Mrs. Marshmellow
Morgen aufzustehen würde Missi nicht in
den Sinn kommen. Sie hatte sich vor zehn Tagen auf das Bett gesetzt und sich vorgenommen, es nicht mehr zu verlassen. Die Welt draußen war ihr zu laut und das Bett nicht hart genug, um sich für die Vertikale entscheiden zu können. Allerdings wollte Missi nicht allein sein. Das hätte ihr das Herz gebrochen, wenn das nicht sowieso schon der Fall gewesen wäre
. Nur: wie die Tür öffnen, um Besuch zu empfangen? Wie einkaufen um nicht kläglich zu verhungern und zu verdursten? Weil aufstehen das letzte war, was Missi wollte, beschloss sie, die alte Frau Weinmeister um Hilfe zu bitten. Sie wohnte nebenan und hatte einen Gehstock, den sie immer benutzte, um gegen das trennende Element zwischen ihnen zu schlagen. Wenn sich durch laute Musik belästigt fühlte, erzeugte sie einen vertrauten Rhythmus
. Nachdem Missi aufgehört hatte, die Tage zu zählen, an denen sie sich vorgenommen hatte: „Morgen steh ich auf.“, und schließlich auch aufhörte die zu zählen, während denen sie dachte: “Morgen steh ich nicht auf.“, waren ihre Muskeln mehr und mehr in sich zusammengeschrumpft. Als sie jetzt ihren spärlichen, dünnen Arm hob um an die Wand zu hämmern, war der Geweberest unter ihrer Haut nahezu lachhaft. Ein Müskelchen, sozusagen. Es brachte mehr ein
zaghaftes Klopfen als das gewollte grobe Schlagen zusammen. Der Vorteil an Missis Wohnung war, dass sie sich in einem 23 stöckigen Hochhaus befand, dessen Wände kaum dicker als Japanpapier waren. Deshalb reichte der alten Weinmeister die aufgebrachte Energie, um erbost zu sein. Sie ließ den Stecken auf und ab sausen und gab Missi so einen Grund zu schreien: „Frau Weinmeister, können sie mich hören?“ Das brachte die Alte in Rage. Sie donnerte wüste Beschimpfungen durch den Gips. Missi ließ sich nicht entmutigen. „Frau Weinmeister, können sie mir helfen?“ Plötzlich hörte die Weinmeister auf zu keifen. „Können sie rüber kommen, Frau Weinmeister?“ Es wurde still auf der anderen Seite der Wand. Missi glaubte hören zu können, wie die Alte sich die Falten im Gesicht zurechtschob. Dann schien sie sich auf den Weg zu machen. Eigentlich wäre es für Missi nicht in Frage gekommen, die Nachbarin um Hilfe zu bitten. Allerdings war sie die Einzige, die einen Schlüssel zur Wohnung besaß. Keine drei Minuten später war zu vernehmen, wie sie draußen an der Tür herumhantierte. Am Schlüsselbund waren zu viele Schlüssel befestigt, als dass der Richtige auf Anhieb erkennbar gewesen wäre. Insgesamt waren es 64, von denen Frau Weinmeister gerade mal sieben wirklich benutzte. Trotzdem weigerte sie sich, auch nur einen davon abzugeben. Sie behauptete, das würde sie vor Überfällen fremdländischer Jugendlicher beschützen. Die hätten nämlich Respekt vor Menschen mit großen Schlüsselbünden, weil das die Macht dieser Personen unterstreiche. Frau Weinmeister war also eine sehr mächtige Person und fummelte deshalb volle zwanzig Minuten am Schloss herum. Als sie es endlich geschafft hatte, ächzte sie auf das Schlafzimmer zu. Ihr Gesichtsausdruck war so befremdlich, dass ich ihn dem Leser an dieser Stelle lieber ersparen möchte. Dann traten die beiden Frauen in Verhandlung. Frau Weinmeister ließ sich mit gewisser Genugtuung erklären, warum Missi sich weigerte, ihr Bett zu verlassen. Sie hatte sehr viel Verständnis für die Trauer um einen geplatzten Liebestraum und unterstützte Missi in ihrem Unglück. Sie bot sich sogar an, ihr behilflich zu sein.
Noch am selben Abend begann Frau Weinmeister für Missi zu kochen. Günstiger Weise lag die Küche der Nachbarwohnung direkt neben dem Schlafzimmer. So war es der Köchin möglich, Fragen nach den Vorlieben ihres Schützlings stellen. Am Ende brachte sie Klöße mit Rotkohl und Bratensoße. Danach Schokoladeneis. Die folgenden Wochen und Monate verliefen sehr geordnet. Um halb sieben gab es das erste Frühstück. Meistens süße Pfannkuchen mit Marmelade. Dreieinhalb Stunden später, also um zehn, Eier mit Speck und karamellisiertem Toast. Um elf ein Glas Dickmilch. Mittagessen immer um eins, Buttercremetorte um vier und Bratkartoffeln am Abend, in der Regel um sieben. Missi aß und aß, vergnügte sich mit Talkshows, Gerichtssendungen und Boulevardmagazinen. Sie bewegte sich nicht, blieb immer im Bett, immer an der selben Stelle. Langsam begann sich eine Kuhle in der Matratze abzuzeichnen, weil Missis Körper sich vom Essen aufblähte. Zuerst wuchsen Schichten dicken, weißen Fettes um Hüften und Schambein, die Brüste begannen sich zu vergrößern, weiche Ringe legten sich um Handgelenke und Fesseln. Unter dem Kinn bildete sich ein Polster, dass es ihr fast unmöglich machte, es auf dem Brustkorb abzulegen. Frau Weinmeister beobachtete Missis Verfettung mit großem Interesse. Sie wusste, wenn sie begänne, das immense Essenspensum noch weiter zu steigern, würde es Probleme geben. Allerdings war die Zeit knapp bemessen. Am Morgen hatte Herr Merker vom Fernsehteam angerufen. Er schien ungehalten. Die Sendung sei schon für nächsten Monat geplant, und er habe noch nichts von ihr gehört. Er wolle sie bloß daran darauf hinweisen, dass die Geschichte mit dem Mann, der begonnen hatte, sich selbst aufzuessen, zügiger vorangegangen sei. Oder die von der Frau, die sich plötzlich vor Nation und Kamera umoperieren ließ. Nach zwanzig Jahren Ehe. Merker frage sich, wie seine schnarrende Stimme durch den Telefonhörer verkündete, warum es Frau Weinmeister diesmal an Professionalität mangele.
Genau diese Frage hatte sich die Weinmeister in den letzten Tagen bereits öfter gestellt. Eigentlich hatte sie nie schlechtes Gewissen, wenn sie sich daran machte, verlorene Seelen an Herrn Merkers Fernsehsender auszuliefern. Immerhin besserte das ihre Rente erheblich auf, denn von der Summe, die ihr 40 Jahre Bäckereifachverkäuferin eingebracht hatte, konnte sie beim besten Willen nicht leben. Sie fand es gerecht, das faule, neurotische Pack der neuen Generation sozusagen als „lebendiges Formmaterial“ zu benutzen. Schließlich war Frau Weinmeister ein sehr einfühlsame Frau. Sie hatte nicht das Gefühl, irgendjemanden zu seinem Unglück zwingen zu müssen. Das hatten die Kandidaten in der Regel selbst getan. Frau Weinmeister hatte sie lediglich dabei unterstützt. Und die Zuschauer der Privatsender waren immer zufrieden. Die Alte empfand sich als Künstlerin. Sie produzierte Unglaubliches, inszenierte den ganz normalen Wahnsinn. Dass sie Schaden im Leben anderer anrichten könnte, glaubte sie nicht. Immerhin übernahm Merkels Sender die Therapiekosten für die Kandidaten. Und wer besonders auffällig war, hielt sich lange genug in der Presse, um ein Honorar einzustreichen, das oft ein, zwei Jahre ausreichte, um sorglos zu leben.
In Missis Fall allerdings lagen die Dinge anders. Je mehr der Körper der jungen Frau anschwoll, desto mehr regten sich Gefühle in Frau Weinmeister. Sie hatte nie Kinder gehabt, denn die Bäckermeister, die sie ab und zu vernaschte, waren meistens verheiratet. Den Gedanken an ein Heim und jemanden, um den sie sich sorgen müsste, lag ihr fern. Wenn sie jetzt, nach den letzten Mahlzeiten am Abend, Missis rosige Wangen betrachtete, wenn sie kleine Tropfen Fett beobachtete, die aus den Mundwinkeln rannen und mit gieriger Zunge aufgeschleckt wurden, dann spürte Frau Weinmeister Wärme in sich aufsteigen. Wärme und das Verlangen, die junge Frau für immer bei sich zu behalten. Als ihr ganz persönliches Kunstwerk. Es der Öffentlichkeit preis zu geben lag nicht in ihrer Absicht.
Das musste sie auch Merker klarmachen. Missi war nicht zu verkaufen. Am nächsten Tag, etwa zwischen Dickmilch und Mittagessen, überwand sie sich, griff zum Telefonhörer und meldete dem Sendechef ihre Entscheidung. Merker war, gelinde gesagt, stinksauer. Er bedrohte die Weinmeister und gab ihr zu verstehen, dass er durchaus die Möglichkeit hätte, sie selbst als Attraktion im Programm zu zeigen. Diese Schande, diese Schmähung ihres Kunstwerkes und ihrer Selbst konnte Frau Weinmeister nicht akzeptieren. Sie empfand eine seltsame, zarte Liebe für das Geschöpf, das zwischen all den von ihr zubereiteten Knödeln, Würsten und Cremespeisenbergen entstanden war. Ein großer, glatter, weißer Fleischberg. Allerdings war die Masse, welche Missi um ihren ehemals aus Gram ausgemergelten Körper sammelte, nicht wabblig oder machte einen glitschig-weichen Eindruck. Sie hatte gegenteilig eine feste Konsistenz und schien eine ausufernde Weiblichkeit entstehen zu lassen, die auf Entschlossenheit und Kraft schließen ließ. Ihre blondgelockte Mähne war inzwischen schulterlang und ließ das Bild einer Walküre entstehen. Es war der Künstlerin Weinmeister unmöglich dieses Objekt der Lächerlichkeit preiszugeben, zumal nach ihrem Eindruck nichts Lächerliches an Missi zu finden war.
Deshalb fasste sie einen Entschluss. Sie verpasste Missie am nächsten Morgen ein Frühstück, von dem sie wusste, dass es sie gefügig machen würde: Pflaumen im Speckmantel und danach Blaubeerpfannkuchen mit Vanillequark. Es war Missis Lieblingsfrühstück. Als diese dann mit dem Zeigefinger den letzten Rest des Vanillequarks von ihrer Oberlippe wischte, um ihn ordentlich verschwinden zu lassen, ließ Frau Weinmeister die Bombe platzen. „Missi,“, sagte sie in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete, „Missi, heute stehst du auf.“. Die Größe von Missis Augen und die Anzahl der wechselnden Gesichtsfarben sind nur schwer zu beschreiben. Wenn ihr Aussehen Sie tatsächlich interessiert, gehen Sie doch einfach in die Zoo und beobachten sie ein Chamäleon. Sie müssen es allerdings ärgern. Denn ein Chamäleon wechselt nicht, wie allgemein angenommen, seine Farbe um sich der Umgebung anzupassen, sondern um seine Gefühle auszudrücken. So wie Missi in diesem denkwürdigen Augenblick, als sie aufgefordert wurde, aufzustehen. In der Phase „Burgunderrot“ hörte sie plötzlich auf zu glühen. Selbstsicher gab sie zu bedenken, dass man einen gut 324 Kilo schweren Körper nicht einfach so transportieren könne. Außerdem sei die Gefahr, dass ihre Knochen brechen würden, weil diese niemals das Gewicht eines Elefantenkalbs getragen hätten, keines Falls auszuschließen. Daran hatte Frau Weinmeister nicht gedacht. Sie gab sich zunächst geschlagen, rang Missi allerdings das Versprechen ab dass sie, wenn sie eine Transportmöglichkeit fände, ihr bedingungslos folgen müsse. Missi dachte an all das gute Essen und sagte daher aus Schuldigkeit zu.
Eine heimliche Flucht, wie die vermessene Alte sie sich ausgedacht hatte, kam also nicht in Frage. Deshalb entschloss sie sich in einer kühnen Minute zur spektakulärsten Rettungsaktion, die die Stadt jemals erleben sollte. Frau Weinmeisters Neffe Buddie war ein lieber Kerl, wenn auch sehr verträumt. Er hatte leuchtend blaue Augen, und wenn er seine Bauarbeiterhose trug, war er einfach unwiderstehlich. Seine Tante wies ihn an, den Hebekran für eine Nacht von der Baustelle zu entführen. Sie verkaufte ihm die ganze Geschichte so, dass Buddie glaubte, er würde Dornröschen aus ihrem hundertjährigen Schlaf erlösen. Voll von romantischen Gefühlen für die Unbekannte stahl der Junge den Hebekran um zwei Uhr morgens. Leider bemerkte Buddie dabei nicht, dass er beobachtet wurde. Sendechef Merker erkannte die Unruhe der alten Weinmeister und ahnte, dass sie etwas im Schilde führte. Er schlich schon seit Tagen hinter ihr her. Als er begriff, was Buddie vorhatte, zog er sein Handy aus der Seitentasche seines Sakos und informierte sein Kamerateam. Wie die Ratten lagen sie auf der Lauer. Den Hebekran sinnvoll zu platzieren war keine einfache Sache. Erst recht nicht in der Dunkelheit. Letzten Endes stand das Stahlungetüm dann doch vor Missis Schlafzimmerfenster. An seinem oberen Ende baumelte ein starkes Seil mit einem Tragegurt, nach dem Frau Weinmeister eifrig grabschte. Missi war sich bewusst, dass dies die letzten Minuten in der Ruhe ihres Bettes waren und fürchtete sich. Trotzdem ließ sie sich von der Alten brav den Gurt anlegen. Sie fühlte sich nicht besonders wohl. Eher wie eine Schnürwurst.
Dann begann der Ausstieg. Die Weinmeister gab Buddie ein Zeichen. Das Geräusch des Krans zerschnitt die Nacht. In allen dreiundzwanzig Stockwerken blitzte Licht hinter den Fenstern auf. Auf diese Weise erhellte sich das Dunkel, weswegen Buddie die Scheinwerfer der Kameras zu spät bemerkte. Frau Weinmeister begann zu kreischen, Buddie mit unanständigen Worten zu belegen und versuchte, die Aktion zu unterbrechen, damit Missi nicht in die Linsen der Fernsehleute gesogen würde. Leider war es zu spät. Missis monumentaler Körper baumelte in der Luft. Ihre blonde Lockenpracht flog im Wind, als sie um die eigene Achse zu kreisen begann. Die Drehungen wurden immer schneller und schneller. Buddie, der eigentlich dafür hätte Sorgen müssen, Missi heil auf festen Boden zu setzen, blieb erstarrt.
Seine Augen waren aufgerissen und spiegelten das Licht der Scheinwerfer wie zwei blaue Monde. Er war fasziniert. Versunken. Gebannt. Erst als Missi die letzte Portion Bratkartoffeln durch die entstandenen Zentrifugalkräfte aus sich herausschleuderte, erwachte Buddie und fuhr Missi vorsichtig herunter auf die Tragfläche des bereitgestellten Transporters. Dann sprang er von seinem Arbeitsgerät. Gefolgt von Kameras stemmte er sich auf die Seitenteile der offenen Tragfläche. Er sah ihr ins Gesicht und konnte sich nicht erinnern, jemals etwas Schöneres gesehen zu haben als diesen großen, runden Kopf und die darunter liegenden Schultern aus rosigem, üppigem Fleisch. Buddie dachte nicht mehr länger nach. Er konnte nicht anders als Missi zu küssen. Als er es tat, fingen die Fernsehleute begeistert an zu klatschen.
Inzwischen hatte es auch Frau Weinmeister auf die Strasse geschafft. Als sie begriff, was geschehen war, wurde sie hysterisch. Buddie hatte sich verliebt, soviel war klar. Und Missi - würde sie für ihn verlassen. Das schien auch klar. Frau Weinmeister stürzte sich furienhaft auf ihren Neffen. Einer der Fernsehmoderatoren ging dazwischen und zog sich einige Kratzer im Gesicht zu. Dann hatte er die Weinmeister endlich unter Kontrolle. Buddie reagierte für seine Verhältnisse erstaunlich schnell. Er wollte seine neue Liebe retten, die hilflos ihre Augen rollend auf der Ladefläche lag. Deshalb schwang er sich mit einer Entschlossenheit in die Fahrerkabine, die man ihm gar nicht zugetraut hätte. Das Liebespaar entfloh in die Nacht. All das wurde vom Sendechef Merker auf Celluloid gebannt. Er war sehr zufrieden.
Was, so fragt man sich, ist nun die Moral der Geschichte. Ich bin überzeugt, dass all diejenigen unter meinen Lesern, die Dokumentationen über das wirklich wahre Leben auf der Mattscheibe schätzen, es wissen. Den anderen sei gesagt, dass bestimmt nicht alles soeben Gelesene der Wahrheit entspricht. Ich gebe zu gelogen zu haben. Allerdings haben alle großen Dichter ein bisschen übertrieben, wenn sie von der Liebe erzählten. Das muss wohl so sein. Weil die wahre Schönheit von Innen äußerlich nicht immer zu erkennen ist.
Texte: M.Glaub
Tag der Veröffentlichung: 02.10.2008
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