Cover

Prolog



Die Angst stand Lara ins Gesicht geschrieben, als sie in die braunen Augen ihres Mannes blickte. An seinem Blick konnte man deutlich erkennen, dass ihn die letzten Tage schwer mitgenommen hatten. Seine Wangen waren hohl und seine Erscheinung wirkte ausgezehrt. Lara machte sich Sorgen um ihn. Das Feuer in dem Braun seiner großen Augen, das sonst glühte und schon in so mancher Situation Ruhe und Wärme gespendet hatte, war erloschen. Sein glasiger Blick wanderte zu dem Leinenbündel, das in Laras Armen lag. Es war seine Kleine Tochter Luna. Heute war ihr erster Geburtstag und er konnte es nicht glauben, dass ausgerechnet heute diese widerliche Geschichte, der er ursprünglich so wenig Wahrheit beigemessen hatte, Wirklichkeit werden musste. Das kleine Mädchen atmete leise im Schlaf. Lara strich ihrem Kind über das rabenschwarze Haar und gab ihm einen sanften Kuss auf die Stirn, damit es nicht erwachte. Der Mann, der schon seit geraumer Zeit vor ihnen stand, beobachtete all dies mit einer unergründlichen Mimik. Es war ihm nicht im Geringsten anzumerken, was er von dieser sich ihm bietenden Schau hielt. "Gib mir das Kind.", sagte er zugleich ruhig und entschlossen. Dem Tonfall, den er anschlug, hätte niemand aus freien Stücken gerne widersprochen. Auch Lara war nicht wohl dabei, doch sie wusste, dass sie keine andere Wahl hatte.
"Nein.", sagte sie und wünschte, diese Worte hätten sich genauso entschlossen angehört, wie sie es gewollt hatte. Doch sie hörte, dass ihre Stimme zitterte und die Verunsicherung zwischen den Zeilen deutlich zutage trat. Ein feines Lächeln huschte über das Gesicht des Mannes, der da so breitbeinig und gefasst vor ihnen stand, dass Lara das Gefühl hatte vor einer Mauer zu stehen, die sie nie einreißen können würde.
"Gib mir das Kind.", wiederholte er sich und dieses Mal klang seine Stimme nicht mehr ruhig, sondern ungeduldig, aber dennoch kein bisschen weniger entschlossen. Diesmal schüttelte Lunas Vater den Kopf. Er brachte keine Worte hervor, so groß war der Kloß aus purer Angst, der ihm im Hals saß. Das höhnische Lachen des Mannes klang wie das Bellen eines mordlustigen Hundes und Lunas Eltern hatten nicht den geringsten Zweifel daran, dass auch dieser Mann keinerlei Probleme mit einem Mord haben würde. Auch nicht, oder vielleicht sogar besonders dann nicht, wenn sie die Getöteten sein würden. Lara blickte sich verzweifelt in dem schäbig wirkendem Raum um, in dessen Ecke sie eingepfercht saßen. Sie kannte die Tapete, den Boden, die Möbel und den feinen Lavendelgeruch, der in der Luft hing, besser als alles andere auf dieser Welt. Sie war hier aufgewachsen, ihre Eltern hatten hier gelebt, hatten dieses Haus gebaut und mit eisernen Klingen und hartnäckigem Stolz erhalten und sie waren hier gestorben- nach so vielen Jahren unerbittertem Kampfes um das Erhalten dieses Hauses. Lara war stolz auf sie gewesen, weil sie nicht im Krieg umgekommen waren. Ihr Vater hatte 78 Jahre Leben hinter sich, als er von den höllischen Schmerzen seiner Krankheit durch den Tod erlöst wurde. Doch nun wollte ihr der vertraute Raum nichts zurückgeben von der Geborgenheit die ihre Eltern hineingebaut hatten. Er wirkte kahl und das flaue Gefühl der Hilflosigkeit, das an diesem Abend in Laras Eingeweiden ausgebrochen war, erreichte ihren Höhepunkt. Am liebsten hätte sie geschrieen. Ihr Mann blickte sie an. Die Verzweiflung, die von ihm ausging, sprach Bände, beide wussten, dass sie schließlich keine Wahl haben würden. Ihr ganzes Heimatdorf musste mittlerweile in Flammen stehen, vermutete Lara, sie konnte es nicht sehen, da der Mann vor der ausgehängten Tür stand. Seine wuchtige Breite verhinderte jeden Blick nach draußen. Sie schloss die Augen, nur, um sie unmittelbar danach wieder aufzureißen. Warum konnte all dies nicht einfach ein Alptraum sein? Ein furchtbarer Alptraum, aus dem es zu erwachen galt? Doch Lara wusste, dass sie nicht träumte. Sie war so wach wie nie zuvor. Und sie hatte Angst. Furchtbare Angst. In dem kleinen Dorf, das sie in all den Jahren ihre Heimat genannt hatten, trieben sich Gesandte des Königs umher. Boten eines Königs, der noch nie das Wohl seiner Untertanen im Sinn gehabt hatte. Lara kannte keine genauen Zahlen, doch sie wusste, dass er schon so manche Dörfer in Schutt und Asche gelegt hatte, um zu bekommen was er wollte. Und er bekam es immer. Und er würde es auch dieses Mal bekommen. Entweder sie gaben ihm Luna freiwillig, oder er würde sie sich mit Gewalt holen. Es konnte nur noch eine Frage der Zeit sein, bis das Dachgestühl zusammenbrach. Der Gedanke munterte Lara keineswegs auf, doch sie wusste, dass es wahrscheinlich ihre einzige Chance war. Wenn das Dach herunter krachen würde, und sie fliehen konnten, würde der Königsbote vielleicht erschlagen. Er trug weder eine Rüstung noch eine Waffe bei sich. Vermutlich war Lara nicht die einzige, die es zweifellos glaubte, dass allein die Muskeln dieses Mannes das Ende jeglichen Lebens bedeuten konnten. Mit gehetzten Blicken suchte sie die Wand des Raumes nach einem Fluchtloch ab, aber sie konnte keines finden. Es schien an ein Wunder zu grenzen, dass es überhaupt noch Wände gab, die nicht von Flammen zerfressen worden waren. Sie drückte ihren Rücken fest gegen die Wand, fast schon so, wie als wolle sie hindurch gesogen werden. Wenn sie vor lauter Angst auch nur einen so abenteuerlichen Gedanken hätte fassen können, wäre ihr das wahrscheinlich sogar willkommen gewesen, aber momentan brachte sie noch nicht mal die Fantasie auf, sich ein Leben nach dieser Nacht zu erträumen.
"Gib mir das Kind!" Die Stimme des Kolosses wurde ungeduldiger und lauter, doch sie klang ebenso ruhig wie zuvor. Beinahe so, als würde nicht die Mordlust in seinen Augen funkeln, sondern der Wunsch um das Wohlergehen der Kleinen. Lara musste an sich halten um nicht laut loszulachen. Doch schon im nächsten Moment wurde ihr die Luft, die sie zum Lachen gebraucht hätte, genommen, selbst die Luft zum Atmen war ihr gestockt: Ihr Mann hatte sich erhoben. Sein schmutziges Hemd war zerrissen und er reichte dem Monster vor ihm kaum bis zur Schulter, doch jede einzelne, vor Spannung hervortretende Sehne, pochte vor Zorn. "Gehen sie", sagte er, doch seine Stimme war keinesfalls so gelassen, wie sie hatte sein sollen. Das Monster lachte höhnisch auf. "Todessehnsüchte?", fragte es und seine Stimme erschütterte den ganzen Raum, als er laut auflachte. Lunas Vater starrte ihn regungslos an. Vor Angst wie gelähmt. "Ich spreche mit dir!", schnaubte das Ungeheuer und zog mit seiner wuchtigen Pranke ein nachtblaues Schwert aus der Scheide, die an seinem Gürtel befestigt war. Drohend hob er es hoch über den Kopf. Laras Mann machte nicht einmal einen Schritt zurück. Der Koloss zeichnete ein X in die Luft und im selben Augenblick brach der Vater des kleinen Mädchens zusammen. Er war tot.
Es waren 2 Sekunden, die Lara brauchte um zu verstehen, was geschehen war. Tränen standen in ihren Augen und sie presste das Mädchen in ihren Armen fester an sich. Doch der Mörder des Mannes selbst schien entsetzt über seine Tat. Regungslos stand er da und betrachtete das Schwert in seiner Hand. Die unnahbare Aura war von ihm abgefallen. Er wirkte verletzlich und verzweifelt. Mit immer noch angstgeweiteten Augen starrte sie das Monster vor ihr an und plötzlich kroch noch ein anderes Gefühl in ihr hoch. Konnte dieser Mord, der so selbstverständlich für den Mörder ausgesehen hat, ihn doch gleichzeitig so aus der Fassung bringen? Das wäre wohl der Moment gewesen, in dem sie hätte fliehen müssen, wenn die Verwunderung sie nicht plötzlich gepackt hätte. Sie verfluchte sich selbst dafür, aber dennoch war es ihr unmöglich einfach so wegzulaufen. Es wäre wohl der größte Fehler ihres Lebens gewesen, auf die Hilflosigkeit des Monsters vor ihr hereinzufallen, wenn sie nicht davor bewahrt bliebe. Eine kleine Gestalt zwang sich durch die Tür, nur von Lara bemerkt und durch das Funkeln in seinen Augen verraten. Zitternd stand Lara auf. Der Koloss beachtete sie nicht. Immer noch war das Entsetzen in sein Gesicht geschrieben. Langsam machte sie sich auf den Weg zur Tür; sie übersprang jedes Dielenbrett von dem sie wusste, dass es knarren würde. Doch dann blieb sie stehen. Die Augen des Monsters hatten sich zu Schlitzen verengt und es musterte die Ecke in der Lara noch vor wenigen Sekunden gehockt hatte. Es war pures Glück, dass sie nicht genau vor dem Fenster stand, sonst hätte die Klinge des Schwertes auch sie getötet. Ein Schrei, lauter und gellender, als alles, was Lara je gehört hatte, entfuhr der Kehle des Kolosses und ließ das Fensterglas erzittern. Instinktiv rannte Lara weiter zur Tür. Die kleine Gestalt, die sie in ihrer Angst weder als Freund noch als Fein erkennen konnte, streckte die Hand nach ihr aus. Sie ergriff sie und binnen weniger Sekunden hatten sie das Haus verlassen- keinen Moment zu früh. Mit einem lauten Krachen erzitterte das Dach und ein weiterer gellender Schrei bedeutete ihnen das Ende des Kolosses.
Es wäre töricht gewesen, erleichtert zu sein, Lara wusste das und trotzdem konnte sie nicht verhindern, dass die eisernen Klingen, die um ihr Herz geschlungen waren, sich lockerten. "Weiter!", zischte die Gestalt ihr zu und rannte die Straße entlang auf den Wald zu. Den Blick unmittelbar auf den Boden vor ihr gerichtet, drückte sie Luna an sich und stolperte den Weg entlang. Urplötzlich verlor sie den Halt und ehe sie sich versah, lag sie auf dem staubigen Boden und fühlte eine kühle Klinge an ihren Hals gedrückt. Das Mädchen wurde ihren Armen entrissen und Lara rechnete jeden Moment mit dem Tod, doch ihr wollte kein Gebet einfallen, mit dem sie hätte bitten können, in den Himmel zu kommen. Es war ihr zuwider einen Gott anzubeten, der solch grausame Dinge geschehen ließ. Der Druck auf ihrem Hals verstärkte sich und ein einsamer Tropfen Blut rann seitwärts ihren Hals hinunter.
"Halt ein!", rief eine Stimme, die grausamer und kälter nicht sein könnte, "lass sie laufen!" Die Klinge wurde ganz weggezogen, doch nie hätte Lara es auch nur gewagt, aufzustehen, geschweige denn wegzulaufen. Eine kalte Hand schloss sich um ihren Arm und zog sie brutal in die Höhe. "SIEH!", fauchte die Stimme. Widerwillig öffnete Lara die Augen und erblickte ein Bild des Grauens: Ihr Dorf, in dem einst mit bunten Häusern gesäumte Straßen verliefen, war nicht mehr als ein Flammenmeer. Erneut traten Tränen in ihre Augen. Die Leben so vieler Menschen waren hier beendet worden und eine Vergangenheit, die eine so schöne Zukunft gewünscht hatte, war zerstört. Laras Vergangenheit war zerstört. Sie wusste, dass der Tod der schönere Ausweg aus dieser Lage wäre, doch das würde man ihr nicht gewähren. "Lauf! Lauf fort und kehre nicht wieder zurück!", zischte die kalte Stimme erneut. Ein Schauer lief ihr den Rücken herunter, doch sie tat wie ihr geheißen. Ließ ihr Kind zurück und ging. Mit jedem Schritt wurde die Flut ihrer Tränen größer, doch sie wusste, dass diese grausame Zukunft, die sie ereilen würde, der einzige Weg war, ihrer Tochter überhaupt eine Zukunft zu schenken. Eine Zukunft voll Ungewissheit, voller Fragen und voll Grausamkeiten, das war sicher, aber dennoch eine Zukunft, die sie irgendwann einmal selbst bestimmen können würde. In Laras Augen blitzte Wagemut auf. Auch sie war nicht gänzlich verloren. Sie musste nach Tournag, das war weit weg, aber ihre Schwester, ihre einzige Schwester, lebte dort. Lara blieb stehen. "Irgendwann werden wir uns wieder sehen, Luna!", murmelte sie und machte den ersten Schritt auf in eine ungewisse Zukunft und es war weniger ein Versprechen an sich selbst, ihre Tochter wieder zu sehen, denn ein Schwur, den nichts brechen konnte.


Kapitel 1



Ein makellos blauer Himmel spannte sich über die Köpfe der Menschen in Riesa, die heiter lachend und scherzend über die staubigen Straßen schlenderten. Nicht wissend, wie viel Leid diese Straßen schon gesehen hatten, sich nicht im Klaren über die Grausamkeit, die einst hier stattgefunden hatte und keiner von ihnen ahnte auch nur das Geringste von dem, was sich noch abspielen sollte auf jenem Grund und Boden, auf dem sie lang liefen, auf dem ihre Kinder ausgelassen tobten und auf dem ihre Häuser errichtet waren.
Auf den Tag 15 Jahre waren seit jener Sommernacht vergangen und kaum einer, der damals hier gelebt hatte, war aufzufinden. Die meisten waren gestorben in einem Kampf, der nicht zu gewinnen war und jene, die den Schrecken dieser Nacht entkommen waren, schwiegen darüber, ließen niemals nur ein einziges Wort darüber verlauten.
Ein glockenhelles Lachen ließ um die Mittagszeit zwei Männer in ihrem Gespräch verstummen und mit einem Lächeln auf den schmalen Lippen, drehten sie den Kopf in Richtung eines Mädchens, das am Brunnenrand saß und sich den Bauch hielt vor Lachen. Vor ihr tobte eine kleiner Junge über den Platz und machte Scherze und Verrenkungen, nur um sie noch einmal zum Lachen zu bewegen. Ein jeder liebte ihr Lachen, hell und erleichtert, als wisse sie nichts von Angst und Trübsal, ein Lachen, das so vollkommen im Gegensatz stand zu dem Ausdruck in ihren grauen Augen, in denen Trauer und Verzweiflung geschrieben standen.
Einige Minuten lang sahen die Männer zu dem Mädchen hinüber, dass nicht aufhören konnte zu lachen, bis das Geräusch eines lauten Glockenschlags den Platz erfüllte. Augenblicklich erfror das Lachen des Mädchens und als hätte es jene Augenblicke der Ausgelassenheit, der Fröhlichkeit nie gegeben, ließ sie den kleinen Jungen verdutzt auf dem immer noch in Sonnenlicht getauchten Platz stehen um mit großen Schritten davonzueilen. Die Männer starrten ihr kaum mehr hinterher, wandten den Blick von einer auf die andere Sekunde ab und widmeten sich wieder, wenn auch nur halbherzig, ihrem Gespräch. Ein jeder wusste, wo das Mädchen hinlief, niemand starrte sie neugierig an, als sie die staubigen Straßen entlang und durch enge Gassen hindurch lief, niemand schenkte ihr auch nur die geringste Beachtung, war es nicht schon beinahe normal, wenn das Mädchen am 2. August jeden Jahres um 5 Uhr durch die Straßen hetzte um pünktlich zu hause zu erscheinen?
Jedes Jahr am 2. August gab der Vater des Mädchens einen Ball, einen wunderschön hergerichteten, pompösen Ball, zu dem sie ausnahmslos alle eingeladen waren, anlässlich des Geburtstages seiner einzigen Tochter, seines einzigen Kindes, und jedes Jahr war es ein großartiges Ereignis, von dem man sich schwor, noch den Enkeln zu erzählen und das sie jedes Jahr aufs Neue das Schönste von allen nannten. Auch dieses Jahr sollte der Ball stattfinden und auch dieses Jahr waren alle, ob Kind oder alter Mann, dazu eingeladen und dennoch war es anders, größer, unvergesslicher. Der Vater, ein Handelsmann, der, wie die Leute zu sagen pflegten, mehr Geld hatte, als ihm gut tat, und damit mehr Mittel als die meisten von ihnen, arrangierte den aufsehenerregendsten Ball, den das kleine Dorf je erlebt hatte, und all dies nur, da seine Tochter das 16. Lebensjahr erreichte.
Und so kam es, dass die Tochter jenen reichen Mannes sich am 2. August um 5 Uhr in ihrem Zimmer widerfinden musste, umringt von emsig umherwuselnden Frauen, die ihr das Haar richteten, das Kleid anzogen und sie auf jede erdenkliche Art zu verschönern suchten. Sie selbst sagte während der ganzen Prozedur kein Wort, ließ sich herumschubsen und drehte sich dann und wann, um den Damen einen besseren Blick darauf zu bieten, wo das Kleid noch gerafft oder das Haar noch anders gesteckt werden musste. Als sie schließlich, nur Augenblicke, bevor die ersten Gäste erwartet wurden, alleine vor dem riesigen, mit purem Gold gerahmten Spiegel stand und ins eigene Gesicht blickte, in die eigenen Augen, die den traurigen Blick, so glücklich sie auch war, nie ganz verloren, da fühlte sie nichts von der Aufregung, die ein jedes anderes Mädchen an ihrer Stelle zweifellos gespürt hätte. Allein bei dem Gedanken daran, wie viele Menschen sich heute Abend nur wegen ihr in ihren schicksten Kleidern einfinden sollten, wie viele Gerichte nur zu ihren Ehren von etlichen Küchenhilfen zubereitet worden waren und wie viel Zeit unzählige Bedienstete in die Herrichtung dieses einen Abends gesteckt hatten, wäre jedem Mädchen schwindelig geworden. Sie jedoch ließ es kalt und sie blickte mit einem Gefühl der Resignation auf die Art und Weise, wie sie diesen Abend verbringen sollte, umringt von Menschen, die ihr gratulierten, obwohl sie es nicht so meinten, obwohl sie sie kaum kannten, die sich Reichtum anblicken mussten, der ihnen so viel eher zugestanden hätte und den sie doch nicht besaßen und die sich dazu aufraffen hatten müssen, einem Mädchen, dass ihnen vollkommen egal war, das sowieso schon alles hatte, etwas von ihrem hart erarbeitetem Geld kaufen zu müssen, nur um ihr ein Geschenk zu machen, das sie nicht brauchte und das die eigenen Kinder so viel glücklicher gemacht hätte.
Das ungeduldige Pochen an ihrer Tür riss sie aus ihren Gedanken, so plötzlich, dass sie einen Moment lang nur erschrocken die Tür anstarren konnte.
„Mein Liebling!“ In der Stimme ihres Vaters schwang seine ganze, unermessliche Begeisterung, mit der er auf den Abend, der vor ihnen lag, blickte, mit und auch seine Bewegungen waren um einiges enthusiastischer als üblich, sodass er seine Tochter ein wenig zu fest in die Arme schloss und es dem Mädchen für einen kurzen Moment den Atem aus den Lungen presste. Doch kurz darauf ließ er sie wieder los um sie sich genauer zu betrachten. „Wie wunderschön du heute Abend ausschaust!“, rief er und umarmte sie gleich noch einmal, dieses Mal nicht ganz so fest, drückte sie nur leicht an sich, ehe er von ihr abließ und mit eiligen Schritten in den Salon lief. Es hatte an der Haustüre geläutet. Seufzend betrachtete sie sich ein letztes Mal kurz im Spiegel und sah doch nichts von ihrer Erscheinung ehe sie ihrem Vater zögernd folgte um die ersten Gäste willkommen zu heißen.
Die Leute, denen sie Sekunden später die Hand schüttelte und halbherzig beteuerte, wie sehr ihr Besuch sie freue, waren ihr vollkommen unbekannt, kaum einen der Anwesenden kannte sie beim Namen, die wenigsten vom Sehen. Das Dorf war klein, die Menschen kannten einander für gewöhnlich, doch es war Folge der Erziehung, die das Mädchen genossen hatte, Folge dessen, dass sie nie hatte viel vor die Tür gehen dürfen und so fühlte sie sich Jahr für Jahr auf ihrem eigenen Ball wie eine Fremde, die durch die falsche Tür in eine Feierlichkeit geplatzt war, auf der man sie mit jemand anderem, jemand bedeutendem, jemandem, den sie nicht kannte, verwechselte. Langsam durchschritt sie den Raum, in dem sich die Leute versammelt hatten, darauf bedacht, nicht aufzufallen, niemanden anzustoßen, unsichtbar zu sein. Vor allem jedoch vermied sie es, in die Nähe ihres Vaters zu kommen, immer hatte sie ihn im Blick, beobachtete ihn durch die Menge hindurch, stellte sicher, dass er sich gut unterhielt, Spaß hatte und keinerlei Gedanke an sie verschwendete, ehe sie sich in seine Nähe begab, um sich an dem viel zu üppigen Büfett bediente oder zur Tür hinaushuschte, um Luft zu schnappen. Sie wollte nicht, dass er sah, wie wenig sie sich amüsierte, welche Qual diese Feier für sie war, wollte, dass er einen schönen Abend verbrachte, lachte und am nächsten Tag begeistert von den Höhepunkten des Abends schwärmen konnte, mit derselben Begeisterung und dem selben freudigen Leuchten in seinen Augen, das schon früher an diesem Abend darin gelegen hatte.
Die Stunden schienen sich an diesem Abend endlos hinzuziehen und auch die Gäste waren unermüdlich, freudig schwatzten sie weiter, unterhielten sich über die unwichtigsten Dinge, den neuesten Klatsch oder tanzten in der Mitte des Raumes, ohne das Mädchen unter ihnen zu bemerken, das sich so wünschte, sie würden alle nach hause gehen und diesen Abend schnellstmöglich beenden. Doch ihr Wunsch wurde nicht gewährt und so starrte sie unentwegt auf die Tanzenden ohne sie wahrzunehmen, in Gedanken versunken und das Zeitgefühl vollkommen verlierend. Hin und wieder hob sie den dösigen Blick um nach ihrem Vater zu suchen, sich zu vergewissern, dass er noch scherzte und lachte und noch immer keinen Gedanken an sie verschwendete. Die Zeit verstrich. Langsam wurde das sanfte Abendrot zu dem dunklen Schwarz der Nacht, dass den Himmel wie ein Samttuch bespannte, und die Luft, die durch die Fenster strömte, wurde zunehmend kühler. Niemand schien es zu bemerken.
Auch das plötzliche Aufleuchten eines blauen Lichtscheins, das den Blick des Mädchens fesselte, schien niemand wahrzunehmen. Er hatte nur eine kurze Sekunde angehalten und doch konnte sie ihren Blick nicht von der Stelle abwenden, an der sie ihn erblickt hatte. Es kümmerte sie nicht mehr, ob ihr Vater sie sah, ob die Menschen hier sie umrannten, so gebannt war sie von diesem nur kurz währenden blauen Licht, das nicht in die Farben der Nacht hineinpasste, in der nicht ein einziger Stern am schwarzen Himmel funkelte. Doch so lange sie auch ins Schwarze starrte, es passierte nichts mehr. Die Nacht blieb ruhig und es schien, als wäre nie etwas passiert, als wäre alles so, wie es sein sollte. Doch das war es nicht. Woher sie das wusste, konnte sie nicht sagen, doch irgendetwas, irgendein Verdacht, klein und unscheinbar und doch so wahr, regte sich in ihrem Unterbewusstsein und sagte ihr, dass etwas falsch lief, dass irgendetwas heute Nacht nicht so war, wie üblich. In genau diesem Augenblick, dem Augenblick, in dem sie diese Gewissheit fasste, in dem sie nichts anderes mehr wahrnahm, in diesem Augenblick fand ihr Vater sie.
„Warum schaust du so betrübt aus dem Fenster?“, fragte er und folgte ihrem Blick, der auf nichts Bestimmtes gerichtet war, ziellos durch die Gegend irrte, immer noch fasziniert von ihrer Entdeckung.
„Mir kam nur gerade in den Sinn, wie schön doch die Nacht ist.“ Sie bemühte sich, ihre Stimme schwärmerisch und verträumt klingen zu lassen, als würde sie den Moment zwischen lauten Gesprächen und zahllosen Tänzen genießen, und ihr Vater schien ihr zu glauben. Vielleicht war es der Wein, der ihn glaubensselig gemacht hatte, vielleicht war er auch einfach zu erfreut über das Fest und die Menschen, die sich so sehr zu amüsieren schienen.
Sobald er sich wieder unter die anderen gemischt hatte, ihr keine Beachtung mehr schenkte, war sie durch den Salon gerannt und hatte die schwere hölzerne Tür aufgerissen, zu schnell, um den Eindruck zu erwecken, nur einmal Luft schnappen gehen zu wollen, eher so, als wolle sie fliehen, doch erneut war ihr ihr Umfeld gleichgültig, nur das Leuchten, das sie sich nicht erklären konnte, zählte, obwohl sie nicht wusste, wie sie herausfinden sollte, woher es gekommen war, hatte sie doch außer der groben Richtung keinen Anhaltspunkt, wusste nicht, wie sie je erfahren sollte, warum jenes Aufleuchten falsch war.
Doch sie brauchte nicht lange rätseln. Sobald sie auf den Stufen stand, die zur Eingangstür führten und die kühle Abendluft ihr durch das Haar fuhr, sah sie den Jungen, der am Fuße der Treppe stand, die Hände in die Seiten gedrückt und zu ihr hinaufstarrend. In der Dunkelheit konnte sie nicht ausmachen, wer er war und auch seinen Gesichtsausdruck konnte sie nicht sehen, doch ihr Gefühl sagte ihr, dass auch mit ihm etwas nicht stimmte, ganz und gar nicht, doch sie konnte sich nicht dazu durchringen, etwas zu sagen, ihn zu fragen, wer er war und was nicht stimmte, zu überrascht war sie noch von seinem Auftauchen.
„Hallo Luna“, sagte der Junge in diesem Moment mit leiser, brüchiger Stimme, und sie konnte erahnen, wie sehr er zitterte. „Ich bin es. Matt.“


Kapitel 2



Matt. In dem Moment, in dem Luna diesen Namen hörte, verlor sie alle Selbstkontrolle, die steife Fassade, die sie den ganzen Abend so mühsam aufrecht erhalten hatte, zerbröckelte und fiel in sich zusammen, der unbeteiligte Ausdruck in ihren Augen schwand und zum ersten Mal wurden die Falten der Sorge und Anstrengung, die sich seit Beginn des Abends in ihre Stirn gemeißelt hatten, geglättet. Ohne nur eine einzelne Sekunde darüber nachzudenken, eilte sie die steinerne Treppe hinunter, übersprang sogar die letzten zwei Stufen und warf sich dem Jungen um den Hals. Matt. Matt. Er ist wieder da!, war alles, was sie denken konnte, als sie die Arme im Nacken des Jungen verschränkte und das Gesicht an seine Schulter drückte, um seinen Duft einzuatmen, ein Duft, der ihr gleichzeitig so vertraut war, wie kein zweiter und doch so fremd, als habe sie ihn noch nie eingesogen. Sie konnte das leise Lächeln nicht sehen, das sich auf seine Lippen stahl, als er die Umarmung erwiderte, doch sie spürte die Tränen, die von seinen Wangen auf ihr Haar tropften. Erschrocken sah sie auf, suchte seine hellen Augen in der Dunkelheit, wollte aus seinen Augen lesen, warum er weinte, so, wie sie es schon viele Male gemacht hatte, damals, als sie noch Kinder waren, als sie noch nicht einen Gedanken daran verschwenden musste, wann sie ihren besten Freund je wieder sehen würde, ob sie ihn je wieder sehen würde, doch er hatte den Blick abgewandt, das Gesicht zur Seite gedreht um dem ihren zu entgehen, denn er wusste, dass er vor ihr nichts geheim halten konnte, vor allen anderen, nicht aber vor ihr.
„Matt? Warum weinst du?“ Es war das erste Mal seit so langer Zeit, dass er ihre Stimme hörte, dass er sicher sein konnte, dass sie noch die Luna war, die er kannte und diese Erkenntnis ließ die Tränen nur schneller fließen und machte es ihm unmöglich zu antworten, wo er doch so gerne erzählt hätte, was los war, was ihm Tränen in die Augen trieb, wo er doch reden wollte, von alle dem was ihm zugestoßen war und wo er doch fragen wollte, tausend Fragen, um sicher zu sein, dass es ihr gut ging, dass ihr nichts Schlimmes widerfahren war, wo er doch all dies über die Lippen bringen wollte und jetzt nicht konnte.
„Bitte sag es mir, was soll ich denn tun, wenn du nicht sagst, was los ist, was soll ich den sagen?“ Lunas Tonfall wurde flehender und die Sorge trat wieder in ihre Augen, zerknitterte ihre Stirn und trieb auch ihr Tränen in die grauen Augen, die langsam ihre Wangen hinunterperlten und immer schneller wurden, als er seine Stimme endlich wieder fand. Sie klang matt vom Weinen und war so leise, dass sie sich anstrengen musste, seine Worte zu verstehen.
„Ich habe dich gefunden. Ich habe dich wirklich gefunden.“ Seine Arme umschlossen sie noch fester, drückten sie gegen seine Brust, als er das Gesicht in ihrem langen schwarzen Haar vergrub und die Worte wiederholte. Und auch Luna war froh, dass er sie gefunden hatte, wollte ihn nie wieder gehen lassen, jetzt wo er wieder da war, hatte das Gefühl, ihr Herz müsse platzen, so heftig es gegen die Rippen schlug und wusste doch nicht, welche Bedeutung ihr Wiedersehen schlussendlich haben würde.
Eine kleine Ewigkeit lang standen sie einander so gegenüber, bis er sich plötzlich ruckartig aus der Umarmung löste, sie eine Armlänge von sich wegschob und ihr prüfend in die Augen blickte, als wolle er ihre Reaktion auf etwas abschätzen, das erst noch kommen sollte. Matt hatte sich gefasst, die Tränenflut war gestoppt und seine Augen wieder trocken, er konnte wieder klar denken, auch wenn die Freude über das Wiedersehen ihn übermütig machte, er sich Dinge zutraute, denen er nicht gewachsen war, und es war eben jener Ausdruck in seinem nur vage erkennbarem Gesicht, der Luna in plötzliche Panik versetzte. Erst jetzt begann sich die Frage in ihrem Kopf zu formulieren, die doch so offensichtlich war. Ja, er war wiedergekommen, aber warum? Keine Sekunde hatte sie bisher gezweifelt, dass es nur der Wunsch war, sie wieder zu sehen, zu wissen, dass es ihr gut ging, der ihn hierher zurückgetrieben hatte, doch plötzlich nahmen auch andere Möglichkeiten, erschreckendere, furchteinflößendere Möglichkeiten in ihrem Kopf Gestalt an und in Gedanken spielte sie innerhalb von Sekunden abertausende von Szenarien durch, die ihn zurückgetrieben haben könnten. Doch bevor sie auch fragen konnte, bevor sie auch nur einen einzigen Gedanken in Worte kleiden und über die Lippen bringen konnte, begann er zu erzählen, und sie lauschte mit aufgerissenen Augen und angehaltenem Atem seiner Stimme, immer noch so leise, als müsse er verhindern, dass sie belauscht wurden und doch angespannt und durchdringend.
Und was er erzählte, die Bilder, die er mit seiner Stimme auf die weiße Leinwand in Lunas Gedanken zeichnete, waren mehr, waren schlimmer, als jeder Alptraum, den sie je gehabt hatte.
Matt erzählte, wie sie damals gegangen waren, aus einfachen Gründen, die jeder nachvollziehen konnte, der nicht im Wohlstand lebte, bessere Arbeit, bessere Chancen für das Kind, ein besseres Leben, und wie sich alles zum Schlechten gewandelt hatte, wie das Dorf, in dem sie sich jenes Leben erträumt hatten, immer wieder geplündert wurde, wie sie nach und nach alles verloren hatten, was ihnen lieb war, wie sie weitergereist waren und wie sie überall dieselben Zustände vorgefunden hatten. Er erzählte von den Menschen, die außer Angst und Verzweiflung nichts kannten, den Kindern, die nicht wussten, wie eine unbeschwerte Welt aussah, von Jungen, die schon so früh arbeiten mussten, von Mädchen, die ohne Mutter groß werden mussten, von einem Leben, dass sich niemand wünschen konnte, und schließlich davon, wie sie beschlossen hatten zurückzukehren, weil sie es nicht mehr ertragen konnten, all das Leid zu sehen und immer wieder neues, wie sie entschieden hatten, dass das alte Leid doch um so vieles leichter zu ertragen war als das neue, das so vieler Menschen, die sie nicht kannten, und wie sie eine Reise angetreten waren, ohne etwas zurücklassen zu müssen, da ihnen alles genommen ward, wie er sich gefreut hatte, auf sein altes Leben und seine alten Freunde und wie in einer Nacht alles zusammenbrach. Zum zweiten Mal. Und das, als sie zu hause ankamen. Vor wenigen Stunden nur, hatte er erneut sein Elternhaus betreten und war todmüde auf die alte, staubige Matratze gefallen, auf der er früher Nacht um Nacht zugebracht hatte, war in einen unruhigen Schlaf geglitten und wie es schien nur Augenblicke später durch ein höhnisches kaltes Lachen wieder erwacht. Auf leisen Sohlen war er durch den Flur geschlichen, hatte durch die Tür gelugt und einen riesigen Mann mit einem saphirblauen, wunderschönen Schwert in der Hand erblickt und augenblicklich war die Furcht in ihm hochgekrochen, hatte begonnen an ihm zu nagen und sein einziger Wunsch hatte darin bestanden, sich zwischen seine Eltern und die unvergleichlich scharfe Klinge des Schwertes zu stellen, doch gleichzeitig waren seine Beine am Boden festgenagelt und jede Bewegung schien unmöglich. Er hatte gewartet, jede Sekunde hingezogen wie ein Leben, jeder Augenblick lang wie eine Ewigkeit bis sich plötzlich die blaue Schneide gen Himmel gehoben fand und nur einen Herzschlag später durch die stickige Luft schnitt. Den Schrei, der ihm in der Kehle gesessen hatte, hatte er nur mit größter Anstrengung unterdrücken können, doch dass seine Augen sich weiteten und sein Herzschlag kurz aussetzte, dagegen hatte er nichts tun können, zu schockierend war das Bild seiner toten Eltern auf dem dunklen Holzboden gewesen, zu widerwärtig die Vorstellung, dass der Mann, der Koloss, der vor ihnen auf die Knie gesunken war, als bereue er seine jüngste Tat, ihr Mörder war und zu präsent das Wissen, dass jeder Ton, so leise und kurzlebig er auch sein mochte, den er jetzt von sich gab, seinen sicheren Tod bedeutete. Luna schauderte, als er berichtete, wie er gewartet hatte, bis das Monster geflohen war, wie er gerannt war durch die dunklen Gassen der Stadt, wie er in der Dunkelheit den Weg beinahe nicht gefunden hätte und wie ihm nur sie eingefallen war, zu der er in seiner Not gehen konnte, sie fühlte sich so hilflos als er schilderte, wie sehr er auf ihre Hilfe gehofft hatte und wünschte, sie wüsste einen Rat, wüsste, was zu tun ist. Sie wusste es nicht.
Er sah auf den Boden, als er geendet hatte und Luna tat es ihm gleich. Erneut rannen ihr Tränen über die Wangen, erneut wollte sie ihn umarmen, an sich reißen und ihn nie wieder gehen lassen, weil er so viel hatte ertragen müssen, so viel hatte sehen müssen, und weil sie nicht da gewesen war. Sie brauchte einige Sekunden, vielleicht waren es auch Minuten, bis sie sich wieder gefangen hatte, erst dann wagte sie in sein Gesicht zu sehen, das selbst in der nur spärlich vom Mond erleuchteten Nacht ausgezehrt und ungesund wirkte. Er sah so blass aus und doch funkelte die Entschlossenheit in seinen Augen, funkelte sie an und riss sie mit und plötzlich wusste sie, dass sie ihm helfen musste, wusste nicht, wie, wusste nicht, womit, doch sie wusste, dass er auf ihre Hilfe angewiesen war.
„Das Schwert…“, sagte sie nachdenklich, als sie die Geschichte noch einmal hinter geschlossenen Lidern abspielte, „das Schwert…“. Irgendwas rührte sich in ihrem Gedächtnis, im hintersten Winkel, vergraben unter anderen, wichtigeren Erinnerungen, beinahe verblasst, nur noch leise schimmernd und doch da, sich regend bei den Worten, die jenes Schwert beschrieben, als habe sie es schon einmal gesehen, seine scharfe Klinge selbst einmal gefürchtet und seine leuchtende Farbe erblickt.
„Bring mich hin“, flüsterte sie leise, hauchte es beinahe nur, und auch seine Antwort war kaum wahrnehmbar, ein leichtes Nicken in der Dunkelheit. Matt griff nach ihrer Hand, drehte sich um und lief eilig die Straßen hinunter, weg von dem großen Haus, aus dem der Wind noch immer die festliche Musik zu ihnen hinüber trug, die sie in den letzten paar Minuten vollkommen vergessen hatten, weg von all den Leuten, die sich amüsierten, ohne jede Ahnung von alledem, was in der letzten Nacht geschehen war, weg von ihrem Vater, der nicht ahnte für wie lange seine Tochter nun verschwunden sein würde, und Luna lief ihm hinterher. Die engen Straßen des kleinen Dorfes wirkten noch düsterer, heruntergekommener als sonst, die Stille war noch drückender, jetzt, wo niemand da war, außer ihnen. Matts Schritte wurden langsamer, zögernder, je näher sie dem Haus kamen und Luna spürte seine Nervosität, sie kannte ihn so gut, wusste, wie viel Überwindung ihn das alles kosten musste, doch sie zog ihn weiter. Seine Hand verkrampfte sich in ihrer, als sie um die letzte Ecke bogen, hinter der das alte, heruntergekommene Haus von Matts Familie stand. Seine Schultern zitternden, als er auf die morsche Holztür zuschritt, er atmete tief ein, als er sie aufstieß und schien dann auf der Stelle zu erfrieren, jeder einzelne Muskel in seinem mageren Körper spannte sich an, als sein Blick durch den Raum streifte, den er nie wieder hatte betreten wollen. Zögernd trat Luna neben ihn, legte ihre Hand sanft auf seine Schulter, wollte seine Anspannung lösen und folgte erst dann seinem Blick in das Innere des Hauses und erstarrte ebenfalls mit vor Schrecken geweiteten Augen.


Kapitel 3



Sekundenlang konnte sich Luna nicht rühren, konnte ihren Blick nicht von diesem Bild des Grauens, das sich so tief in ihr Gedächtnis einbrannte, lösen, konnte nichts denken, nichts fühlen, außer dem Schmerz, der ihr Herz zerriss, wie er Matts Herz zerrissen hatte, heute Abend und nun zum zweiten Mal, nun, da er erneut anschauen musste, was sich seine Gedanken wehrten zu realisieren, nun, da er erneut in die bleichen, leblosen Gesichter seiner Eltern blicken musste. Luna wandte das Gesicht ab, als sie glaubte, wusste, es nicht länger ertragen zu können, zu groß war der Kloß aus purer Trauer, der ihr im Hals saß und die Tränen in ihre Augen und über ihre Wangen trieb, zu bewusst war ihr in diesem Moment, was geschehen war, der Verlust dieser beiden Menschen, die sie so lange nicht gesehen hatte und doch so gut kannte. Noch immer stand Matt regungslos neben ihr und sie wusste, dass er dasselbe empfand wie sie, dass es ihm womöglich nur noch schlimmer ging und konnte doch nicht umhin ihn zu bewundern, wie er es schaffte, so ruhig zu bleiben, die Tränen zurückzuzwingen und den Kopf erhoben halten, als er den kleinen Raum langsam durchschritt, neben dem Gesicht seiner Mutter niederkniete und es still betrachtete. Wie hätte sie auch wissen können, dass er die ruhige Fassade nur für sie aufrecht erhielt, dass er nicht wollte, dass sie ihn schon wieder weinen sah, ja, sie war seine beste Freundin, immer gewesen, doch es erschien ihm so falsch vor ihr Tränen zu vergießen, sollte er doch der Stärkere sein, der, der sie tröstete, der, der für sie da war und ihr beteuerte, alles würde gut. Und er schaffte es, schaffte es nicht zu weinen, schaffte es, seine Stimme ruhig klingen zu lassen, gefasst, als würde ihn der Schmerz nicht innerlich auffressen, als wäre er so stark, wie er sie glauben machen wollte, schaffte all dies während er doch innerlich zerfiel.
„Ich muss gehen.“, sagte er leise und bestimmt, ruhig, sah sie nicht an, wollte den Ausdruck in ihren Augen nicht sehen, wollte sich die Ohren zuhalten, um nicht hören zu müssen, was sie zweifellos sagen würde, wusste, dass er nachgeben würde, wusste, dass sie ihn immer überzeugen würde können und so hatte er die Worte schon auf der Zunge liegen, die er sagen würde müssen, die er über die Lippen quälen würde, die ihr erklärten warum er gehen musste, warum er nicht bleiben konnte, hoffte, dass sie ihn verstehen würde und war innerlich schon am zittern, wand sich, wollte nicht sehen, wie sie weinte, weil sie verstand und doch nicht verstehen wollte. Er blickte nicht auf, als sie antwortete, konnte ihr nicht ins Gesicht sehen, wollte ihre Tränen nicht sehen, und war nur mehr überrascht, als er ihre Worte hörte.
„Ich weiß. Und ich werde mit dir kommen.“ Ihre Stimme klang ebenso entschlossen, wie er sich wünschte, sich zu fühlen, und hätte er das Funkeln in ihren Augen gesehen, hätte er nicht gewagt, ihr zu widersprechen, so aber sprudelten die Widerworte aus ihm heraus, wollten ihr klar machen, warum er alleine gehen musste, warum sie nicht mitgehen konnte, wie gefährlich es sein würde und dass er es sich nie verzeihen könnte, würde ihr etwas zustoßen, seinetwegen.
„Matt-„, noch immer klang ihre Stimme ruhig und gefasst, aber dennoch sanfter als zuvor und es war diese Sänfte, die ihn aufblicken ließ, ihn den weichen Ausdruck in ihren Augen sehen ließ „Matt- ich muss mitkommen. Ich kann dich nicht alleine gehen lassen, nicht schon wieder, du weißt das.“


Nur wenige Minuten später hastete Luna alleine zurück durch die dunklen Straßen, die düsteren Gassen, die in das unheimliche Licht des Mondes getaucht waren, stolperte mehr als einmal über kleine Steine ohne die warme Hand, die um ihre geschlungen war und ihr den Weg wies, sie führte, wie sie es auf dem Hinweg getan hatte, und war mit den Gedanken doch ganz woanders. Wie durch einen Schleier nahm sie war, dass sie ihrem Zuhause näher kam, dass die Musik lauter wurde, dass sie wieder lachende Stimmen vernahm, das alles zählte nicht mehr, war unwichtig im Vergleich zu dem, was vor ihr lag, was sie erleben würde.
Kurz vor der steinernen Treppe hielt sie an, stemmte die Arme in die Seiten und wartete bis das Stechen in ihrer Seite verklang, bis ihr Atem wieder ruhig und regelmäßig wurde, kurz prüfte sie in der dunklen Fensterscheibe ihr Spiegelbild und war nur ein wenig verwundert, noch immer ordentlich auszusehen, das Haar nur ein wenig verrutscht vom schnellen Laufen und das samtene Kleid noch immer sauber und glatt.
Ein letztes Mal atmete sie tief durch, schloss die Augen, zählte bis zehn und stieg dann langsam und gefasst die Stufen hinauf. Die Maske, die Matt von ihrem Gesicht gerissen hatte, war mit einem Mal wieder da, die Falten wieder auf ihrer Stirn zu sehen und das Funkeln in ihren Augen, die Vorfreude darin, die Anspannung, kaum noch zu erkennen. Langsam öffnete sie die schwere Holztür und betrat den weitläufigen Saal. Noch immer tanzten die Leute, lachten und amüsierten sich. Was ihr wie Stunden vorgekommen waren, waren doch in Wirklichkeit nur Minuten gewesen, kaum etwas hatte sich hier verändert in der kurzen Zeit, in der doch ihre Zukunft auf einen Schlag eine vollkommen neue Richtung, ein vollkommen neues Ziel bekommen hatte. Es erschien ihr unbegreiflich wie die Menschen hier mit ausgelassenen Mienen tanzen und feiern konnte, es machte sie wütend, sie alle so sorglos zu erleben, wo doch nur wenige Straßen von hier entfernt zwei Menschen lagen, die nie wieder ein Fest feiern würden, nie wieder ein Festmahl kosten und nie wieder ein lautes Lachen von sich geben würden und wo doch neben ihnen ein Junge saß, kaum älter als die meisten ihrer eigenen Kinder, der alles verloren hatte, der von Schmerzen und Trauer zerfressen wurde. Zu jedem einzelnen wollte sie hingehen, ihn an der Schulter packen und ihm all dies ins Gesicht schreien, ihre ganze Wut herauslassen, doch sie wusste, dass sie ihrem Vater das nicht antun konnte, dass sie nicht einfach das Fest ruinieren konnte, wo sie doch schon so bald, innerhalb weniger Stunden nur, völlig aus den Leben all dieser Leute verschwinden würde und so hielt sie sich zurück, verkroch sich in der hintersten Ecke des Saales und biss sich auf die Lippe, wenn immer jemand sie gütig anlächelte oder das Wort kurz an sie richtete.
Die Zeit bis endlich die hölzerne Tür hinter dem letzten Gast ins Schloss gefallen war, schien sich hinzuziehen wie eine Ewigkeit, jede Sekunde so lang wie ein halbes Leben, doch schließlich, es war bereits weit nach Mitternacht, klatschte ihr Vater freudig in die Hände und drückte das Mädchen fest an sich. „Welch eine Freude!“, lachte er mit seiner rauen, heiseren Stimme, „welch ein Fest!“ Luna nickte stumm, doch er ging nicht darauf ein, dass sie so wortkarg war, kümmerte sich nicht weiter um sie, bedeutete ihr lediglich, dass er noch etwas Wichtiges zu erledigen hatte, wünschte ihr eine gute Nacht und verschwand in seinen Räumlichkeiten. Dass ihr Vater so spät noch Verpflichtungen nachging war nichts Ungewöhnliches, oft schloss er sich nachts ein, mal in der Bibliothek, mal in seinem Arbeitszimmer und immer wenn sie an die Tür klopfte, wurde sie augenblicklich wieder weggeschickt und so wunderte sie sich nicht über die Eigenart ihres Vaters, sondern verschwand in ihr eigenes Zimmer, um die Dinge herauszusuchen, die sie brauchen würden auf ihrer Reise und um vielleicht noch ein wenig zu schlafen, ein letztes Mal in ihrem warmen, weichen Bett, denn wer wusste schon, wann sie es das nächste Mal wieder sehen würde? Mit hastigen Bewegungen warf sie das riesige Kleid von sich, ließ es achtlos auf dem kalten Boden liegen und schlüpfte in abgetragene, bequeme Kleidung, eine alte Hose, die beim Wandern praktischer sein würde, als der weite Rock und ein altes Hemd, so verwaschen, dass sie die ursprüngliche Farbe nur noch erahnen konnte. Als sie angezogen war, kramte sie ihre lederne Tasche aus der untersten Schublade ihres Kleiderschrankes hervor, packte alles hinein, was sie in der Küche vorfand, alles, was ihr zum Überleben in der Fremde irgendwie nützlich vorkam. Dann stellte sie die Tasche unter ihr Bett, so, dass er leicht hervorzuziehen aber dennoch unmöglich zu sehen war. Gerade wollte sie aufstehen, wollte sich auf ihr Bett fallen lassen und einschlafen, um morgen nicht zu müde zu sein, da zögerte sie. Dies hier war die vorerst letzte Nacht, die sie hier verbringen würde, die letzte Nacht, in der sie wusste, wo sie schlafen würde und plötzlich erschien ihr das unglaublich bedeutsam, als wäre es kein Abschied auf Zeit sondern ein Abschied für immer. Langsam erhob sie sich, ließ den Blick über all ihre Habseligkeiten wandern, schlich aus dem Zimmer hinaus und blickte ein letztes Mal, wie es ihr vorkam in jeden einzelnen Raum hinein, ließ die Augen über jedes Detail wandern, roch an jeder einzelnen Rose in jeder einzelnen Vase, die sie finden konnte und legte die Hand an jede einzelne Türklinke bis sie mit einem Mal vor der Tür zum Arbeitszimmer ihres Vaters stand. Ganz behutsam um kein Geräusch zu erzeugen, legte sie die Hand auf die abgegriffene Klinke, ließ den Daumen sanft über das rostige Metall gleiten und verabschiedete sich in Gedanken sowohl von dem Raum dahinter, als auch von ihrem Vater, ihrem eigentümlichen Vater, dem Menschen, dem sie zweifellos am nahesten stand, der ihr so viel bedeutete und vor dem sie doch eine gewisse Furcht spürte. Als könne sie ihm nicht trauen, als wäre er nicht der, den sie glaubte zu kennen, als wäre er jemand anders, jemand Furcht einflößendes, jemand, der ihr Böses wollte. Sie schüttelte den Kopf, als könne sie mit dieser Geste den Gedanken aus ihrem Kopf verbannen und trat einen Schritt von der Tür zurück, ließ die Tür in genau dem Moment los, in dem sie auf der anderen Seite erfasst wurde, wollte sich gerade umdrehen, als jemand die Tür aufriss und erschrak sich in jenem Augenblick, als eine gellende, kalte Stimme den Namen ihres Vaters bellte. Doch Luna war zu erschrocken vom Anblick ihres Gegenübers, als dass sie das Kommen ihres hätte bemerken können. Das vernarbte Gesicht, die zerrissene Kleidung, der starrende Ausdruck in den viel zu kleinen Augen, der grimmige, beinahe wütende Zug um den Mund, all dies verlieh im etwas Unheimliches, Dunkles, etwas, dass sie abschreckte.
„Luna, was tust du hier?“ Die zornige Stimme ihres Vaters riss sie aus den Gedanken, ließ sie den Blick abwenden.
„Ich-„ Doch sie konnte den Satz nicht vollenden, denn sobald sie in die Augen ihres Vaters sah, sobald sie seinem Blick begegnete, durchströmte sie ein Gefühl, dass sie noch nie gefühlt hatte, es durchströmte ihre Adern wie flüssiges Blei, fraß sich unaufhaltsam in ihr Herz, glühte in ihr und ließ sie glauben, ihre Haut hätte Feuer gefangen, es überwältigte sie und raubte ihr den Atem und erst als sie es selbst erkannt hatte, als sie wusste, was da durch sie hindurchströmte, als ihr klar wurde, welches Gefühl von ihr Besitz ergriff und als sie begann sich zu hassen, weil sie im Stande war, dies zu fühlen, da sah sie den Ausdruck in den Augen ihres Vaters und mit einem Mal wusste sie, dass das, was sie durchströmte, nicht ihr Gefühl war, doch sie wusste auch, zu wem es in Wahrheit gehörte.


Kapitel 4



Mit schreckgeweiteten Augen stand sie da, unfähig den Blick abzuwenden, überwältigt von der Erkenntnis, die jenes grauenvolle Gefühl aus ihren Adern vertrieben hatte und nun seiner statt durch sie hindurch raste. Ihre Lippen bewegten sich lautlos als sie das Wort, das die Gefühle ihres Vaters benannte, in Gedanken formulierte. Mordlust.
Er will jemanden umbringen, heute Nacht, schoss es Luna durch den Kopf, mein Vater möchte jemanden töten! Der Gedanke war ihr zuwider, sie schüttelte den Kopf, als könne sie ihn so loswerden und wandte mit dieser Bewegung endlich den Blick von seinen Augen, sah wieder die ganze Gestalt und fühlte eine plötzliche Abscheu ihr gegenüber. Den Mann, den sie vor wenigen Minuten noch hatte umarmen wollen, den es sie geschmerzt hatte, zurücklassen zu müssen, den wollte sie nun nicht mehr sehen, nun, da sie wusste, was er begehrte, was er am meisten wollte. Ohne darüber nachzudenken, einfach ihrem Gefühl folgend, drehte sich das Mädchen um und rannte davon, durch das große Holzportal, die steinernen Stufen hinunter, durch Straßen und Gasen bis sie das Stechen in ihrer Seite wahrnahm und merkte, dass sie nicht mehr wusste, wo sie war. Doch es war ihr gleichgültig, sollte sie doch verloren gehen, sollte er sie doch nie wieder finden! Was machte es schon, wenn er litt, wo er doch selbst jemanden umbringen wollte? Tränen stiegen in ihren Augen auf, Tränen der Wut und der Verzweiflung, weil sie nicht wusste wo sie war, weil sie nicht wusste, wo sie hinsollte und weil ihr Vater sie verletzt hatte, Tränen, die sie sofort wegwischte und die doch immer rascher ihre Wangen hinunterliefen bis sie nicht mehr zu stoppen waren. Lange saß sie da auf dem kalten Steinboden in der finsteren Nacht und weinte, weinte bis sie keine Träne mehr übrig hatte und ihr plötzlich einfiel, wo sie hingehen konnte, wo sie hingehen musste, wer auf sie wartete, plötzlich erinnerte sie sich an den Plan, der so vollkommen aus ihrem Gedächtnis verschwunden war während der letzten furchtbaren Minuten. Langsam rappelte sie sich auf, klopfte den Staub aus ihrer Kleidung und ging weiter hinein in die Dunkelheit, ohne zu wissen wohin, doch mit dem klaren Ziel zu Matt zu gelangen. Mehr als einmal verlief sie sich in den unzähligen kleinen Gassen, doch schließlich fand sie ihren besten Freund, angelehnt an die Tür zu seinem Zuhause, das blasse Gesicht in die Hände gestützt, so regungslos, dass Luna im ersten Moment dachte, er schliefe, bis er das Gesicht hob und sie aus tränennassen Augen anblickte. Wortlos setzte sich das Mädchen neben ihn und so saßen sie eine ganze Weile da, sprachen kein Wort und dachten doch dasselbe: Wie unmöglich es sein sollte, dass in nur einer einzelnen Nacht so viel Grausames passieren konnte, wie unglaublich es war, wenn auch auf eine schlechte Weise, dass ausgerechnet sie beide darin verwickelt waren und wie aussichtslos die Zukunft erschien, angesichts dessen, was vor ihnen lag. Luna dachte an ihren Vater, an das Gefühl, dass sie heute zum ersten Mal erfahren hatte, an die Angst, die sie plötzlich vor ihm hatte und sie wollte schon den Mund öffnen um es Matt zu erzählen, da sah sie noch einmal leise Tränen über seine Wangen rinnen und schloss ihn wieder. Morgen, morgen würde sie es ihm erzählen, wenn sie beide etwas zur Ruhe gekommen waren, wenn die Welt wieder heller schien und sie wussten, wie es weitergehen würde, sie hatte noch genug Zeit es ihm zu sagen…

Als Luna am nächsten Morgen die Augen aufschlug, saß sie nicht mehr gegen die Holztür gelehnt, sondern lag in einem weichen Bett und im ersten Moment dachte sie, man hätte sie gefunden, nach Hause gebracht und in ihr eigenes Bett zurückgelegt, doch dann bemerkte sie die kahlen Wände und die klamme Decke, die über ihr ausgebreitet war und sie realisierte, dass sie in Matts Bett lag. Umständlich kletterte sie heraus, streckte sich kurz und taperte dann schlaftrunken zur Tür. Mit jedem Schritt wurde ihr bewusster, was in der letzten Nacht geschehen war und mit jedem Atemzug wurde ihr Herz schwerer. Sie wusste auch heute morgen nicht, wie es weitergehen sollte und auch heute Morgen war die Welt kein bisschen heller, eher noch düsterer, denn sie wusste, dass sie nicht vor ihm verheimlichen konnte, was sie gesehen und gefühlt hatte, sie wusste, dass sie ehrlich sein musste, dass es ihnen womöglich helfen konnte, wenn auch auf eine Art und Weise, die sie erschreckend fand und nie hatte in Betracht ziehen wollen müssen. Sie ging durch das kleine Haus und als sie ihren besten Freund nicht finden konnte, überkam sie eine neue Welle von Sorge. „Matt?“, rief sie leise, dann immer lauter, bis er plötzlich in der Tür stand und leise lächelte. Es war kein fröhliches Lächeln doch Luna konnte nicht anders als erleichtert zurück zu lächeln. Wenigstens waren sie beide noch am Leben, etwas, das nach der letzten Nacht alles andere als selbstverständlich für sie gewesen war.
„Wie spät ist es?“, wollte sie dann wissen.
„Kurz nach Sonnenaufgang, es schläft noch alles“ Das überraschte sie, die Stunden in denen sie geschlafen hatte, kamen ihr im Nachhinein so lange vor, viel zu lange, sollten sie nicht längst auf dem Weg sein, um all jenen zu entfliehen, die nach ihnen suchen könnten? Ihrem Vater zu entkommen?
Luna wusste nicht, welche Emotionen sich in ihrem Gesicht widerspiegelten, während sie nachdachte, doch es schien Matt zu beunruhigen, ihm bewusster zu machen, dass sie keine Zeit hatten, dass sie aufbrechen mussten, denn mit einem Mal wurde seine Miene geschäftsmäßig und der Zug um seine Lippen verhärtete sich, als er nach dem alten verbleichten Rucksack griff, der unter dem Tisch stand, wie der ihre unter ihrem Bett. Der Rucksack…. Erst in diesem Augenblick bemerkte Luna, dass sie ihn letzte Nacht vergessen hatte, zu groß war die Angst gewesen, zu groß der Drang, einfach wegzulaufen.
„Luna?“ Matts Stimme riss sie aus den Erinnerungen an die vergangene Nacht. Sie nickte einmal kurz und ergriff seine Hand, die sie aus dem alten Haus zog, immer weiter die Straße hinab. Sie drehten sich nicht noch einmal um, wie Menschen es tun, die einen Ort verlassen, mit dem sie schöne Erinnerungen verbinden, drehten sich nicht um, um einen letzten Blick auf das zu werfen, was sie vermissen würden, denn, und das wussten beide, wenn sie auch sonst ratlos waren, sehr genau, nichts, was sich nun hinter ihnen befand, konnten sie je vermissen und doch würde es sie einholen, schon so bald, dass sich noch vor ende dieses Tages der strahlend blaue Himmel in einen rabenschwarzen verwandeln würde.


Kapitel 5



Der Tag schien immer heller, der Himmel immer blauer und die Sonne stets strahlender zu werden, je weiter sich die beiden Jugendlichen von ihren langjährigen Heimat entfernten. Sie sprachen kaum, während sie die helle Straße, ungeteert und reichlich staubig, entlang schlenderten, hin und wieder lächelten sie einander wortlos an, richteten den Blick wieder nach vorne und liefen weiter. Die ersten Minuten, die ersten Straßen und Gassen, die sie zurückgelegt hatten waren gefüllt gewesen von einer beinahe greifbaren Spannung, waren wie dunkle Fenster in der Erinnerung, die einem einen eisigen Schauer über den Rücken jagen und die Schultern sacht schütteln, wenn man versehentlich an sie denkt. Doch umso länger die Strecke wurde, die sie hinter sich ließen, umso weiter der Weg sie trug und um so weiter der Tag voranschritt, desto entspannter wurden sie. Bis hierher war ihnen noch niemand gefolgt, bis hierher war es nur besser geworden und was sprach dagegen, dass es so bleiben würde?
Ja, es war eine Menge, eine unerträgliche Menge an Dingen, die ihnen diese Erleichterung vergönnte und stehlen würde, doch in diesem Augenblick, während sie eine verlassene, unbekannte Straße entlang wanderten, hofften sie lediglich auf die Zukunft. Hoffen. Das einzige was sie tun konnten, da sie nicht wussten, was vor ihnen lag, da sie es erst wissen würden, wenn es direkt vor ihnen stände, Angesicht zu Angesicht, wenn es ihnen tief in die Augen blicken würde.
Lunas Gedanken wanderten ab, wanderten den langen Weg zurück, durch etliche Gassen und an tausenden Bäumen vorbei, zurück in das Arbeitszimmer ihres Vaters, zurück zu dem eigenartigen Mann, seinem vernachlässigtem Aussehen und dem Gefühl, dass sie ohne Vorwarnung überwältigt hatte. Sie überlegt hin und her, doch das alles wollte keinen Sinn ergeben, wie sie es auch drehte und wendete. War jener Unbekannte der Grund für das plötzliche Aufleuchten der Mordlust in seinen Augen? Aber was konnte er, ein einzelner Mann, so harmlos aussehend, schon bewirkt haben, wie hätte er so viel bewirken können, dass die sonstige Wärme im Blick ihres Vaters vollkommen verschwand? Oder lag es an ihr? Doch was könnte sie getan haben, dass ihn so wütend auf sie machte? Hatte er ihr verschwinden bemerkt? Wäre das ein Grund jemanden töten zu wollen? Sie töten zu wollen? Vehement schüttelte sie den Kopf, doch sie konnte die etlichen Fragen nicht aus ihrem Kopf verbannen, wurde sie einfach nicht los, hatte schon bald das Gefühl, ihr Kopf müsse explodieren. Matt bemerkte ihre Unruhe, sah, wie sie immer wieder den Kopf schüttelte, wie sie kurz anhielt und sekundenlang stehen bliebe, als müsse sie sich sammeln, doch es fielen ihm nicht die richtigen Worte ein. Er wusste nicht, was er hätte sagen können, denn obwohl ihnen beiden der Stein auf dem Herzen mit jedem Meter schrumpfte, obwohl sie unermesslich erleichtert waren zumindest für den Moment sicher zu sein, war auch er in Gedanken woanders. Auch in seinem Kopf häuften sich die Fragen, auf die es keine Antwort gab, nicht jetzt. Warum hatten seine Eltern sterben müssen? Was hatte es mit jenem Schwert zu tun? Hatte es überhaupt etwas damit zu tun? Und selbst wenn nicht, was sollte er jetzt tun? Seine Eltern rächen? An wem? Wie? Alles, was er wusste, war, dass er nicht tatenlos herumsitzen konnte, die Zeit verstreichen lassen konnte, irgendwas musste er tun, und wenn das hieß, dass er ziellos durch die Welt wandern musste um einen Mörder zu finden, dessen Identität er nicht kannte, von wessen Ziel er nichts wusste, dann würde er das tun. Wäre nur Luna nicht dabei gewesen. Er warf seiner besten Freundin einen flüchtigen Blick zu. Sie würde nicht umkehren, würde ihn nicht alleine gehen lassen. Sie hatte sich klar ausgedrückt. Er seufzte.
Erst als die untergehende Sonne den strahlenden Himmel in ein dunkles Orange tunkte, machten die beiden Rast.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 17.10.2008

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /