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Prolog

„Lass uns auf den Dachboden gehen“, schlägt Anna aufgeregt vor. „Ich weiß nicht, Mama und Papa haben doch gesagt, dass wir nicht drauf dürfen und außerdem gibt es da Ratten und Spinnen“, gebe ich zu bedenken und beiße behagt auf meine Unterlippe, die schon aufgerissen ist. „Aber stell dir doch mal vor, was dort alles ist, vielleicht finden wir ja sogar einen Schatz dort.“ Unruhig trippelt Anna mit dem Fuß auf den geplüschten blauen Teppich unter ihren Füßen und schaut mich abwartend an.

Wir befinden uns auf meinem hell erleuchteten Zimmer, es ist ein lauer Samstagmorgen, unsere Eltern befinden sich derzeit auf einem Geburtstag von Bekannten und würden erst am späten Nachmittag wiederkommen. Sie überließen mir, als 13 Jährige, die Verantwortung für meine neunjährige Schwester. Meine Mutter hatte mir noch eingetrichtert, dass ich ja gut aufpassen soll und wir keinen Mist anstellen sollen, weil es sonst schwere Konsequenzen hätte.

„Also, ich bin mir nicht sicher… Ich glaube nicht, dass dort etwas Besonderes ist, wahrscheinlich ist da am Ende eh nur Dreck und Staub, es wäre besser, wenn du es einfach vergisst…“

„Ich will es aber nicht vergessen“, meint Anna nun trotzig, verschränkt ihre kleinen Armen vor der schmalen Brust, stampft dabei mit dem Fuß auf dem Boden und verzieht schmollend den Mund. Ihre Augenbrauen ziehen sich ärgerlich zusammen und sie starrt mich aus ihren ozeanblauen Augen sauer an.

„Wirklich, wir dürfen da nicht drauf, wenn wir es tun würden, wären sie echt sauer, und du weißt ja was dann passiert: Kein Fernsehen, kein Verabreden und das mindestens zwei Wochen. Das willst du doch nicht riskieren. Außerdem wolltest du doch nächste Woche mit Amelia Zelten gehen“.

„Hmm… ja wollte ich“ murmelt Anna bedrückt und senkt ihre sonst strahlend blauen Augen. Sie freut sich schon den ganzen Sommer lang darauf, mit ihrer gleichaltrigen Freundin und deren Eltern an der Ostsee zelten zu gehen, das würde ihr erster Urlaub ohne unserer Familie sein.

„Hey, ist doch nicht schlimm, ein Dachboden ist doch nichts Besonderes“ meine ich aufmunternd.

„Hmm“ brummelt sie und wendet sich starrköpfig zur Tür.

„Hey, komm mal her.“

Langsam dreht Anna sich um, macht aber keine Anstalten zu mir zu kommen. Fragend schaut sie mich an, dann entschließt sie sich jedoch zu mir zu gehen.

Als sie bei mir ist, verstrubbele ich ihr kurzes kastanienbraunes Haar, das ihr strähnig vom Kopf steht und kitzele sie durch, weil ich es nicht mag, sie so traurig zu sehen. Sofort erhellt sich ihr Kindergesicht und sie lacht quitschig auf, bevor sie um Erlösung bittet.

„Wie wäre es: was hältst du von Verstecken spielen? Das haben wir schon lange nicht mehr gespielt.“, schlage ich vor. „Au ja, du fängst an mit zählen!“, meint Anna auch sofort. Schmunzelnd wende ich mich zur Wand und schließe die Augen. Als sie hört, dass ich zu zählen beginne, ist sie auch schon verschwunden.

Nachdem ich bis zwanzig gezählt habe, mache ich mich auf die Suche. Nach ein paar Minuten, nachdem ich das ganze Haus abgesucht habe, aber noch keine Spur von Anna entdeckt habe, rufe ich, im Wohnzimmer stehend: „Mach mal Piep!“. Das machen wir immer so, um einen Hinweis zu bekommen, wo der andere sich versteckt hat.

Ein paar Sekunden später ertönt auch schon das Geräusch, aus südlicher Richtung und auch nur sehr leise und dumpf. Ich nähere mich der Quelle, bin aber ratlos, als ich die Treppe hochgelaufen bin. Ich rufe wieder, sie solle piep machen, jedoch kommt diesmal keine Antwort.

Verwundert, ein paar Sekunden ausharrend, laufe ich die Treppe herunter und laufe wieder ins Wohnzimmer. Es kann ja sein, dass ich mich in der Richtung geirrt habe. Aber Fehlanzeige. Kein Piep ist zu hören.

„Anna, hör auf damit. Wo bist du? Gib mir wenigstens einen Hinweis!“, brülle ich nun mittlerweile sauer.

Doch wieder ist nichts zu hören. Ich suche nochmal. Was ist, wenn ihr etwas passiert ist? Vielleicht ist sie gestolpert, oder sie kommt nicht mehr unter dem Bett hervor.

Nach 20 Minuten verzweifelter Suche, ich habe überall geschaut, sogar draußen, obwohl wir immer nur im Haus spielen, gebe ich es schließlich auf und lasse mich frustriert, aber auch panisch auf mein Bett fallen.

Meine Eltern werden mich umbringen, wenn ich sie nicht finde, bevor sie wiederkommen. „Anna, wo steckst du nur?“, denke ich unglücklich und versenke meinen Kopf in meinen Händen. Es ist zum Haare raufen, sie lässt sich einfach nicht auffinden.

Ich weiß nicht, wo ich noch suchen soll. Plötzlich fällt mir das Offensichtliche ein. Na klar, wieso bin ich nicht schon früher drauf gekommen, denke ich kopfschüttelnd. War ja klar, dass sie sich auf dem Dachboden versteckt. Ich kenne sie mittlerweile ja schon gut genug.

Hastig renne ich die Treppe herauf, die auf den waagerechten Flur im zweiten Stock zuführt und biege rechts um die Ecke, um die zweitletzte Tür zu öffnen, die eine schmale Treppe preisgibt, die zum Dachboden führt. Meine vorher hastigen Schritte verlangsamen sich, je näher ich der Tür komme. Auch wenn es verboten ist, die Tür zu öffnen, so weiß doch jeder aus der Familie, wo der Schlüssel versteckt ist. Neben der Tür gibt es in der Wand, die aus Backsteinen besteht, einen Stein, der heraussticht. Es ist nicht sofort zu erkennen, nur wenn man genau hinschaut. Ich schiebe den Stein heraus und will nach dem Schlüssel greifen, doch er ist nicht da. Dann hat sich meine Vermutung wohl bestätigt, denke ich bedrückt, aber mit neuer Hoffnung, sie zu finden.

Zögernd greife ich nach der abgenutzten, metallischen Klinke und öffne die mittlerweile verrostete Tür, die sich mit einem Quietschen nur schwer öffnen lässt. Der Schlüssel steckt von innen, welches mir ein Rätsel aufgibt. Es hat doch niemand von innen aufgeschlossen?

Ich schlüpfe durch den kleinen Spalt und mache mir nicht die Mühe, die Tür weiter zu öffnen.

Hastig, es ist mittlerweile schon halb vier Nachmittags, betrete ich zum ersten Mal in meinem Leben den so gefürchteten Dachboden, der auf dem ersten Blick ganz normal erscheint. Er ist fast so groß wie unser Wohnzimmer, mit zwei Schrägen an der rechten und linken Seite und vielen verstaubten Kartons. Das ist aber das einzige. Das überraschende: Es stapeln sich bestimmt Hunderte von Kartons in allen unterschiedlichen Größen, weshalb der Dachboden eher klein wirkt, da es nur schmale Gänge dazwischen gibt. Zwei Stück. Und die laufe ich ab und rufe währenddessen panisch nach Anna. Doch keine Spur. Plötzlich höre ich ein herannahendes Motorengeräusch. Meine Ohren spitzen sofort hoch und mein Herz scheint für einen Schlag auszusetzen, um dann mit doppelter Geschwindigkeit wieder loszurasen. Schnell wie ein Blitz, renne ich zur Tür, schnappe den Schlüssel, schließe die Tür wieder zu und lege den Schlüssel an ihren vorgesehenen Platz, bevor ich die Treppe herunterrase und in mein Zimmer husche. Gleich darauf ertönt auch das schon das Öffnen der Tür und das Klirren der Schlüssel, gefolgt von einer Begrüßung.

 

1. Kapitel

5 Jahre danach

 

„Willst du noch den ganzen Tag schmollen, oder kommst du jetzt endlich aus dem Auto und hilfst, die Sachen mit reinzutragen?“

Wütend funkelt mich meine Mutter Angelica aus ihren bernsteinfarbenen Augen an. Es ist eine klare Aufforderung, auch mal mitzuhelfen. Doch den Gefallen werde ich ihr nicht tun. Als ich ihr nicht antworte, hebt sie verzweifelt ihre Arme und lässt sie schließlich resigniert wieder fallen. Sie weiß, dass sie mit ihren Aufforderungen bei mir nichts bewirken kann.

Ich sitze immer noch stur auf der Rückbank unseres kleinen Fords. Die Tür an meiner Seite ist auf, davor steht meine Mutter. Wir haben vor unserem neuem „Zuhause“ geparkt. Und zwar einem großen Backsteinhaus irgendwo im Nirgendwo, mit einem angrenzenden Wald. Ich bezweifele jedoch, dass es jemals ein Zuhause für mich werden kann. Wenn es überhaupt noch ein Zuhause für mich gibt. Ohne Anna.

Wir sind nur wegen ihr umgezogen – weil meine Eltern es nicht mehr in unserem alten Haus ausgehalten haben, da sie alles an sie erinnert hat. Warum wir erst jetzt, nach fünf Jahren, umziehen, ist mir ein Rätsel.

„Du kommst jetzt sofort aus dem Auto und hilfst gefälligst mit!“ befiehlt mir nun auch mein Vater Harold, der gerade aus dem Haus kommt. Er hat kurzes braunes Haar, ein sehr markantes Kinn und, für sein Alter ungewöhnlich, eine sportliche Figur. Viele haben ihn deswegen schon jünger geschätzt. Er hält einen großen Karton im Arm, auf der in krakeliger Schrift „Küche“ draufsteht.

„Warum sollte ich?“ meine ich provozierend. Ich weiß, wie das meine Eltern aufregt, wenn ich so mit ihnen rede. Stur blicke ich an ihnen vorbei - auf den Wald, der sich rechts neben dem Haus erstreckt.

„Ich wäre ja Zuhause geblieben, aber nein, ich musste ja mit. Ich wollte es nicht, ihr habt mich dazu gezwungen, warum sollte ich euch dann auch noch helfen“, erkläre ich ihnen, nachdem sie mir nicht geantwortet haben. Schließlich war ich ja nur eine Last für sie, nicht mehr.

„Hör mal zu Rose Jefferson! Hör auf mit dem Theater und hilf uns jetzt endlich!“, aufbrausend schaut mich Harold an.

Ich denke jedoch nicht einmal daran, auf fröhliche Tochter zu tun, sondern steige aus dem Auto. Mit voller Wucht knalle ich die Tür zu, worauf Angelica erschrocken zusammenzuckt, und gehe vorbei an meinen Eltern, die mich misstrauisch beäugen, die Einfahrt hinauf, und biege nach rechts, auf die Straße, aus der wir gerade gekommen sind. Sie führt Richtung Dorf.

„Hey! Was denkst du, was du da gerade tust?!“ herrscht mich mein Vater an, er hat die Arme verschränkt und seine Augenbrauen ziehen sich tief nach unten. Seine Nasenflügel sind aufgebläht. Jetzt fehlt nur noch, dass Rauch aus seinen Nasenlöchern kommt, dann wirkt er wie aus einem Comic entsprungen.

„Wonach sieht´s denn aus? Ihr könnt mich mal! Glaubt nicht, dass ich hier lange bleibe!“ schreie ich.

„Du kommst sofort zurück! Sonst kannst du heute Nacht draußen schlafen!“ schreit nun auch mein Vater, macht aber zum Glück keine Anstalten mir hinterherzulaufen.

Ich glaube nicht, dass er die Konsequenz wahr macht, weswegen ich, sie ignorierend, meinen Weg fortsetze. Er hat seine Drohungen noch nie wahrgemacht.

Mein Vater ist so einer, der sagt, was er alles machen will und wird, aber im Endeffekt passiert nichts. Ganz anders meine Mutter, wenn die mal etwas sagt, dann meint sie es auch so und es sind nicht nur leere Versprechungen.

 

Wütend achte ich gar nicht auf den Weg, setzte nur einen Schritt vor den anderen. Es ist als wäre ich in einer Seifenblase. Ich höre nichts außer meinen Gedanken und meine Außenwelt habe ich ausgeblendet.

Ich wollte zuhause bleiben, in Münster, ich habe sogar schon einen Plan gehabt, wie ich dort leben kann, ohne meine Eltern, aber sie haben ihn nicht verstanden. Wollten ihn nicht verstehen.

Ich hätte bei meiner Tante Sarah bleiben können, sie hätte es mir sogar erlaubt! Doch sie haben gesagt, es ginge nicht, ich sei noch nicht volljährig und noch nicht reif genug. Dabei sind es nur noch 10 Monate, bis ich volljährig bin. Sie meinten einfach nur: „Nein, du kommst mit. Ende der Diskussion.“

Ich hab noch stundenlang auf sie eingeredet, gebettelt, gefleht… doch sie haben nicht mit sich reden lassen und ich wäre am liebsten die Wände hochgegangen. Stattdessen habe ich mich bei einer Freundin ausgeheult.

Schließlich kam der Tag der Abreise – heute - und mit ihr kam meine Wut und auch Enttäuschung zurück. Wenn ich volljährig bin, das steht schon fest, werde ich ausziehen. Weg von hier und ich hatte auch schon ein klares Ziel vor Augen.

Ich werde nicht so kleinbeigeben, darauf können sie sich verlassen!

Zufrieden mit dem Gedanken bemerke ich jetzt erst, dass ich ihm Dorf angekommen bin und meine ansteigende Müdigkeit. Deshalb kehre ich um. Unser Haus ist leicht zu finden, da ich immer nur der Straße, horizontal zum Haus verlaufend, gefolgt bin.

Meine Hoffnung, um eine Auseinandersetzung rumzukommen, erlischt, als mich mein Vater an der Haustür erwartet, als ich klingele. Da ich keinen Schlüssel habe, kam ich nicht unbemerkt in mein Zimmer, worauf sich noch ein Problem bemerkbar macht: Ich weiß gar, wo mein Zimmer ist, schließlich habe ich das Haus noch nicht von innen gesehen, da ich ja sofort abgehauen bin.

Da kann ich mich ja auf was gefasst machen, denke ich, als ich die Miene meines Vaters betrachte. Das wird wohl kein Zuckerschlecken werden.

2. Kapitel

 

Mit mürrischer Miene bittet mich mein Vater in ein großes, hellräumiges Zimmer, versehen mit Couch, Wandschrank, Sofa, einer Lampe, die den Raum erleuchtet und einem Fenster. Ich schlussfolgere, dass es unser Wohnzimmer ist. Jedoch achte ich nicht auf die Details, sondern setzte mich auf die Couch, auf der meine Mutter schon Platz genommen hat.

Sie hat den Blick nach unten gesenkt, ich kann ihn nicht ganz deuten, aber ich kann Enttäuschung und Ärger herausfiltern, aufgrund ihrer starren Miene.

Sie hat sich etwas von mir abgewendet und die Hände im Schoss gefaltet.

Nun doch etwas mulmig zumute, schaue ich beide abwartend ab.

„Wo warst du?“ fragt mich mein Vater, der sich aufbrausend, mit verschränkten Armen vor mir aufbaut. In mir war ein Drang aufzustehen, um ihm die Stirn zu bieten, dennoch wäre er dann immer noch größer als ich.

„Wieso interessiert euch das?“

Überrascht schaut meine Mutter auf, doch sie starrt durch mich hindurch.

„Wieso uns das interessiert? Wir haben uns Sorgen gemacht!“, meine Mutter schüttelt bestimmt ihren Kopf, als hätte ich sie gerade gefragt was ein mal eins ist.

Ich bezweifele ihre Aussage, hätten sie sich auch nur einmal um mich gesorgt, hätten sie mir mehr Aufmerksamkeit geschenkt in der Vergangenheit.

„Und das soll ich glauben?! Habt ihr euch einmal im Leben auch nur für mich interessiert? Immer hieß es nur Anna, Anna, Anna, was bin ich denn? Nach… nach dem Vorfall habt ihr mich wie Luft behandelt! Warum habt ihr mich überhaupt mitgenommen? Ich habe das Gefühl gar nicht eure Tochter zu sein!“ Das erste Mal seit fünf Jahren gebe ich meine Gefühle preis. Meine Eltern sind geschockt, sie schauen geradezu panisch bei meinem letzten Satz. Denken wohl ich hätte es nicht bemerkt, wie sie immer kälter mir gegenüber wurden. Nicht mal mehr anschauen konnte meine Mutter mich, aber sie hat schon immer an mir vorbei geschaut.

„Aber…das…das…“ meine Mutter stockt und verkrampft ihre Hände ineinander. Sie sieht nicht so aus, als ob sie ihren Satz fortsetzen wird und ist sprachlos. Auch mein Vater schaut verlegen zur Seite aus dem Fenster. Enttäuscht wende ich mich ab.

„Wo ist mein Zimmer?“ frage ich kalt und neutral, während ich mich schwerfällig vom Sofa erhebe. Meine Beine tragen mich kaum noch.

„Treppe hoch, das zweite Zimmer rechts“ antwortet mein Vater stumpf und ohne Widerworte, als ich abrausche.

Ich habe gehofft, sie würden meine Aussage bestreiten, aber das haben sie nicht getan. Dennoch will ich der Wahrheit nicht ins Auge blicken, auch in mir steckt noch ein Funken Hoffnung.

Ich frage mich, was ich falsch gemacht habe. Dabei habe ich doch immer versucht, alles richtig zu machen. Warum akzeptieren sie mich nicht einfach so, wie ich bin.

In dem Zimmer angekommen, schmeiße ich mich sofort mit voller Wucht mit dem Rücken auf dem Bett. Mein Blick ist verschleiert und erschöpft bleibe ich einfach so liegen.

Was für ein Tag, denke ich mit Tränen in den Augen. Traurig, wenn man bedenkt, wie oft ich mich schon so in Bezug auf meine Familie gefühlt habe.

3. Kapitel

 

Als ich am nächsten Morgen aufwache, sind meine Augen ganz verquollen. Ich gehe in mein Badezimmer, das rechts neben meinem Zimmer liegt und schmeiße mir mit den Handflächen kaltes Wasser ins Gesicht, sodass es in Rinnsalen von meinem Gesicht läuft und dann über mein Kinn auf mein T-Shirt tropft. Ich habe noch meine Sachen von gestern an.

Resigniert betrachte ich mein Gesicht im Spiegel, das mein vom Schlafen zerzaustes kastanienbraunes Haar zeigt, welches mir stufig über die schmalen Schultern fällt, sowie meine schwarzen dichten Augenbrauen, gefolgt von smaragdgrünen Augen, die von dunklen Augenringen überschattet werden. In meiner Familie besitze nur ich grüne Augen. Meine Haut ist von einer blassen Farbe. Ich sehe fertig aus, aber ich mache mir nicht die Mühe es zu überschminken.

Ich wende mich vom Spiegel ab und trockne mir mit dem Handtuch, welches neben dem Waschbecken auf einer Stange hängt, das Gesicht ab.

Die folgenden Stunden des Tages verbringe ich damit, mich auf den morgigen Tag vorzubereiten, da morgen mein erster Schultag sein würde. Es ist zwar schon Dienstag, aber ich habe noch Zeit bekommen, um erstmal anzukommen. Mitten im Januar beginnend, habe ich nur noch sechs Monate auf dem naheliegenden Gymnasium, bis ich mein Abitur geschafft habe.

Erst am Abend sehe ich meine Eltern wieder beim Abendessen. Sie sind heute früher wiedergekommen, um sieben. Als es acht Uhr ist, ruft mein Vater von unten: „Rose! Essen ist fertig“. Mulmig lege ich das Buch, welches ich gerade angefangen habe zu lesen, beiseite und stehe vom Bett auf. Mit hastigen Schritten laufe ich die Treppe herunter und biege rechts ab, um am Ende des Flurs in die Küche zu gelangen, wo meine Mutter und mein Vater schon sind. Sie sitzen an einem großen horizontal aufgestellten mahagonifarbenen Tisch, mit rundherum sechs ledergepolsterten Schwingstühlen, rechts davon die Kücheneinrichtung. Die Küche ist sehr hellräumig mit zwei Fenstern, die bis zum Boden reichen. Alles in einem schwarz – weiß gehalten, was der Küche einen sehr sterilen, ungemütlichen Touch verleiht. Meine Mutter und mein Vater sitzen mit den Rücken zu den Fenstern und den Gesichtern zu mir. Ich nehme gegenüber ihnen Platz. Alles verströmt einen Geruch nach verbrannten Fett und nach dem Essen, welches vor mir in Töpfen steht. Es gibt Nudeln mit Bolognese. Als ich im Flur angekommen bin, haben meine Eltern schon aufgehört zu reden, fingen nur schweigend mit dem Essen an, als ich schließlich Platz genommen habe.

Es entsteht ein unangenehmes Schweigen. Als ich gerade mit dem Essen beginnen will, räuspert sich mein Vater. Ich schaue auf. Er nestelt an seiner Krawatte, ehe er ansetzt: „Wie war dein Tag, Rose? In der Kanzlei war viel los. Sicher freust du dich schon auf morgen…“ Unsicher kratzt er sich am Kopf, meine Mutter schaut ihn nur verwundert an.

„Mein Tag war…okay“. Jedoch sprechen meine tiefen dunklen Augenringe dagegen.

Mein Vater nickt nur zögernd und jeder von uns widmet sich wieder schweigend unserem Essen. Ich schlinge hastig das Essen hinunter, um schnell wieder auf meinem Zimmer verschwinden zu können. Gerade als ich mich erheben will, murmelt meine Mutter: „Es gibt noch Grießpudding…dein Lieblingsnachtisch“. Wahrscheinlich eine Entschuldigung für gestern, schließlich haben sie schon lange nicht mehr mein Lieblingsessen gemacht. Früher hätte ich mich darüber gefreut, aber heute…

„Ich habe keinen Hunger“, mit diesen Worten verschwinde ich auf mein Zimmer. So einfach kann ich ihnen nicht verzeihen. Denken wohl damit sei wieder alles beim alten, aber da täuschen sie sich.

So unangenehm ist das Essen noch nie verlaufen. Bisher habe immer ich versucht die Stimmung zu heben.

Es graut mir schon vor weiteren Gesprächen.

Jedoch ändert sich nichts in den nächsten sechs Monaten. Vielmehr versuche ich eher jeglichen Kontakt zu vermeiden, um nicht mit meinen Ängsten konfrontiert zu werden. Ablenkung suche ich beim Lernen. Da es das letzte halbe Jahr ist und bald die Prüfungen anstehen, gibt es viel zu lernen.

Tag und Nacht knie ich mich in meine Arbeiten, komme kaum noch aus meinem Zimmer und sehe demzufolge auch meine Eltern nicht. Da sie sehr beschäftigt sind, verlassen sie früh das Haus und kommen relativ spät am Abend wieder. Das Essen wird von mir auch etwas vernachlässigt, da ich das beim Lernen ganz vergesse, häufig esse ich die Reste vom Vortag.

Viel Freizeit bleibt mir da nicht, aber die will ich auch gar nicht. Schließlich würde mir das nur Zeit zum Nachdenken geben und nachdenken will ich im Moment auf keinen Fall.

Nur abends, wenn ich spät im Bett liege und das Licht ausgeschaltet ist, holt mich alles wieder ein. Da hilft auch keine Ablenkung. Auch in meinen Träumen komme ich nicht davon los. Schließlich sitzt alles im Unterbewusstsein, und das lässt sich nicht ausblenden. Das hat zur Folge, dass ich nicht einschlafen kann und wenn ich mal eingeschlafen bin, bekomme ich sofort Albträume. Immer wieder wache ich schweißgebadet auf und komme die folgenden Tage auch nicht von den Albträumen los.

Immer rede ich mir ein, dass es nach dem Abschluss meines Abiturs alles ein Ende hat. Nur bis dahin muss ich durchhalten.

Ich denke mir, es kann eh nicht schlimmer kommen. Doch da täusche ich mich gewaltig.

 

4. Kapitel

 

 Eines Morgens, ich wache Mal wieder von einem Albtraum auf, habe ich bitterlichen Durst. Ich bin schweißgebadet, dagegen fühlt sich mein Mund staubtrocken an. Das passiert öfters in letzter Zeit, ich bin nur froh, dass ich mich nicht mehr an den Albtraum erinnern kann.

Ich greife auf dem Boden neben meinem Bett, wo ich meine Wasserflasche vermute. Jedoch kann ich an dem leichten Gewicht erkennen, dass sich nichts mehr darin befindet. Na toll, jetzt muss ich wohl extra nach unten in die Küche laufen, um mir Wasser zu holen.

Schwerfällig erhebe ich mich in meinem beigefarbenen Nachthemd von meinem Bett und öffne meine Tür. Alles ist dunkel, nur der Schein des Mondes, der durch das Fenster am Ende des Flurs scheint, erhellt den Flur ein wenig. Ich bin gerade dabei, die Treppe herunterzusteigen, als ich Stimmen höre. Stockstarr bleibe ich am Ansatz der Treppe stehen.

Ich gucke auf meine analoge Armbanduhr, oder versuche eher was zu erkennen. Ich halte sie an das Fenster. Fünf Uhr morgens. Was machen meine Eltern so früh am Morgen? Ich versuche herauszufinden, woher die Stimmen kommen. Scheint, als wären sie in der Küche.

Mulmig bleibe ich stehen und versuche zu lauschen, jedoch sind die Wände schalldicht. Eigentlich ist es nicht meine Art, aber als ich klar meinen Namen höre, werde ich neugierig. Sieht so aus, als sprechen sie über mich.

Ich gehe wieder zur gewundenen Treppe und trete auf Zehenspitzen langsam auf die nächste Stufe. Immer noch bedächtig lauschend. So mache ich weiter, bis plötzlich ein Knarzen ertönt, bei der drittletzten Stufe. Panisch halte ich die Luft an, mit der Angst entdeckt zu werden.

Jedoch tut sich nichts. Mittlerweile kann ich mehr hören. Ich lehne mich ein bisschen vor, über das Geländer, sodass ich einen Blick auf den Flur erhaschen kann und sogar den Türrahmen der Küche erkenne. Jedoch kann ich meine Eltern nicht ausmachen.

„Aber …können ihr doch …sagen… Stell dir nur vor, wie …reagieren wird“, nuschelt meine Mutter.

Sie verschluckt ein paar Worte, weshalb es schwer ist, sie zu verstehen. Was wollen sie mir sagen?

„Sie hat aber ein Recht darauf! Willst du, dass sie uns hasst? Das wird sie, wenn wir weiter schweigen“, versucht mein Vater meine Mutter vom Gegenteiligen zu überzeugen.

Ich halte die Luft an, wovon zum Teufel sprechen sie? Sie verheimlichen etwas vor mir.

„Sie wird …mehr hassen, wenn sie davon erfährt!“, murrt meine Mutter. Ich kann mir bildlich vorstellen, wie sie sich jetzt in die Unterlippe beißt.

„Ich glaube dennoch, dass es eine gute Idee ist, ihr zu sagen, dass“ KNAAARZ. Ich habe mich so weit vorgelehnt, dass ich ausgerutscht bin und nun auf der gleichen Stufe Halt suchte, die mir vorhin schon fast zu meinem Verhängnis geworden wäre.

Mein Vater schreckt auf und kommt sogleich den kurzen Weg zum Flur angelaufen, bevor ich verschwinden kann. Ich kann mich gerade noch halten, bevor ich leichtfüßig die letzten Stufen herunterschreite und meinem Unglück entgegenlaufe.

„Was machst du denn noch um diese Uhrzeit? Solltest du nicht schlafen?“, fragt mein Vater überrascht, als ich auf ihn zukomme.

Sogleich fällt mir wieder ein, was meine eigentliche Absicht war hierherzukommen, das hatte ich über meine Neugier ganz vergessen.

„Das Gleiche kann ich dich auch fragen, aber um deine Frage zu beantworten: Ich wollte mir nur etwas zu trinken holen“, erwidere ich nüchtern, laufe an ihm vorbei in die Küche und ignoriere meine Mutter, die das Gespräch mitbekommen hat und am Türrahmen steht.

Ich gehe wie selbstverständlich zum Schrank über der Spüle und gieße mir Wasser ein, um es gleich darauf in einem Zug auszutrinken. Meine Eltern verfolgen das Schauspiel nur stumm.

Erleichtert seufze ich auf, weil mein Mund nun nicht mehr ganz einer Wüste gleicht, trinke gleich darauf noch ein Glas und schnappe mir schließlich eine der drei Wasserflaschen aus Glas von der Anrichte, rechts neben der Spüle.

Nun, da ich mich wieder meinen Eltern zuwende, werden sie aus ihrer Starre gerissen und mein Vater fragt auch sogleich, etwas nervös: „Hast du irgendwas von dem gehört, was wir besprochen haben?“

Leicht unsicher umfasse ich die Glasflasche fester. Sie ist sehr kalt, worauf auch meine Hand diese Temperatur annimmt. Leicht verkrampfe ich meine Hand.

„Nein, gibt es denn etwas, was ich nicht wissen darf?“

Ich höre beide erleichternd ausatmen.

„Das ist gut“, murmelt mein Vater eher zu sich und wischt sich imaginäre Schweißtropfen von der Stirn.

Ich räuspere mich und entferne mich schnellen Schrittes von der Küche, bevor ich doch noch in die Mangel genommen werden kann.

Ich haste die Treppen hoch und verschließe sorgsam die Tür zu meinem Zimmer und ließ mich gleich darauf geschafft gegen die Tür lehnen.

Ich hatte eher damit gerechnet, dass mein Vater sauer wird und nicht, dass er ängstlich, ja fast panisch reagiert.

So ganz kann ich noch nicht begreifen, was soeben geschehen ist, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie etwas vor mir verheimlichen. Anscheinend ist es keine schöne Angelegenheit – Ihr Verhalten deutet darauf hin. Ob es wohl etwas mit Anna zu tun hat?

Vielleicht haben sie sie gefunden? Vielleicht ist sie tot?

Kopfschüttelnd, versuchend den Gedanken zu vertreiben, lasse ich mich auf meinem Bett fallen.

Diese Situation macht mich nur noch sicherer in dem Beschluss, von hier abzuhauen. Da sie mir nicht sagen werden, was sie vor mir verheimlichen, muss ich es wohl selber herausfinden.

Jedoch muss ich jetzt erst mal schlafen, schließlich bleibt mir, mit Blick auf meinem Wecker, nur noch eine Stunde, bevor ich aufstehen muss.

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Nicht nur, dass ich morgens fast verschlafen hätte, ich werde den ganzen Tag  auch die Müdigkeit nicht mehr los. In der Schule bin ich einmal fast eingeschlafen, hätte mich meine Sitznachbarin nicht angestoßen.

„Lange Nacht?“, fragte sie mitfühlend.

„Wohl eher zu kurz“, antworte ich gespielt murrend, schon wieder im Halbschlaf.

Darauf lachte sie nur, murmelte „Du Arme“, bevor sie sich wieder auf den Matheunterricht konzentrierte.

Leider lief der ganze Tag so und die sonst so gerade erträglichen Minuten wurden zu quälend langen Stunden, die ich nur so gerade überlebte. Ich zog mich von allen zurück und verzog mich in den Pausen auf eine Stille Bank im Gebäude mit einem Buch, mit dem Wunsch nicht angesprochen zu werden. Auf das Buch zu konzentrieren gelang mir jedoch nicht. Dafür war ich zu müde.

Nach Hause gehen konnte ich auch nicht, meine Eltern würden mir unmöglich eine Entschuldigung schreiben und Fehlstunden wollte ich nicht auf meinem Zeugnis, zumal es mein Abschlusszeugnis sein würde.

Als der letzte Gong für den Tag ertönte, stieß ich ein tiefes Seufzen aus und war erleichtert, wieder nach Hause gehen zu dürfen.

Zuhause angekommen schmiss ich meine Schultasche in die Ecke und wollte eigentlich schlafen gehen, da fiel mir ein, dass ich noch was für mein Deutschprojekt ausdrucken musste. Wir sollten ein Plakat über Umweltschutz gestalten und dafür brauchte ich Bildmaterial.

Als ich alles an Bildmaterial an meinem Laptop gesucht hatte, speicherte ich sie auf einen USB - Stick und machte mich auf den Weg zu dem Büro meines Vaters, da ich keinen eigenen Drucker besaß.

Es war genauso hellräumig wie die restlichen Zimmer. Darin befand sich ein großer Schreibtisch, mit integrierten Sideboard und Schubladen, der gut 2/4 des gesamten Raumes einnahm. Er war ordentlich sortiert, alles lag akkurat an seinem Platz, auch ein Laptop befand sich darauf. Unter dem Schreibtisch war der Drucker. Davor stand ein großer metallischer schwarzer Drehstuhl.

Früher hat mein Vater Anna und mich immer in solchen Drehstühlen so lange gedreht, bis uns schwindelig wurde und wir nicht mehr gerade gehen konnten. Es war wie ein Karussell, was es so besonders gemacht hat.

Überall holten mich Erinnerungen an Anna ein, die ich nicht verdrängen oder verscheuchen konnte, es war wie ein Fluch, denn einmal verdrängt, kamen sie mit doppelter Stärke, wie ein großer Bienenschwarm, wieder zurück, was es immer schwerer machte sie zu ignorieren.

In dem Moment wo ich den Drucker betätigte, vorher den Stick am Laptop angeschlossen, ging mir das Gespräch meiner Eltern wieder durch den Kopf. Mich ließ es schon die ganze Zeit nicht los, was für ein Geheimnis sie wohl haben.

Ich schaute mich im Raum um. Ob es hier wohl einen Hinweis gab? Ich betrachtete die schmalen Schubladen vor mir, die unter der Platte des Schreibtisches angebracht waren.

Eigentlich spannte ich nicht, aber ich konnte nur schwer gegen die Neugierde ankämpfen, schließlich hatte ich ein Recht, das Geheimnis zu erfahren! Es ging immerhin um mich.

Mit einem letzten Zögern öffnete ich die linke Schreibtischschublade vor mir. Zum Vorschein kamen einen Ballen Briefumschläge sowie Briefmarken, aber auch Kugelschreiber, weiter hinten Notizblöcke, Tacker und Tesafilm. Nichts, was von Belang sein könnte.

Meine Hoffnung bekam einen Riss und ein bisschen Enttäuschung machte sich in mir breit, jedoch öffnete ich mit ein bisschen Hoffnung die rechte Schublade.

Dort fanden sich unzählige Briefe, beschriebene Zettel und anderer Kleinkram. Ich nahm die Briefe raus und schaute sie durch. Einer sah ungewöhnlich aus und fühlte sich komisch an. Es stand nichts drauf und es befand sich etwas Leichtes drin, was kein Brief war. Ich öffnete ihn vorsichtig und zum Vorschein kam ein Schlüssel.

Mein Atem stockte. Es war nicht nur ein Schlüssel, es war der Schlüssel. Der, nachdem ich schon so lange gesucht habe, aber nie gefunden. Das war das Geheimnis. Sie hatten ihn.

Entschlossen drückte ich ihn fest in meiner Hand, sodass sich meine Hand an den Stellen weiß färbte und anfing zu schmerzen. Einerseits empfand ich Wut, aber auch Enttäuschung. Es war nicht richtig von ihnen, den Schlüssel zu verstecken. Das bewegte mich noch mehr dazu sie zu meiden.

Sorgfältig legte ich die Briefumschläge zurück, griff meine Sachen aus dem Drucker und nahm den Schlüssel mit auf meinem Zimmer. Hoffentlich bemerkte er nicht, dass der Schlüssel weg war.

Jetzt hatte ich aber auch einen Plan.

 

5. Kapitel

 

Aufgeregt schmeiße ich meine Schultasche in die Ecke meines Zimmers…mein letzter Schultag. Obwohl eigentlich nur offiziell, inoffiziell lief schon seit den Prüfungen nichts mehr.

Morgen ist der Abschlussball, die Zeugnisse haben wir schon – das heißt ich kann endlich weg von hier. Ein Grinsen stiehlt sich bei dem Gedanken auf mein Gesicht. Mein einziger Lichtblick. Dann konnte ich endlich meinen Plan umsetzen.

Meine Eltern selber heucheln Interesse an meinem Abschluss vor, ich sehe jedoch hinter ihre Fassade. Ich habe ihnen noch nicht erzählt, dass ich abhauen werde, und auch nicht vorhabe auf den Abschlussball zu gehen, sie werden es aber noch früh genug merken.

Ein Hupen reißt mich aus meinen Gedanken. Ich schmunzele, schnappe mir meine große Sporttasche und haste, mit einem letzten Blick in mein Zimmer, die Treppe herunter und stolpere beinahe, aufgrund meiner Euphorie. Ich werfe noch ein Blick ins Wohnzimmer, bevor ich nach draußen stürme und mache einen Brief aus. Einen Brief, den ich eigenhändig geschrieben habe, und in dem ich gebeten habe, dass sie mir nicht hinterher telefonieren oder gar die Polizei wegen meines Verschwindens verständigen - das kann ich nun gar nicht gebrauchen. Überschwänglich öffne ich die Autotür und grinse dem Autofahrer an, bevor ich die Tasche auf die Rückbank schmeiße und auf dem Beifahrersitz Platz nehme.

„Danke nochmal, dass du mich mitnimmst“, meine ich und breite meine Beine aus.

„Kein Ding, hättest du mir nicht beim Lernen geholfen, wäre ich durchgefallen. Eine Hand wäscht die andere, “ grinsend startet er das Auto und braust die Einfahrt hinauf.

Er. Damit meine ich Daniel – mein Lichtblick. Er hat es im Gegensatz zu den anderen zu schätzen gewusst, dass ich gut in der Schule war. Und hat mich ein paar Wochen vor den Abschlussklausuren um Hilfe gebeten, da er Schwierigkeiten in Mathe hatte. Bisher hat niemand je um meine Hilfe gebeten, so war ich überrascht, als er eines Morgens mit der Bitte auf mich zukam. Ich willigte ein, da ich gerne Menschen half, und als ich hörte, dass er nach dem Abschluss nach Bielefeld wollte, um dort zu studieren und er erzählte, dass er dort mit dem Auto hinfahren würde, witterte ich meine Chance und fragte, ob er mich mitnehmen könne.

Er war sofort einverstanden und damit war mein Plan gesichert.

Das ist jedoch das einzige, worum ich mich gekümmert habe. Ziemlich nachlässig von mir, aber soweit im Voraus planen wollte ich nicht. Ich würde schon was finden -  hoffe ich.

„Na, du hast mir noch gar nicht erzählt, was du eigentlich in Münster machen willst“ hakt Daniel interessiert nach, während er sich auf die Straße konzentriert. Der Sitz ist relativ weit nach hinten verschoben und er nimmt mit seiner großen Statue sehr viel Platz im Auto ein. Immerhin überragt er mich um gut zwei Köpfen. Jedoch hat er nicht so viel Körpergewicht, sondern ist eher dünn.

„Ich habe dort gewohnt, bevor wir hierhergezogen sind und ich wollte gerne meine Freunde besuchen und den Rest meiner Familie“ beantworte ich lächelnd seine Frage und lehne mich mit dem Kopf an die Sitzlehne.

Den wahren Grund muss er nicht unbedingt wissen.

„Das kann ich gut nachvollziehen. Weißt du, ich habe früher in Borchen, einem Vorort von Paderborn gewohnt. Jedoch ergab sich nicht immer die Gelegenheit  nach Paderborn zu fahren. Jetzt wo du es sagst, die könnte ich auch mal wieder besuchen.“

Er streicht sich ein paar verirrte blonde Haarsträhnen aus dem Gesicht, bevor er die Kupplung betätigt.

Endlich würde ich Langenfeld verlassen. Es ist nicht so, dass ich traurig darüber bin. Im Gegenteil.

Ich weiß nicht, was mich in Münster erwarten wird, aber es wird um allem Mal besser sein, als es hier je gewesen ist.

Das Lernen bin ich auch satt, endlich kann ich mich wieder auf die wichtigen Sachen im Leben konzentrieren.

„Es ist immer schön, alte Freunde wiederzusehen. Ich habe sie echt vermisst in den letzten Monaten. Deshalb sollte man jede Chance nutzen. Was genau willst du eigentlich studieren?“ Bis jetzt hatte ich noch nicht nachgehakt.

„Ich werde auf der Fachholschule in Bielefeld Fotografie und Medien studieren. Ich liebe fotografieren, habe ich schon immer. Mein Vater will unbedingt, dass ich BWL studiere, weil ich da bessere Zukunftsaussichten habe, aber du weißt ja Mathe ist nicht unbedingt meine Stärke und mir ist es ehrlich gesagt zu trocken.“

„Das klingt interessant. Kann ich auch gut verstehen, dass du kein BWL studieren willst. Ich mag Mathe auch nicht. Zum Glück mischen sich meine Eltern nicht in meine Angelegenheiten ein.“

„Was möchtest du denn studieren?“ fragt Daniel, während wir an einer Ampel stehen und schaut mich neugierig an.

„Ehrlich gesagt habe ich mir noch keine Gedanken darüber gemacht. Ich möchte erst mal einen Job finden und für ein paar Monate in Münster bleiben, dann schaue ich mal.“

Daniel schaut mich verwundert an.

„Oh, ich dachte du hättest schon einen Studienplatz. Aber ist wahrscheinlich besser. Dann musst du erst mal nicht mehr lernen. Ich hatte auch erst überlegt, erstmal ein Jahr Pause zu machen und nach Australien zu reisen, falls ich auf die Warteliste komme. Aber da ich angenommen wurde, hat sich das erledigt. Eigentlich schade. Aber vielleicht bekomme ich ja noch nach meinem Studium die Gelegenheit dazu.“

Ich nicke nur, da ich keine Lust auf eine Fortsetzung des Gespräches habe. Dazu schwirrt mir zu viel im Kopf herum. Daniel merkt meine Abwesenheit und versucht deshalb nicht, das Gespräch fortzuführen. Ich wende meinen Blick aus dem Fenster. Zum Glück ist Münster nicht so weit entfernt, es sind nur zwei Stunden.

Ich hätte dadurch auch früher weggekonnt, schließlich ist es nicht weit weg, aber ich wollte mein Geld sparen, für diesen Moment, denn schließlich muss ich mich erst mal selbst versorgen – falls mein Plan schiefläuft.

Die weitere Fahrt verläuft in Schweigen, wir machen nur einmal eine Pause, um uns mit Snacks zu versorgen.

Als wir schließlich Münster erreichten ergriff mich ein Gefühl der Euphorie, wechselte jedoch schnell zu Besorgnis. Euphorie einerseits, weil ich hier aufgewachsen bin und hier Familie und Freunde wohnen, Besorgnis andererseits, wegen meiner Mission.

Ich nenne Daniel die Adresse zu der ich will. Als wir das Ziel erreichen, packe ich meine Tasche vom Rücksitz und verabschiede mich recht distanziert von Daniel. Er ist mir zwar eine Hilfe gewesen, aber als Freund sehe ich ihn nicht unbedingt, dazu sind wir zu grundverschieden.

„Mach’s gut und melde dich, wenn du mal in Bielefeld bist“ meinte Daniel freudig und umarmte mich zur Verabschiedung, die ich halbherzig erwiderte, dann brauste er davon.

Nun stehe ich hier. Leicht unbehaglich marschiere ich zum Haus, welches in einem Wohngebiet steht und sich nicht von den anderen Betonklötzen unterscheidet.  Mulmig klingele ich an der einfarbigen weißen Tür. Das Klingelschild sieht abgenutzt aus, der Name fast nicht mehr erkennbar.

Es dauert nur ein paar Sekunden, bis mir die Tür geöffnet wird.

6. Kapitel

 

Überrascht mustert mich die Person, steht erst Mal ein paar Sekunden stocksteif im Türrahmen, bevor sie zur Seite tritt und mich mit einer einladenden Geste hineinbittet und den Flur entlang läuft.  Ihre Schritte hallen dumpf auf dem Parkett wieder. Der Flur ist umgeben von Licht, überall hängen Bilder, von ihr, ihrem Mann, berühmten Künstlern, die durch die helle sandfarbene Wand in den Vordergrund rücken.

Neben der Tür befindet sich ein hoher Kleiderständer, gefolgt von einem sandfarbenen Teppich auf dem Boden. Ich lasse meine Hand über die verschnörkelte alte Hölzerne Kommode zu meiner linken Seite streifen, die in der Mitte des Flures platziert ist, schmal, aber in der Länge eine Drittel des Flures einnimmt. Sie geht mir auf Hüfthöhe und auf ihr steht ein Foto von mir, eingerahmt. Ich halte kurz inne und betrachte mich selbst mit fünf, lachend in die Kamera blinzelnd, mit langem goldgelocktem Haar, welches sorgsam zurückgesteckt ist. Dahinter blauer Himmel. Dann folge ich ihr in die Küche. Sie nimmt am rechteckigen Tisch Platz, das Gesicht zur Tür gerichtet. Ich setze mich ihr gegenüber auf dem Holzstuhl. Kein Wort ist bis dahin gewechselt.

Ein Grinsen stiehlt sich auf ihr Gesicht, als sie mich betrachtet. Sie räuspert sich und reißt auch mich damit aus meiner Starre.

„Was führt dich her? Wissen deine Eltern, dass du hier bist?“ Ihre blasse Stirn zieht sich in Falten. Aber auch auf ihrem entspannten Gesichtsausdruck erkennt man die Falten, Sorgenfalten, die man nicht mehr ausglätten kann.

„Ist es verboten, meine Tante zu besuchen, ohne einen Grund zu haben?“, antworte ich lachend und beuge mich vor.

Als sich ihr Ausdruck nicht ändert, füge ich beruhigend hinzu: „Keine Sorge, meine Eltern wissen Bescheid, darum brauchst du dir keine Sorgen zu machen“.

Nach diesem Satz erhellt sich ihr Gesicht und sie steht auf, umrundet den Tisch mit zwei Schritten, um mich in eine tiefe Umarmung zu ziehen. Seufzend lege ich beide Arme um sie und lege meinen Kopf auf ihre Schulter. Ihre blondgelockten Haare kitzeln in meinem Gesicht und sogleich rieche ich den Hauch von Jasmin an ihr. Ihr Geruch. Den Geruch habe ich vermisst, verbinde ich ihn doch mit Geborgenheit und Sicherheit.

Denn das bin ich hier. Bei meiner Tante Kate.

Sie ist diejenige, die mir beides immer geschenkt hat.

Kate zieht sich wieder zurück und setzt sich an ihren Platz.

„Es ist schön dich wieder zu sehen“, murmelt sie und strahlt mich an. Bei ihrem Lächeln sieht man die Lachfalten an ihren Augen, die Augen selbst funkeln und ein halbmondförmiges Grübchen bildet sich auf der Seite, schräg oberhalb ihres linken Mundwinkels.

Die bernsteinfarbenen Augen geben einen Einblick in die Höhle, ihre Seele, die schon viel mitmachen musste.

„Es freut mich auch dich wiederzusehen. Ich hoffe, du hast nichts dagegen, wenn ich ein paar Tage bleibe…?“, auch wenn ich die Antwort weiß, so fürchte ich doch eine Verneinung.

„Natürlich nicht. Du bist hier immer willkommen. Das weißt du doch.“ Damit drückt sie meine Hand, die ich auf dem Tisch platziert habe.

„Willst du dich ausruhen? Ich muss noch ein bisschen arbeiten, aber später habe ich Zeit für dich. Du weißt ja, wo dein Zimmer ist. Ich beziehe noch eben schnell dein Bett.“

„Danke, Kate. Spielen wir nachher Schach? Das habe ich schon ganz vermisst.“

„Ja, das können wir gerne machen.“

Nachdem Kate mein Bett bezogen hat und sich wieder ihrer Arbeit gewidmet hat, sie ist eine Krimi Autorin für einen angesehenen Verlag, lasse ich mich auf das Bett sinken und betrachte mein Zimmer, dass mir schon immer als Rückzugsort diente, wenn meine Eltern mal wieder abweisend waren oder auf Geschäftsreise. Manchmal blieb ich auch für eine Woche, jedoch hat das Kate und Matthias, ihr Mann, nie gestört. Auch an diesen Wänden hingen Bilder. Typisch Kate, jeder sammelt irgendwas, ob es Briefmarken, Postkarten oder Geldmünzen sind. Kate hat die seltsame Angewohnheiten Bilderrahmen zu sammeln und damit sie auch einen Nutzen haben, kaufte sie dazu die passenden Bilder.

Seufzend lege ich mich auf den Rücken. Morgen früh würde ich nachschauen. Es muss schließlich da sein.

Ich schnappe mir ein Buch, von dem seitlich stehenden Bücherregal, indem die Bücher von Kate und anderen Autoren stehen und lese solange, bis Kate mich ruft.

Nach zwei Runden Schach und vielen Witzen verabschiede ich mich mit den Worten, dass ich müde sein. Dann ging ich schlafen.

 

7. Kapitel

 

Als ich meine Augen öffne, muss ich mich erst einmal orientieren. Es ist schon lange her, dass ich das letzte Mal in diesem Bett aufgewacht bin. Ich lasse meinen Blick einmal im Zimmer umherschweifen und bleibe am Fenster gegenüber dem Bett hängen, welches mir sonniges Wetter präsentiert. Dann strecke ich mich, bevor ich aufstehe und in meinem Schlafanzug dem Geruch von frischen Brötchen und aromatischen Kaffee folge.

„Na gut geschlafen?“ begrüßt mich Kate lächelnd, die mit einer Tasse Kaffee und der Tageszeitung vor ihr liegend am Tisch sitzt. Ich setze mich zu ihr, mein Platz ist reichlich gedeckt, sowie der restliche Tisch, von Kaffee, über Brötchen bis hin zu Aufschnitt.

„Ja, erstaunlich gut. Das Bett ist immer noch so gemütlich wie früher“, schmunzele ich und schütte etwas von dem Kaffee aus der Kaffeekanne in meine Tasse, die auf dem Tisch vor mir steht.

Es fühlt sich an, als wäre ich nie weg gewesen, so vertraut und heimisch. Könnte doch alles wieder so wie früher sein.

Als sie noch da war.

„Ja, es hat sich auch nicht verändert. Hast du denn schon Pläne für heute? Ich muss noch einiges machen. In drei Tagen muss ich meinen Plot einreichen, und mir fehlt immer noch das gewisse Etwas“, sie verzieht verzweifelt ihre Mundwinkel.

„Oh, das hört sich nicht gut an, aber dir fällt sicher was ein. Denk nicht zu viel darüber nach und lenke dich ab, dann kommst du bestimmt auf etwas Besonderes. Und ja, ich hatte vor ein paar Freunde zu besuchen.“

Ein bisschen schlechtes Gewissen hatte ich schon gegenüber Kate, bisher habe ich sie noch nie angelogen, höchstens mal was verschwiegen, aber ich konnte ihr unmöglich sagen, was ich vorhabe. Das hätte sie nicht gutgeheißen und wahrscheinlich hätte sie versucht, mich davon abzubringen. Und Streit konnte ich jetzt gar nicht gebrauchen, zudem will ich ihr auch nicht unnötig Sorgen machen.

„Das hört sich gut an. Ja ich habe schon überlegt mal wieder einen Spaziergang zu machen. Frische Luft tut mir bestimmt gut.“

„Bestimmt“, murmele ich und verschlinge den letzten Bissen von dem Marmeladen Brötchen.

Ich deute auf die Zeitung: „Irgendwas besonderes passiert?“

„Nein, das übliche, anscheinend ist eine Schlange aus einem Antiquarium entwischt, und ist in der Wohnung unterhalb in der Toilette gefunden worden, aber das war es auch schon“, lachend schlägt sie die Zeitung zusammen.

„Sachen passieren. Du, ich mach mich mal fertig, wir wollten uns schon früh treffen.“

„Ja mach das, ich fang dann auch mal an aufzuräumen.“

Mit diesen Worten mache ich mich fertig und verlasse nach einem Abschiedsgruß das Haus.

Während ich laufe, höre ich meine Lieblingsmusik über mein Handy. Meine Musik ändert sich ständig, aber im Moment höre ich Crutch von Before the Rise. In dem Lied geht es darum, dass jemand im Dunklen liegt und nicht herausfindet, aber eigentlich nur die Augen für das Licht öffnen und Energie finden muss, um wieder nach Hause zu finden.

Ich finde es passt ganz gut. Viel zu oft verschließt man sich selber, wenn man sich irgendwo verliert und anstatt, dass man einen Ausweg sucht, bleibt man im schwarzen Loch gefangen. Dabei liegt der Ausgang vielleicht direkt vor einem und man erkennt ihn nur nicht, vielleicht weil man sich schon zu sehr an die Dunkelheit gewöhnt hat oder man Angst hat, das Bekannte, die Dunkelheit, zu verlassen. Aber wenn man neuen oder auch anderen Wegen gegenüber aufgeschlossen ist, kann man es schaffen aus dem Loch herauszukommen und man kann wieder „nach Hause“ finden, zu seinem alten selbst, der Wirklichkeit. Genau das habe ich vor, ich will wieder nach Hause finden und ich weiß auch schon wie. Ob es klappt, ist eine andere Sache.

Wenn sich eine Tür schließt, heißt das nicht, dass man alles verloren hat, denn wo sich eine schließt, öffnet sich irgendwo eine andere, wahrscheinlich bessere. Verluste muss man akzeptieren. Wenn man das nicht schafft, dann ist man in einer Spirale gefangen, denn man verliert immer jemanden. Alles verändert sich, das kann man nicht aufhalten.

Ich merke erst, dass ich da bin, als ich aufschaue. Ich war so von der Musik gefangen, dass ich gar nichts wahrgenommen habe, so oft bin ich den Weg schon gelaufen. Es hat sich nicht viel verändert. Plötzlich überfällt mich ein Gefühl der Nostalgie und Erinnerungen von früher bahnen sich ihren Weg an die Oberfläche.

 

8. Kapitel

 

Ich starre zum Gebäude hinauf, betrachtend, fast schon starrend, dabei heftet sich mein Blick vor allem auf das oberste Stockwerk.

Während ich auf die Tür zugehe, schaue ich, ob noch andere Personen anwesend sind. Wurde gar das Haus neu vermietet?

Jedoch sehe ich weder ein Auto, noch Licht oder höre irgendetwas, weshalb ich davon ausgehe, dass es wohl leer stehen muss.

Ich nehme einen tiefen Atemzug, bevor ich endlich, mit festen Schritten und den Blick zur Tür geheftet, zum Eingang trete. Die Fassade ist in einem beige Ton gestrichen und die Tür, sowie die Fensterläden, in einem blassen blau, was mich früher schon immer an die Farbe eine der frisch gepflückten Vergissmeinnicht Blumen erinnerte, welche in unserem Garten wuchsen. Dazu kam das morbide Holz, was dem Haus einen rustikalen Look verpasste.

Ich drückte die Klinke herunter, jedoch tat sich nichts. Da erinnerte ich mich an den Ersatzschlüssel, den wir immer an einer Stelle in der Erde vergruben, unter einem großen Stein, direkt an der rechten Ecke des Hauses. Dort fand ich ihn auch.

Dieses Mal habe ich Glück, die Tür öffnet sich mit einem Knarzen und gibt mir den Blick auf unseren Flur preis. Seufzend blicke ich mich um, ich erkenne mein Familienhaus fast gar nicht wieder. Alle Bilder, die einst unsere Wände zierten, sind verschwunden. Die Wände sind nun ganz kahl. Ich streiche bedauernd mit den Fingern über die raue Wand, als ich in Richtung des Wohnzimmers laufe.

Die Möbel sind noch erhalten, da wir die Möbel in unserer neuen Wohnung übernommen haben.

Nur unsere technischen Geräte haben wir mitgenommen, sowie die Stühle und die Betten.

Ich ziehe den vertrauten Geruch von den verstaubten Büchern ein, welche in unserem Wohnzimmer stehen. Schließlich mache ich mich auf den Weg die Treppe hoch in mein altes Zimmer, das nun die sonst so beruhigende Atmosphäre verloren hat. Was einst mein Lieblingsort gewesen war, der mir Wärme geschenkt hat, war nun nur noch kahl und kühl. Mich durchfährt ein Schauer. Da hier nicht geheizt wird, ist es sehr kalt. Um nicht mit alten Erinnerungen konfrontiert zu werden und in Nostalgie zu versinken, wende ich mich ab.

Ich nehme meinen ganzen Mut zusammen und übertrete die Schwelle zu der Treppe, nach nun mehr als fünf Jahren, ohne, dass ich Angst haben müsste, dafür Ärger einzukassieren.

Jedoch steckt diese Angst, wenn auch sinnlos, immer noch in mir, was mich dazu bringt, die Treppenstufen zum Dachboden nur sehr bedächtig hochzugehen. Ich erschrecke bei jedem Knarzen, dass auf der Holztreppe ertönt. Schalte mich aber immer wieder gleich darauf.

Es vergehen gefühlt Stunden, bis ich schließlich oben ankomme. Alles ist immer noch wie beim letzten Mal.

Letztes Mal … es kommt mir wie eine halbe Ewigkeit vor. Ich hätte niemals gedacht, dass ein Ereignis ein ganzes Leben zerstören kann. Zögernd greife ich nach dem Schlüssel, den ich die ganze bei mir führe. Sicher verstaut in meiner Jackentasche.

Ich schließe die Tür auf und öffne sie mit ein bisschen Kraft. Sie ist sehr schwer, da sie aus Metall ist und glänzt wie neu. Ich habe mich schon immer gefragt, warum ausgerechnet die Tür neu eingesetzt wurde, wenn man das Mauerwerk noch erkennen kann und die Holztreppe auch schon modrig war. Für mich ergibt es keinen Sinn.

Als ich drinnen stehe, sehe ich mich erst einmal um. Wie auch schon beim letzten Mal stapeln sich hier die Kartons. Ich habe mir vorgenommen, alle durchzusehen, egal was mich auch schlimmes erwarten mag.

Mein Kopfkino spielt einige schreckliche Szenarien ab, die sich ereignen können…jedoch versuche ich mich davon abzulenken, da will ich nicht mal daran denken.

******

Ich mache mich an die erste Reihe der Kartons, alle sorgsam mit Kreppband verpackt. Das hätte ich mir auch denken können. Nachdem ich mir ein Messer aus der Küche geholt habe, bin ich dabei, den ersten Karton aufzuschneiden.

Mir ist klar, dass ich Anna nicht in einen der Kartons finden würde, aber es kann mir Hinweise geben und vielleicht auch das Geheimnis des Dachbodens lüften – irgendein Geheimnis liegt hier verborgen. Sonst würden meine Eltern uns nicht so strikt verboten haben, den Dachboden aufzusuchen.

Es fühlt sich schon ein bisschen komisch an, alle Kartons zu öffnen, die nun bestimmt schon 20 Jahre verschlossen sind – aber so wie es so aussieht, würde sie außer mir nie einer öffnen.

In der ersten Reihe befinden sich gefühlt zwanzig Kartons, von der Größe eines Balles bis hin zur Größe eines Wandschrankes, jedoch finde ich auch nach langem Herumwühlen nur altes Spielzeug und Babysachen – nichts besonders spannendes.

Ich war schon frustriert nach der ersten Reihe. Aber mache mich dennoch an die zweite Reihe.

Im ersten, etwas größeren Karton, finde ich eine alte Schreibmaschine, sogar noch mit Papier drin. Ich bewundere sie fasziniert, so was findet man nicht alle Tage. Ich wollte schon immer mal so eine haben – sie hatten Charisma -, aber auf den Flohmärkten verlangten sie immer übertriebene Preise und Handeln ist nicht unbedingt meine Stärke. Ich nehme mir vor, sie irgendwie mit zu schmuggeln – hoffend, dass niemand Verdacht schöpft. Nicht auszudenken, was meine Eltern sagen würden, wenn sie herausfinden würden, dass ich die Schreibmaschine habe mitgehen lassen – gar, dass ich auf dem Dachboden war, mit deren Schlüssel…

Sie würden mich töten – okay, vielleicht auch nur enterben.

Seufzend lege ich den Karton an die Seite und mache mich an die anderen Kartons.

Der nächste Karton ist so groß wie ein Schuhkarton – um genau zu sein, ist es sogar einer. Ich öffne ihn neugierig und sehe Briefe. Viele. Allesamt in Weiß. Ich nehme mir vor, sie mir später mal durchzulesen, vielleicht ist ja was Interessantes dabei.

Aber erst mal muss ich noch die anderen, ich habe sie gezählt, 60 Kartons durchgucken, davon sind mehr als die Hälfte aber nur so groß wie ein Schuhkarton. Und wie sich herausstellte, sind es nur alte Schulsachen. Ich nehme mal an, von meinen Großeltern, die nicht mehr lebten.

Es sind auch noch andere alte Maschinen dabei, ein alter Kassettenrekorder, wo man anscheinend auch Kassetten mit bespielen kann, dem Mikrofon und leeren Kassetten nach zu urteilen, außerdem ein altes Radio und Telefon. Sogar ein Schallplattenspieler befindet sich dabei.

Interessiert schaue ich mir alles an – habe aber nichts soweit gefunden, was auf ein Geheimnis hindeuten könnte. Es sind alles Dinge, die man normalerweise auf dem Dachboden lagert. In den anderen finde ich auch eine alte Nähmaschine, mit Garn, Knöpfen und Nadeln. Ich frage mich, warum niemand mehr so lange hier oben gewesen ist, wenn es hier noch so viele brauchbare Dinge gibt. Ein paar waren kaputt, es gibt zerbrochene Vasen, auch einen kaputten Stuhl  - aber die meisten Sachen hätte man auch noch verkaufen können. Das Porzellanset könnte auch viel wert sein, was ich 20 Kartons später fand. Das einzige, was nicht hier ist, ist Schmuck.

Mir ist klar, dass es hier anscheinend nichts wirklich Spannendes gibt. Auch nach mehrmaligem Verschieben und Hochheben der Kartons, finde ich keine Nische. Ich schaue an der Wand nach einer geheimen Tür, aber außer Spinnen und Spinnenweben kann ich nichts ertasten. Deshalb beschließe ich die Suche aufzugeben. Anscheinend habe ich mich getäuscht und Anna hatte sich hier nicht versteckt…vielleicht war meine Mutter vorher auf dem Dachboden und hat sich eingeschlossen und dann vergessen, wieder abzuschließen? Aber wo ist Anna dann?

Ich will nicht so schnell aufgeben – es kann nicht sein, dass hier nichts ist, aber heute werde ich bestimmt nichts mehr finden.

Ich habe schon fast drei Stunden hier verbracht, stelle ich mit Blick auf meine Uhr fest. Deshalb schiebe ich schließlich den Schuhkarton mit den Briefen auf den Karton mit der Schreibmaschine und balanciere sie auf meinen Armen.

Anschließend schließe ich die Tür wieder ab, stecke den Schlüssel aber ein – ich kann ihn meinen Vater mal unauffällig wieder ins Büro legen – falls ich sie mal besuchen komme. Was aber nicht sehr wahrscheinlich ist.

Als ich das Haus verlasse, lege ich den Ersatzschlüssel wieder an seinen eigentlichen Platz und mache mich mit den Kartons auf zu meiner Tante.

Diesmal in Stille.

Als ich ankomme, ist meine Tante nicht da – wahrscheinlich spazieren. Was ich sonst sehr frustrierend finden würde, ist nun sehr gut, da ich die Kartons nicht erklären muss. Ich hätte auch auf die Schnelle keine glaubwürdige Ausrede parat.

In meinem Zimmer angekommen, stopfe ich die Kartons in den Kleiderschrank auf dem Boden und bedecke sie mit einer Decke, dass man sie nicht sofort sieht. Ich glaube zwar nicht, dass Kate in den Kleiderschrank gucken würde, aber sicher ist sicher.

Das erste Mal, seit Anna verschwunden ist, werde ich mit dem Gedanken konfrontiert, was ich denn jetzt mit meinem Leben anstellen soll. Die Suche heute war sehr frustrierend und stellte mein gesamtes bisheriges Weltbild auf den Kopf. Ich bin mir sicher – ich war mir immer sicher, dass dort irgendwas ist. Zumindest ein Funken – ein Hinweis. Auch wenn ich nicht weiß, wie dieser Hinweis aussehen sollte – das wurde mir aber erst heute klar. Ich habe mir immer ausgemalt, dass dort etwas Unheimliches lauert, ja, dass ich Anna finde – wie töricht doch meine Gedanken waren.

Verzweifelt schmeiße ich mich auf mein Bett und starre an die Decke. Warum bin ich überhaupt zur Schule gegangen? Was mache ich eigentlich noch hier? Aber wo soll ich auch hin?

Ein neues Leben anfangen – ohne Anna, meine Eltern? Konnte ich das überhaupt?

Niedergeschlagen verberge ich mein Gesicht in meinen Händen und kneife die Augen zusammen. Ich will mich damit jetzt nicht auseinandersetzen. Nicht heute. Nicht diese Woche.

Ein Türenknallen erklingt in dem Moment – genau zur richtigen Zeit. Mir ist eigentlich nicht nach Konversation zumute, aber es ist besser, als in eine Existenzkrise zu driften. Alles ist besser als das.

Träge erhebe ich mich und lächele, nach dem Türenöffnen, träge Kate an, die mich überrascht erblickt.

„Du bist aber schon früh wieder da – ich habe nicht damit gerechnet, dich vor dem Abend wiederzusehen.“ Fragend zieht sie eine Augenbraue hoch.

Ich murmele was von, dass die Freundin noch weg musste und frage, ob sie noch Lust auf eine Runde Schach hätte, was sie zum Glück strahlend bejaht.

9. Kapitel

 

Am nächsten Morgen versuchte ich mich so gut es ging abzulenken. Da ich am vorherigen Tag ziemlich müde war, bin ich relativ schnell eingeschlafen und hatte daher noch keine Zeit, mir um meine Zukunft Sorgen zu machen.

Heute machte ich mit Kate einen ausgedehnten Spaziergang im nahe liegenden Park und rief später meine frühere beste Freundin an, um zu fragen, ob sie vorbeikommen mag. Die Freundin, die mich trotz ihres Versprechens, dass wir uns trotzdem sehen können, als ich umgezogen bin, nie angeschrieben hat. Diesmal benutze ich diese Aussage auch nicht nur als Alibi, als ich meiner Tante Bescheid sage.

Um zwei Uhr steht sie vor meiner Haustür – oder eher der meiner Tante. Ich bin noch dabei, die Tür zu öffnen, als mich Jasmin auch schon anstrahlt und mich in eine Umarmung zieht. Mit dieser habe ich nicht gerechnet und erwidere sie demzufolge nur sehr steif.

Schon zieht sie mich an der Hand in „mein“ Zimmer und lässt sich auf mein Bett fallen. Dafür, dass wir mehr als sechs Monate keinen Kontakt hatten, benimmt sie sich, als hätten wir uns erst gestern gesehen. Nicht, dass ich das schlecht finde. Ich bin ihr auch nicht böse, dass sie sich nicht gemeldet hat.

„Es ist echt schön dich wieder zu sehen. Wie geht es dir? Tut mir leid, dass ich mich nicht gemeldet habe. Du weißt ja, wie viel Stress man hat, wegen der Schule und ich war immer unterwegs …“, brabbelt sie heiter in einer Tour los, während sie immer noch grinst.

Nun zaubert sie mir doch ein Lächeln auf mein Gesicht. Das war Jasmin wie sie leibt und lebte. Nie um eine Ausrede verlegen und nie besorgt.

„Es freut mich auch, dich wiederzusehen. Wie ist es dir so ergangen?“

Ich lasse mich längs auf mein Bett fallen. Sie zieht nur fragend eine Augenbraue hoch.

„Ich habe nicht wirklich gut geschlafen“, grummele ich zur Erklärung.

Sie hebt abwehrend die Hände: „Ich habe nichts gesagt.“

Als ich nichts erwiderte, fährt sie fort: „Also, ich habe mein Abitur jetzt hinter mir, genau wie du, richtig?“ Fragend sieht sie mich an und spricht weiter, als ich zustimmend nicke.

„Und jetzt mache ich eine Ausbildung zur Moderatorin bei NewsTech.“

Erstaunt schaue ich sie.

„Wow, die sind schon echt erfolgreich, wie hast du da denn einen Platz bekommen?“

„Das habe ich mich auch gefragt, ich hatte ein Vorstellungsgespräch und da waren einfach so viele Leute, gefühlt 100. Und die haben nur 10 von insgesamt 80 Leuten angenommen. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie nervös ich war. Wir hatten ein Gruppengespräch und die anderen waren alle so viel selbstbewusster als ich. Ich habe echt gedacht, das wird nichts. Aber zwei Wochen später lag dann ein Brief im Briefkasten mit der Zusage. Das ist mein absoluter Traumjob.“

Ihre Augen strahlen voller Begeisterung, als sie davon schwärmt.

„Ich hätte nicht mal die passenden Klamotten für so ein Gespräch“, scherze ich.

Sie schaut mich verdutzt an, worauf ich meinen Kopf schüttele.

„Schau nicht so, das war nur Spaß. Ich bin echt beeindruckt, dass du angenommen wurdest. Herzlichen Glückwunsch. Aber ich wusste schon immer, dass du mal irgendwas in der Film oder Radiobranche machen wirst. Du bist die geborene Sprecherin schlechthin. Du weißt ja, dass ich sowas nicht könnte. Ich würde bestimmt nur stottern und kein Wort herausbekommen.“

 „Hast du wirklich keine passenden Klamotten für ein Bewerbungsgespräch? Das glaub ich dir nicht.“ Mit dieser Aussage steht sie auf und begibt sich zum Kleiderschrank -  alles andere Gesagte ignorierend -, in dem ich bei meiner Ankunft meine Sachen eingeräumt habe.

„Warte, nicht!“, rufe ich erschrocken, als sie den Schrank öffnen will. Doch Jasmin ignoriert meinen Ausruf und öffnet ihn trotzdem.

Natürlich fällt ihr Blick zuerst auf die große Decke, welche die beiden Kisten bedeckt. Bevor ich hoch stürmen und sie davon abhalten kann die Decke zu heben, hat sie jenes auch schon getan und starrt nun verwirrt die Kartons an.

„Was ist das denn?“

Anstatt zu sagen, dass sie von meiner Tante sind, was eine gute Ausrede gewesen wäre, kriege ich meinen Mund nicht auf. Ich habe keine Lust auf eine Befragung, habe die Kartons auch schon fast vergessen – versucht sie aus meiner Erinnerung zu löschen. Aber anscheinend machte sie mir nun damit einen Strich durch die Rechnung.

Ich schließe für einen kurzen Moment die Augen, dann stehe ich auf und gehe wortlos zu den Kartons. Währenddessen folgt Jasmin jede meiner Bewegungen.

Soll ich ihr wirklich die Wahrheit erzählen, frage ich mich, ehe ich die Kartons aus dem Schrank hole und auf meinem Bett ablege.

Kann ich ihr mein Geheimnis wirklich anvertrauen?

10. Kapitel

 

Mit einem abwartenden Blick schaut mich Jasmin an. Ich setze mich neben die Kartons und versuche ihrem Blick auszuweichen. Zweifel überfallen mich. Sie war meine beste Freundin. War. Aber ich weiß nicht, ob es eine gute Idee ist, ihr von allem zu erzählen. Alles, was ich ihr damals erzählt habe, ist, dass Anna verschwunden ist. Sie weiß auch, dass wir nie auf dem Dachboden durften.

Jedoch habe ich nie erwähnt, dass ich die Vermutung habe, dass sie auf dem Dachboden verschwunden ist. Einerseits, weil ich nicht darüber reden will und andererseits, weil sie die Angewohnheit hat, im Streit Sachen gegen mich zu verwenden. Nicht, dass wir uns oft streiten. Aber das hat mich davon abgehalten.

Und jetzt müsste ich zu viel erklären … Und sie würde Zweifel haben, weil ich ihr nicht schon früher davon erzählt habe und auch unsere Beziehung ist ein wenig eingerostet. Ich schenke ihr nicht dasselbe Vertrauen wie früher.

Seufzend und ohne Worte öffne ich den Karton mit der Schreibmaschine.

„Schau“, murmele ich, ehe ich die Schreibmaschine aus dem Karton hole.

„Oha, wo hast du die denn her? Und wieso durfte ich sie nicht sehen?“ Misstrauisch zieht sie eine Auenbraue hoch.

„Ich habe sie von einem alten Dachboden“, dabei verschweige ich, von welchem „und ich hatte die Befürchtung, dass du mich für verrückt halten würdest.“

Das letzte nuschele ich nur, da es wenig Sinn ergibt, was ich sage.

„Wieso das? Was ist daran verrückt?“

„Weiß nicht“, antworte ich ausweichend.

Ich schiebe Papier, welches auf mein Schreibtisch herumliegt, in den Halter dafür und beginne zu tippen. Zu meinem Erstaunen funktioniert es sogar.

Sie vergisst erfreulicherweise, dass es noch einen weiteren Karton gibt. Ich schiebe ihn unter das Bett, als sie mit der Schreibmaschine beschäftigt ist.

Glücklicherweise hellt sich die Stimmung wieder ein bisschen auf und wir haben noch Spaß, bis sie schließlich wieder gehen muss. Dabei überflutet mich schockierender Weise Erleichterung. Manchmal kann ich meine Gefühle nicht ganz deuten, auch weiß ich auch oft nicht, woher sie stammen könnten.

Mir ist klar, dass das meiste sich in unserem Unterbewusstsein abspielt, wir haben sogar nicht mal einen freien Willen. Deswegen können wir nichts bewusst entscheiden, da das Unterbewusstsein schon unterbewusst Dinge plant, die man erst später bewusst wahrnimmt. Wir werden von unserem Unterbewusstsein kontrolliert. Deshalb kann man bewusst nichts wirklich bestimmen und deshalb muss man tief graben, um den Auslöser einer scheinbar bewussten Entscheidung zu finden – Denn oft liegt der Auslöser in der Vergangenheit – Es lässt uns nur glauben, dass wir frei sind. Aber das sind wir nicht. Deshalb sorgt auch vieles für Gefühle, die wir in dem Moment, wo wir sie fühlen, nicht verstehen können, da wir nicht auf unser Unterbewusstsein zugreifen können, jedoch zeigt es sich uns in den Träumen, wo wir die Welt des Unterbewusstseins erkunden können.

Ich schüttele den Kopf, um wieder klar zu werden.

Ich packe die Schreibmaschine wieder an ihren ursprünglichen Platz und hole den Schuhkarton wieder unter dem Bett hervor.

Neugierig schütte ich die Briefe auf dem Bett aus. Insgesamt zähle ich zehn Briefe.

Ich öffne den, der am nächsten zu mir liegt.

Sie sehen so aus, als wären sie schon mal geöffnet und viele Male lieblos wieder verschlossen worden. Ein paar Altersspuren erkennt man auch.

Vorsichtig, mit der Absicht, den Briefumschlag nicht zu beschädigen, öffne ich ihn. Zum Vorschein kommt ein vergilbtes, viermal gefaltetes DIN A4 Papier.  

 

 

                                                      13.08.2001

Liebe Mutter, lieber Vater, 

                                                             

ich hoffe so sehr, dass ihr wohlauf seid. Wir machen uns schreckliche Sorgen. Angel meint, wir sollen nicht mehr auf den Dachboden gehen, aber vielleicht kommen die Briefe ja an. Versuchen muss ich es. „Wer nicht kämpft, hat schon verloren.“ Das hast du mir immer gesagt.

Ich wünschte, ich wüsste, was an dem Tag… passiert ist. So viele ungeklärte Fragen, die keiner beantworten kann. Die Polizei wusste auch nicht weiter. Wer hätte es auch gedacht.

Aber macht euch keine Sorgen, wir holen euch zurück, von wo immer ihr auch seid. Seid Gewiss, irgendwie, irgendwann werde ich wissen, was zu tun ist. Alles zu seiner Zeit, nicht wahr?

Ich muss weg, ich werde euch aber wieder schreiben. Ich muss nur aufpassen, dass Angel nichts mitbekommt, nachher schließt sie noch den Dachboden ab.

Ich schreibe euch,

In Liebe,

 

Sammi

 

Stirnrunzelnd lese ich den Brief erneut. Ich verstehe gar nichts. Weder wer Angel ist, noch wer Sammi oder die Großeltern sind.

Sammi scheint eine Kurzform zu sein, dann müsste Angel auch eine Kurzform sein für… Angelica?

Aber wenn es so war, müsste Sammi die Schwester sein und Angelica ist ein Einzelkind gewesen. Das ergibt alles keinen Sinn.

Ich lege den Brief beiseite und öffne alle anderen.

Sie alle sind von Sam und an ihre Eltern gerichtet. Sie beschreibt ihren Alltag, erwähnt aber nichts mehr von dem Verschwinden oder Angelica.

Ein Brief weckt jedoch meine Aufmerksamkeit, er wurde ein Jahr nach dem ersten geschrieben und ist der letzte von den zehn Briefen.

 

20.11.2002

Liebe Mutter, lieber Vater,

ein Jahr ist nun schon vergangen, sogar mehr. Ich kann es immer noch nicht ganz begreifen. Ihr fehlt mir. Habt mir immer gefehlt. Jedoch habe ich wieder Hoffnung. Dass alles wieder gut wird.

Angel hat herausgefunden, dass ich herkomme, aber noch hat sie nicht die Chance gehabt, mir das hier wegzunehmen. Ihr hättet ihr Gesicht sehen müssen.

Seit ich das letzte Mal geschrieben habe, ist viel passiert. Es gibt gute Neuigkeiten. Ihr freut euch sicher darüber. Schließlich habt ihr euch das, was mich erwartet, immer gewünscht. Nun ist es endlich soweit. Ich wünschte ihr wäret dabei.

Einige Tintentropfen verdecken den nächsten Satz.

Ich habe keine Zeit mehr, ich schreibe euch.

Wir werden euch wiedersehen.

 

Also gibt es noch einen anderen Brief?

Ich muss unbedingt wissen, was es damit auf sich hat.

11. Kapitel

 

Der Gedanke lässt mich nicht mehr los. Was, wenn es noch einen Brief gibt? Nachdenklich sitze ich auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch. Wenn es noch einen Brief gibt, wenn jemand verschwunden ist…

Vielleicht ist den Eltern das Gleiche passiert wie Anna?

Meine Neugier bringt mich manchmal echt um, das wurde mir schon immer vorgehalten. Ich bin zwar still und zurückhaltend, aber wenn ich auf etwas aufmerksam werde, lässt es mich nicht mehr los.

Um zum Punkt zurückzukommen, vielleicht hätte ich nicht voreilig den Dachboden verlassen sollen. Jedoch war ich abgeneigt ihn wieder aufzusuchen, da es das letzte Mal schon lange gedauert hat, etwas Brauchbares zu finden, da so viel unnötiger Kram auf dem Dachboden gelagert war und eklig noch dazu. Einmal habe ich in eine Kiste gepackt und als ich meine Hand wieder hervorzog, klebte Mäusekot an meinen Händen. Dieses Erlebnis kam mir jetzt noch sehr detailgetreu in mein Gedächtnis, ich konnte formlich dieses schleimige Gefühl greifen, fest, aber gleichzeitig auch weich… Ich mochte gar nicht daran denken, da verzog sich schon mein Gesicht. Meine Mundwinkel reichten bald bis an mein Kinn und meine Augenbrauen schienen meine Augen zu berühren. Auch der Geruch nach Verfaultem brannte sich in meine Nase, und nicht nur der. Nach diesem Erlebnis checkte ich jeden Karton zweimal, bevor meine Hände auch nur ansatzweise den Inhalt berührten konnten.

Aber Fakt ist, es gibt noch etwas zu finden - wahrscheinlich. Und wenn es dort etwas gibt, dann würde ich es finden, oder nicht?

Jetzt muss ich erstmal auf andere Gedanken kommen, denn nun ist es schon zu spät, um noch dort hinzugehen. Es ist zwar noch hell, aber es dämmert schon und bald wäre es stockfinster, sodass ich selbst mit der Taschenlampe Probleme hätte, etwas zu finden, was mir beim ersten Besuch bei Tageslicht schon nicht aufgefallen ist. Zudem gibt es auf dem Dachboden nur ein schmales Fenster, sodass nur gut ein Viertel des Raumes spärlich beleuchtet wird. Und Strom gab es auch nicht – schließlich wohnte dort niemand mehr.

Eine Idee macht sich in mir breit. Sie erleuchtet mein Gedächtnis. Wenn viele nicht wussten, mit was sie es zu tun hatten, neigten sie dazu Sachen zu recherchieren und was eignete sich besser dazu, als das Internet?

Voll neuer Tatendrang krame ich meinen Laptop aus meiner Tasche, hatte ich ihn noch nicht ausgepackt. Ich stelle ihn auf dem Tisch, puste eine leichte Staubschicht von der Tastatur, welche dann in kleinen Partikeln durch den Raum fliegt. Kurz darauf muss ich niesen. Hätte ich wohl eher mal saubermachen sollen, denke ich, mich selbst scheltend.

Ich starte den Computer, öffne Firefox und tippe meinen Suchbefehl ein.

Wow, 16.000 Ergebnisse wurden anscheinend gefunden. Ist ja nicht gerade viel.

Ich klicke mich durch die ersten Artikel, doch sie sind so gar nicht das, wonach ich suche. Wenn ich eins dadurch lernte, dann, dass ich mich präzisieren muss. Klar ausdrücken. Das ist noch nie ganz meine Stärke gewesen. Ich kann einen ellenlangen Bericht, ausgeschmückt mit Nebeninformationen und unnötigen Anekdoten datieren, jedoch scheitere ich daran eine Kurzgeschichte auf 4000 Zeichen zu fassen, der Einleitung, Hauptteil und Schluss umfasst. Das liegt mir einfach nicht im Blut.

Doch genau vor diesem Problem stehe ich nun. Ich versuche meine Gedanken, wonach ich suche, in Worte zu fassen, dann picke ich mir die einzelnen Wörter heraus und je weniger die Suchergebnisse passen, desto weniger Wörter benutze ich.

Ich komme sogar so weit, dass ich google, wie man richtig sucht. Ich komme mir richtig bescheuert vor, ich meine Suchen sollte eigentlich das Einfachste der Welt sein. Ist genauso dumm, wie die alte Großmutter, die denkt, sie hätte ihr Internet gelöscht. Ich tippe es dennoch in die Suchmaschine und werde auch direkt fündig. Ich bekomme eine ganze Liste mit Befehlen angezeigt. Überfordert picke ich mir eines heraus. Und noch eins. Okay, also wenn also ein Wort gar nicht erscheinen soll, dann muss man ein „-„ vor das gewünschte Wort setzen und ein Wort und ein Satz, der unbedingt in dem Artikel erscheinen muss, setzt man in Anführungszeichen.

Das Gelernte setze ich gleich um, und tatsächlich, der fünfte Artikel ist genau richtig.

„Ehepaar auf Dachboden verschwunden. Das neue Motiv eines Mörders?“ lautet die Überschrift und führt mich zu dem Fall, der mich so interessiert.

Der Artikel beschreibt, dass am 26.07.2001 ein Ehepaar in Langenfeld verschwunden ist. Die Töchter haben gesagt, dass sie auf dem Dachboden gegangen sind, um dort alte Sachen zu durchzusuchen, jedoch kehrten sie niemals wieder. Nach ein paar Stunden bemerkten die Schwestern, dass die Eltern nicht mehr da waren und auch nach mehrmaligen Durchsuchen des Hauses und Anrufen bei Freunden der Eltern, ergab sich nichts, sodass sie sich an die Polizei wandten. Doch die konnte auch nichts machen, und bis dato wurde nie eine Spur gefunden. Für alle war es ein Mysterium, man vermutete, dass es vielleicht einen geheimen Raum gab oder irgendwer es unbemerkt es schaffte, in die Wohnung zu dringen und die Großeltern zu kidnappen.

Noch weitere ähnliche Artikel tauchten auf, jedoch nur aus dem Jahr 2001, danach gab es nichts mehr darüber. Das wundert mich, wie kann jemand so etwas einfach vergessen? Es stoppte zudem sehr abrupt, was mich nachdenklich macht. Entweder es gab ein neueres, interessanteres Thema oder jemand wollte nicht, dass weiter davon berichtet wurde.

Stirnrunzelnd schließe ich den Laptop und starre für ein paar Sekunden aus meinem Fenster.

„Rose, willst du was essen?“, ruft Kate mich.

Schnell springe ich auf und laufe in die Küche. Vielleicht kann sie mir ja ein paar Antworten geben.

Auf dem Tisch steht ein fetter Topf, gefüllt mit himmlisch duftender Tomatensuppe. Ich schaufele mir den Teller voll mit dieser tomatig, aromatischen Brühe. Als i-Tüpfelchen hatte meine Tante noch frische Tomaten kleingeschnitten, die der Suppe einen noch besseres Aroma verlieh und auch einen einzigartigen Geschmack. Während ich gerade dabei bin, ein Löffel dieser roten Masse in meinen Mund zu schieben, öffnet Kate den Mund und setzt zum Sprechen an. Ich halte inne in meiner Bewegung.

„Ich hoffe, es schmeckt dir. Ist schon echt lange her, seit ich Tomatensuppe gekochte habe. Aber erzähl mal, wie war es mit Jasmin? Ihr hattet euch bestimmt viel zu erzählen, immerhin ist es schon echt lange her, seit ihr euch das letzte Mal gesehen habt. Weißt du noch, damals, als ihr zusammen gehangen habt wie Pech und Schwefel? Wenn ich dich etwas gefragt habe, dann hat Jasmin immer für dich geantwortet und umgekehrt.“ Meine Tante grinst mich mit ihren weißen Zähnen an und hat einen wegschweifenden Blick in die Ferne. Ja, ich kann es mir bildlich vorstellen, antworte ich ihr in Gedanken.

„Haha, ja stimmt. Und die Lehrer haben sich beschwert, wenn ich für Jasmin geantwortet habe, wenn sie ungemeldet dran kam.“ Lächelnd erinnere ich mich daran zurück, deswegen gab es schon viele Beschwerden, wenn wir uns gegenseitig aus der Patsche halfen. Jedoch sahen die Lehrer nach einiger Zeit kopfschüttelnd darüber hinweg und nahmen mich ungemeldet dran, wenn sie etwas von Jasmin wissen wollten und sie, wenn sie mir ein Wort abverlocken wollten.

„Sie hat mir immer erzählt, dass ihre Großeltern sie dafür gescholten haben. Sie haben es ihr aber nicht ausgeredet, sogar sie für ihre Frechheit, wie sie es nannten, auch noch belohnt. Apropos Großeltern, was glaubst du, hätten meine Großeltern gesagt? Ihr habt nie viel von ihnen erzählt, dabei hätte ich echt gerne erfahren, wie sie so waren.“ Unauffällig druckste ich herum. Ich hoffe es war nicht zu auffällig. Manchmal war es nämlich sehr auffällig, wenn man um jeden Preis versucht unauffällig zu wirken. Wenn man zum Beispiel auf Zehenspitzen zur Tür tappst und dann eine Ausrede vor sich hin stammelt, wenn man gefragt wird, wo man denn um diese Uhrzeit noch hinmöchte. Und genau in dem Moment natürlich, wo man die Tür schon geöffnet und sich im Sicheren gewährt hat, wird man erwischt. Das lehrte einen, dass man den Tag nicht vor dem Abend loben sollte. So erging es mir schon oft.

Kates Augen wandern nach rechts oben.

„Ach, sie waren wundervoll. Du hättest sie geliebt. Immer zuvorkommend und aufmerksam, sie haben echt all unsere Wünsche von den Augen abgelesen, auch wenn es nicht immer einfach war in einer fünfköpfigen Familie. Aber Schwierigkeiten und Streits gehören ja zu jeder funktionierenden Familie dazu.“

Sie schwebt immer noch in ihren Gedanken und schien eher zu sich selbst zu sprechen, aber das empfand ich als nicht schlimm.

„Was ist denn eigentlich passiert, dass sie so plötzlich verschwunden sind?“

Vielleicht ist sie ja immer noch so gefangen, dass sie nicht merkt, welche Details sie preisgibt.

Doch ihre Miene ändert sich von einen auf den anderen Schlag. Gerade noch selig vor sich hin schwelgend, verzieht sie nun ihre Augenbraue gen Mitte und ihre Mundwinkel scheinen ein Eigenleben aufzunehmen, genauso ihre Augen, die ihre Suppe aufmerksam zu mustern scheint.

„Wenn du nicht drüber reden willst, ist es schon okay“, murmele ich, denn diese Situation ist mir unangenehm. Ich schaue stochernd in meiner Suppe und bereue meine Frage. Ich mag es nicht, wenn sie traurig ist. Ich bin es auch nicht gewohnt, da sie sonst immer guter Laune ist. Das letzte Mal, dass sie so bedrückt aussah, war kurz nach dem Tod ihres Mannes, der jetzt bestimmt schon 9 Jahre zurücklag. Damals konnte ich in meiner kindlichen Naivität nicht verstehen, warum sie mir plötzlich keine Aufmerksamkeit mehr zu schenken schien. Ich versuchte alles Mögliche, sie dazu zu bringen mich wieder zu beachten, doch alles schien fehlzuschlagen. Sie hatte ihn abgöttisch geliebt und sein Tod kam auch sehr plötzlich, überraschend, denn gesundheitlich war mit ihm alles okay. Sogar besser als okay.

„Nein, ist schon gut.“ meint sie abwehrend und versucht ein Lächeln zustande zu bringen, was jedoch kläglich scheitert, denn ihre Augen verändern sich kein Stück und ihre Lippe scheinen sich dazu zu zwingen, zu verformen. Es ist schier unmöglich in dieser Situation.

Ich schaue sie mitleidig an. „Ich bin es dir schuldig. Schließlich bist du mit ihnen verwandt. Sie… sie….“, sie stockt für einen Moment und scheint nachzudenken, denn ihre Stirn verzieht sich in Falten. Unruhig knete ich meine Hände, um nicht an meinen Fingernägeln knabbern zu können. Das ist eine schlechte Angewohnheit von mir, die ich versuche mir abzugewöhnen. Schließlich sieht es sehr komisch aus, wenn ich in der mündlichen Prüfung sitze und meine Finger nicht von meinen Lippen fernhalten kann. Mit dem Kugelschreiber kann ich auch nicht spielen, also gewöhnte ich mir an, stattdessen meine Hände zu massieren. Das beruhigt mich und ist sicher gesunder, als sich die Haut von den Händen zu zupfen.

Ich blicke von meinen Fingern auf und blicke geradewegs in Kates Augen, die mich nun entschlossen anblicken. Erstaunt erwidere ich ihren Blick.

Sie setzt an und fährt mit ihrer Erklärung fort. Ihr nachfolgendes Geständnis bringt mich nicht nur in einem Punkt zur Erkenntnis, nein, sie verletzt auch einen unbewussten Punkt, von dem ich nicht wusste, dass er noch aktiv ist.

12. Kapitel

 

„Es war tragisch… Sie sind bei einem Autounfall gestorben. Von einem auf den anderen Moment war plötzlich alles anders, dabei hatten wir vorher noch über alte Zeiten geredet. Es hat uns alle sehr tief getroffen. Leider war ich zu dem Zeitpunkt nicht in Langenfeld…“ bedrückt neigt Kate ihren Kopf.

Ich bin geschockt. Weiß nicht wie ich reagieren soll.

„Das…das ist ja…schrecklich“, nuschele ich und schaue betreten zur Seite. Die traurige Stimmung scheint uns fast zu erdrücken, sie senkt sich wie eine dunkle graue schwere Wolke auf unsere Gemüter und fällt auch auf unsere Stimmung.

Schweigend starrt jeder von uns in sein Essen, das plötzlich nicht mehr schillernd rot, sondern fast Blutrot wirkt.

„Ich… ich bin echt müde. Ich gehe schlafen, okay?“ Jeder von uns weiß, dass es besser ist, die Situation aufzulösen, deshalb nickt Kate nur und wünscht mir eine Gute Nacht.

Ich gehe mit schweren Schritten auf mein Zimmer. Ich denke, Kate fühlt sich aus anderem Grund schlecht als ich. Aber das kann sie nicht ahnen. Hätte ich vorher auch nicht ahnen können. Wenn es wirklich sicher war, ich konnte mich auch täuschen, dann wäre ich zu Unrecht enttäuscht.

Mit einem Seufzen lasse ich mich auf mein Bett fallen und versuche, nachdem ich mich Bettfertig gemacht habe, zu schlafen. Es schien zur Gewohnheit zu werden, mit schlechten Gedanken zu schlafen.

Es schwirren so viele Gedanken in meinem Kopf herum, versuchen standhaft mich wach zu halten, dass es mich verrückt macht. Sie bewegen sich wie ein Tornado in meinem Kopf, der mich schwindelig macht. Warum kann man morgens eigentlich immer so gut schlafen, aber bekommt es abends nicht hin?

Ich stöhne und fasse mit den Händen an meinem Kopf. Frustriert drehe ich mein Kissen um und lege mich auf den Rücken. Meine Mutter meinte mal, dass Meditation hilft, um hartnäckige Gedanken zu vertreiben. Deshalb versuche ich es nun. Wenn das nicht hilft, weiß ich auch nicht weiter.

Ich schließe meine Augen, versuche mich nur auf meine Atmung zu konzentrieren. Tief atme ich ein. Tief atme ich wieder aus. So geht es weiter, bis… ich wieder abdrifte. Ich versuche es noch einmal, diesmal atme ich ganz normal und konzentriere mich gleichzeitig auf die Schwärze. Es scheint gefühlt Stunden zu dauern, aber irgendwann schlafe ich tatsächlich ein.

 

Am nächsten Morgen denke ich an gar nichts. In meinem Kopf herrscht Leere, es ist alles blank, wie eine Seite leeren Papiers. Der Tornado ist abgezogen. Dann fällt mir langsam wieder alles ein und ich weiß genau was ich zu tun habe. Schnell wie der Wind streife ich mir Klamotten über, lasse das Frühstück ausfallen und mache mich sofort auf dem Weg. Jedoch schreibe ich vorher noch eine Notiz, dass ich unterwegs bin, nicht, dass Kate sich noch Sorgen macht.

Schnellen Schrittes fliege ich über den Gehweg, mein Gang ist sehr bestimmt und diesmal habe ich sogar Zeit, meine alte Gegend zu beobachten, denn beim letzten Mal hatte mich die Musik so abgelenkt. Den Sommer kann man nun deutlich spüren, die Sonne scheint grell vom Himmel und jeder scheint positiv aufgelegt zu sein. Es zaubert einem sofort ein Lächeln ins Gesicht, sobald man nach draußen kommt. Die Vorgärten blühen in den schillerndsten Farben und wetteifern mit den Blüten der Bäume um die Wette. Ich ziehe den Geruch der Rosen neben mir ein, der mir lieblich süß duftend in der Nase hängen bleibt. Gleichzeitig lausche ich dem Gezwitscher der Vögel, die auf den Bäumen saßen oder auf dem Boden herumtapsten.

Mit etwas festeren Schritten und hoch erhobenen Hauptes marschiere ich das letzte Stück zum Haus. Ich schaue mich aufmerksam um, um zu schauen, ob niemand in der Nähe ist und nachdem ich nur das Gezwitscher vernehme und auch nur ein Eichhörnchen einen Baum hinaufspringen sehe, suche ich den Schlüssel und schließe die Tür auf.

Die anderen Räume lasse ich links liegen und setze zielstrebig meinen Weg zum Dachboden fort.

Dort angekommen atme ich einmal tief durch und widme mich nun, voll neuer Tatendrang und mit Vorsicht der letzten Reihe, von der ich dachte, dass sie nicht mehr relevant sein kann. Tja, zu früh gefreut, würde ich mal sagen.

Ich stehe unschlüssig vor der Reihe an Kartons und wage mich unsicher an den ersten, der in etwa einen Meter breit und lang ist. Mit gespitzten Fingernägeln, als würde ich ein fremdes benutztes Taschentuch entsorgen wollen, öffne ich den Karton.

Sofort starren mich zwei glasig vergilbte Augenpaare an, die zu zwei Puppenkörpern gehören. Sie starren mich fast vorwurfsvoll an, als hätte ich es zu verschulden, dass sie so lange in eine Kiste gesperrt wurden. Ein Gänseschauer läuft mir den Rücken herunter und ich zucke etwas zusammen.

Ich mag Horrorfilme sehr gerne und genieße auch die Angst bei den Jumpscares, jedoch nimmt es sein Ende bei Horrorfilmen mit Puppen, wie beispielweise Annabelle. Da verstehe ich keinen Spaß mehr und ich vermeide es auch Puppen im Haus zu haben, eben deswegen. Sich die ganze Zeit zu fragen, ob sie besessen sind, stresst mich sehr.

Nun aber zurück. Mit einem verzerrten Gesichtsausdruck schließe ich den Karton wieder sorgfältig und mache mich an den nächsten Karton. Das ist der größte Karton auf dem Dachboden und sticht am meisten hervor… ein Wunder, dass er mir noch nicht aufgefallen ist.

Er steht links direkt daneben und nimmt den größten Platz ein. Mit zwei Meter Länge und gut einem Meter Breite, erinnert es ein wenig an die Größe eines Bettes. Die Kiste ist horizontal aufgestellt. Ich frage mich, was da wohl drin ist. Ein Lattenrost von einem alten Bett vielleicht?

Ich kann es nur herausfinden, wenn ich den Karton öffne.

Also wage ich mich gebannt daran. Dafür muss ich mich ganz schön weit nach vorne beugen.

Als es endlich geschafft ist und die Seiten des Deckels hochstehen, betrachte ich mein eigenes Spiegelbild. Der große, schwer wirkende Spiegel, der glatt und gar perfekt wirkt, schmiegt sich an den Rand des Kartons an. Der Karton scheint maßgeschneidert zu sein. Man könnte meinen, dass er von einer Staubschicht überzogen sein muss, und auch schon leicht verblichen und verdreckt, sodass man sein eigenes nicht mehr Spiegelbild erkennen kann, doch zu meiner Verwunderung ist er aalglatt und glänzend. Als hätte ich ihn soeben gekauft. Schon komisch. Er wirkt extrem anziehend und verwundert blicke ich mich selbst an, wie ich Nichts scheinend auf dem Dachboden stehe und den Mund leicht geöffnet habe.

Ich will mich davon abwenden und den Karton schließen, da stolpere ich. Erschrocken versuche ich mich auf den Beinen zu halten, aber versage kläglich. Ich schließe meine Augen und mache mich auf einen schmerzhaften Aufprall bereit, der auch sogleich erfolgt. Ich falle, wie auch immer das geht, längs auf etwas hartem, festen, es scheint fast rutschig zu sein.

Nach ein paar Sekunden, in denen ich mich versuche zu fangen, öffne ich die Augen.

Ich schaue zu meinen Händen, sie liegen etwas ausgestreckt auf dem Spiegel.

Was ist passiert? Wieso bin ich gestolpert? Sprachlos stehe ich wieder auf und will mir den Dreck von den Hosenbeinen wischen, muss aber feststellen, dass alles sauber ist.

Ich tue so, als wäre nichts passiert. Zwar werde ich sehr wahrscheinlich blaue Flecke auf meinem Oberschenkel und den Armen bekommen, mit denen ich mich abgefangen habe, aber ich lasse mich nicht davon abhalten und widme mich dem nächsten Karton, der zu meiner linken Seite steht.

Ich öffne ihn und mir spiegelt sich das erste Bild wieder, von dem ersten Karton. Wieder starren mich zwei Augenpaare an. Komisch, noch mehr Puppen? Und sogar genau die gleichen, an derselben Stelle.

Ich schaue nach rechts und schaue an eine Wand. War die nicht auf der anderen Seite? Ich reibe mir die Augen. Ich lasse meinen Blick durch den Raum wandern und bin verwirrt. Es scheint alles spiegelverkehrt zu sein.

Vielleicht nimmt mich alles so sehr mit, dass mir meine Augen mittlerweile schon Streiche spielen. Bilde ich mir alles nur ein?

Verwundert und etwas abwesend beende ich meine Untersuchungen für heute und merke, dass es am besten ist, wenn ich wieder zu Kate gehe.

Fast wie in Trance laufe ich den routinierten Weg ab. Bemerke gar nicht, dass die Vögel nicht mehr zwitschern. Dass keine Menschen auf den Straßen zu sehen sind und auch keine Mücken um mich herumschwirren, was Typisch für den Sommer ist. Erst als ich mein Haus betrete und erwartend in Kates Zimmer platze, die immer um diese Uhrzeit dort an ihren Werken arbeitet, komme ich wieder zu mir und starre verständnislos in den leeren Raum. Etwas läuft hier gewaltig schief.

 

13. Kapitel

 

Das hier ist alles nur ein Traum und passiert gar nicht wirklich. Gleich werde ich aufwachen und in Kates strahlendes Gesicht blicken. Ganz sicher….

Ganz sicher nicht. Zynisch kneife ich meine Zähne zusammen.

Ich frage mich immer noch was los ist. Es muss doch eine logische Erklärung für all das geben. Für das Spiegelbild Paradoxon.

Ich weiß, dass man Geister wahrnimmt, wenn man sich 10 Minuten lang im Spiegel betrachtet oder sich dann das Spiegelbild verzerrt. Vielleicht habe ich die Zeit nicht wahrgenommen und habe es wirklich nur mit einem Trugbild zu tun. Das Gehirn spielt einem ja mal öfters einen Streich und trickst einen aus. Genauso, wie sich die Erinnerungen verändern, je öfter man sie abspielt. Deshalb gibt es ja Wahn, Halluzinationen und optische Täuschungen. Krankheiten wie Schizophrenie und Epilepsie sind auch nicht selten. Vielleicht bin ich ja verrückt? Die ganzen Enttäuschungen haben mich krank gemacht?

Ach komm, ich kann mich auch in etwas hineinsteigern.

Betreten verlasse ich den Raum, betrete mein eigenes und schließe auf dem Bett meine Augen. Morgen sieht die Welt bestimmt ganz anders aus… bleibt nur die Frage, ob ich solange schlafen kann.

Merkwürdigerweise fallen mir auch sofort die Augen zu.

Nach gut zwei Stunden werde ich wieder wach. Noch im Halbschlaf taumele ich aus der Tür, rufe nach Kate und als ich keine Antwort bekomme, gehe ich ins Bad, um mich frisch zu machen. Ich schlage mir kaltes Wasser ins Gesicht, das soll ja anscheinend wach machen – zumindest kann man das oft in Filmen beobachten – wirklich helfen tut es aber nicht. Danach schaue ich in den alten Spiegel vor mir und blinzele verwundert. Was? Kann das sein? Das Badezimmer sieht im Spiegel so aus, wie ich es in Erinnerung habe. Ich schaue über meine Schulter. Tatsächlich, das ist kein Traum, ich bin auf der anderen Seite des Spiegels. Ich betrachte meine schulterlangen braunen Haare, die mir nass an meinem Kopf kleben und meine glasigen grünen Augen, die an einen grünen Teich erinnern. Kopfschüttelnd kneife ich mir in die Arme und zucke gleich darauf vor Schmerzen zusammen. Zischend atme ich Luft durch meine zusammengebissenen Zähne aus. Wohl kein Traum. Aber so schnell gebe ich meine Hoffnung nicht auf. Ich hechte in mein Zimmer zurück und starre auf die Uhr, die über der Tür hängt – sie steht auf elf Uhr. Jetzt müsste es aber bestimmt schon 13 Uhr sein – die Sonne steht hoch am Himmel und um 11 Uhr war ich in meinem alten Haus. Verwundert gehe ich in die Küche. Dort steht die Uhr auf 13:45. Also ist wohl meine Uhr kaputt. Enttäuscht senke ich den Kopf und lasse mich an Ort und Stelle auf dem Boden nieder.

Ich gehe noch einmal den ganzen Tag von vorne durch. Habe ich Kate heute schon gesehen? Kann ja auch sein, dass der Spiegel gar nichts mit meiner jetzigen Situation zu tun hat. Kann ja sein, dass irgendwas im Traum passiert ist?

Ich habe mal „Inception“ gesehen, ein sehr mitreißender, komplizierter Film. Dort wollten ein paar Leute jemanden eine Meinung einpflanzen. Und zwar in dessen Traum, um es so wirken zu lassen, als käme diese Person von selber auf die Idee. Dafür haben sie die Person und sich selbst in eine Traumwelt dirigiert und in diesen Traum in einen anderen Traum und in diesen nochmal. Wenn man darin stirbt, dann stirbt man auch im wahren Leben. 

Ich weiß, dass es nichts mit meiner jetzigen Situation zu tun hat, aber es kann ja trotzdem ein Traum in einem Traum sein.

Eine Spiegelwelt wäre zu unlogisch. Wenn ich das jemanden erzählen würde, der würde ja denken, ich wäre verrückt. Ja, wenn ich es überhaupt jemanden erzählen könnte.

Ich muss an Jasmin denken, an unser Gespräch, dass wir einmal geführt haben. Es war in der 5. Klasse, wir haben uns bei ihr getroffen, lagen nebeneinander auf ihrem großen Bett, mit den Füßen an dem Bettende. Sie scrollte durch Facebook, ich las ein Buch.

Ich war sehr vertieft in mein Buch, da stupste sie mich an der Schulter an.

„Hey, stell dir vor. Du wärst der letzte Mensch, der noch lebt. Wie fändest du das?“ Ernst schaute mich Jasmin aus ihren braunen Kulleraugen an.

„Oder, warte, falsche Frage: Was würdest du tun, wenn du der letzte Mensch auf der Erde wärest?“

Ich blinzele sie an, muss erst mal aus der Welt, in der ich vor Sekunden steckte, heraus kommen.

„Hmm… gute Frage. Das wäre echt schrecklich. Aber vermutlich, in jeden Laden einbrechen und mir das teure Ben&Jerrys Eis stehlen“, kicherte ich. Jasmin fiel in mein Lachen ein.

„Ich würde die Welt bereisen und endlich mal Koalas streicheln“, seufzend und verträumt schaute Jasmin in die Gegend. Sie war schon immer reiselustig. Wenn es nach ihr gehen würde, würde sie jeden Tag ein anderes Land besuchen. Leider war es aber nicht so leicht. Und auch nicht gerade billig.

„Aber woher wissen wir denn, dass wir die letzte Person sind? Vielleicht gibt es ja noch andere, sollten wir die nicht erst finden?“, überrascht betrachtet Jasmin mich und schaut stirnrunzelnd aus dem Fenster.

„Da ist was dran. Ich habe es auf Facebook gelesen, deshalb weiß ich es nicht.“

Damit war das Gespräch beendet und jeder ging wieder seiner Beschäftigung nach.

Abwesend bemerke ich, dass ich wieder zurück bin.

Wenn ich mit meinem damaligen Gedanken Recht habe, Recht haben könnte – gab es vielleicht noch weitere, die in dieser Hölle, fernab der Zivilisation gefangen waren?

Ich muss es herausfinden! Für eine Sekunde habe ich wieder neuen Mut, jedoch erlischt sie gleich darauf wieder, als mir bewusst wird, dass ich keinen Schimmer habe, wie ich jemanden finden sollte.

Jetzt, wo es mir einfällt - seit ich auf dem Dachboden war, ist mir kein Mensch über den Weg gelaufen.

Um meine Theorie zu bestätigen, schlüpfe ich schnell in meine Sneakers, schnappe mir den Schlüssel und laufe auf die Straße.

Stille. Kein Ton erklingt. Normalerweise ist diese Straße immer voller Leben. Kinder toben rum, Katzen streunern, Familien haben eine Grillparty im Garten. Ein Nachbar übte Schlagzeug spielen. Klassische Musik ertönt aus dem Erdgeschoss aus dem gegenüberliegenden Haus.

Doch nun… nur Stille. Kein Auto weit und breit. Keine Musik. Keine Kinder. Keine Tiere.

Ich renne verzweifelt die Straße hinauf. Meine Füße tragen mich zu einem kleinen Café, das sehr populär und immer gut besucht ist. Sie stehen immer reihenweise vor dem Café, um die weltberühmten Cupcakes von Marie Antoin zu vernaschen. Als ich jetzt dort ankomme, ist es hell erleuchtet, aber niemand ist zu sehen. Der montierte Fernseher ist am Laufen, doch niemand ist da, um ihm gebannt zu lauschen und zuzusehen. Es wirkt wie aus einem Horrorfilm. Wie in einem schlechten Film.

Wenn es wirklich eine Spiegelwelt ist, warum funktionieren die elektronischen Geräte dann noch?

14. Kapitel

 

Stirnrunzelnd starre ich auf die Tür. Ich hebe meine Hand und öffne die Tür, die sich auch öffnen lässt. Ich wundere mich über so vieles, da ist das nicht mehr verwunderlich.

Ich gehe in das Café und will auf den Nachrichtensender schalten. Die Fernbedienung liegt auf dem Tisch, auf dem auch der Fernseher steht. Hinter der Theke. Doch die Fernbedienung funktioniert anscheinend nicht. Ich drücke fünfmal auf den Knopf. Nehme die Batterien raus. Tue sie wieder rein. Suche neue Batterien, die auch in der Schublade des Schrankes zu finden sind. Nebst diversen Servietten. Doch das alles nützt nichts. Kopfschüttelnd schmeiße ich die Fernbedienung in die Ecke, sie fliegt über den Tresen und schlittert auf den Fliesen zum anderen Ende des Raumes. Ich will mich am liebsten hinterherschmeißen.

Ich könnte mich jetzt fragen, warum sie nicht funktioniert.

Die wichtigere Frage ist aber: Wie komme ich wieder zurück?

Muss ich bis an mein Lebensende hier bleiben? Wahrscheinlich würde ich vorher vor Einsamkeit sterben. Das ist ja die Hölle. Wie bin ich hier nur hin geraten? Ich würde mich am liebsten in eine Ecke verkriechen, mich abschotten, die Augen zukneifen und zwar so lange, bis ich wieder zurück bin. So tun, als wäre nichts passiert.

Ich möchte nicht wahrhaben, dass das die Realität ist. Es kann gar nicht real sein. Das geht nicht in meinem Kopf rein.

Die Stadt wirkte wie ausgestorben, als hätte eine Epidemie alles Leben ausgelöscht. Dieses Schweigen jagt mir Angst ein. Diese Stille, das alles Leben ausgelöscht ist, beunruhigt mich. Man stelle sich einen alten Western Film vor, wo ein Strohballen die Straße hinaufrollt, um die Abwesenheit von Menschen, von Zivilisation zu veranschaulichen. Eigentlich liebe ich Stille, die Ruhe, um von den ganzen Stress im Leben abzuschalten. Eine entspannende, liebkosende, ummantelnde Ruhe. Jedoch war diese Ruhe hier, jetzt mehr ein bedrohliches Schweigen. Ich habe das Gefühl, dass jeden Moment etwas aus einer Ecke kommt. Sie ist so leise, dass sie schon fast wieder laut ist und mich dazu befähigt dauerhaft ein Rauschen im Ohr zu hören, was ich normalerweise nur abends bemerke.

Ich verlasse schweigsam den Laden, schlurfe die Straße hinauf, schaue in die Häuser und sehe laufende Fernseher. Eine Kaffeemaschine, die geisterhaft einen Kaffee liefert. Starr richte ich den Blick auf meine Füße, ich will das nicht mitansehen müssen.

Will hier weg. Raus. Nur weg von hier.

Starr konzentriere ich mich nur auf dem Weg vor mir, renne fast zurück zum Haus und verkrieche mich in mein Zimmer.

Ich starre auf meine Uhr. Erst unbedacht, lasse meinen Blick weiterschleifen, aber dann fällt mir was auf, mein Blick schnellt zurück. Die Uhr. Eher der Zeiger. Er hat sich bewegt! Vorhin war er noch auf elf Uhr, da bin ich mir ganz sicher, aber nun ist er auf 20. Die Uhr zeigte 11:20 Uhr.

Wie konnte das sein? Hatte die normale Welt noch Einfluss auf diese Welt? Oder funktionierte die Uhr doch?

So viele ungeklärte Fragen – so wenig Antworten. Um genau zu sein, ich habe noch keine Antworten. Seit Annas Tod bekomme ich keine Antworten mehr.

Mein ganzes Leben bestand nur daraus Antworten für unerklärliche Fragen zu finden, aus denen niemand schlau wurde. Mir wird bewusst, dass mein ganzes Leben bis jetzt sinnlos war. Das ist wie die Jagd nach einem Gespenst. Niemand kann bestätigen und wissen, dass es ihn gibt und fangen kann man ihn auch nicht, da man ihn nicht fassen kann -  er ist nicht greifbar. Ein Teufelskreis, in dem ich mich befinde.

Mein einziges Ziel erscheint mir nun noch auswegloser als zuvor. Zudem bin ich auch noch gefangen oder was auch immer das hier ist.

Keine Menschen, fast keine Geräusche, nichts… dabei kommt es mir so vor, als würde die Zeit nur sehr schleppend vergehen.

Es ist, alles wäre alles in einen Nebel gehüllt. Ein Nebel des Vergessens. Alles ist verschleiert, unveränderbar. Ich habe über nichts Kontrolle. Kann nichts ändern.

Wenn ich schon keine Antworten finde und hier gefangen bin, dann kann ich ja weiter nach Antworten suchen. Zeit genug habe ich ja jetzt, denke ich, innerlich sarkastisch lächelnd. Die gilt es zu nutzen. Vorher war alle Zeit knapp bemessen, für nichts war genug Zeit. Man lieferte sich ein Wettrennen mit ihr, versuchte sie mit allen Mitteln zu überholen. Aber am Ende verliert man immer. Die Menschen setzen sich selber Zeitlimits und bestrafen sich selbst damit. Es macht sie krank. Sie leben nicht mehr nach ihrer Zeit, sondern nach der Zeit der Gesellschaft. Nur wenige entkommen ihr. Wenn man gedenkt, dass es nicht immer so war. Früher, ganz früher gab es keine Uhren. Man richtete sich nach dem Sonnenstand, nicht aber nach Sekunden. Man lebte für den Moment. Heute lebt man für die Zukunft. Nicht die Zeit ist kostbar, sondern der jetzige Moment, das Hier und Jetzt.

In dieser Realität ist die Zeit anscheinend anders bemessen. Es ist möglich, dass eine Sekunde hier Minuten dauern kann oder auch Stunden, oder beides. Zeit hat mich schon immer fasziniert. Was wohl möglich wäre? Ob Zeit wohl für jeden anders vergeht, wie jeder vermutlich auch Farben anders wahrnimmt? Es ist ja so, dass wenn man etwas genießt, die Zeit unendlich schnell vergeht, und wenn man leidet, sich Sekunden Stunden lang hinziehen lassen können.

Jedoch kann ich darüber auch noch wann anders nachdenken.

Erstmal muss ich mich ausruhen, innerlich bin ich ziemlich erschöpft und unruhig. Mit dieser Unruhe, die meinen Geist ins Chaos stürzt, in der ich keinen klaren Gedanken zu fassen bekomme, würde ich noch verrückt werden. Aber diese innere Ruhe, mit der ich am besten arbeiten kann, lässt sich nur wiedererlangen, wenn ich aus dieser Hölle herauskomme, oder diese akzeptiere. Leider kommt Akzeptanz nicht so leicht, etwas zu tolerieren ist viel leichter. Um etwas zu tolerieren muss man es nicht verstehen. Akzeptanz setzt Verständnis voraus, und diese Welt würde ich niemals verstehen können. Also bleibt mir nur übrig, einen Ausweg zu finden.

Mir liegt es fern in dieser Situation optimistische Gedanken zu hegen.

Aber negative Energie würde mich auch nicht weiterbringen. Ich könnte mich in eine Ecke verscharren, heulen, denken es sei eine Illusion. Aber würde mich das weiter bringen? Würde es etwas ändern? Wohl kaum.

Ich brauche einen Plan – oder zumindest einen Anhaltspunkt.

Da fällt es mir ein: Dort wo ich hineingekommen bin, muss es doch auch einen Ausgang geben, nicht wahr?

Mit dieser Erkenntnis, die sich wie ein Lichtstrahl in mir auszubreiten beginnt, verdrängt es den Wirbelsturm und wärmt meinen Körper. Wandelt die negative Energie ein Stück weit in positive Energie um. Ein kleiner Schub. Doch dieser Schub reicht aus, um ein bisschen von dem Chaos zu vertreiben, um mich anzutreiben.

15. Kapitel

 

Alle guten Dinge sind drei.

So wird es gesagt. Ob der Dachboden als ein gutes Ding zählt sei dahingestellt. Es ist lediglich eine Hoffnung.

Meine Beine haben mich von ganz alleine zum Dachboden getragen. Dort stehe ich nun. Starre auf die Kiste. Die, die sehr wahrscheinlich für meine jetzige Lage verantwortlich ist.

Unbehaglich öffne ich zögernd und mit Bedacht den Karton. Es fühlt sich wie ein Deja – vu an. Nur ist es diesmal eine andere Ausgangssituation.

Als ich nun in den Spiegel starre, erkenne ich ein Stück weit die Panik in meinem Gesicht. Oder eher in meinen Augen. Sie strahlen Furcht aus, sind weit aufgerissen. Wenn es nicht klappt, dann wäre meine Hoffnung ausgelöscht. Diese Sorge löst eine ungesunde Blässe in meinem Gesicht aus, gleichzeitig wird mir heiß. Mein Gesicht fühlt sich an wie Feuer. Ich bin gefangen. Ausgesperrt. Mir bleibt ein normales Leben verwehrt. Verschwunden, vermisst? Aber niemals auffindbar. Niemand würde jemals herausfinden, was passiert ist. Niemand kann mich retten. Nur ich kann mich selbst retten. Falls es möglich ist.

Ich atme tief ein und lege beim Ausatmen zur Probe eine Hand auf den Spiegel. Kälte kriecht zugleich unter meinen Pullover, erreicht meine Schulter und klammert sich mit ihren eisigen Krallen daran fest. Ich erwartete etwas Großes und bin enttäuscht, als ich immer noch in mein unverändert blasses Gesicht starre. Habe ich etwas falsch gemacht? Beim ersten Mal bin ich ja gestolpert, vielleicht liegt es daran. Muss ich mich etwa auf den Spiegel schmeißen, um eingesogen zu werden? Um wieder auf die andere Seite zu gelangen? Ich tue den Gedanken als lächerlich ab, will aber nichts unversucht lassen. Ich bereite mich flüchtig mental auf den Schmerz vor. Es gibt einen Unterschied zwischen Zufall und Absicht, ob ich zufällig darauf falle oder es vorsätzlich tue. Der Schmerz der folgt, brennt sich in meine Nervenbahnen und scheint mir noch schlimmer, als beim ersten Sturz. Ich schließe die Augen. Habe Angst, sie wieder zu öffnen, weil mir, wenn es nicht gelungen ist, keine anderen Möglichkeiten mehr in den Sinn kommen. Fast krampfhaft verschließe ich sie, beiße meine Zähne schmerzhaft zusammen, auch um den Schmerz des Sturzes zu übertönen. Fluchend reibe ich mir meine wunden Handflächen.

Ich entspanne mich mit der Zeit und öffne schließlich wieder die Augen. Meine Augen blicken zurück, doch alles ist unverändert.

Stumm laufen Tränen meine Wange hinab. Ich lasse sie einfach laufen und schmecke auch bald salziges Wasser. Frustriert kühle ich meine Stirn an der Glasscheibe.

Ich bin erschöpft. Es ist einfach zu viel passiert. Ich atme ein und hechte mich zurück auf meine Beine, durchforste mit meinem Blick den Dachboden und zwinge mir ein Lächeln auf dem Gesicht – nicht für jemand anderes (hier war ja auch niemand), sondern für mich.

Es ist bewiesen, dass es einem sogleich besser geht, wenn man in Aufrechter Haltung sitzt, nur Traurige lassen sich hängen, und den Kopf hebt. Man fühlt sich sofort erhabener, als stehe man über den Dingen.

Etwas Positives hat es ja alles: Ich habe unendlich viel Zeit. Wie es aussieht, verspüre ich auch kein Hunger und Durst, aber das kommt wahrscheinlich wegen der Aufregung.

Gemächlich steige ich vom Spiegel und schaue mich in der Reihe um. Vielleicht gibt es ja HIER eine Geheimwand, wenn schon nicht in der realen Welt. Wer weiß. Niemand kann es ausschließen, man weiß nichts darüber.

Ich taste mich an der Wand entlang, Stein für Stein, stolpere beinahe über einen Handschuhgroßen Karton, gehe weiter an der Wand entlang.

Hmm, das wird nichts. Aber wenn wir beim gleichen Gedanken bleiben. Stelle man sich nur vor: Es gibt hier andere Gegenstände? Eigentlich unmöglich in einer parallelen Dimension, oder nicht?

Ich laufe zu der Reihe mit den Briefkartons. Wenn es vielleicht jemand vor mir gab, der sich die Briefe durchgelesen hat? Oder waren es gar ganz andere Briefe?

Ist nur die Frage, wer vorher hier war. Wer ist so blöd, genau dann blöd zu stolpern, als er vor einem Spiegel stand – außer ich natürlich? Ich denke, wohl niemand.

Widme ich mich lieber den Kartons, die ich noch nicht geöffnet habe. Die Chance, dort etwas zu finden, ist viel wahrscheinlicher.

16. Kapitel

 

Vorsichtig mache ich mich nach einer kleinen Verschnaufpause an die restlichen Kartons. Sie variieren in Größe und Form. Ein kleines rotes Päckchen erregt meine Aufmerksamkeit. Allem Anschein nach hat man hier auch Blumenschmuck aufbewahrt.

Dankeskarten liegen sorgsam unter dem Blumenschmuck. Schien von einer Feier zu stammen. Das nächste Paket beinhaltet einen Käfig mit Vogelhäuschen und Stangen. Ich frage mich, für welchen Vogel das wohl war. Er geht mir bis zu meinen Knien, also nicht gerade groß, bedenke man, dass ich gerade mal 1.60m erreiche. Also vielleicht für einen Wellensittich und gerade noch für einen Kanarienvogel. Ich erblicke eine Türkis blaue Feder, sie nimmt einen Finger ein. Ich lächele, als ich sie zwischen den Fingern halte und die feine Struktur erfühle. Sie gibt mir sofort ein Gefühl von Frieden und entspannt mich. Einen Moment später liegt sie wieder an ihrem Platz. Auch das Gefühl ist so schnell verschwunden, wie es gekommen ist. Ich blinzele verwirrt. Habe ich sie nicht gerade noch in der Hand gehalten? Komisch.

Ich betrachte sie noch eine Weile. Gerne würde ich wissen, wie sie ihren Weg hierhergefunden hat. Wahrscheinlich hing sie noch am Käfig. Abgerupft oder verloren.

So mache ich ein paar Minuten, Stunden – vielleicht auch Tage, weiter. Mein Zeitgefühl hat mich längst verlassen.

Ich vergesse mich in der Aufgabe, mache keine Pause und beschließe, noch mal ganz von vorne anzufangen mit dem Durchforsten der Kisten.

Alles ist verschwommen, die Zeit wabert herum, wie gedunstetes Wasser, wie Rauch. Sie fließt ineinander und stiebt im nächsten Moment auseinander. Fliegt in alle Himmelsrichtungen, unendlich auseinander. Ein anderes Mal vereinen sie sich, trennen sich, bevor sie sich wieder miteinander verknüpfen.

Manchmal fühlt es sich an, als hätte ich Zeit verloren, ein anderes Mal, als hätte ich Stunden dazu gewonnen, so viele, dass ich hätte in der Vergangenheit leben können.

Irgendwann bemerke ich es gar nicht mehr. Achte nur noch auf die Kiste vor mir.

Kurz vor der letzten Reihe, noch nichts Erwähnenswertes gefunden, bemerke ich etwas. Ich habe einen Tunnelblick entwickelt, etwas anderes brauche ich hier aber auch nicht. Doch es ist ein Geräusch, was meine Aufmerksamkeit außerhalb meines Betrachtungsfeldes lenkt.

Ein Schnaufen. Leise. Fordernd. Animalisch. Fast schon bedrohlich.

Gerade kniete ich noch und schiebe nun meine Knie herum, mache eine 180 Grad Wendung – und schrecke auch sogleich zurück. ES steht genau vor mir. Ich hätte es fast mit der Nase berühren können. Wäre ich nicht zurückgeschreckt. Die feuchtglänzende Schnauze schnaubte. Über der Schnauze funkeln mich dunkle, fast schwarze Wolfsaugen an. Ich lasse meinen Blick wandern. Vor mir steht ein grauer Wolf, der mich in meiner knienden Position überragt. Ängstlich versuche ich zurück zu kriechen, jedoch verliere ich mein Gleichgewicht wegen meiner Hastigkeit und falle auf den kalten, alten Holzboden. Auf meinen Rücken, der auch sogleich schmerzt. Das hindert mich jedoch nicht daran, mich aufzusetzen und nach hinten zu rutschen. Dabei rührt der Wolf sich nicht mal von der Stelle.

Ich konnte nicht mal sagen, ob es lebte.

Ich konnte ihn nicht atmen hören.  

Ich konnte nicht mal definieren was es war.

Steht gerade noch ein riesiger, schnaubender feuerroter qualmender Wolf vor mir, dessen Fell auch gut durch Feuer hätte ersetzt werden können, krabbelt in der Sekunde, nachdem ich es entdeckt habe, schon ein verschrecktes Kaninchen vor mir her. Es ist, als ob er in einem unsichtbaren Stall gefangen ist, denn er bewegt sich nie mehr als ein Meter in alle Richtungen von seiner Ausgangsposition fort. Der Übergang vom Wolf zum Hasen ist flimmernd, sprunghaft. Nicht fließend, wie ein beständiger Fluss, sondern eher stockend, wie ein alter Computer, der erst nach Stunden reagiert, sodass man nach unzähligen ungeduldigen Klicks auf einen Tab, nach ein paar Minuten hunderte Tabs offen hat. Es kommt mir ein bisschen wie ein Hologramm vor, als wäre er projiziert worden. Meine Angst wandelt sich in Neugier, jedoch bleibe ich misstrauisch, so weiß ich doch nicht, ob es mir wohlgesonnen ist. Vor mir erhebt sich nun ein Rabe, der mich keck anlächelt, mit dem Schnabel knirscht und auf dem Boden hektisch herumspringt.

Woher kommt es? Was will es? Und wohin wird er gehen, aber vor allem, was ist es? Tausende Fragen schießen mir gleichzeitig in den Kopf.

Kann es mich überhaupt verstehen? Der Rabe verformt sich rot flackernd zu einem weißen, dünnen Kater, der mich miauend anschaut. Er ist zu mir gerichtet und hat den Kopf zur Seite gelegt, er schaut fast fragend. Versucht es etwa mit mir zu kommunizieren?

Kann er mir Fragen liefern? Ich meine, wie lange bin ich überhaupt schon hier? Vielleicht bin ich auch schon tot? Dann wäre das wohl die Hölle.

Ein Fauchen erklingt. Erschrocken sehe ich auf. Nun schnurrt die Katze. Schaut zur Tür. Ich schaue zur Tür. Er weiß den Ausweg! Er kann mich hinführen!

Nun formt sich eine Libelle, ich erinnere mich an den Religionsunterricht, stand dort die Libelle nicht symbolisch für einen Boten?

„Bist du ein Bote?“, fragte ich zögernd und leise, aber klar.

Nun bildet sich ein Orang-Utan, er streckt lachend die Hände in die Luft und grinst mich an. Feixend deutet er mit der Hand auf die Tür.

Ich werde frei sein! Zumindest habe ich die Hoffnung. Ist es wirklich keine Falle? Aber wer soll schon hier sein? Naja, der war auch da und ich wusste es nicht… aber ich vertraue dem Ding mal.

Mit diesem Gedanken blicke ich einen farbig schillernden Kolibri an, der mit seinen Flügel schlug, seine Federn gingen in Flammen über. So klein, aber doch so groß und majestätisch mit seinen Flügeln.

Ich setze mich auf und ziehe mich auf meine Beine. Als ich einen Schritt vorsetze, fliegt der Vogel auch aus seinen unsichtbaren Käfig.

Ich folge dem Vogel. Aus dem Haus. Auf die Straße, durch die Straßen. In den Wald. Ich versuche ihn zu greifen, er ist direkt vor meinem Auge, aber sobald ich ihn berühre, verblasst er. Ich erschrecke, will ich doch meine einzige Hoffnung nicht verlieren. Schnell ziehe ich meine Hand zurück und er ist wieder klar sichtbar vor meinen Augen. Wie ein Geist, eine Illusion. Er funkelt, brennt lichterloh wie ein Feuer. Wie ein Hologramm flackert er, immer wieder neue Farben, neue Formen, seine Federn leuchten so grell wie die Sonne. Schaut man zu lange hin, wird man blind.

Beständig fliegt er um jede Ecke, jeden Winkel. Ich folge ihm stundenlang – vielleicht auch Jahre. Das vermochte ich nicht zu sagen. Wenn ich langsamer wurde, wurde er auch langsamer. Wenn ich eine Pause machte, machte auch er eine Pause. Ich verspürte weder Hunger noch Durst. Das einzige was ich tat, war laufen. Folgen. Ich wusste nicht, ob er ein Ziel hatte, ob ich ihm folgte oder er mir. Nach einer Weile fragte ich mich, ob er wirklich nicht real war, nur meine Vorstellungskraft und ob mein Gehirn mir was vormachte, weil ich schon zu lange alleine war. Aber immerhin hatte ich was zu tun. Es war besser, als in Einsamkeit zu verharren. Nichts zu tun. Zu warten auf ein Wunder, was nicht eintreffen würde. Da war ich mir gewiss. Jedoch mit der Hoffnung, dass es passierte.

Ich sah nichts, ich hörte nichts. Konzentrierte mich einzig und allein auf das Folgen. Blendete alles aus. Ich nahm meine Umgebung außer den Vogel nur als Schatten wahr, unscharf, wie als wenn aus dem Fenster eines fahrenden Zuges schaut.

17. Kapitel

 

Ich wundere mich schon nicht mal mehr, als wir – der Vogel glitt auf dem Weg in einen Hund über – an einem Ort kommen, den ich noch nie zuvor gesehen habe. Aus meiner Blase erwacht, erkenne ich Schattengestalten. Es sind mehr dunkle Pigmentierungen, als das man etwas Lebendes erkennen kann, als wir Straßen entlang laufen, an denen sich Hochhäuser reihen.

Immer mehr schwarze Schatten huschen an mir vorüber und ich frage mich allmählich, ob was mit meinen Augen nicht stimmt. Als ich früher Kreislaufprobleme hatte, da ich zu wenig getrunken habe und mein Blutdruck zu niedrig war, bekam ich auch immer schwarze Punkte vor Augen, manchmal war es komplett schwarz und ich konnte für eine kurze Zeit nichts sehen. Schon erschreckend, wenn ich jetzt drüber nachdenke.

Getrunken habe ich ja nichts mehr, seit ich hier gefangen war. Möglich kann es schon sein. Ich kann ja schon seit einer Weile nicht mehr Realität von Fiktion unterscheiden. Vielleicht bin ich ja auch nur eine Illusion und schon tot? Oder ich liege im Koma, vielleicht war der Sturz ja so hart, dass ich ins Koma gefallen bin?

Möglich wäre es, zugegeben: sogar vieles spricht dafür - dass ich keine Grundbedürfnisse habe, ein komisches Hologramm Tier sehe und jetzt die schwarzen Schatten.

Aber tun kann ich nichts – ich muss wohl abwarten. Dass ich aufwache. Wenn es wirklich der Fall ist.

Abrupt komme ich zum Stehen, als ich in den Hund reinlaufe. Es ist ein komisches Gefühl, als würde ich in eine dichte Nebelschwade laufen, die elektrisch aufgeladen ist. Es ist auch komisch, dass ich ihn hereinlaufen konnte. Er ist noch nie gestoppt, also zumindest nicht, wenn ich es nicht getan habe. Was ist los? Der leuchtende Hund starrt auf ein Haus. Ich folge seinem Blick, kann aber nichts erkennen.

„Mission beendet“, gibt der Hologramm Hund von sich. Es klingt rauschend, und hört sich nach einer Computerstimme an; monoton, kratzend, emotionslos, kalt. Wie eine künstliche Intelligenz. Hatte ich wohl mit meiner Vermutung Recht, dass er ein Hologramm ist.

Bevor ich etwas auf die Aussage erwidern kann, hat sich der Hund schon förmlich in Luft aufgelöst. Wie ausgelöscht. So plötzlich wie er gekommen ist, ist er auch schon wieder verschwunden.

 Etwas verwirrt und geplättet, starre ich erst mal ein paar Sekunden auf die Stelle, an der der Hund vorhin noch stand. Dann fasse ich mich wieder und beginne endlich wieder meiner Umgebung meine ungeteilte Aufmerksamkeit zu widmen.

Das Haus, wo der Hund draufgestarrt hat, befindet sich schräg auf der rechten Seite der Straße, ich stehe inmitten dieser. Ich drehe mich zu der rechten Seite und blicke direkt auf ein Hochhaus, das aus dem Ostblock hätte stammen können. Mit drei Stockwerken gehört es nicht zu den größten, aber auch nicht zu den schönsten Häusern, mit der abgeblätterten grauen Farbe, in der sich auch Risse zeigen. Der Versuch dem Gebäude mehr Ästhetik mit Graffiti zu verleihen, ist ziemlich sicher auch gescheitert. Sie machen das Gebäude eher noch unattraktiver. Jedoch ist das Gebäude nicht von Belang. Es spiegelt jedoch die gesamte Siedlung wieder.

Ich marschiere zum angrenzenden Haus, das auf den ersten Blick den anderen Hochhäusern gleicht, jedoch erkennt man auf den zweiten Blick, dass es von einer anderen Aura umhüllt wird. Es ist im Vergleich zu den anderen eher strahlend, als bleich. Die anderen Hochhäuser wirken verlassen, ausgebrannt, leblos und leer. Dagegen mache dieses Haus den Eindruck, als sei es in seinen besten Jahren. Ich kann es schwer beschreiben, es ist eher ein Gefühl, das intuitive Wissen, dass etwas mit dem Haus nicht stimmt, was mich dorthin zieht. Vielleicht liegt es aber auch einfach daran, dass der Hund dort hingeblickt hat. Wer mag das schon wissen.

Meiner Intuition oder dem Hinweis des Hundes folgend, trete ich zur Tür und sehe auch sogleich, dass die Tür offen ist. Nur einen Spaltbreit. Deshalb kann man es aus der Ferne nicht erkennen. Ich trete hinein und muss sofort niesen.

Sogleich erschrecke ich, denn das Geräusch wirkt unerträglich laut in dieser Stille, die alles umgibt. Ohne die alltäglichen Geräusche – Vogelgezwitscher, anderer Leute Atemgeräusche, Autos, Gespräche -  die einem gar nicht mehr auffallen, so alltäglich geworden sind sie, kommt mir alles zu laut vor. Sogar das Wegstreichen einer lästigen Strähne, die einem ins Gesicht fällt.

Die Treppe ist von Staub überzogen – genau wie der Briefkasten und sämtliche Rahmen. Es wirkt, als wäre das Haus Jahrhunderte unbewohnt gewesen. Ziemlich bizarr, denn bis jetzt habe ich noch kein Staub gesehen – weder auf dem Dachboden, noch im Café.  

Ich gehe auf Zehenspitzen die zweiteilige Treppe hinauf und versuche sämtliche Geräusche zu vermeiden. Als ich oben ankomme, erblicke ich auf der rechten Seite eine geschlossene weiße Tür mit Spion Loch. Davor ist eine braune Fußmatte ausgebreitet, auf der „Einbrechen lohnt sich hier nicht!“ steht und darunter in kleinerer Schrift „Versuchs beim Nachbarn“. Der Spruch lässt mich schmunzeln, er ist sehr humorvoll. Jedoch steht für mich gleich fest, dass ich diese Wohnung nicht betreten werden würde, zumal ich nicht mal weiß, was ich hier suche. Es lässt mich an meiner Moral zweifeln, denn in dieser Situation, wenn ich die Wohnung betreten würde, wäre ich ein Einbrecher.

Ich seufze leise auf und wende mich der gegenüberliegenden Tür zu, die der anderen gleicht. Sie besitzt nur eine andere Fußmatte. Eine graue, schlichte.  Jedoch lasse ich auch sie außer Acht und marschiere die nächste Treppe hoch.

Ich blicke auf eine offene Tür, die mich stutzen lässt. Ob hier das liegt, was der Hund mir versuchte mittzuteilen? Hat er mich womöglich extra hierhingeführt?

Ich setze einen Schritt auf die offene Tür zu und entdecke einfaches Mobiliar: einen strahlend hellen, beigefarbenen Flur, der zu einem großen Raum führt und an dessen Seiten Türen abzweigen. Ist hier etwas?

Ich kann es wohl nur herausfinden, indem ich die Wohnung betrete. Deshalb überwinde ich mich und setze einen Schritt in die Wohnung. Ich ignoriere die seitlich angrenzenden Türen und laufe in den großen Raum.

Sogleich spüre ich einen Luftzug. Ich erstarre in meiner Bewegung, als ich etwas Ungewöhnliches erblicke. Was? Wie ist das möglich?

18. Kapitel

 

Scharf ziehe ich die Luft ein. Plötzlich erinnere ich wieder an die Schatten, die ich in diesem Dorf zum ersten Mal wahrgenommen habe. Waren das etwa… Menschen?!

Vor mir fasse ich zwei Personen ins Auge, die auf der Couch sitzen, sie sind schon in die Jahre gekommen. Dazu sind sie nicht mehr wirklich als Menschen erkennbar – vielleicht auch gar nicht mehr lebendig, sondern mehr ein Schatten, ein Abbild von den Menschen, die sie mal waren. Sie sind fast komplett transparent, wirken wie ein Schleier, in der Form ihres früheren Selbst.

Der etwas ältere Mann mit ergrauten Haaren, sitzt links neben einer gleichaltrigen Frau mit lockigen, abgestumpften weißen Haaren. Sie leidet an Haarschwund. Ihre Haut wirkt blass und grau. Sie hätten beide einem früheren Schwarz – weiß Film entsprungen sein können. Grau in Grau. Weiß in Weiß. Schwarz in Schwarz. Kein Funken Farbe haftet ihnen an. Kein Leben. Nur ein trostloses, lebloses Grau in all seinen Abstufungen.

Falten schneiden sich in ihre Haut wie Risse im Boden. Ihre Haut ähnelt einer schlimmen Dürre, die die Erde, aufgrund der Trockenheit, aufspringen lässt. Kräftig sind sie auch nicht. Sie erscheinen schwach und man erkennt ihre Knochen deutlich unter der einfachen, verstaubten Kleidung. Ihr Blick ist starr nach vorne gerichtet, auf eine Uhr, die ihnen gegenüber über einem Fernseher an der Wand hängt. Kein Ausdruck. Keine Bewegung. Nur Stillstand. Sie wirken wie Statuen, Skulpturen, einem anderen Jahrhundert entflohen. Man kann fast meinen, jemand hätte auf Stopp gedrückt und den Moment eingefroren.

Ich löse mich von meinem Platz am Türrahmen. Ich will sie ungern einfach weiter nur anstarren. Das kommt mir unhöflich vor.

Betreten und verwirrt trete ich einen Schritt voran. Keine Reaktion. Ich weiß nicht, was ich von der Situation halten soll.

Ich trete zu ihnen und wedele mit den Händen vor deren Augen herum. Leider bewirkt es nur, dass ich niesen muss. Na toll. Vielleicht sind sie ja wirklich eingefroren.

„Na das hast du ja toll gemacht, Holo, mich zu Menschen zu bringen, die zu Stein erstarrt sind.“, verfluche ich das Hologramm.

Ich fasse an die rechte knochige, von Stoff bedeckte Schulter der Frau. Sie wirkt starr und unbeweglich, gar eingerostet.

„Hallo, können Sie mich hören? Wo immer Sie auch gerade sind.“ , frage ich vorsichtig, sachte, leise, nach. Ich flüsterte, da ich laute Töne im Moment nicht ertrug. Da fällt mir ein, dass ich mal ihren Puls erfühlen kann, dann weiß ich zumindest, ob sie noch lebt oder tot ist. Kann ja auch sein, dass sie nur vor sich hinvegetieren oder ins Wachkoma gefallen sind.

Zögernd lege ich einen Finger auf die Halsschlagader. Erst denke ich, da sei nichts, aber als ich genau hinhorche und mich stärker konzentriere, erfühle ich ein sanftes, dumpfes Pochen. Es fühlt sich so an, als wenn eine kleine Fruchtfliege mich sanft anstupsen würde. Sehr leicht, unterschwellig, kaum wahrnehmbar.

Plötzlich wird er schneller, ich spüre, wie Wärme in meinen vorher kalten Finger kriecht. Dadurch, dass es so plötzlich erklingt, kann ich nicht schnell genug reagieren, da umfasst schon eine Hand in Schraubstockgriff die meine, welche gerade noch am Hals lag. Bestürzt will ich einen Schritt zurück treten, flüchten, doch das bleibt mir bei diesem Griff verwehrt.

Ich schaue in das Gesicht der Frau, das wieder zum Leben erweckt ist. Ihre Augen sind nun auf mich gerichtet, mit einem anklagenden Blick. Sie sieht wie die wachgeküsste Dornröschen aus, die nach einem Jahrhunderte Jahre langen Schlaf zum ersten Mal wieder die Augen öffnet. Die Wärme, aber auch Farbe, breitet sich langsam, schleichend, aber doch zügig auf ihrem gesamten Körper aus. Auch ihre Klamotten nehmen wieder Farbe an.

Fasziniert, aber auch von Angst ergriffen, beobachte ich das Schauspiel, was sich mir bietet. Als sie langsam anfängt ihre Muskeln zu strecken, stupst sie den Mann an und auch bei ihm beginnt eine Umwandlung.

Meine Hand ist noch immer fest umgriffen. Ich traue mich nicht, sie aus dem Griff zu befreien. Kann nicht erahnen, was mir dann passieren würde.

Wollte das Hologramm mir nicht etwas zeigen, was mich hier rausholt?

Ich erinnere mich an die Situation zurück, wo ich das Hologramm gefragt habe. Oh… Das war mein Gedanke gewesen und nicht seiner. Es steht also wohl nur in den Sternen, warum ich hier bin. Wenn ich nicht schon vorher Angst gehabt hätte, so hätte sie mich spätestens jetzt ganz ergriffen.

Die ganze Zeit habe ich beide Personen im Blick. Sie versuchen zu sprechen. Das merkt man an der Schnappatmung. Sie ähneln Fische, die zu lange an der Wasseroberfläche verweilt haben. Den Mund weit geöffnet – jedoch entflieh ihnen kein Laut. Mag wohl daran liegen, dass deren Kehle, wie der Körper zuvor, einer Wüste gleicht. Ausgemergelt und Ausgetrocknet. Die Stimmbänder förmlich verfallen. Wie lange sie hier wohl schon sitzen?

„End…d...“, krächzt die Frau und schaute mir auffordernd in die Augen. Spricht sie etwa mit mir?! Sogleich hustet sie Staub aus, dicke graue Staubwolken, die sich in der Luft verfangen und mit den Staubkörnern in der Luft verweilen. Es schüttelt ihren ganzen Körper durch, auch meine Hand beginnt in ihrem Griff zu schlottern.

Ich zeige mit dem Zeigefinger meiner freien linken Hand auf mich. Erstaunt und ungläubig. Die Frau intensiviert den Blick nur noch mehr.

Was will sie mir sagen?

Die Frau ringt um Luft und bemüht sich wirklich ein Wort mit ihrem Mund zu formen.

Erneut versucht sie es:

„End….end…l…lic“.

Flehend schaut sie mir in die Augen. In dem vorher leblosen Blick, grau und starr, leuchtet nun eine kleine Flamme, ich erkenne einen Funken Hoffnung darin.

Leider kann ich mir keinen Reim aus dem Wort bilden.

Ende? Vielleicht freut sie sich, dass jemand sie von ihrer Vegetation befreit hat? Oder Endlich? Wie: Endlich bin ich frei? Wie lange sind sie denn bitte schon hier? Ich setze gerade zum Sprechen an, als sich eine Hand auf meinen Arm legt. Als ich aufschaue, zucke ich zurück.

Was mich gleich erwarten werden wird, ist nicht ganz leicht zu glauben.

 

19. Kapitel

 Ich erstarre. Der alte Mann berührt nun auch meinen Arm. Ungläubig schaue ich auf die klobige Hand und wünsche sie mir weg. Warum haben alle das Bedürfnis mich zu berühren?

Die Frau hat wohl wieder all ihren Atem generalisiert und bringt nun ein anständiges Wort heraus: „Endlich“. Ihre Stimme klingt jetzt nicht mehr ganz so grob und kratzig, sondern hat einen melodischen, hellen Nachklang.

„Warum hat es so lange gedauert?“ murmelt sie, wieder in diesem vorwurfsvollen Ton. Habe ich etwa was verpasst? Meine Augen fallen mir gleich aus der Augenhöhle, so groß sind sie. Ich zucke zurück. Bin ich in einem falschen Film gelandet? Bin ich wirklich tot, und habe nur erst jetzt das „Licht am Ende des Tunnels“ entdeckt?

Eine Hand legt sich auf meine Arme und meine Hand, die vorher noch umgriffen wurde, wird gelöst. Sofort ergreife ich meine Chance und stolpere schnellen Schrittes nach hinten, entferne mich von ihnen. Leider übersehe ich den Tisch, um den ich vorhin herumgelaufen bin und lande prompt auf dem Boden. Das hält mich aber nicht von meiner Flucht ab. Schnell rappele ich mich auf, hetze zur Tür und bin schon fast dort, als der Mann einen Namen ruft, der mich stocken lässt. „Sammi“. Gar nicht mal laut, sondern eher leise. Er spricht es aus, als sei es eine Tatsache.

Den Namen kenne ich. Nur woher nochmal? Er kommt mir bekannt vor, und ich weiß, dass er wichtig ist, aber nicht in welchem Zusammenhang.

„Sammi, geh nicht“, diesmal klingt es traurig, fast flehend.

Ich hebe meine Hand zur Klinke, bin aber unsicher, was ich tun soll. Ich hadere mit mir selbst. Soll ich gehen?

Wenn nicht, kann ich ihnen vertrauen? Können sie mir helfen? Ich kenne sie nicht, ich könnte auch den wahrhaften Teufel zum Leben erweckt haben. Es erinnert mich an all die Vampirbücher, wo Vampire in einen Schlaf fallen und Unwissende sie wieder aufwecken – nur um am Ende zu sterben.

Meine Hand zittert, während ich mit mir selber ringe, schwebe irgendwie zwischen den Sphären, sie trägt eine gewaltige Entscheidung in sich.

Kann ich sterben, wenn ich schon längst tot bin? Will ich es ausprobieren? Ich kann mich auch täuschen – vielleicht sind sie wirklich ungefährlich. Und was soll ich sonst machen – sie sind die einzigen „Lebewesen“ weit und breit und kennen den Namen, der mir bekannt vorkommt. Ich kann zumindest versuchen, diese Situation zu verstehen – und dazu muss ich hier bleiben. Bei ihnen. Flüchten bringt ja doch nichts. Man kann vor nichts flüchten – nicht mal oder schon gar nicht vor sich selber.

Mit einem Ruck ziehe ich die Hand, die über der Türklinke schwebt, weg. So schnell, als hätte ich sie mir verbrannt. Sie fühlt sich sogleich leichter an und ich vergrabe meine Hände in meinen Hosentaschen.  

Meine Entscheidung ist gefallen. Langsamen Schrittes gehe ich wieder zum Wohnzimmer, stoppe aber am Türrahmen. Ich will nicht wieder von ihnen berührt werden und erst muss ich etwas Wichtiges wissen. Kühl drückt sich das Holz in meine linke Schulter, mit der ich mich an dem Türrahmen anlehne. Die Kälte wirkt beruhigend und lindert auch die aufkommenden Kopfschmerzen.

Diesmal bin ich diejenige, die nicht den Mund aufbekommt und starre sie deshalb eine Weile nur an. Sie starren zurück, wirken erleichtert, als ich wieder in ihrem Sichtfeld erscheine. Jedoch schonen sie vorerst ihre, erst gerade wiedererlangte, Stimme.

„Wer…“, ich räuspere mich und fange erneut an. Mein Herz rast, es fällt mir nicht leicht meine Gedanken in Worte zu fassen.

„Wer ist Sammi?“, bringe ich heraus und warte gespannt auf die Antwort. Die beiden schauen erst mich fragend und verwirrt an, dann werfen sie sich gegenseitig bedeutungsschwangere Blicke zu. Was ist denn bitte so komisch an der Frage?

„Du…du bist nicht Sammi?“ fragt sie mit einer hochgehobenen Augenbraue, als habe ich ihr gerade erklärt, dass die Erde keine Kugel ist. Ihre Augenbrauen bilden tiefe Furchen, die aber untergehen bei ihren Falten.

Stirnrunzelnd schaue ich sie an und erwidere zögernd: „Nein, ich bin Rose.“ Meinen Namen betone ich besonders.

„Komisch, du siehst aus wie sie. Gleiche Nase, gleiche Grübchen, die gleichen samtenen braunen Haare. Gleiche Art zu reden.“, sie scheint mit sich selber zu reden, ihr Blick ist nach innen gekehrt. Der Mann schaut sie mitleidig an.

Nun schaut sie mir direkt in die Augen, dass es mir fast den Atem raubt. Sie wirkt mit einem Schlag nicht mehr so transparent, ja fast wie eine lebendige Person, mit dem feurigen Funkeln in ihren Augen.

„Sammi ist – war meine Tochter.“

Mit einem Schlag fällt es mir vor die Augen. Als wenn ein großes Schild mit einem gewaltigen Krachen vor mir auf den Boden angeschlagen wäre.

Die Briefe.

Sammy hat die Briefe an ihre Eltern geschrieben!

Trotzdem weiß ich immer noch nicht, was sie mit mir zu tun haben soll. Kannten meine Eltern sie? Vielleicht war es eine Cousine von Angelica? Wegen „Angel“. Wahrscheinlich sehe ich ihr deshalb ähnlich, weil ich mit ihr verwandt bin. Aber dann müssen die beiden hier ja auch mit ihr verwandt sein.

„Ihr seid – kennt ihr Angelica Jefferson?“ frage ich vorsichtig nach, meine Stimme klingt sehr dünn.

Erschrocken schauen sich die beiden an.

„Natürlich! Das ist unsere älteste Tochter! Woher kennst du sie? Wie geht es ihr?“, ihre Stimme überschlägt sich. Sie schaut erstaunt, ja gar überrascht drein.

„Angelica ist meine Mutter. Ihr geht es gut, denke ich, ich habe sie schon eine Weile nicht mehr gesehen.“

Wie lange es wohl schon her war? Eine Woche, ein paar Monate oder auch Jahre? Ja, eine Weile war ein dehnbarer Begriff.

Noch etwas wird mir klar. Das sind meine Großeltern, die „bei einem Autounfall gestorben“ sind. Ich hatte wohl wieder recht mit einer meiner Vermutungen. Und ein weiteres Mal wurde ich belogen. Und dann noch von der Person, der ich am meisten vertraut habe. Meine Großeltern waren außerdem die Personen, die als vermisst gemeldet wurden. Und Sammi ist eine Schwester meiner Mutter, also meine Tante. Eine Tante, die mir verschwiegen wurde. Jetzt weiß ich auch, warum Kate fünfköpfige Familie gesagt hat. Nicht etwa, weil sie ihre Katze dazugezählt hat, nein, sondern weil sie mit Sammi fünf Personen waren.

„Du bist ihre Tochter? Das heißt ja, wir sind Großeltern! Aber… wie alt bist du denn? Wie lange sind wir wohl schon in diesem Loch?“, erst schauen sie erfreut, doch sogleich drückt sie eine negative Stimmung herunter. Sie umgibt sie wie eine dunkle, schwarze Wolke, die bald ein Gewitter ankündigt.

„Ich bin jetzt 18…“, murmele ich bedrückt, da ich weiß, warum sie das gefragt haben. Die Briefe waren von 2000, das hieß, sie sind schon seit 18 Jahren verschollen – hier in der Spiegelwelt. Und haben noch keinen Ausweg gefunden. Wird es mir auch so gehen? Eingefroren für Jahre? Hätte ich sie nicht berührt, wären sie bestimmt für ewig versteinert, festgefahren an einer Stelle. Bewegungslos. Tot. Versteinert. Leblos.

20. Kapitel

„Was machst du hier? Wie bist du hierhergekommen?“

Traurig schaut die Frau, deren Namen ich noch immer nicht weiß, mich an.

„Ich schätze genau wie ihr – über den Dachboden. Ich bin auf den Spiegel gefallen, schätze ich. Ich suche meine Schwester, habt ihr sie gesehen?“

Wenn Anna auch hier gewesen ist – wenn sie hier war, dann gibt es Hoffnung.

Ihr Blick trieft bei ihren nächsten Worten förmlich vor Mitleid: „Wir waren die meiste Zeit versteinert, ich denke schon früh, ich habe es nicht im Gefühl, wie lange wir hier sind, jedoch ist uns in dieser Zeit niemand über den Weg gelaufen. Du bist die erste halbwegs lebendige Person, die uns über den Weg läuft.“

Bedrückt senke ich den Kopf. Einen Ausweg suche ich schon gar nicht mehr. Ich weiß gar nicht, wie ich daran denken konnte, wo ich doch Anna finden will! Ich schalte mich selber. Da bekomme ich die Möglichkeit herauszufinden wo Anna ist und versinke wie eine Heulsuse im Selbstmitleid, die sofort nach Mama schreit, sobald etwas passiert, was sie nicht kennt.

Enttäuscht von mir selber, schüttele ich innerlich den Kopf. Um Anna zu finden, muss ich den Kopf wahren, nicht, dass ich genauso ende wie die beiden, wie noch vor ein paar Minuten.

Ich presse meine rechte Hand gegen meine hitzig fiebrige Stirn. Meine kühle Hand, die auf die erhitze Haut trifft, kühlt meine Gedanken und ich werde etwas ruhiger.

„Komm mal her, Schätzchen. Ich habe das Gefühl, dass du verschwinden willst, wenn du noch länger dastehst“, meldet sich nun zum ersten Mal der Mann zu Wort. Erstaunt erwidere ich seinen auffordernden Blick.

Mit einem mulmigen Gefühl betrete ich das Wohnzimmer und setze mich – mit genügend Abstand – auf die Couch die senkrecht rechts zu dem Sofa steht, auf dem die beiden sitzen. Ich lasse mich in den weichen Stoff sinken und merke erst jetzt, dass ich schon viel zu lange auf den Beinen war – wann saß ich das letzte Mal - abgesehen von dem Sturz?

Ich schaue die… meine Großeltern an und frage mich, was sie wohl durchmachen mussten.

Sie haben so vieles nicht mitbekommen. Mich… Anna. So vieles nicht gesehen. So vieles nicht getan. Sie fehlten.

„Hey, nun schau doch nicht so bedrückt. Es hat alles einen Sinn und ich bin mir sicher, es gibt einen Ausweg.“, der ältere Mann starrt mich treu aus seinen liebevollen braunen Augen mit grünen Sprenkeln, an. Sie erinnern mich an die Augen meiner Mutter, sie haben diese gleiche Farbe, es ließ mich immer an einen frischen Herbsttag denken, wo die Blätter noch nicht ihre grüne Farbe verloren haben, aber kurz davor sind. Manchmal wenn sie wütend ist, verschwinden die grünen Sprenkel und sie erinnern an Kastanien, die reif vom Baum fallen. Wenn sie wütend war. Es erschien mir immer unmöglich – aber ich vermisse sie tatsächlich. Ich habe immer gedacht, ich brauche sie nicht, weil sie mich ja doch nicht sieht. Aber gerade will ich nichts lieber als in ihren Armen zu liegen. Ganz egal, ob ihre Arme mich fest um drücken oder nur seichte auf meiner Schulter liegen. Was spielt das denn schon für eine Rolle?

Ich habe gedacht, wenn ich erstmal weg bin – dann wird alles besser. Das sie der alleinige Grund für mein Unbehagen sind. Aber kann ein Mensch einen anderen Menschen unglücklich machen, ohne, dass er es bewusst oder unbewusst zulässt?

Ich habe mich selber unglücklich gemacht. Denn sind es nicht die Gedanken, die über die eigenen Gefühle entscheiden? Sind es nicht die Gedanken, die einen schlecht, aber auch gut fühlen lassen können? Und wie habe ich immer gedacht?

Man ist des eigenen Glückes Schmieds, so heißt es doch. Wenn ich mich also immer nur auf die negativen Ereignisse konzentriert habe, so konnte ich doch nicht anders, als mich schlecht zu fühlen. Die schönen Ereignisse habe ich geflissentlich ignoriert – ja sogar aus meinem Gedächtnis verbannt. Weil ich nicht einsehen wollte. Weil ich meine Fehler nicht eingestehen wollte.

Das sehe ich nun ein.

Ich habe ihnen Unrecht getan. Sie mir auch, aber haben sie nicht versucht sich zu entschuldigen? Kann ich meiner selektiven Wahrnehmung vertrauen? Habe ich nicht vielleicht was übersehen, einfach weil ich es nicht wahrhaben wollte? Erinnerungen können auch trügen. Dessen bin ich mir gewiss. Also was habe ich übersehen?

Wussten sie vielleicht sogar etwas von dem Geheimnis des Dachbodens? Und haben uns aus unserem Schutz nicht draufgelassen und waren deshalb immer so wütend, weil sie uns beschützen wollten? Konnte das sein?

Hatten sie Angst um uns und wollten uns nicht einfach nur was vorenthalten?

Und ich war so verbissen und wollte nicht auf sie hören. Hätte ich auf sie gehört, wäre ich jetzt gar nicht erst hier.

Manchmal ist es besser die Wahrheit nicht zu wissen – viel zu oft. Man pocht darauf zu wissen, was los ist, und wenn man es aus demjenigen herausgequetscht hat und die Wahrheit erfahren hat, bereut man es sogleich, weil man besser dran war, als man es noch nicht wusste. Weil man es dann nicht mehr vergessen kann. Und sich Gedanken macht.

Ich denke, wenn ich gewusst hätte, dass meine Großeltern auf dem Dachboden verschwunden sind und wir nicht drauf sollten, weil sonst die Gefahr bestünde, auch zu verschwinden – würde es mich mein Leben lang beschäftigt haben. In anderer Weise, als jetzt, wo sie meinten, meine Großeltern seien bei einem Autounfall umgekommen und es ist gefährlich auf den Dachboden zu gehen, eben weil es so ist.

Es ist erleichternder für einen zu wissen, dass jemand tot ist, als zu wissen, dass jemand verschwunden ist. Wenn jemand verschwunden ist, kann er in allen möglichen Staaten sein – tot, lebendig, gefoltert, im Koma, in einer anderen Welt…

Deshalb hat meine Tante mir wahrscheinlich auch nicht die Wahrheit gesagt.

Ich sollte nicht länger sauer sein. Weder auf meine geliebte, vertraute Patentante, noch auf meine Eltern. Das hilft sowieso niemanden. Weder mir, noch ihnen.

Ich sollte ihnen verzeihen und vielleicht können auch sie mir verzeihen.

Klar manches Problem ist noch nicht gelöst, aber das lässt sich doch alles klären, oder nicht?

Ich fühle mich auf einem Mal mit einem Schlag leicht – als hätten alle meine Sorgen und Probleme sich in Luft aufgelöst. Sie haben mich immer heruntergedrückt, wie ein schwerer Klotz am Bein, den ich überall mit mir hinschleppte – sogar hierhin. Er ist weg. Einfach so. Genauso wie das Hologramm mit einem Mal verschwunden war.

„…ey. Hörst du uns noch? Komm zurück!“ Ich nehme gedämpft panische Stimmen wahr. Sie klingen weit weg, kommen von weit unten her. Ich will ihnen winken, jedoch ist da, wo ich meine Hand fühle – vermute – nur Leere.

Ich versuche mich auf die Stimmen zu konzentrieren – zu sehen. Doch ich kann nur fühlen. Ein sanftes Kribbeln erfasst mich – habe ich noch einen Körper? Wärme durchflute mich und es fühlt sich an, als würde ich mich auflösen – in winzige Partikel und würde dann, in der nächsten Sekunde, wieder zusammengefügt werden. Aber es schmerzt nicht. Es ist, als sei ich in einem Rauschzustand, der mich Euphorie empfinden lässt. Unterbewusst weiß ich, dass ich mich fürchten sollte. Dass ich meine Großeltern wahrscheinlich nie wieder sehen werde. Aber das ist jetzt egal. Es spielt keine Rolle. Nur meine Gefühle sind jetzt vorrangig. 

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Texte: Alle Rechte liegen bei mir.
Bildmaterialien: https://www.flickr.com/photos/66126733@N04/
Cover: https://www.flickr.com/photos/66126733@N04/
Tag der Veröffentlichung: 06.01.2017

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Widmung:
Ich widme dieses Buch meiner Familie und meinen Freunden, die mir die Motivation geben, weiterzuschreiben! Danke

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