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„Erde an Amelie! Erde an Amelie!“
„Was?“, schreckte ich auf.
Maries Stimme hatte mich direkt aus einem meiner Tagträume gerissen. Während wir die Marktstraße entlang liefen, war ich wohl abgedriftet. Ehrlich gesagt, fiel mir das in unserer kleinen Stadt auch nicht gerade schwer und ich fragte mich jedes Mal, warum ich die einzige war, der das passierte. Die Stadt wurde von einer wunderschönen Landschaft umgeben, die regelrecht zum Träumen einlud. Rings um das Zentrum erstreckten sich saftige Wiesen, grüne Wälder und plätschernde Flüsse. Die Marktstraße ging geradewegs durch eben jenes Zentrum und war sowohl geografischer als auch sozialer Mittelpunkt der Stadt.
Ich ließ meinen Blick über die Berge am Horizont schweifen. Weit oben auf einer Anhöhe erblickte ich das alte Schloss. Es stand mitten im Wald und war eine Ruine. Schade, dass sich niemand gefunden hatte, um es zu restaurieren, denn es sah mit seinen vielen kleinen Türmchen aus, als käme es direkt aus meinem Märchenbuch.
„AMELIE!“ Marie klang jetzt eindeutig genervt.
„Entschuldige“, sagte ich schuldbewusst.
„Du bist unglaublich“, meinte sie und schüttelte nur den Kopf, was ihre blonden Locken zum Hüpfen brachte. „Also. Kommst du jetzt noch mit in den Buchladen oder nicht?“
Ich wunderte mich, was Marie in noch einem weiteren Buchladen wollte. Ihre große Tasche war jetzt schon so voll mit Lesestoff, dass wir sie bald nicht mehr transportieren konnten, obwohl wir sie zu zweit trugen. Außerdem schwitzten wir beiden wie die Blöden, da es zusätzlich noch sehr warm war.
„Och nee“, sagte ich. „Ich schau mich hier noch ein bisschen um, wenn es dir nichts ausmacht. Ruf mich einfach an, wenn du fertig bist.“ In Wahrheit hatte ich ein Café ins Auge gefasst, welches sich zwei Läden weiter befand. Mir schwebte längst eine kalte Cola zur Erfrischung vor.
„Wie du meinst.“ Marie lächelte mich an und hievte ihre Tasche in den Laden.
Ich schlenderte gemütlich die Straße entlang. Zwischen dem Buchladen und dem Café befand sich ein unscheinbarer kleiner Laden. Als ich meinen Blick eher zufällig durch das Schaufenster gleiten ließ, wurde meine Aufmerksamkeit von einem wunderschönen alten Tanzkleid auf sich gezogen. Überhaupt war es ein Vintage-Laden. Die neuesten Dinge waren vielleicht dreißig Jahre alt. Ich entschied mich, mir den Laden mal näher anzusehen. Drei Stufen musste man erklimmen, um durch die Tür in das Gebäude zu kommen, welches schon den richtigen Flair hatte. Als ich die Tür öffnete, bimmelte eine Glocke.
Schnurstracks lief ich auf das wunderschöne Ballkleid zu. Jetzt, wo ich es von Nahem betrachtete, bemerkte ich erst einmal, wie unglaublich fein es gearbeitet war. Es war himmelblau und mit weißer Spitze besetzt. Aber was war das für eine Spitze! Wahre Kunst. Ich fragte mich unweigerlich, wem das Kleid gehört hatte und warum um alles in der Welt man es verkaufte.
Plötzlich berührte mich eine Hand an der Schulter und ich fuhr zusammen. Als ich mich umdrehte, stand ich direkt vor einer alten Dame. Sie hatte ein sehr eingefallenes Gesicht und weiße Strähnen hingen ihr vor das Gesicht. Aber ihre Augen waren sehr wachsam und passten so gar nicht in ihr Gesicht.
„Gefällt es dir?“, fragte sie mit wissendem Blick.
„Oh ja“, stimmte ich zu. „Es ist traumhaft. Wem hat es gehört?“
„Das weiß niemand so genau. Aber es war eine Prinzessin, sagt man.“
Ich war erstaunt. „So eine richtige Prinzessin?“
„Sie war nicht blauen Blutes, falls du das meinst. Eigentlich war sie sogar eine Hochstaplerin. Aber jeder, der sie sah, meinte, sie müsse eine Prinzessin sein.“
Ach so. Trotzdem konnte ich mir das gut vorstellen. In so einem Kleid musste wirklich jedes Mädchen wie eine Prinzessin aussehen.
„Aber ich kann es mir sowieso nicht leisten. Einmal auf so einem Ball tanzen – wäre das nicht toll?“, sagte ich mehr zu mir als zu ihr. Aber die Dame antwortete trotzdem: „In der Tat. Warte, vielleicht habe ich etwas für dich.“
Kaum hatte sie das gesagt, war sie auch schon hinter einer Kleiderstange verschwunden. Ich hörte sie ein wenig rascheln und poltern. Dann kam sie mit einem kleinen Kästchen auf mich zu. Ich wusste nicht, warum, aber als sie es öffnete, hielt ich den Atem an.
Das Kästchen war von innen mit blauem Samt ausgekleidet und in der Mitte lag ein wunderschönes Medaillon. Über und über war es mit Diamanten besetzt. Mein Mund klappte auf.
„Ich glaube, das kann ich mir noch weniger leisten“, stotterte ich.
Aber das schien die alte Dame nicht zu kümmern. Mit ihren langen Fingern nahm sie das Medaillon und trat hinter mich. „Das macht nichts. Wir wollen es nur einmal ausprobieren.“
Ohne meine Antwort abzuwarten legte sie es mir auch schon an. In einem alten Spiegel, von dem ich nicht wusste, ob er einfach nur so da stand oder zum Verkauf vorgesehen war, betrachtete ich mich. Es sah umwerfend an mir aus. Ich war wirklich überrascht, wie ein einfaches Schmuckstück einen solchen Unterschied bei einer Person hervorrufen konnte.
„Was ist darin?“, fragte ich ehrfürchtig.
Sie schmunzelte. „Wenn du es öffnest, werden deine Träume wahr.“
Ich lächelte. Was für eine süße Idee. Natürlich zögerte ich nicht, sofort den Verschluss zu betätigen. Und dann verschwamm alles um mich herum.
*
„Aua!“, rief ich aus. Ich war direkt hingefallen und hatte mir den Kopf angehauen. Keine Ahnung, wo oder wobei.
„Ach hallo!“, hörte ich eine mir unbekannte Stimme sagen.
Als ich mich umblickte, sah ich immer noch das schöne blaue Kleid vor mir. Auch sonst war es der gleiche Laden. Aber die alte Dame war weg. Vor mir stand nun ein Mann, vielleicht Mitte dreißig. Er kam mir ganz und gar nicht bekannt vor. Aber als er mich nun musterte, fielen mir die Augen sofort auf. Es waren exakt die Augen von der Dame: Viel zu wachsam und gar nicht passend für so ein Gesicht. War er womöglich ihr Sohn?
„Wo ist die alte Dame?“, fragte ich unhöflich.
„Welche alte Dame?“, fragte der Mann zurück.
Ich rollte die Augen. „Na die, die mir dieses Medaillon gegeben hat!“
Er kam näher, um es sich anzusehen.
„Das ist wunderschön“, sagte er schlicht. „Mir liegt genau dasselbe vor.“ Plötzlich wurde er aufgeregt. Er bekam rote Flecken auf den Wangen. „Wo kommt sie her?“
„Wer?“, fragte ich. Die Dame oder ich jetzt?
„Na sie!“, sagte er mit Nachdruck und deutete mit dem Kinn auf mich.
Ich stand vollkommen auf dem Schlauch. Wo sollte ich denn auch bitte herkommen? Der Mann musste eindeutig nicht mehr ganz dicht sein.
Zufällig glitt mein Blick aus dem Fenster. Draußen trabten mehrere Pferdekutschen aneinander vorbei und die Leute waren zu meiner Verblüffung alle sehr speziell gekleidet. Vielleicht war das eine Theatergruppe? Ich starrte und starrte, aber die merkwürdig gekleideten Leute schienen sich nur zu vermehren. Ich zweifelte an meiner Zurechnungsfähigkeit.
Der Mann war meinem Blick gefolgt. „Wir schreiben das Jahr 1769“, meinte er verheißungsvoll.
Das war ja wohl ein schlechter Scherz! Ein ganz mieser. Der hatte doch nicht mehr alle Bücher im Regal (hätte Marie jetzt gesagt). Aber ich sah es doch selbst. Draußen vor dem Fenster schien tatsächlich 1700-nochwas zu sein.
„Sie kommt doch wegen des Balls, nicht wahr?“
„Wegen des Balls?“, fragte ich.
„Ja, ja! Es ist alles vorbereitet – alles vorbereitet!“
Was?!
Er ignorierte meinen verdatterten Gesichtsausdruck einfach. „Dieses Kleid soll’s sein, nicht wahr? Es ist wunderschön! Passt zu dem Medaillon, ja das tut es.“
Okay, der hatte eindeutig ein Ding zu laufen. So aufgeregt wie der war, wunderte ich mich, dass er überhaupt sinnvolle Sätze zustande brachte. Naja, was hieß hier schon sinnvoll?
Dann warf der Typ mir das blaue Kleid, dass ich die ganze Zeit schon bewundert hatte in die Arme und schob mich in eine Art Umkleidekabine. Aus Ermangelung eines besseren Einfalls, zog ich es einfach an. Dabei fiel mir auf, dass es jetzt anders aussah. Wie neu. Noch schöner kam es zur Geltung. Sollte ich wirklich eine Zeitreise gemacht haben?
Das Kleid sah atemberaubend an mir aus! Fast so als käme ich selbst aus dieser Zeit. Das meinte auch der Typ, dessen Augen sich bei meinem Anblick weiteten.
„Auf, auf!“, meinte er nur und zog mich zu einer Hintertür aus dem Laden zu einer eigenen Kutsche. Er bestieg den Kutschbock und wies mich an, mich hinten hinein zu setzen. Ich gehorchte.
Mittlerweile hatte ich das Ganze als einen Traum abgestempelt. Mein Traum war es doch gewesen, in diesem Kleid auf einem Ball zu tanzen, oder? Wahrscheinlich ging meine Fantasie mit mir durch.
„Sie wird sich als Prinzessin Katharina ausgeben“, meldete sich mein Kutscher zu Wort. „Die Prinzessin hatte eigentlich vor zum Ball zu kommen. Doch leider hat sich deren Anreise verzögert. Optimal, nicht wahr? Optimal!“
Von mir aus. Aber das traf sich ja wirklich gut. Hoffentlich kannte auf dem Ball niemand diese Prinzessin. Das wäre ... ungut.
Plötzlich bemerkte ich, wohin wir auf dem Weg waren: Es war das alte Schloss! Nur dass es jetzt sehr neu aussah. Märchenhaft schön mit seinen vielen Türmchen und dem hellen Anstrich. Leise geriet ich ins Schwärmen, während unsere Kutsche sich dem Schloss in Windeseile näherte.
*
Schon als ich den langen Flur zum Ballsaal hinunter ging, konnte ich die Menschen hören. Das Fest schien in vollem Gange zu sein. Mein Herz hüpfte und der Mut verließ mich.
Wie sollte ich mich verhalten? Wie sollte ich reden?
Als ich an der Tür zum Ballsaal ankam, wurde sie mir nicht von den Dienern geöffnet. Ein Mann mit hohem Kragen und buschigen Augenbrauen sah mich abwartend an. Weil ich nicht reagierte, fragte er: „Name?“
Oh. „Prinzessin – äh Katharina.“
„Schön, dass Ihr es auch noch geschafft habt“, sagte er in einem Tonfall, der mich an der Aussage zweifeln ließ.
Die Diener öffneten die Hohe Tür und der Mann rief in lauter Stimme: „Prinzessin Katharina!“
Ach du Schei- pardon. Diese Art von Aufmerksamkeit war das Letzte, was ich gewollt hatte.
Vor mir erstreckte sich der Ballsaal. Er war atemberaubend. Eine riesige Marmortreppe führte in ihn hinein und auf der Tanzfläche standen Herren und Damen in der schönsten Abendgarderobe bereit. Ganz hinten am anderen Ende war eine Empore mit zwei Thronen. König und Königin!!! Sie sahen ebenso erhaben aus, wie man als König und Königin halt auszusehen hatte. Wie aufregend!
Ich versuchte, so anmutig wie ich konnte die Treppe hinunterzulaufen. Oh mein Gott, das hatte ich schon immer mal tun wollen! Zum Glück konnte man meine Chucks unter dem weiten Ballkleid nicht sehen. Aber mir viel das Laufen damit leichter und ich fühlte mich sicher.
Als ich unten an der Treppe angelangt war, sah ich mich scheu um. Einer der jungen Männer auf der Tanzfläche ließ seine Partnerin mitten in einer Umdrehung stehen und kam auf mich zu. Das Mädchen guckte nur völlig perplex drein und musterte mich dann scharf. Beinahe hätte ich darüber gelacht, aber da fiel mir auf, dass alle Menschen dem Blick des Mannes gefolgt waren. Das brachte mir erneut ein mulmiges Gefühl in der Magengegend.
Der junge Mann stand nun direkt vor mir und ergriff meine Hand. Dann führte er sie an seine Lippen. So etwas hatte noch nie jemand bei mir gemacht, aber ich versichere: Es war das schönste Gefühl auf der Welt. Besonders von so einem Mann. Er war verhältnismäßig groß und trug sehr edle Kleider. Sein dunkles Haar war leicht nach hinten gekämmt und der klare Blick ruhte auf mir.
„Wenn ich mich vorstellen darf. Ich heiße Johann“, sagte er zu mir. „Und Ihr seid Prinzessin Katharina, wie ich höre?“
„Ja, das bin ich“, log ich.
„Sehr erfreut, Prinzessin.“ Bei ihm klang es auch so, als meinte er es. „Darf ich Euch zum Tanz geleiten?“
„Äh, aber – aber natürlich“, brachte ich heraus.
Mit einem umwerfenden Lächeln führte er mich auf die Tanzfläche. Alle übrigen Leute begannen ebenfalls wieder mit dem Tanz und Johann verbeugte sich vor mir. Dann wirbelten wir los.
Die Musik war sehr schön. Nicht zu aufdringlich oder dynamisch, aber doch lebhaft und präsent. Ich ließ mich gänzlich fallen und von Johann führen. Er hielt mich fest und lächelte die ganze Zeit sehr galant. Vielleicht hätte ich mich unter anderen Umständen mehr umgeschaut, aber ich hatte nur Augen für ihn.
Ich hätte nicht sagen können, wie viele Tänze wir miteinander verbracht hatten, aber Johann ließ meine Hand nicht los und jedes Mal, wenn ein anderer mich aufforderte, ließ er es schlichtweg nicht zu.
Wir machten mehrere Konversationsversuche und Johann fragte mich auch, ob ich vom Land käme, da meine Sprache so vollkommen anders war. Ich nickte nur. Besser als jede Ausrede, die ich mir hätte einfallen lassen können. Aber bei der Lautstärke war ein richtiges Gespräch eh unmöglich. Es lag ja nicht nur an der Musik: Der riesige Saal war komplett mit hunderten von Leuten zugestopft. Da kam schon ganz schön was zusammen.
Plötzlich kam Johann näher an mich heran und ich hielt den Atem an. Leider wandte er sich nur an mein Ohr: „Was haltet Ihr davon, einen kleinen Spaziergang zu machen?“
Damit hatte ich nicht gerechnet, aber die Idee gefiel mir. Sehr gut sogar. Ich nickte, weil ich – aufgrund besagter Lautstärke – keine Lust hatte, zu brüllen.
Er nahm mich bei der Hand und führte mich auf die Terrasse. Hier standen vereinzelt ein paar Menschen herum, also liefen wir in den Schlosspark.
Absolut kein Vergleich zu dem Park zu meiner Zeit. Ich entsann mich, dass nur Unkraut und alte knorrige Bäume in meiner Zeit an diesem Ort standen und wucherten. Schade, denn er war wirklich, wirklich schön. Weit und grün. An manchen Stellen waren kleine „Inseln“ geschaffen. Mit einer Bank und einem schattenspendenden Baum. Oder es waren kleine Beete voll von Blumen. Meine Aufmerksamkeit galt allerdings dem wunderschönen und schlichten Brunnen. Genau dort führte Johann mich auch hin.
Wir setzten uns auf den Rand des Brunnens und ich begann gedankenverloren , meine Hand im Wasser kreisen zu lassen. Als ich zu Johann sah, bemerkte ich, dass sein Blick erneut auf mir ruhte.
„Also...“, setzte er an. Ich hielt seinem Blick erwartungsvoll stand. „Ich entsinne mich zu fragen, ob Ihr-“
„JOHANN!“, rief – besser: brüllte – eine Stimme von der Terrasse aus.
Na prima. Was für ein Timing. Ich würde wohl nie erfahren, was er mich hatte fragen wollen.
Johann wirbelte herum. Ich tat es ihm gleich. Zu meinem Entsetzen musste ich feststellen, dass eine junge Frau auf uns zugerannt kam. Sie trug ein grünes Kleid und mir wurde langsam bewusst, dass sie das Mädchen war, welches Johann für mich stehen gelassen hatte. Anscheinend nahm sie mir das übel, denn sie würdigte mich keines Blickes und wandte sich demonstrativ von mir ab.
„Was ist los, Helena?“, fragte Johann besorgt. Aber sie hatte nicht einmal Zeit, ihm zu antworten, denn hinter ihr erschienen zwei bewaffnete Männer, die wild gestikulierend in unsere Richtung rannten. Ich bemerkte, dass auf der Terrasse eine junge Dame stand und zu uns herüber sah, wobei sie sich weit über das Geländer lehnte.
Die Männer brüllten den Schlosspark zusammen und zerstörten vollends die Idylle: „Da ist sie! Ergreift sie!“ Wen? Helena?
Diese meldete sich zu Wort: „Das da ist eine Betrügerin!“ Ihre Worte trieften nur so vor Verachtung. Was mich verwirrte: Sie zeigte auf mich. Johann sah mich an und runzelte die Stirn.
„Was redet Ihr da? Katharina, was redet sie da?“ Ab da ging alles ganz schnell.
„Ich“, setzte ich an, aber in dem Moment, wo ich begriff, fiel mir auch schon wieder Helena ins Wort: „Das ist nicht Prinzessin Katharina!“
Ich wusste gar nicht, wie mir geschah, aber die Männer von eben hatten nun den Brunnen erreicht und mich gepackt. Einer von ihnen drehte mir den Arm schmerzhaft auf den Rücken. Dann stießen sie mich in eine andere Richtung und liefen mit mir fort.
Einmal hatte ich die Chance, zurückzublicken. Der Mann drehte meinen Kopf aber wieder weg, sodass mein Blick auf die Dame auf der Terrasse fiel. „Wir haben die Betrügerin gefunden, Prinzessin Katharina!“ Sie nickte nur.
Aber all das nahm ich nur am Rande wahr. Vor meinem Auge schwebte nur das Bild, was ich gesehen hatte, als ich noch einmal zum Brunnen zurück geschaut hatte: Johanns Blick und die unsagbare Enttäuschung darin.
*
Tja. Das war sie. Meine Geschichte. Erwartet bloß kein bescheuertes Happy End oder so. Wisst ihr, wie die Realität aussieht? Ich sitze im Jahre 1769. Ich sitze im Jahre 1769 in einem Knast.
Ich sage euch: Die zwei Stunden Märchen-Feeling sind diese Tortur echt nicht wert. Ich meine – hey – immerhin habe ich hier schön viel Stroh. Da geht’s mir schon besser, als den Typen in der Zelle nebenan. (Die Gangster vor 300 Jahren waren übrigens ziemlich gesellig. Gestern Abend war zumindest sehr lustig.)
Langsam zerreiße ich den Unterrock von diesem bescheuerten Kleid, mit dem die ganze Sache überhaupt erst angefangen hat. Schöne Scheiße. Ich nehme das Medaillon ab und pfeffere es mit aller Wut in die Ecke, als es an meiner Tür klopft. So leise, dass ich erst denke, mich verhört zu haben.
„Ähm. Katharina?“ Es bleibt kurz still. Soll das ein Witz sein? Ich bin doch im Gefängnis, weil ich nicht Katharina bin! „Also. Ich würde Euch ja bei Eurem wahren Namen nennen, aber mir ist nur jener geläufig, falls Ihr versteht?“
„Johann!“, rufe ich aus.
„Sagt, warum gebe ich mir eine solche Mühe, leise zu sein, wenn ihr doch so laut seid?“
Oh. „Entschuldigung“, flüstere nun auch ich. Warum ist er hier? Warum?
Er schweigt. Das einzige, was ich höre, ist sein Atem. Es baut sich eine Spannung auf. Plötzlich furzt einer der Typen in der Zelle nebenan. Ich kann mich nicht zurückhalten und fange an zu lachen.
In dem winzigen vergitterten Fenster, welches sich in der Tür befindet, taucht nun Johanns Gesicht auf. Er lächelt. Als unsere Blicke sich treffen, verschwindet das Lächeln langsam.
„Sie erzählen die grausamsten Geschichten über Euch. Nur Schlechtes.“
„Das kann ich mir denken.“ In Sachen Lästern scheint sich die Menschheit schon immer gleich verhalten zu haben.
„Sag mir bitte deinen Namen.“ Seine Stimme ist sehr ruhig. Zu ruhig.
„Amelie.“ Ich kann nicht den winzigsten Ausdruck in meine Stimme legen. Irgendwie ist mir die Kehle wie zugeschnürt.
„Amelie“, haucht Johann. Dann verstummt er. „Beantworte mir nur eine Frage.“ Sein Blick ist flehend.
„Ja.“ Was hätte ich sonst sagen sollen?
„Hast du nur mit mir gespielt? Hast du nur mit mir getanzt, weil ich der Prinz bin?“
„Was für ein Prinz denn?“, frage ich erstaunt zurück. Das sorgt wieder für ein Strahlen auf seinem Gesicht.
„Ich wusste es!“ Hä? „Schnell, schnell! Ich habe deinen Kutscher ausfindig machen lassen und mit ihm geredet! Was wünschst du dir am meisten?“
„Nach Hause zu kommen“, sage ich wahrheitsgemäß.
„Dann hol das Medaillon!“, weist er mich an.
„Warum?“
„Wenn du es öffnest, werden deine Träume wahr.
*
Ich renne durch die Straßen, als ginge es um mein Leben.
Dann biege ich in die Marktstraße ein. Dort hinten ist der Buchladen, in dem Marie noch immer stöbern muss - und direkt daneben der kleine Vintage-Laden.
Schnaufend bleibe ich direkt vor dessen Fensterscheibe stehen. Aber zu meinem Schrecken ist der Laden verrammelt! Man kann weder ins Innere des Ladens blicken, noch hinein gehen. Trotzdem gehe ich die drei Stufen hoch und rüttelte an der Tür. Nichts.
Langsam drehe ich mich um und beobachte das bunte Treiben auf der Straße. Zitternd trete ich ein Stück vom Laden ab. Meine Knie fühlen sich weich an. Ich richte meinen Blick erneut auf die abgesperrte Fensterscheibe und ein Schauer gleitet mir den Rücken hinab.
Plötzlich vernehme ich eine Stimme. „Was willst du denn in dieser Bruchbude, Mädchen?“
Ich blicke auf. Vor mir steht der alte Besitzer des Cafés direkt nebenan.
„Ich“, beginne ich. Aber mir fällt keine plausible Antwort ein. Stattdessen frage ich etwas Anderes: „Was ist mit dem Laden passiert?“
„Oh, der ist pleite gegangen. Die Alte konnte ihn nicht mehr halten.“ Der Mann zuckt die Schultern.
„Aber die können sie doch nicht vom einen auf den andern Tag rauswerfen! Wo soll sie denn jetzt hin?“
„Spinnst du jetzt auch schon rum?“, fragt er und mustert mich eindringlich von Kopf bis Fuß. „Der Laden ist schon seit fast 50 Jahren dicht. Als ich hier anfing, war die verrückte Alte doch schon über 70! Mittlerweile liegt sie schön unter der Erde.“
Mit den Worten dreht er sich um und trottet auf sein Café zu. Ich will ihn noch fragen, was er damit meint, aber da ist er schon verschwunden.
Die Dame konnte doch nicht tot sein! Ich hatte sie doch heute erst gesprochen! Oder war es gestern? Ich weiß es nicht.
Die ganze Sache ist mehr als gruselig. Spinne ich tatsächlich, wie der Mann gesagt hat, oder ist es die Wirklichkeit? Vielleicht liegt hier auch nur ein riesiges Missverständnis vor!
Meine Knie fühlen sich noch weicher an als gerade eben schon, wenn das überhaupt geht. Ich habe die Vermutung, dass sie mich nicht mehr lange tragen werden, also setze ich mich auf die Stufen vor der kleinen Tür des Ladens.
Habe ich das womöglich alles nur geträumt? Ist meine Fantasie so lebhaft, dass ich mich selbst austricksen kann? Dabei ist mir doch alles so echt, so täuschend echt vorgekommen! Johann – oh Johann – ihn kann ich mir doch nicht einbilden! Was würde ich bloß dafür geben, ihn einmal zu umarmen, ihm zu danken!
Verzweifelt stütze ich den Kopf in meine Hände. Dabei baumelt etwas von meinem Hals in meinen Schoß. Oh mein Gott! Das ist mein Medaillon! Das ist das Medaillon!
Lange starre ich es an. Es gibt nur eine Möglichkeit, herauszufinden, ob das alles ein Traum gewesen ist oder nicht.
Entschlossen nehme ich das Medaillon in meine Hand. Der Verschluss klickt leise, als ich es öffne.

-Ende-

Cover-Bild: „Dead Love“ von Eden Keller
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Quelle: http://www.piqs.de/

Impressum

Texte: LarissaLinz
Tag der Veröffentlichung: 29.01.2012

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