberührt auf dem Tresen ab. Es wäre auch zu schön gewesen.
"Wer sagt denn, dass ich nicht zufällig unter Tropenfieber leide?"
Raven beobachtete die Handgriffe eines Barkeepers, während seine Mundwinkel amüsiert zuckten, bevor er sich wieder ihr zuwandte.
"So siehst du aus. Aber ja, du hast recht, bei Fieber ist es das beste, ausgiebig zu feiern, wie dumm von mir, dass ich daran gar nicht gedacht habe."
Charlie musste gegen ihrem Willen ein Schmunzeln unterdrücken.
"Was ist das?", fragte sie, auf das Getränk, das er ihnen beiden bestellt hatte, deutend.
"Ein Hot Charlotte.", meinte er mit einem Grinsen. "So heißt du doch, oder nicht?"
Charlie nickte.
"Und heiß bist du ja jetzt auch.", ergänzte er zwinkernd und irgendwie wusste Charlie, dass er lediglich versuchte sie zu provozieren.
Ihre Lippen formten sich zu einem breiten Lächeln.
"Sag mal, wie fühlt man sich eigentlich als Kerl, der die schlechtesten Anmachsprüche im ganzen Raum zu klopfen scheint?"
Raven sah, am Tresen lehnend, schmunzelnd auf sein Glas, während Charlie sich auf einen der Barhocker gesetzt hatte. Er war trotz allem größer als sie, was ihr seltsamerweise gehörig auf den Geist ging.
"Ganz gut. Dank einiger Frauen, die bereits darauf eingegangen sind."
Ungläubig hob sich Charlies Augenbraue, als sie bemerkte dass Raven sie mit einer Geste aufforderte mit ihr anzustoßen.
Einen Augenblick überlegte sie kritisch und entschied dann, dass ein Drink nicht schaden konnte, wenn sie diesen Typ noch länger ertragen würden müsste.
Sie stoßen miteinander an uns sahen sich dabei kurz in die Augen. Charlies Blick war messerscharf und dennoch gut gelaunt, als sie in die eisblauen Augen ihres Gegenübers sah. Er schien sich zu amüsieren und für einen kurzen Augenblick hoffte Charlie mehr in ihm zu sehen, als die oberflächliche Arroganz, die er nicht gerade zu verbergen schien.
Sie nahm einen großen Schluck von ihrem namensgebenden Getränk.
Eine eigenartige Komposition aus Limone und einer scharfen Würze, was an sich garnicht schlecht gewesen wäre, wenn der ihr unbekannte Alkohol nicht so brennend stark dominiert hätte.
"Danach haben mich meine Eltern mit Gewissheit nicht benannt! Das schmeckt ja zum Kotzen.", meinte sie, mit verzerrtem Gesicht, Raven einen bösen Blick zuwerfend, als dieser lachte.
"Mir schmeckt's."
Erleckte sich den letzten Tropfen von der Lippe.
"Merkwürdig, dein schlechter Geschmack überrascht mich im Augenblick irgendwie nicht."
"Oh, das würde ich nicht sagen, sonst hätte ich dich mir wohl nicht ausgesucht."
Aufmerksam sah er sie an, seine Lippen dabei eine spottende Linie formend. Alles an ihm strotzte vor Selbstsicherheit.
"Ach.", winkte Charlie genervt ab. Sie hatte keine Lust mehr auf weitere, schlechte Anmachsprüche.
"Lass uns lieber Tanzen gehen.", sagte sie und stand auf.

Sie schlängelte sich einen Weg durch die Tanzenden und wusste dabei ohne sich umblicken zu müssen, dass er ihr folgte. Aus den Augenwinkeln erkannte sie Nela, die lasziv eine Art Fortpflanzungstanz zu vollführen schien, was ihr ein amüsiertes Lachen entlockte, als sie sich umdrehte und ein hell Augenpaar auf ihr ruhen sah. Sie fühlte zwei Hände, die sich langsam auf ihre Hüften legten. Diese begannen in jenem Moment sich im Beat der Musik zu bewegen. Im nächsten Augenblick waren sie beide blind dem Rhytmus verfallen.
Nun, wo sie ihn sah und nicht mit dem Rücken zugewandt tanzte, musste Charlie sich eingestehen, dass er sich wirklich gut bewegte. Sein muskulöser, dennoch schlanker Körper aggierte geschmeidig, fast fließend. Es lag eine gewisse Eleganz in seinen Bewegungen, die sie selten bei einem Kerl ihres Alters gesehen hatte. Es gab nur wenige männliche Geschöpfe, die fähig waren zu tanzen und dabei nicht auszusehen wie ein elektrisierter Zappelphillip. Er hatte etwas sehr reifes, anziehendes an sich, zumal er nicht seinen Mund öffnete und einseitige Sprüche preisgab.
Sie tanzten bis tief in die Nach hinein, bemerkten kaum mehr das Wechseln der Lieder. Charlie hatte sich ihm unbewusst genähert oder hatter er sich ihr genähert? Ihre Oberschenkel berührten sich und sie spürte mit jeder Faser seine pulsierende Körperwärme. Irgendwann bemerkte sie, dass Verlangen, die Augen zu schließen und ihren Kopf an seine so einladende Brust zu Betten. Als sie sich dabei ertappte, Anstalten für jenes Vorhaben zu machen, riss sie etwas zurück ins hier und jetzt. Die Musik klärte sich in ihrem Gehör wieder zuordbar und ihr Blick vergrößerte seinen Fokus. Fast schüchtern strich sie sich das Haar aus der Stirn, rückte etwas von ihm ab und sah ihn an.
Er lächelte sie an, dieses Mal ohne ein diebisches Funkeln in den Augen. Er lächelte einfach nur und sah dabei fast etwas müde aus.
"Ich mach mich dann mal auf die Suche nach meinen Freunden.", sagte Charlie und wusste nicht recht, was sie machen sollte. Als sie bemerkte, dass er ihr folgten würde war sie beinahe etwas erleichtert.
Bereits nach einigen Minuten stellte sie fest, dass sowohl Anna, Nela, als auch Tom unauffindbar waren und kramte daraufhin in der kleinen Ledertasche nach ihrem Handy, Ravens Blick dabei deutlich im Nacken spürend.
10 Anrufe in Abwesenheit. 2 neue Nachrichten.
Charlie fluchte, als sie erkannte, dass sie vergessen hatte den Vibrationsmodus ihres Handys einzustellen.
Sie laß die erste Nachricht.
Wo bist du Süße? Treffen und um 2 am Ausgang. Anna.


Charlies Blick fiel auf die kleine Uhranzeige und sie stellte, fest, dass es bereits 3Uhr morgens war.
"Shit", murmelte sie und laß die zweite Nachricht, die sie vor einer halben Stunde erhalten hatte.
Sorry Charlie, aber die anderen wollen wirklich heim. Ruf bitte deine Tanten an, dass sie dich abholen sollen. Quatschen am Sonntag. Kuss, Anna.


Charlie verfluchte sich selbst, warf das Handy zurück in ihre Tasche. Sie wusste nicht, ob sie ihre Tanten anrufen sollte, auch wenn sie sich zu 99 Prozent sicher war, dass es keinen Ärger geben würde. Dennoch entschied sie, lieber allein nach Hause zu gehen. In einem Ort wie Greenhill lag die Kriminalitäsrate vermutlich bei 0.01 und zudem Charlie war noch nie sonderlich ängstlich gewesen.
"Na ich werde dann auch mal nach Hause gehen.", sagte sie zu Raven, der seinen Blick über die Tanzfläche schweifen ließ.
"Allein?", fragte er mit hochgezogenen Augenbrauen.
"Na das kann ich wirklich nicht verantworten.", grinste er.
Gerade als Charlie zu einer provokanten Antwort ansetzen wollte, schritt Raven nah an ihr vorbei und berührte sie am Arm. Aus einem unerklärlichen Grund folgte sie ihm.

Nachdem sie ihre Jacken an der Gaderobe abgeholt hatten, traten die beiden einer lauen Nacht entgegen. Mit noch immer erhitzten Wangen, die pulsierende Wärme in jedem ihre Körperteile fühlend, hatte Charlie die Cardiganjacke um ihre Tasche geknotet. Sie raffte ihr Haar zu einem Schopf, genoss die sanfte Brise in ihrem Nacken, bevor die vielen Strähnen sich lösten und erneut ihren Rücken in großen Wellen hinabglitten. Eine angenehme Taubheit hatte sich auf sie gelegt und zufrieden, vollkommen gedankenlos lief Charlie neben ihrer Begleitung her.
Es wunderte sie, dass er nichts sagte. Sie musterte ihn von der Seite, wie er seine Lederjacke über die Schulter geworfen und seine linke Hand in die Hosentasche seiner perfekt sitzenden, schwarzen Jeans gesteckt hatte.
"Sind dir jetzt deine Sprüche ausgegangen."
Neckend sah Charlie ihn an, als er sich ihr mit einem Schmunzeln zuwandte. Von einer Straßenlaterne erleuchtet, wirkten seine Augen nahezu silbern in der Finsternis. Das dichte Haar glänzte und die markanten Wangenknochen tauchten sein Antlitz in Licht und Schatten.
"Ich habe noch so einiges auf Lager."
Er schenkte ihr ein Zwinkern, woraufhin Charlie lachte.
"Oh, verschone mich. Dazu ist die Nacht viel zu schön."
Sie atmete tief ein.
"Da hast du wohl recht. Der Himmel ist sternenklar. Kassiopeia ist heute ganz besonders deutlich zu erkennen."
Völlig belanglos sah er auf die Straße vor sich.
Überrascht wandte Charlie ihren Blick den Sternen zu. Er hatte recht. Der Himmel war in dieser Nacht ein regelrechtes Lichterzelt.
"Kassiopeia.", murmelte sie und konnte sich dunkel daran erinnern, diesen Namen bereits ein mal gehört zu haben. Schließlich pflegten ihre Tanten eine wahre Leidenschaft zu den Sternenbildern und ihren Mythen.
"Wo.", fragte sie und blieb einfach stehen.
Raven stoppte einige Schritte weiter ebenfalls, sah sie an und kam auf sie zu. Er stellte sich hinter sie, versuchte sich ihrem Blickwinkel anzupassen und griff nach ihrer Hand. Sie war größer als die ihre; stark und dennoch nicht grob. Es war ein merkwürdiges Gefühl, fremd jedoch ganz und gar nicht unangenehm.
"Hier.", sagte er und fuhr ein um 90 Grad gedrehtes W nach. Charlie fühlte seinen Atem in ihrem Nacken und erneut die Wärme, die von seinem Körper ausging.
"Und wenn du brav bist, erzähle ich dir irgendwann vielleicht ein mal die Geschichte dazu."
Charlie sah das Lächeln in seinem Gesicht, ohne sich dazu umdrehen zu müssen. Sie hatte die Anspielung auf ein Widersehen nicht überhört.
"Ahja? Wer sagt mir denn, dass du mir gerade nicht irgendeine x-beliebige Konstellation gezeigt hast?", fragte sie, ihren Kopf umgewandt und seinem Gesicht plötzlich sehr nahe.
Seine Lippen formten sich zu einem amüsierten Lächeln.
"Eine äußerst misstrauische Person.", sagte er, ließ sie los und setzte den Weg kopfschüttelnd fort. Charlie konnte einamüsiertes Lächeln auf seinen Lippen sehen.

"Wo wohnst du eigentlich?", fragte er, als Charlie wieder neben ihm herlief. Sie durchquerten gerade einen Teil des äußeren, Belforter Industriegebiets, dessen Fabriken noch immer rauchten oder ächzten und Charlie gestand sich nun ein, dass es gar nicht schlecht war, eine Begleitung bei sich zu haben. Dennoch überlegte sie einen Moment, ob sie Raven verraten sollte, wo genau sie wohnte.
"Greenhill. Artemisia Street."
Raven nickte.
"Friedliche Gegend hört man."
"Aber nicht friedlich im Sinne von langweilig.", sagte Charlie mit einem gewissen Stolz. Sie liebte ihr Zuhause. "Bist du nicht von hier?"
"Nein, erst seit kurzem."
"Und was treibt dich dann nach Belfort?"
"Die Arbeit und ab nächstem Semester das Studium."
"Was arbeitest du denn?"
"Wenn ich dir das sagen würde, müsste ich dich danach umbringen."
Er wandte ihr kurz den Kopf mit einem schmunzelnen Lächeln im Gesicht zu.
"Achso ist das? Top Secret also?"
Charlies Stimme klang auf verspielte Art mysteriös.
"Naja, eigentlich nicht wirklich. So dies und das."
Sie schätze, dass es sich um Nebenjobs handelte, die lediglich als Einkommensquelle neben den Studium dienten und daher von ihm nicht als erwähnenswert betrachtet wurden. Auch wenn Belfort eine nicht überragend große Stadt war, so war sie doch eine renomierte Hochschul- und Universitätsstadt. Für Jemanden ohne Job war es mit Sicherheit keine Leichtigkeit Lebensunterhalt, Wohnung und Studium zu finanzieren, zumal das Ganze nicht sponsored by Mommy und Daddy war.
Charlie arbeitete selbst nebenbei in der Tierarztpraxis ihrer Tante und kellnerte im Carney.
Das Verlangen nach Eigenständigkeit hatte sie schon im frühen Alter verspürt. Es war ihr unangenehm, ihren Tanten stets auf der Tasche zu liegen und mit etwa 13 Jahren hatte sie sich ihren ersten Job gesucht. Angefangen mit Zeitungen austragen, Nachhilfeunterricht geben, Flyer oder Logos entwerfen, Wand- und Garagengemälde kreiiren, Tanzunterricht für Anfänger an ihrer Tanzschule geben, Gitarrengigs auf kleineren, privaten Festen.... Es war nahezu alles dabei und Charlie hatte bereits so einiges dadurch erlebt. Eine erhebliche Schwäche erschwerte Charlie das ganze jedoch: Es fiel ihr schon immer schwer, einer Tätigkeit dauerhaft treu zu bleiben, da sie scheinbar unbewusst stets nach Abwechslung oder neuen Herausforderungen suchte.

"Und was machst du?", fragte Raven plötzlich.
"Ich habe vor einigen Wochen meinen Abschluss gemacht und werde das kommende Jahr erst ein mal Erfahrungen sammeln: Praktikas machen, nebenbei Jobben, Reisen. Ich will mich nicht in eine Richtung verrennen, oder auf ein Studium festlegen, ohne mir darüber klar zu sein, was ich wirklich will. Verstehst du was ich meine?"
Charlie sah kurz von der Straße auf, um Raven, ebenfalls aufmerksam auf den Weg vor ihnen blickend, nicken zu sehen.
"Es ist ohnehin besser, zuerst Erfahrungen zu sammeln.", sagte Raven bestimmt.
"Da scheint sich ja jemand auszukennen."
Der Blick ihrer Augen begegenete sich einen Augenblick, bevor beide wieder geradeaussahen.
"Das kann man wohl so sagen. Ich habe die letzten Jahre genutzt und bin viel herumgekommen."
"Das hört sich irgendwie nicht sonderlich positiv an.", bemerkte Charlie seinen merkwürdigen Unterton.
Raven sagte nichts darauf. Und Charlie bemerkte, dass sich ihr Eindruck, den sie zum Beginn des Abends gemacht hatte, unbewusst gewandelt hatte. Erst jetzt erkannte sie mit vollen Sinnen, dass Raven etwas Ernstes, Erfahrenes austrahlte und vollkommen anders zu sein schien, als sie zuvor vermutet hatte.


Kapitel 3
poison



"Wie alt bist du eigentlich?.", wollte Charlie nach einer Weile des Schweigens wissen. Sie befanden sich bereits am Rande Greenhills, das nicht weit entfert von Bellfort lag.
"20.", hörte sie ihn antworten und nickte daraufhin. Er hätte auch älter sein können.
"Und du? Auch wenn man eine Dame nicht nach dem Alter fragt."
Er sah sie mit jenem Grinsen an, das sie zu Beginn der Nacht kennengelernt hatte.
"Was glaubst du denn?"
Charlie schenkte ihm das selbe Lächeln.
"Mhm.", überlegte er. "19?"
Sie quittierte seine Antwort mit einem Kopfschütteln und versuchte das Schmunzeln auf ihren Lippen zu unterdrücken.
"Älter? Jünger?", hörte sie ihn fragen, als sie an der Elmstreet vorüberkamen und Charlie einen Schatten bemerkte. Für einen Moment verlor sie den Faden. Sie sah wie die männliche Gestalt einen kurzen Blick in ihre Richtung warf, um im nächsten Augenblick in die Straße, aus der Charlie und Raven gekommen waren, zu verschwinden.
"Wenn ich es dir sagen würde, müsste ich dich wohl ebenfalls anschließend umbringen.", wiederholte Charlie seine Worte neckend.
Er sah sie mit einem auffordernden, amüsierten Blick an.
"Schon bald 18. ", sagte sie.
"Das hätte ich nicht gedacht."
Charlie hörte die ehrliche Überraschung in seiner Stimme. An dem Ausdruck in seinem Gesicht, die Straße fokussierend, erkannte sie, dass er über etwas nachdachte.
"Und wie bist du dann in den Club gekommen? Gefälschter Ausweis?"
"Also bitte, was denkst du von mir?", fragte Charlie gespielt empört und lächelte
"Ich weiß nicht."
Er schenkte ihr ein anzügliches Grinsen.
"Tja, die Waffen einer Frau."
Charlie war überrascht darüber, wie schnell sie vorangekommen waren, als die beiden in die Artemisia Street einbogen. Es war eine kleine Straße, am äußersten Ende Greenhills, nahe dem Waldgebiet. Die Artemisia Street zählte 3 Häuser, jedes von ihnen alt und dennoch oder gerade deshalb wunderschön.
Am Ende der Straße stand das Haus der Rosewells; ein großes Grundstück mit kleinem Gartentor zum nebenan liegenden Feld. Das gemütliche, weiße Holzhaus wurde ein schwarzes Schieferdach und viele Schwalbenfenstern geziert. Für Charlie war es das schönste Haus, das sie je gesehen hatte, was im Wesentlichen daran lag, dass sie sich hier so geborgen fühlte, wie sonst nirgendwo.
"Da wären wir.", sagte sie und blieb vor dem Gartentor zu Mirandas Rosengarten stehen. "Na dann. Danke fürs heimbringen."
Raven nickte.
Sie sahen sich ein letztes Mal an, bevor Charlie einige Schritte rückwärts ging.
"Guten Heimweg noch.", sagte sie, sich mit einem Winken verabschiedend, bevor sie durch das Gartentor trat. Irgendwo wartete sie darauf, dass er noch etwas sagen würde, doch als sie sich auf dem Weg zur Veranda ein letztes Mal umblickte, war er bereits verschwunden.


"Bestellung für Tisch Nummer 6, Pancakes mit Ahornsoße, Blaubeeren und ein Vanilleshake."
Charlie wusste sofort um wen es sich handelte. 1tens, Tisch 6 war ihr Stammtisch. 2tens war das Menü ihre klassische Morgenbestellung.
Sie nahm ihrer Kollegin Sam den Teller und das hohe Glas ab, um anschließend mit einem breiten Grinsen Tisch Nummer sechs anzusteuern.
"Ein mal rohe Leber mit viel Zwiebeln und Rote-Beete-Shake?", sagte sie.
"Oh ja! Her damit!.", rief Anna mit verstellt tiefer Stimme, als Charlie die Bestellung servierte und umarmte ihre Freundin kurz.
"Hey." Mit einem prüfenden Blick stellte diese fest, dass sie sich eine kleine Pause gönnen konnte und setzte sich Anna gegenüber auf den knautschig-roten Ledersessel
"Charlie, es tut mir leid, dass wir dich am Freitag allein gelassen haben. Aber die anderen wollten unbedingt nach Hause und du warst unauffindbar."
Wie Charlie ihre Freundin kannte, hatte sie vermutlich die ganze Zeit über ein schlechtes Gewissen geplagt. Etwas, das sie ganz deutlich von Nela unterschied.
"Keine Sorge, ich war selbst Schuld, mein Handy war falsch eingstellt. Schwamm drüber!"
Sie schenkte ihrer Freundin ein Lächeln, das sie zufrieden zu stellen schien, denn Anna nahm einen tiefen Zug aus ihrem Vanilleshake und begann sich die Pancakes schmecken zu lassen.
Das Carney war ein gemütliches Café-Bar-Restaurant in Bellfort und bekannt für seine erstklassige, erschwingliche Küche sowie für hervorragende Cocktails. Einst war es Charlie und Annas Stammcafé gewesen, in das sie nach der Schule oft einen Abstecher gemacht hatten. Und so war Charlie auch zu dem Job als Kellnerin gekommen.
"Haben dich deine Tanten abgeholt?", fragte Anna mit vollem Mund.
"Nein."
Zwei rehbraune Augen musterten sie.
"Was? Bist du alleine nach Hause gegangen?"
Charlie hörte die Alarmglocken ihrer Freundin klingeln und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen als sie zu einer Antwort ansetzte.
"Jemand hat mich nach Hause gebracht."
Anna hielt, eine beladene Gabel vor dem Mund inne. Ihr besorgter Ausdruck wandelte sich wissend zu einem breiten Honiglächeln.
"Ahaaa.", bemerkte sie mit einem unüberhörbaren Unterton, der Charlie aufforderte weiterzureden, während sie ihr spätes Frühstück vertilgte. "Wer?"
"Ein Typ. Er heißt Raven."
"Sieht er gut aus?"
Charlie nickte breit lächelnd.
"Ja." Das tat er absolut.
Anna klatschte sich samt Gabel in die Hände und schüttelte freudig ihren blonden Lockenkopf. Sie biss sich auf die Unterlippe und sah ihre Freundin wissbegierig an.
"Warst du deswegen weg? Habt ihr etwa...?"
"Was? Ja. Nein! Wir haben getanzt!"
"Achso. Getanzt...Werdet ihr euch wiedersehen?"
Charlie überlegte. Sie hatten sich ohne versprechende Worte verabschiedet und Raven hatte zum Schluss nicht so gewirkt, als wolle er ihre Bekanntschaft weiter ausbauen. Auch wenn sie sich gut miteinander unterhalten hatten.
"Ich weiß nicht. Wir haben keine Nummern ausgetauscht und irgendwie war es nicht so..."
"Wie, es war nicht so...?"
Anna stocherte mit faltiger Stirn nach einer Blaubeere.
"Es war irgendwie anders als sonst, wenn ich jemanden kennenlerne. Es ist doch immer das Selbe: Die gleichen, höflichen Standardfragen, das gleiche anfänglich aussagelose Gefühl und danach Verabreden oder Nummern austauschen."
"Charlie. Mit dieser Einstellung wirst du nur schwer jemanden finden." Ihre Freudin seufzte.
Sie runzelte die Stirn und sagte: "Will ich auch garnicht."
Doch in Wahrheit wusste Charlie, dass sie sich in ihrem Inneren durchaus hin und wieder nach einer Beziehung sehnte.
"Bellfort ist nicht sonderlich groß. Und schließlich sieht man jeden Menschen zwei mal im Leben, wie du weißt."

Nachdem Anna sich verabschiedet hatte und ihre Schicht am späten Nachmittag zu Ende ging, stieg Charlie auf ihre hellblaue Vespa, um nach Hause zu fahren. Es war kalt und regnete. Der Fahrtwind schnitt ihr unangenehm ins Gesicht, das nur halb vom Visier verdeckt war. Sie brauchte im Schnitt 20 Minuten nach Hause, doch aufgrund der schlechten Straßenbedingung, zog sich die Fahrt heute besonders lang. Charlie sehnte sich nach ihrem Zuhause, einer heißen Dusche und einem warmen Schokoladenpudding. Der Regen prasselte auf ihren Helm.
Als sie das Ortsschild mit der Aufschrift "Greenhill" hinter sich ließ, erkannte sie plötzlich einen Krankenwagen, drei Polizeiautos und ein weiteres, dunkles Zivilfahrzeug.
Charlie reduzierte die Geschwindigkeit, um genaueres zu erkennen. Die PKWs standen am Straßenrand auf der weiten Wiese, die im Abstand von 200 Metern in den Wald führte. Der Zugang war mit gelben, schwarzbedruckten Plastikbändern abgesperrt.
Nicht weit von den Fahrzeugen entfernt tummelten sich einige Menschen um einen Polizisten herum und spähten immer wieder neugierig, ängstlich oder besorgt zum Waldrand. Der Polizist schien damit beschäftigt die Schaulustigen zu beruhigen und wirkte nahezu hilflos unter den großteils weiblichen Personen.
Charlie beobachtete das Ganze, so lange es ihr möglich war, bevor sie ihren Blick wieder nach vorne richten musste.

Zuhause angekommen schob sie ihre Vespa unter das Carport zu der roten Maschine ihrer Tante und dem alten, knatterndem Volvo, bevor sie über die Veranda ins Haus trat.
Sich noch immer fragend, was wohl am Waldrand geschehen war, steuerte Charlie die Küche an, von wo aus sie die Stimmen ihrer Tanten hörte. Bei ihrem leisen Tonfall, der sonst so kräftig und fidel war, wurde Charlie sofort klar, dass etwas nicht stimmte.
"Hey.", sagte sie, noch immer in ihrer nassen Kleidung an den backsteinernen Durchgangsbogen der Küche lehnend. Amanda und Miranda saßen teetrinkend am Esstisch und richteten ihre Aufmerksamkeit überrascht auf Charlie.
"Wisst ihr was passiert ist? Am Ortseingang stehen mehrere Polizeiautos."
Sie sah ihre Tanten gespannt an, verwirrt darüber, dass die beiden sich einen beratschlagenden, traurigen Blick zuwarfen, bevor Miranda sagte: "Rose ist tot aufgefunden worden, Schatz."
Charlie benötigte einen Augenblick um zu realisieren, was ihre Tante eben gesagt hatte. Ihr Gehirn sortierte die Information. Mrs Rosalie Grovender, Mitglied der Damenrunde, die sich jeden Sonntag im Wohnzimmer der Rosewells traf und zudem eine der besten Freundinnen ihrer Tanten war.
"Was? Aber sie ist doch nicht viel älter als ihr beide. War sie krank?", wollte sie verwirrt wissen.
"Nein Schatz. Sie war nicht krank."
"Aber was war dann der Grund?"
Charlie dachte an die nette Frau, die ihr als sie noch ein kleines Mädchen war stets selbstgemachte Kekse geschenkt hatte und das selbe noch immer bei Katy tat...getan hatte. Sie wusste nichts mit der Antwort ihrer Tante anzufangen und schenkte sich grübelnd ebenfalls eine Tasse Tee ein. Sie war nicht krank gewesen und die Verschwiegenheit ihrer Tanten ließ nicht auf einen Unfall schließen. Die einzige Option, die übrig blieb war...
"Es war doch nicht etwa Mord?"
Sie ließ sich auf den Stuhl zwischen ihren gegenübersitzenden Tanten nieder, die Beine an ihren Körper gezogen und über ihre Tasse pustend. Die Worte schwebten wie ein böses Omen im Raum.
Stille erfüllte erfüllte diesen, was äußerst ungewöhnlich in dem weiblichen Haushalt der Rosewells war. Amanda und Miranda starrten vor sich auf den Tisch; ihre Tassen ebenfalls umklammernd.
"Doch Charlie."

Sie saß in ihrem Zimmer, das erbarmungslose Prasseln des Regens auf dem Dach und das Singen des Windes nicht hörend, da sie tat, was sie immer tat, wenn sie verwirrt, traurig, wütend oder besorgt war. Sie reagierte sich ab, indem sie ihre Gefühle durch das Spielen auf ihrer Gitarre ausließ. Ihre grüngebeizte Art & Lutherie hatte schon so einiges ertragen müssen und hielt dem ständigen Einsatz tadellos stand.
Charlie dachte an Rose Grovenders weiches, freundliches Gesicht. Sie hatte das lange, braune Haar stets zu einem Zopf gebunden getragen. Ihre kleinen, dunklen Augen drängten sich immer wieder in Charlies Gedächtnis.
Das letzte mal war sie der zierlichen Frau vor einer Woche begegnet. Sie war etwa 50 Jahre alt, doch man hätte sie, wie ihre Tanten, ebenfalls jünger geschätzt.
Was bot das Motiv, eine Frau wie Rosalie zu ermorden?
Ihr fiel nichts ein.
Charlie war froh, dass ihre kleine Schwester über das Wochenende mit der Familie Hewitt auf einem Ausflug war. Ansonsten wäre Kathy mit größter Wahrscheinlichkeit ebenfalls unter den Schaulustigen gewesen und hätte eventuell einen Blick auf etwas erhascht, das ihr nie wieder aus dem Kopf gehen würde.
Die Hewitts waren die zweiten Bewohner der Artemisiastreet und schon seit Ewigkeiten mit den Rosewells befreundet. Charlie wusste, dass sie über mehrere Ecken miteinander verwandt sein mussten und war zudem seit Kindesalter mit Kieran, dem ältesten Sohn der Hewitts, befreundet.
Nachdem Charlie ihr Gitarrenspiel mit noch immer zitternden Seiten ausklingen ließ, lehnte sie ihr geliebtes Instrument in den dafür gedachten Korb und setzte sich an ihren Schreibtisch, der vor einem der beiden Schwalbenfenster stand und vom trüben, bewölkten Abendlicht erhellt wurde. Charlie bemerkte erst jetzt die dadurch entstandene, trostlose Atmosphäre, die sie mit dem Einschalten des Lichts zu verscheuchen versuchte. Sie sah hinunter in den Garten. Die Kieseinfahrt war von etlichen Regenpfützen besiedelt, die wuchsen und wuchsen. Der monsunartige Schauer schien kein Ende zu nehmen.
Seufzend startete sie den Laptop, der mit ihrer Stereoanlage verbunden war, um die Tristesse des Augenblick mit Musik zu fluten.
Musik war eine von Charlies größten Leidenschaften. Egal ob sie diese selbst produzierte oder lediglich hörte. Nur weniges bereitete ihr ähnliche Zufriedenheit.
Sie schrieb eigene Lieder und hatte bereits auf kleinen, privaten Feierlichkeiten ihrer Freunde Gitarre gespielt und gesungen. Doch Charlies gröstes Problem war ihre Unsicherheit vor anderen, der Mangel an Selbstbewusstsein, selbst vor Leuten, denen sie vertraute oder die ihr am Herzen lagen, auch wenn sie sonst sehr offen und selbstsicher wirkte.
Deshalb spielte Charlie am liebsten für sich allein.
Erst als die Gitarrenklänge und der Gesang von Johnny Cash aus den Lautsprechern strömten, fühlte sie sich etwas entspannter und checkte ihre E-Mails und Nachrichten.

Charlie konnte sich nicht erinnern, jemals ein ähnliches Abendessen erlebt zu haben. Ihre Tanten sagten kein Wort, der Plattenspieler war stumm; jeder schien mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Der Regen prasselte gegen das Küchenfenster und den verglasten Wintergarten.
Sie hatte viele Fragen, doch behielt sie diese im Augenblick lieber für sich. Morgen würde es ohnehin in der Zeitung stehen. Trotzdessen hätte Charlie gerne die Mutmaßungen ihrer Tanten gehört.
Endlich schien es zu einem Stimmungsumschwung zu kommen, als die Haustüre sich öffnete und das Windspiel klirrte.
"Hallihallo! Ich bin wieder Zuhause!", hörte Charlie die aufgeweckte Stimme ihrer kleinen Schwester. Sie spülte gerade ihr Geschirr ab während Kathy in ihrer orangen Regenjacke und den quietschroten Gummistiefeln zu ihnen in die Küche kam.
"Hey du Regenmonster.", rief Amanda und umarmte Kathy, als diese sich die Jacke vom Körper gezogen hatte.
So wie ihre Tante plötzlich wieder strahlte und feixte, hätte man ihr beinahe abgekauft, das alles in bester Ordnung war.
Kathy kicherte und gab Miranda einen Kuss auf die Wange, bevor sie zu Charlie kam und dieser in den Hintern zwickte.
Charlie lachte.
"Und wie wars?", fragte sie. "Möchtest du etwas Essen?"
"Nein, nein, Danke. Ich bin pappsatt. Wir haben unterwegs gegessen. Es war toll! Wir waren..."
Innerhalb weniger Sekunden hatte sich die Atmosphäre schlagartig gewandelt. Kathy erzählte bis ins kleinste Detail von dem Campingausflug in den Bergen. Für ihre 8 Jahre hatte Kathy bereits ein weitumfassendes Vokabular, schließlich war Quasseln ihre größte Leidenschaft.
Es machte Charlie traurig zu sehen, dass es ihr im Gegesatz zu ihrer kleinen Schwester nicht mehr gelang, die Stimmung zu retten. Sie wünschte sich wieder ebenfalls in diesem sorglosen Alter zu sein, während sie sich fragte, ob ihre Tanten Kathy die Wahrheit darüber erzählen würden, was mit Miss Grovender geschehen war. Ja, mit Sicherheit täten sie das. Miranda und Amanda hatten ihren Nichten nie etwas vorgegaukelt.
Charlie hörte noch ein wenig dem Gespräch zu, bevor sie sich in ihr Zimmer verabschiedete. Als sie ihre Zimmertüre hinter sich schloss und das Licht anschaltete, sah sie genau das, was sie sich erhofft hatte. Das Fenster rechts der Türe, gegenüber ihres Bettes, zeigte in Richtung der Hewitts. Auf selber Höhe brannte ebenfalls Licht. Charlie wartete einige Augenblicke, das Telefon in ihrer Hand drehend, als sie ihn plötzlich sah. Kierans dunkelblondes, volles Haar leuchtete im Lichtpegel der Zimmerlampe. Er zog sich gerade sein Shirt über den Kopf, als er Charlie erkannte. Mit einem Grinsen kam er dem Fenster näher und Charlie tat es ihm gleich. Sie lächelte ebenfalls leicht und deutete ihm fragend mit einem Handzeichen etwas an. Ihre Häuser lagen etwa 25 Meter auseinander, doch ihr Blick war geschult. Als sie klein waren, hatten sie sowohl einen Seilzug, als auch ein Blechdosentelefon zwischen ihren Fenstern aufgespannt.
Kiran verschwand für einen Augenblick, bevor er wieder mit etwas in seiner Hand zurückkam. Charlie wählte seine Nummer.
"Hey.", hörte sie seine tiefe, vertraute Stimme sagen.
"Hey.", sagte sie. "Und wie wars?"
"Anstrengend. Das war wirklich das letzte Mal, dass ich mich überreden habe lassen mitzugehen."
Charlie sah, wie Kieran in Richtung seines Bettes ging und ließ sich ebenfalls auf ihre Matratze sinken. Sie lachte.
"Als wir klein waren, hattest du immer riesen Spaß dabei."
"Das lag vielleicht daran, dass ich damals nicht als menschlicher Schleppesel und Kindergärtner missbraucht wurde."
Ein bitteres Lachen war am Ende der Leitung zu hören.
"Ach, du Ärmster."
Charlies Stimme troff geradezu vor Schalk. Sie beobachtete ihre Füße, die trotz des Monats Juli in dicken Wollsocken steckten.
"Warum ich eigentlich mit dir reden wollte: Weißt du schon das von Miss Grovender?"
Charlie hörte die ehrliche Unwissenheit in Kierans Stimme, als er ihr antwortete. "Nein, was ist mir ihr?"
Einen kurzen Moment herrschte Stille. Es war eine Überwindung die Worte auszusprechen.
"Sie wurde ermordet."
Kierans überraschtes, für einen kurzen Augenblick sprachloses Gesicht brannte sich in Charlies Kopf, ohne dass sie ihn wirklich sah.
"Ermordet?", fragte er mit gedämpfter Stimme. "Bist du dir sicher?"
Dass Charlie nichts darauf entgegnete, wertete er wohl als Bestätigung.
"Aber weshalb? Hat man den Mörder schon geschnappt? "
"Nein. Ich schätze das ganze wird schon in kürzester Zeit in den Medien breit aufgezogen sein. Ich verstehe nur einfach nicht, mit welchem Motiv man jemanden wie Miss Grovender töten sollte."
"Ich auch nicht."
"Naja. Ich wollte dir nur Bescheid geben. Es ist das erste Mal, dass ich meine Tanten ernsthaft still und besorgt erlebe. Deiner Großmutter wird es nicht anders ergehen."
Kierans Großmutter war erst knappe 60 Jahre alt, ebenfalls Mitglied der Frauenrunde und eine gute Freundin von Rosalie gewesen.
"Das wird anstrengend.", seufzte Kieran.
"Sei nicht so egoistisch!."
"Ich? Bin ich nie."
Charlie hörte das Schmunzeln in seiner Stimme.
"Jaja. Naja, ich geh dann auch mal ins Bett. Schlaf gut."
"Mach das. Du auch. Bis dann."
"Ja, bis dann."




Kapitel 4
dancer 2

Mit einem mal war Charlie hellwach. Es lag nicht an dem Sturm, der wimmernd um das Gemäuer wehte. Es lag auch nicht am Regen, der unaufhörlich gegen die Fenster klopfte. Eigentlich liebte sie es, im Unterbewusstsein dem Wüten des Wetters zu lauschen während sie beschützt in ihrem Dachzimmer lag und friedlich schlief. Doch in dieser Nacht hatte sie sich unruhig von einer Seite zur anderen gewälzt.
Ihr war unangenehm heiß und so stand sie auf, um sich auf ihren Schreibtischstuhl zu setzen. Sie öffnete das Fenster, gebot der kalten, feuchten Luft Einlass und atmete tief durch. Die Arme um ihre angezogenen Beine geschlungen und die erhitzte Wange auf ihre Knie gebettet, sah Charlie hinaus in eine mondlose Nacht.
Sie überlegte, warum sie so plötzlich aufgewacht war. Schwach konnte sie sich an das Bild erinnern, dass sie die gesamte Nacht über verfolgt hatte.
Sie hatte im Schlaf immer wieder den Augenblick vor Augen gehabt, als sie und Raven an der Elmstreet, aus der Charlie eine männliche Person hatte kommen sehen, vorbeispaziert waren. Eine kurze, vollkommen belanglose Momentaufnahme...
Stop! Elmstreet?!, dachte Charlie und hob ihren Kopf. Rosalie Grovenders Haus stand in der Elmstreet. War der Fremde aus jener Richtung gekommen? War es möglich, dass diese Gestalt etwas mit dem Mord an Rose zu tun hatte?
Charlies Augen hatten sich geweitet, ihr Körper war angespannt. Sie versuchte sich zu beruhigen und ihre Gedanken zu sortieren. Mit größer Wahrscheinlichkeit hatte der Fremde nichts damit zu tun. Schließlich lebten noch weitere Familien in der Elmstreet. Zudem war der Tag und die Uhrzeit des Mordes noch gar nicht bekannt. Warum sollte ausgerechnet Charlie Zeuge eines wichtigen Indiz geworden sein? Nein, sie würde nichts überstürzen und abwarten, bis die ersten Informationen bekannt gegeben wurden. Die Tat war gewiss nicht in jener Nacht geschehen, als Charlie und Raven unwissend durch die Nacht spaziert waren. Allein bei dem Gedanken daran, lief Charlie ein eisiger Schauer den Rücken hinab.
Entschlossen stand sie auf, um das Fenster zu schließen und sich anschließend zurück ins Bett zu legen.
Sie verbot sich jegliche weitere Gedanken und fiel nach kurzer Zeit in einen tiefen Schlaf.


In den kommenden zwei Wochen regierte ein regelrechter Medienboom die Stadt und ihr Umfeld. Die Bewohner lieferten sich förmlich einen Wettkampf um das Wissen des Mordes an Rosalie Grovender. Die örtlichen Radio- und Fernsehsender strahlten immer wieder das Foto der Ermordeten aus; die Tageszeitungen waren voll mit Spekulationen, neuen Fakten und Zeugenaufrufen.
Man hatte im Keller der Ermordeten die gefesselte Adoptivtochter Amy gefunden, die laut Aussage aus dem Hinterhalt bewusstlosgeschlagen worden war, als sie sich auf dem Weg zur Haustüre ihrer Mutter befunden hatte. Es handelte sich um keinen Raubmord, alle Wertsachen waren vorhanden.
Die Medien hatten sich wie die Aßgeier auf diesen Umstand gestürzt und mittlerweile waren bereits mehrere Gerüchte im Gange, dass Amy einen Auftragsmörder engagiert hatte, um frühzeitig an das Erbe ihrer Mutter ranzukommen.
Charlie wusste, dass das absoluter Schwachsinn war und schaltete zornig den Fernsehkanal um, als eine blonde Moderatorin das Thema einleitete.
"Der Kukuck ist ein Brustschmarotzer..." hörte Charlie das geschmacklose Kommentar eines weiteren Reports, bevor sie verärgert den Fernseher endgültig ausschaltete.
Sie hatte all diese Spekulationen satt.
Charlie kannte Amy seitdem sie ein kleines Mädchen war. Sie war etwa 6 Jahre älter als Charlie und hatte des öfteren auf sie und Kieran aufgepasst. Nichts war unrealistischer, als dass Amy ihre eigene Mutter umgebracht hätte. Das kleine Wort "Adoptiv-" hatte keinerlei Bedeutung.
Mitleidsvoll dachte sie an Amy, die seit einigen Jahren mit ihrem Freund zusammen in Freemount lebte. Eine kleine Stadt, ebenfalls nicht weit entfernt von Bellfort. Charlie hätte sie nur zu gern besucht, doch ihr war klar, dass der Augenblick dafür momentan äußerst ungünstig war. Die Presse tummelte sich vermutlich vor ihrer Haustür.
Was Charlie außerdem belastete, war die Tatsache, dass der Mord tatsächlich in der Nacht geschehen war, als sie den Fremden in der Elmstreet gesehen hatte. Natürlich war die Wahrscheinlichkeit, dass die Person etwas mit der Tat zu tun hatte nicht sehr hoch, doch Charlie lag nachts immer wieder wach und überlegte, ob sie sich nicht doch an die Polizei wenden sollte.

Der Alltag war wieder im Haus der Rosewells eingekehrt, zumindest schien es so.
Alles war wie immer; Miranda sang gutgelaunt zu ihren Platten und empfing ihre Patientinnen mit einem strahlenden Lächeln. Amanda riss wie üblich ihre Witze und unterhielt sie alle während des Abendessens mit Geschichten aus der Praxis oder ihrer Jugend. Doch Charlie spürte, dass der Tot ihrer Freundin sie noch immer belastete und verunsicherte.
Vorallem am Sonntagabend vor einer Woche, als die Damenrunde sich in ihrem Wohnzimmer versammelt hatte, war ganz eindeutig zu spüren gewesen, dass etwas sie alle beunruhigte. Miranda hatte Charlie gebeten mit Kathy in die Stadt zu fahren und so hatten die beiden ihren Abend im Kino verbracht. Charlie war es gewohnt, die Runde nicht zu stören und sich während ihres Treffens in ihrem Zimmer oder draußen aufzuhalten, doch noch nie hatte ihre Tante sie mit einer solchen Ernsthaftigkeit weggeschickt.

An jenem Freitagabend, an dem sie mit ihren Freunden ausgehen wollte, war es das erste Mal in Charlies Leben, dass Amanda eine Hand auf ihren Arm gelegt und mit ernster Miene gesagt hatte: "Pass auf dich auf Schätzchen."
Verwundert hatte Charlie ihre sonst so lockere Tante angesehen und dann schnell gelächelt, ganz so, als wäre sie nicht überrascht.
"Ja klar Tantchen.", hatte sie Amanda geneckt, als sie die Treppen der Veranda hinuntergestöckelt war. Bevor sie in Kierans alten, dunkelgrünen BMW gestiegen war, hatte sie noch ein mal einen Blick zurückgeworfen. Amanda hatte noch immer mit verschränkten Armen im Türrahmen gelehnt und sie betrachtet.
Charlie hatte ihr grinsend einen Luftkuss zugeworfen.
Als sie nun jedoch neben Kieran saß und an seinem Radio herumspielte, war der fröhliche Ausdruck in ihrem Gesicht erloschen und besorgt blickte sie nachdenklich durch Windschutzscheibe.
"Was ist los?", hörte sie Kieran, dessen Geruch sie erst jetzt deutlich wahrnahm. Er hatte ganz deutlich ein Aftershave aufgelegt, das Charlie ganz besonders gern mochte. Etwas, was Kieran nur selten tat.
Charlie ließ sich in den Sessel sinken und seufzte.
"Meine Tanten sind mometan wirklich merkwürdig. Die Sache mit Rose scheint ihnen näher zu gehen, als ich gedacht hätte."
Kieran lenkte den Wagen um die Ecke und schaltete in einen höheren Gang, als er sagte: "Bei mir Zuhause ist es ganz ähnlich. Aber mal ganz ehrlich Charlie. So locker deine Tanten auch sind, ist es ganz normal, dass sie sich nach dem Mord an einer Freundin in unmittelbarer Nähe Sorgen um dich machen."
Charlie wusste, dass er recht hatte, doch trotz dessen war sie beunruhigt.
"Und jetzt entspannst du und feierst später ausgelassen, ohne dir weiterhin den Kopf zu zerbrechen."
"Aiai.", salutierte Charlie und die beiden sahen sich lächelnd an.
Erst jetzt nutzte sie die Gelegenheit ihren Freund zu mustern. Ein entspannter, zufriedener Ausdruck zierte sein Gesicht und dennoch wirkten seine ausgeprägten Wangenknochen von der Seite, als wären sie angespannt. Seine dunkelbraunen Augen fokussierten die Straße, während er im Rhytmus der Musik auf dem Lenkrad trommelte. Eine Angewohnheit, die sie beide teilten. Er trug ein graues Shirt, das seine Muskeln deutlich erahnen ließ, dazu eine dunkle, abgetragene Jeans. Über Charlies Kopflehne hing seine braune Lederjacke, die sie schon des öfteren ohne Erfolg zu Klauen versucht hatte.
Am liebsten mochte sie sein Gesicht. Ob es daran lag, dass es ihr so vertraut oder einfach wirklich schön war, wusste sie nicht. Es war kein Wunder, dass Kieran schon früh seine ersten festen Beziehungen gehabt hatte und auch momentan eine führte. Er sah nicht nur gut aus, er hatte auch einen starken Charaker und war kein bisschen abgehoben.
Charlie fuhr ihm grinsend durch sein volles Haar, das selbst nach dem Aufstehen perfekt saß und kramte nach ihrem Handy, als sie ein Vibrieren bemerkte.
Eine SMS von Anna.
Kommen etwas später. Nela hat verschlafen. Bis dann.
Charlie musste lachen. Sie konnte sich Annas genervten Gesichtsausdruck nur zu gut vorstellen. Nelas Angewohnheit sich vor dem Ausgehen noch eine Mütze Schönheitsschlaf zu genehmigen, hatte schon oft die Geldud ihrer Freundinnen bis aufs äußerste ausgereizt.
"Die anderen kommen später.", sagte Charlie.
Kieran hielt vor einer Hauseinfahrt, bevor sie ausstieg und an dem Schild mit der Aufschrift "Thomson" klingelte.
Wenige Augenblicke später kam ein großer, schlanker Kerl mit dunkelbraunen Locken aus der Haustüre gestürmt, nicht ohne dabei in ein Sandwich zu beißen. "Hi.", sagte er mit vollem Mund und umarmte Charlie.
Dean war ein guter Freund von Kieran und mit den Jahren auch Charlies Freund geworden. Sie kannten sich alle schon ziemlich lange. Auch wenn man es Dean nicht anssah, war er ein riesiger Comicfand und Charlie verwettete ihren Monatslohn darauf, dass er auch an diesem Abend eine Comicboxershort trug, so wie er es schon als kleiner Junge getan hatte.
Sie konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen als sie zurück auf den Beifahrersitz stieg während Dean freundschaftlich in Kierans Hand einschlug.
"Hey Mann. Hab ich einen Kohldampf."
Die Worte waren nur schwer zu identifizieren.
Sie hatten vor in das Peaches zu gehen. Einer von Kieran und Deans Lieblingsclubs. Sie parkten vor einem Einkaufshaus und spazierten danach durch die Nacht. Es war wieder sommerlich warm und eine milde Brise tanzte um Charlies Beine. Sie trug ein kurzes, weinrotes Kleid aus Viscose, das sich kühl und angenehm an ihren Körper schmiegte. Charlie hatte an diesem Abend mehr als sonst das Verlangen verspürt, sich in Schale zu werfen; die Augen etwas stärker geschminkt und hohe Riemchenschuhe angezogen. Sie trug wie immer das silberne Medaillon ihrer Mutter, in dessen Oval kleine Ornamenten graviert waren und welches nun in ihrem Dekoltée tanzte, als sie neben den beiden jungen Männern herlief.
Charlie hakte sich bei ihnen unter während sie sich auf dem Weg amüsiert unterhielten.
Das Peaches pachtete seine Räume in einem Loft, über dem Dessousladen "Little secret", dessen Treppen sie nun hinaufstiegen. Charlie wehte der köstliche Duft des gegenüberliegenden Mexikaners entgegen. Sie hörte Gelächter und ein Summen aus Stimmen. Irgendwo im Hintergrund bemerkte sie bereits den Bass, der schon bald den Boden unter ihren Füßen erzittern lassen würde.
Am Peaches angelangt, ordneten Charlie, Kieran und Dean sich in die Schlange der Wartenden ein. Es dauerte nicht lange, bis sie an der Reihe waren.
Charlie spürte die gespannten Blicke ihre Freunde, als sie dem Türsteher ein Lächeln schenkte. Ihr innerliches Flehen wurde wie gewohnt erhört und der Kontrolleur ließ sie ohne Kommentar passieren.
"Unglaublich.", sagte Dean und klopfte Charlie anerkennend auf die Schulter. "Mehr Glück als Verstand."
"Heyhey." Charlie gab sich gespielt entrüstet. "Pass auf was du sagst."
Mit einem Grinsen gab sie ihre Jeans- gemeinsam mit Kierans Lederjacke an der Gaderobe ab und steckte die ihr gereichten Nummernchips ein.
Es war kur vor 23 Uhr und der Club schien bereits gut gefüllt. Die Scheinwerfer zuckten über die Tanzenden hinweg.
Sie bahnten sich den Weg zu einem der zahlreichen Bartresen, an den sie sich lehnten, um Getränke zu bestellen. Kieran hatte an diesem Abend freiwillig die Fahrerrolle übernommen und orderte lediglich ein Ginger Ale. Charlie entschied sich für einen Dreamsicle, da sie kein Freund harter Spirituosen war. Dean hingegen bestellte sich einen Jacky-Cola.
Als sie sich umwandten und Charlie Kieran gerade nach der Arbeit fragen wollte, die er Dank seines dualen Maschinenbaustudiums leistete, sah sie eine Gruppe von Leuten ihres Alters auf sie zukommen. Einige von ihnen kannte sie, andere waren ihr vom Sehen bekannt und dennoch war sie leicht überrascht, als sie von einigen umarmt wurde, die sie nicht sonderlich gut kannte. Charlie mochte Kierans Freunde und unterhielt sich sogleich mit Kyle, der die Leidenschaft zur Musik mit Charlie teilte. Er war Gitarrist in einer Band, machte jedoch parallel auch sein eigenes Ding.
"Wir müssen unbedingt mal etwas austauschen.", sagte er, sie mit einem verschmitzten Lächeln ansehend. Das hatte er bestimmt schon 10 Mal gesagt, dachte Charlie sich,. Er trug wie immer eine schwarze Mütze, unter der sein Haar gewollt hervorblitze. Charlie gefielen die Ohrringe und sein Lippenpiercing. Sie kannte niemanden, dem es besser stand.
Die Jungs verabschiedeten sich nach einer Weile wieder. Dean unterhielt sich mit einem Mädchen, das, soweit Charlie es beurteilen konnte, sympathisch aussah und von dem er sichtlich angetan zu sein schien.
"Wie wär's mit Tanzen?", fragte Charlie Kieran und sah in daraufhin aus großen Augen bittend an. Er stand auf, nahm einen letzten Schluck von seinem Ginger Ale und bot ihr grinsend die Hand an. Ohne Zögern ergriff sie diese und folgte ihm, sich bereits im Takt bewegend.
An einer Stelle angelangt, die sowohl Charlie als auch Kieran zusagte, begannen die beiden zu tanzen. Mit einem ununterbrochenen Lächeln auf den Lippen ließ Charlie sich ganz auf die Musik ein. Sie tanzte wie immer mit ihrem ganzen Körper, ließ ihre Hände spierlerisch leicht auf- und abschweben. Sie mochte Kierans Tanzstil und konnte nicht anders, als ihm immerzu ein strahlendes Lächeln zu schenken, das er wie gewohnt erwiderte. Sie tanzte auf ihn zu, sang den Text des Liedes, den sie wie die meisten auswendig kannte und legte ihren Finger vor die Lippen, bevor sie wieder etwas rückwärts tanzte. Als sie das ganze wiederholte, kam Kieran ihr ebenfalls entgegen und behielt sie dieses Mal bei sich, in dem er die Hände um ihre Taille legte.
Es fühlte sich richtig und vetraut an. Mit niemandem konnte Charlie besser tanzen als mit Kieran. Sie waren ganz genau aufeinander abgestimmt und bewegten sich stets im selben Rhytmus. Sie kannten einander schon so lange, dass ihre Körper sich wie von selbs einander anzupassen schienen. Charlie verschränkte reizvoll ihre Arme über dem Kopf, ließ sich zum Beat etwas nach unten sinken, bevor sie sich im nächsten Augenblick langsam wieder an Kierans Körper nach oben tanzte. Es war ein altes Spiel zwischen ihnen, bei dem sie sich gegenseitig anzüglich neckten und reizten. Auch wenn es für andere vielleicht nach mehr aussah, waren ihre grinsenden Gesichter ein Zeichen dafür, dass die besten Freunde auch wirklich beste Freunde waren und blieben.
Selbst Kierans eifersüchtige Freundin Michelle hatte das mittlerweile begriffen und attakierte Charlie seit kurzem nicht mehr mit mordlüsternen Blicken, auch wenn Charlie und Kieran nie vor ihr miteinander getanzt hatten.
Sie legte die verschränkten Arme um seinen Kopf, als Kierans Körper dem ihren immer näher kam und hin sie und wieder berührte.
Charlie biss sich auf die Unterlippe und verdrehte gespielt angetan die Augen. Sie hörte und spürte Kierans Lachen.
Nach einer Weile gesellten sich Nela und Anna zu ihnen, die Charlie erfreut umarmarte.
Sie tanzte mit ihren Freundinnen, bis sie ihnen ein Zeichen gab, das erklären sollte, dass sie kurz auf die Toillette verschwinden würde.

Etwas außer Atem gelangte Charlie in eine überfüllte Damentoilette. Während sie sich in der Schlange einreihte, erhaschte sie einen Blick auf ihr Spiegelbild. Ihre rauchgrauen Augen, die bei Tageslicht sowohl grün, als auch blau schimmerten, glänzten fiebrig vom Tanz. Ihre Wangen waren wie so oft gerötet, obwohl sie dies mit Puder zu vermeiden hatte versucht. Sie musste nicht in den Spiegel blicken, um die vereinzelten Sommersprossen auf ihrer Nase zu wissen, die sie schon lange aufgegeben hatte zu verbergen. Ihr langes, rotbraunes Haar fiel ihr in großen Wellen den Rücken hinab und die Strähnen um ihre Stirn hatten sich durch die Sonne wie jedes Jahr honiggold gefärbt. Charlie sammelte das kräftige Haar in ihren Händen und warf es dann über ihre linke Schulter, um ihren Nacken mit frischer Luft zu erfreuen. Die Türen öffneten sich immer wieder und trugen verschiedene Musikausschnitte in den hallenden Waschraum. Charlie tippte mit ihrem rechten Fuß noch immer im Takt und schloss kurz die Augen, bevor sie an der Reihe war.
Als sie mit trockener Kehle aus der Damentoilette zurückkehrte, entschloss sie, sich einen erfrischenden Drink zu gönnen und steuerte zielsicher den nächsten Tresen an. Gerade als sie bestellt hatte und sich auf dem schwarzen Barhocker niederlies, bemerkte sie, dass sich jemand zu ihr gesellte.
"Wenn ich gewusst hätte, dass du einen Freund hast, wäre ich bei unserem letzten Treffen vielleicht weniger indiskret gewesen."
Verwirrt sah Charlie auf, als sie eine dunkle, angenehme Stimme vernahm, die sie bereits ein mal gehört hatte.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 19.07.2011

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