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Vorwort
Wir kämpften durch das Wasser und waren uns nicht sicher, ob wir jemals hier rauskommen würden. Meine und seine Familie waren bereits tot und wir allein mussten ums überleben kämpfen. Würde ich ihn verlieren? Es war der 26. Dezember 2004 und ein Tsunami drohte uns alle zu töten.

Wie sagt man immer? Ertrinken und ersticken.. das sind die schlimmsten Tode. Wie ich so sah, wie alle Leute ertranken, wurde mir bewusst, dass Ersteres schlimmer sein musste.
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Es war Anfang des Jahres 2004, als meine Eltern mich nach Thailand, Khao lak, schleiften. Ich hatte keine Lust, dort zu wohnen, aber ich wurde gezwungen. Es kam oft vor, dass wir umzogen. Meine Eltern liebten Abenteuer und neue Kulturen, wohingegen ich immer noch wartete, dass wir uns für ein Wohngebiet entschieden. Als letztes lebten wir in Spanien. Ich hatte viele Freunde gefunden, die ich mal wieder verlassen musste. Meine Eltern verstanden es einfach nicht. In Thailand war zwar schönes Wetter, aber was brachte mir das, wenn ich hier doch keine Freunde hatte? In Spanien war es schließlich auch warm und ich hatte zusätzlich noch Freunde, die mich trösteten und verstanden. Hier konnte mich keiner trösten. Und verstehen schon gar nicht. Auf beide Arten. Sie konnte mich nicht verstehen, weil ich nicht ihr Sprache sprach und auf der anderen Seite, würden sie mein Problem wahrscheinlich gar nicht nachvollziehen und damit nicht verstehen können. Es war alles verflixt schwierig. Nach Spanien auszuwandern, war nicht so schlimm, schließlich hatte ich vorher Schulspanisch. Doch in Thailand gab es nicht nur eine einzige Sprache, sondern in unterschiedlichen Regionen wurden verschiedene Sprachen und Dialekte gesprochen. Die Amtssprache in Thailand war Thai, das zur sinotibetischen Sprachfamilie gehörte. Daneben gab es grob eingeteilt vier Dialekte, die sich teilweise stark unterschieden und in einigen Regionen Thailands wurde nur Laotisch, Chinesisch, Khmer oder Malaiisch gesprochen. Dies ist zwar eher die Ausnahme, allerdings konnte es in ländlichen Gebieten vorkommen, dass man mit Thai nicht weiterkommt, obwohl dies die Amtssprache Thailands ist. Aber ich konnte keine einzige Sprache davon. Noch nicht mal ein Wort. Die Entscheidung nach Thailand auszuwandern kam unerwartet und schnell. Ich hatte noch nicht mal genug Zeit meine Sachen zu packen, geschweige mich von meinen Freunden richtig zu verabschieden. Sie waren wahrscheinlich sauer deswegen, was auch nicht so schlimm wäre, denn dann würden sie mich nicht so sehr vermissen, wie ich sie.
„Luci, du bist so in dich gekehrt“, stellte meine Mutter fest.
„Ist es hier nicht einfach wunderbar?“
– „Ja, ganz fantastisch“, murmelte ich sarkastisch.
Mein Vater sah mich stirnrunzelnd an. „Luci, du könntest wenigstens versuchen, dich zu integrieren. Damit machst du es dir und den ganzen anderen Menschen leichter, glaub mir.“ Ich hasste Dads Anforderungen. Sie waren immer dieselben. Und jedes Mal, wenn wir umzogen, sagte er dasselbe. Und ich war jedes Mal genauso unerfreut in einem neuen Land zu sein. Außerdem sagte mein Vater, könne man sich mit fünfzehn besser benehmen und nicht mit hängenden Schultern und mürrischem Gesichtsausdruck durch den Flughafen marschieren. Doch ich spiegelte somit einfach meine Stimmung wider. Wir standen am Ausgang des Flughafens und warteten auf den Bekannten meines Vaters. Somchai Pueng. Ich hoffte, nicht alle hatten so einen schweren Namen wie er. Mein Vater erzählte einmal das „Pueng“ Biene bedeutete. Er wusste sehr viel über Nachnamen.
Thailändische Familiennamen sind seit 1920 gesetzlich vorgeschrieben. Alle thailändischen Staatsbürger wurden verpflichtet, einen Nachnamen als Familiennamen anzunehmen, davor waren nur einfache Namen üblich. Die Namen waren ebenso wie im Westen nach der Regel "Vorname Nachname" aufgebaut, also gehorchten nicht der Regel für chinesische Familiennamen. Wenn einem Familiennamen der Zusatz 'Na Ajutthaja' angefügt wurde, bedeutete dies ähnlich dem deutschen 'von', dass die Familie adliger Abkunft war. Doch Somchai Pueng war demnach kein Adeliger. Desto besser, denn ich hasste so vornehme Leute, die dir jedes Mal Vorschriften machen wollten, was du zu tun und zu lassen hast. Nervig. Da hatte ich schon zwei dieser Sorte, die mir sagten was ich zu machen habe. Meine Eltern.

„Somchai!“, rief mein Vater und ich zuckte zusammen. Ein braunhaariger, kleiner Mann, kam aus seinem großen Kleinbus geflitzt und umarmte meinen Vater.
„Hallo“, sagte Somchai mit deutlichem Akzent. “Schön, dass ihr hier sein.”
Sein Deutsch war nicht gerade perfekt, doch solange ich ihn verstand, war es sehr einladend. Er sah zu mir und ich lächelte halb, damit mein Vater nicht wieder losschimpfte.
„Und du bist Luci. Jürgens Tochter“, stellte er fest und reichte mir die Hand hin. Sie war sehr warm, aber noch angenehm.
„Und die Frau. Sandra“, fügte er hinzu und reichte auch meiner Mutter die Hand.
„Na kommt. Wir bringen eure Koffer zum Haus. Danach ich zeigen euch die Umgebung. Sehr schön hier“, sagte Somchai und lächelte. Zu unserem neuen Zuhause zu fahren, die Idee fand ich gar nicht mal so schlecht, doch nur um mich auf das Bett zu schmeißen und zu warten bis wir wieder auswanderten. Aber mir noch die Umgebung mit meinen lästigen Eltern anzusehen, dazu hatte ich nun wirklich keine Lust. Aber das musste ich den fröhlichen Somchai nicht an den Kopf werfen.
„Und Luci, freust du dich, dass du hier sein?“, fragte er und riss mich damit aus meinen Gedanken. Da fragst du aber die Falsche, mein Lieber, dachte ich. Doch unter den warnenden Blicke meiner Eltern, antwortete ich doch anders.
„Ja, schon.“
– „Aber du wärst lieber in Spanien geblieben?“, fragte er. Es war eher eine Feststellung. Ich gab keine Antwort. Er lag verdammt richtig.
„Keine Sorge“, sprach er weiter. „Du finden sehr schnell Freunde. Hier sind auch viele Deutsche. Du bist nicht die Einzige, die deutsch können.“ Ja, na klar. Das sagte man immer den Neuen, damit sie keine Angst hatten. DAS hörte ich immer, wenn ich in eine neue Schule komme. „Keine Sorge, Luci. Hier sind alle ganz nett.“ Sagte mein Dolmetscher jedes Mal und dann wurde ich nach der ersten Stunde immer mit Papierkugeln abgeworfen. Mit diesem Satz konnte mich niemand überzeugen.
„hmm“, murmelte ich nur und Somchai beließ es dabei. Ich sah nach draußen. Durch die getönten Scheiben, spiegelte sich mein Gesicht und man konnte kaum nach draußen sehen. Meine braunen Augen sahen müde aus und meine blonden Haare zerzaust. Der lange Flug hatte sich bemerkbar gemacht. Ich sah aus, als wäre ich gerade in einer extremen Loopingachterbahn gewesen. Das war wieder klar, dass meine Haare aussahen, als stände ich unter Strom und die meiner Mutter saßen perfekt, als wäre sie gerade vom Friseur gekommen. Ich würde hier mit Sicherheit auffallen. Schließlich war ich bestimmt die einzige mit blonden Haaren. Na toll. Und mir die Haare zu färben, erlaubte meine Mutter nicht. Als wäre ich ein Baby. Meine Mutter färbte sich sehr oft die Haare. Immer anders. Einmal- und das war mir sehr peinlich- hatte sie sich aus versehen pinke Haare machen lassen. Die Friseurin wurde natürlich sofort fristlos gekündigt. Vorallem nachdem meine Mutter eine riesige Szene gemacht hat, sodass jeder einzelne Kunde in den großen Saal zu uns schaute und ich am liebsten im Erdboden versunken wäre.
Nun waren wir endlich da. Wir stiegen aus und ich bewunderte die grüne Landschaft. Es war wirklich ein Paradies. Unser Haus war auch nicht gerade aus dem Mittelalter. Es sah sogar modern aus. Na, geht doch. Ich nahm meinem Vater den Haustürschlüssel ab und schloss die Tür auf. Innen war es geräumig. Noch ziemlich nackt, aber das würde meine Mutter schnell ändern. Denn schließlich war sie ein Dekofreak. Und wenn ich Dekofreak sage, dann meine ich das auch so. Überall wo noch ein bisschen Platz war, stellte sie irgendwelche Feen, oder Porzellanschweinchen oder ähnliche Sache hin. Auch vor meinem Zimmer machte sie nie halt. Meist wusste ich dann gar nicht, wo ich meine wichtigen Sachen hinstellen sollte. Meine Mutter verstand grundsätzlich nichts von Privatsphäre. Ich glaubte, sie hatte es immer noch nicht mitbekommen, dass ich fünfzehn war und nicht fünf. Aber das begriff sie in jeder Sache nicht.
Ich schaute mir alle Zimmer genau an. Sehr beleuchtet, viele Fenster und sehr viel Platz. Ein Zuhause, wo man sich wohl fühlen konnte. Ich beäugte alle Fenster und entschloss mich, ohne meine Eltern zu fragen, für das Zimmer ganz oben im Haus. Mit Ausblick zum Strand.
„Luci! Würdest du jetzt bitte dein Gepäck reinholen. Ich bin nicht dein Knecht“, sagte mein Vater mürrisch. Merkwürdig, dass er so sprach, aber ich dachte mir nichts dabei. Er stahl gerne Sprüche, die eigentlich nur Jugendliche in den Mund nahmen. Ich rannte hinunter. „Das mir ja niemand das Zimmer ganz oben neben dem Bad stielt!“, sagte ich und lachte. Mein Vater sah verblüfft zu meiner Mutter.
„Sehen du, Luci lebt sich sehr schnell ein. Wenn man erst mal hier sein, will man nicht mehr weg“, sagte Somchai. Naja, das ist leicht übertrieben. Ich wollte hier schon noch weg, aber nicht mehr so über alles dolle. Ich sagte nichts dazu und ging zum Auto. Dann hob ich den Koffer hinaus und als ich aufsah, blickte ich in grüne Augen. Auf der anderen Seite stand ein Junge, ungefähr in meinem Alter, und starrte mich an. Das war definitiv kein Thailänder. So sah kein Einheimischer aus. Das Gleiche musste er gerade auch von mir denken. Seine blonden Haare hingen ihm ein wenig über die Augen. Er lächelte mich an und ich nickte ihm leicht zu und brachte meinen Koffer hinein. Warum hatte er mich so angestarrt? Echt verwirrend. Somchai ging an mir vorbei. Was hatte der denn jetzt?! Ich stellte meinen Koffer ab und ging hinter ihm her.
„Halo Sam! (Malaysisch und bedeutet Hallo Sam)“
Dieser Sam lächelte ihn verwundert an. „apa yang terjadi di sini?(was geht hier vor sich?)” Somchai lächelte ihn an. Ich verstand kein Wort. Das war genauso wie in Spanien, als ich noch nicht sehr fließend spanisch gesprochen hatte. Ich verstand rein gar nichts. Man könnte sprichwörtlich sagen, ich verstehe nur spanisch. Wisst ihr wie das ist? Als wenn alle Personen ein Geheimnis haben und alle wissen davon, nur du nicht. Man fühlt sich einfach ausgeschlossen. Aber Sam war doch kein thailändischer Name?
„Ini adalah teman-teman saya dari Jerman. Mereka pindah ke sini hanya di sini. (Das sind meine Bekannten aus Deutschland. Sie sind gerade hierher gezogen.)“, antwortete Somchai. Dann zeigte er zu mir.
„adalah Luci. dia sangat cantik, bukan?(Das ist Luci. Sie ist hübsch, nicht wahr?)“ Somchai stieß ihm spielerisch in die Rippen. Ich hörte meinen Namen heraus und winkte verlegen, obwohl ich nicht wusste, was Somchai zu ihm gesagt hatte. Sam starrte nach unten und murmelte nur: „ya. (ja)“ Dann ging er davon. Ich schlenderte verwundert zu Somchai.
„Über was habt ihr geredet?“
– „Er hat sich gewundert, warum ich hier bei euch sein. Ich bin sein Patenonkel. Er ist vor 6 Jahren mit seiner Familie hierher gezogen. Er kommt aus Deutschland“, sagte Somchai. „Er sein fast wie ein Sohn für mich. Als sein großer Bruder vor 3 Jahren starb, verkrochen sich seine Eltern und ich nehmen ihn ein Jahr bei mir auf. Sie waren zu niedergeschlagen, um sich um Sam zu kümmern.“ Ich hörte gespannt zu.
Dann harkte ich vorsichtig nach. „Wie ist sein Bruder gestorben?“ Somchai blickte mir in die Augen und erzählte mir die Geschichte.. „Sein Bruder Phil war 15 als es geschah, Sam 12.
„HAH! Du kriegst mich nie Sam!“, rief Phil und rannte davon. Er musste mal wieder auf seinen kleinen Bruder aufpassen, weil seine Eltern auf einer Kunstausstellung waren. Aber er liebte Sam und so machte er das Beste draus. „Ich krieg dich! Pass auf!“, rief Sam hinter ihm her. Sie rannten die Gassen hinunter und rammten dabei versehentlich Leute. Ein paar motzten rum, doch das zog ihre Stimmung nicht hinunter. Sie waren glücklich. Als sie dann an der Straße lang liefen, wurde Phil übermütig und lief sogar auf der Straße herum. Sam hatte Angst und verfolgte ihn auf dem Gehweg. „Du bist ganz schön schnell Bruderherz!“, rief Phil zu ihm hinüber. Und das war genau der Moment an dem Phil nicht aufpasste. Ein Autofahrer, der gerade telefonierte, sah ihn nicht um die Kurve kommen und rammte ihn. Sam rannte zu Phil. Doch es war zu spät. Er verblutete in Sams Armen.
Ich schluckte die Tränen hinunter die drohten überzulaufen. Es war so eine traurige Geschichte. Ich selbst hatte keine Geschwister, dennoch konnte ich mir vorstellen, wie es wäre, eine für jemanden wichtige Person zu verlieren.
„Na ja“, sagte Somchai schließlich. „Wollen wir Umgebung anschauen?“
Ich schüttelte den Kopf. „Ich sehe mich lieber zu Fuß und alleine ein bisschen um. Aber danke“ Er nickte und holte meine Eltern.
Ich HASSTE es. Meine Eltern behandelten mich jedes Mal wie ein Kleinkind.
„Geh aber nicht zu weit weg. Wenn was ist rufst du an und den Zweitschlüssel hast du ja. Lass dich nicht von Fremden anquatschen“, sagte meine Mutter zum zweiten Mal. Ihr Rekord lag eigentlich bei zehn Mal, aber diesmal würde sie ihn nicht brechen. Dafür würde ich sorgen.
Ich verdrehte die Augen. „Ja Mama! Also erstens, ich bin kein Kind mehr und zweitens, dass hier sind alle Fremde und außerdem wenn sie mich anquatschen, kann ich sowieso nichts verstehen.“ Sie schaute mich noch einmal energisch an, dann stieg sie mit Somchai und Dad in den Kleinbus. Und weg waren sie. Na schön. Was mache ich denn jetzt? Ich schlenderte die Straße entlang und kam auch schon zu Gassen. Es war sehr voll, aber das machte mir nichts aus. Ich mochte es nie, wenn es still ist. Das war mir immer schon unangenehm. Ab und zu sahen mich die Leuten an. Vermutlich wegen meinen blonden Haaren. Ich schaute mir die Läden an und versuchte die vielen Stimmen von den Thailändern auszublenden. Es nervte echt, wenn man die anderen Leute nicht verstand und nur bla bla bla heraushörte. Plötzlich sah ich Sam, der mit einem anderen Jungen in der Gasse herumblödelte. Der Junge neben ihm war definitiv ein Einheimischer. Verunsichert ging ich zu ihnen hin.
„Hallo“, sagte ich. Sam tat so, als verstehe er nichts, doch ich war mir ganz sicher, dass er es tat, schließlich ist er in Deutschland geboren, so wie es Somchai sagte. Ich vermutete, der andere verstand mich wirklich nicht. Ich schaute Sam mit hochgezogener Augenbraue an.
„Ich weiß, dass du mich verstehst.“ Sam sah mich wütend und überrascht an.
„Was willst du?“, fragte er und ich hörte zum ersten Mal seine deutsche Stimme. Es klang nicht unhöflich, aber auch nicht gerade einladend. Das Verlangen mit ihm sprechen zu wollen, weil er vermutlich der Einzige war, der mich hier verstand, war verschwunden.
„Hat sich erledigt“, sagte ich und marschierte aus der Gasse. Und ich dachte, er wäre ein ganz netter Typ.
Ich wanderte immer weiter in die Menschenmenge und wusste bald gar nicht mehr, wo ich überhaupt war. Langsam wurde es dunkel und ich suchte verzweifelt, den Weg zurück zu meinem neuen Zuhause. So ein Mist. Meinen Eltern hätte ich eh nicht erklären können, wo ich war, denn ich wusste es ja selbst nicht. Also bloß keinen Stress anzetteln, der gar nichts bringt. Ich ging in die Richtung in der ich meinte, gekommen zu sein. Doch Fehlanzeige. Ich hatte mich vollkommen verlaufen. Meine Eltern würden mir den Kopf abreißen. Und die Arme und die Beine. Und wahrscheinlich hatte ich es auch verdient, so leichtsinnig wie ich war. Es war eine total dämliche Idee allein durch die Gassen von Thailand zu gehen, obwohl ich gerade mal ein paar Stunden hier war. Meine Mutter wusste schon, warum sie sagte, ich solle nicht zu weit weggehen. Und ich hasste mich dafür, dass ich meiner Mutter noch mehr Anlass dazu lassen musste, mir Vorschriften zu machen. Ich sah Sam mit einem älteren Mann sprechen und er blickte zu mir, als er bemerkte, dass jemand ihn musterte. Unsere Blicke begegneten sich und ich drehte mich um, um in die andere Richtung zu gehen. Weg von diesem unfreundlichen Jungen. Nicht das er noch dachte, ich würde ihn verfolgen, wie eine Stalkerin.
„Hey! Bleib doch mal stehen!“, rief Sam und ich hörte schnelle Schritte hinter mir.
„Ich soll nicht mit Fremden reden“, sagte ich, doch nur als Vorwand, um ihn loszuwerden. Er ging nun neben mir.
„Hey ich bin Sam. Jetzt bin ich kein Fremder mehr. Was machst du hier?“ Ich blieb stehen. Und er ebenfalls.
„Was willst du?!“, pflaumte ich ihn an. Ich sagte das Gleiche, was er mir in der Gasse gesagt hatte, nur aggressiver. Er schaute mich verblüfft an.
„Hast du dich verlaufen?“, fragte er sanft.
Ich ging weiter. „Geht dich nichts an. Geh weg.“
Er ging nicht weg, er hielt Schritt und schaute mich an. „Tut mir leid, wenn ich vorhin etwas pampig war. Ich bringe dich nach Hause.“
Ich blieb stehen. „Warum sollte ich das wollen?“
Er lächelte mich an, sodass seine weißen Zähne blitzten. „Weil du hier umherirrst und total in der Klemme steckst. Und weil ich nett bin und du mich mögen wirst.“
Ich schaute ihn argwöhnisch an. „Na schön. Bring mich nach Hause.“ Er lächelte zufrieden und wir gingen die Gassen entlang.
„Und wie ist der erste Eindruck? Was hast du schon so gesehen?“, fragte er nach einer Weile. Ich lächelte über meine Antwort, die ich geben würde. „Unfreundliche Jungen, die plötzlich so tun als wären sie nette Kumpel.“
Er lachte und ich stimmte ein.
„Warum hast du bei deinem Freund auf Macho gemacht?“, fragte ich ernst. Er sah mich flüchtig an, dann blickte er wieder auf den Boden. „Na ja.. Ich weiß nicht. Einfach weil mein Freund und ich uns nicht viel aus Mädchen machen. Zumindest erwartet er das von mir.“ Ich schaute ihn fragend an. Warum machten sie sich nichts aus Mädchen? Sollte das etwa heißen, dass sie schwul waren? Nein, das glaubte ich nicht. Das hätte ich längst gemerkt.
„Also..“, erklärte Sam zögernd. „Luan, also mein Freund, der wurde schon von vielen weiblichen Wesen verletzt. Seine Mutter hat ihn ins Heim gesteckt, seine beste Freundin ihn verachtet, seine feste Freundin hat ihn betrogen und seine Hündin hat ihn gebissen.“
Ich zog die Augenbrauen hoch. „Ich würde sagen, da hat er wirklich schlechte Erfahrungen gemacht, aber nicht jede ist so.“ Sam nickte.
„Ich weiß. Diese Ansicht ziehe ich auch in Betracht und deswegen bin ich ja auch hier, um dir zu helfen.“ Er grinste mich an. Auch ich musterte und konnte sein gutaussehendes Gesicht nicht aus den Augen lassen, auch wenn es schon unhöflich war, so lange hinzustarren. Seine Haut war rein, seine Haare gepflegt. Seine Wimpern waren ziemlich lang und das brachte seine grünen Augen noch besser zur Geltung. Seine Haare waren blond. Und dabei dachte ich, ich wäre als Einzige blond in Thailand.
„Was ist?“, fragte er schließlich leise. Ich fasste mich wieder und schaute nach vorne. „Nichts. Sind wir bald da? Es ist bald richtig dunkel.“
Sam lächelte. „Ja, gleich da vorne. Kannst du es sehen?“ Ich blickte in die Richtung in die Sam zeigte und tatsächlich. Er hatte mich nach Hause geführt. Wir gingen noch diese paar Schritte und ich blieb vor unseren neuen Haus stehen.
„Danke“, sagte ich vom ganzen Herzen. Ohne ihm wäre ich wirklich verloren gewesen und hätte die A-Karte gezogen.
„Gerne. Würdest..“, setzte er an. War aber sichtlich nervös. „Würdest du mit mir morgen ein bisschen spazieren gehen? Ich kann dir hier alles zeigen.“ Ich lächelte. Klar, wollte ich mich mit Sam treffen. Es war schön, schon einen Freund in der neuen Heimat zu haben. Es fühlte sich an als sei er ein Freund. Schließlich half er mir, obwohl ich ihn total angemault hatte. Ich schämte mich nun dafür. Aber irgendwie war das doch wohl nicht ernsthaft anders zu erwarten oder? Denn er hatte mich zuerst verachtet.
„Klar, gerne.“ Ich lächelte und fragte sarkastisch: „Aber was ist mit deinem Kumpel? Was soll er denn dann von dir halten?“
Er grinste. „Er wird es überleben.“ Dann nahm er mich flüchtig in den Arm und verschwand in der Dunkelheit. Ich drehte mich um und ging zur Haustür. Dann holte ich den Zweitschlüssel heraus und steckte ihn in das Türschloss.
„Luci!! Wo warst du?!“, rief meine Mutter bevor ich auch nur einen Schritt über die Türschwelle machen konnte. Blitzschnell war sie bei mir. „Warum bist du nicht ans Handy gegangen?! Hast du die leiseste Ahnung, was ich mir für Sorgen gemacht habe?! Wir sind gerade erst hierher gezo-“
Ich unterbrach sie schließlich. „Mama, darf ich erst mal hereinkommen?“ Sie schloss ihren Mund und machte Platz. Wir gingen in die Küche, die bereits fast vollständig eingeräumt wurde. Und natürlich wurde auch schon dekoriert. Was für ein Wunder, dachte ich sarkastisch.
„Also Luci, wo warst du?“, fragte meine Mutter wieder, doch ruhiger. Ich schaute sie nicht an, sondern beäugte ein Porzellanengel an. Ich konnte mir vorstellen, wie Mamas Gesicht aussehen würde, würde ich ihr erzählen, dass ich mit einem Jungen zusammen war. Und diesen Gesichtsausdruck wollte ich mir nicht antun.
„Ich habe Sam getroffen. Somchai ist sein Patenonkel.“ Das ich mich verlaufen hatte und er mich nach Hause führte, sagte ich lieber nicht. Ich wollte nicht riskieren, dass sie wieder ausrastete und mir tausend Mal sagte, dass sie mal wieder recht hatte, dass ich nicht so weit weggehen sollte und mich trotzdem nicht daran gehalten hatte. Dieses Vergnügen und den Sieg wollte ich ihr nicht gönnen.
„Kannst du dir nicht erst einmal Mädchen als Freunde suchen?“, fragte meine Mutter ruhig, jedoch besorgt. Als ob ich eine Wahl hätte. Ich hatte kein einziges Mädchen gesehen, was nicht aus Thailand kam. Natürlich machte sie sich wieder Sorgen, dass ich mit einem Jungen befreundet war. War ich das denn überhaupt? Nein, ich glaubte nicht. Also musste ich mir rein gar nichts vorwerfen lassen, außer das ich in der Dunkelheit durch die fremden Straßen von Thailand rummarschiert war.
„Es gibt hier keine Mädchen die deutsch sprechen können, Mom. Das ist wahrscheinlich die einzige Person in meinem Alter, die deutsch spricht. Somchai kann man nicht einbeziehen. Der spricht nicht gerade fließend und richtig. Und er lag falsch. Hier gibt es außer Sam keine Menschenseele, die aus Deutschland kommt. Und er möchte mir morgen sogar die Umgebung zeigen.“ Sagte ich.
Meine Mutter runzelte die Stirn. „Ich dachte, du hättest keine Lust, dir das hier anzusehen? Denn sonst hättest du ja auch mit uns mitkommen können, Luci.“
Ich zuckte mit den Schultern. „Morgen möchte ich aber. Ich geh jetzt schlafen. Gute Nacht, Mom.“ Ich gab ihr einen Kuss auf die Wange und verschwand in meinem neuen Zimmer. Ich stöhnte auf. Natürlich hatten meine Eltern schon alles ausgeräumt und mein Zimmer eingerichtet. Das war ja klar. Und ich wusste mal wieder nicht, wo was war. Super. Immer dasselbe. Und mit den dekorieren hat es meine Mutter auch mal wieder vollkommen übertrieben. Ich stellte die ganzen Porzellanschweine vom Schreibtisch und klappte meinen Laptop auf. Dann schaltete ich ihn an. 1 neue Nachricht. Ich liebte neue Nachrichten. Voller Neugier machte ich die Mail auf. Von meiner Freundin aus Deutschland. Als ich nach Spanien auswanderte, hatten wir nie den Kontakt abgebrochen und auch jetzt in Thailand hatte sie es nicht satt, mit mir befreundet zu sein.
Hey Luci
Wie geht es dir?
Wie war dein erster Tag in Khao lak? Alles überstanden?
Schon süße Typen kennen gelernt? ;)
Ich hoffe dir geht es gut. Robert hat mich gefragt, ob wir ins Kino gehen wollen. Ich hab solche Angst davor. Wenn ich irgendetwas Peinliches mache..
Oh Luci, ich wünschte du wärst hier.
Schreib bitte schnell zurück.
Pia

Oh ja so kannte ich meine kleine, hysterische Freundin. Sie war sehr kompliziert, aber sehr, sehr lieb. Und ich mochte sie wirklich sehr. Ich schrieb ihr sehr gerne zurück.
Hey Pia,
Mir geht es gut und dir?
Das Haus ist echt schön, aber Mama hat mal wieder ihren Dekotick- wie immer. Dieses Mal steht sie glaube ich besonders auf Porzellanschweine. Die Natur ist auch sehr schön, aber hier spricht keiner meine Sprache. Na ja.. außer der Bekannte von meinem Vater und ein Junge namens Sam. Er sieht wahnsinnig gut aus und will mir auch morgen die Umgebung zeigen. Ich weiß aber noch nicht so recht, was ich von ihm halten soll.. Er ist irgendwie...anders.
Aber jetzt genug von mir. Robert hat dich echt gefragt? Das ist doch super, Pia. Du musst keine Angst haben, er wird dich mögen, wie du bist. Und wenn nicht, dann hat er dich nicht verdient. Kopf hoch, das wird schon.
Luci

Ja, das Letzte müsste man auch zu mir schreiben. Kopf hoch, das wird schon. Aber in meinem Fall, bin ich da nicht so sicher.
Würde ich hier denn glücklich werden?
Mit dieser Frage ging ich ins Bett und schlief ein. Die konnte ich erst beantworten, wenn ich länger hier war.

„Luci! Komm schon! Raus aus den Federn!“, rief mein Vater die Treppe hinauf. Sofort war ich wach. Ich hatte noch nie fest geschlafen. Das kleinste Geräusch, weckte mich jede Nacht auf und sei es eine winzige Mücke die um mich herumschwirrt, um eine passende Stelle zu finden, wo sie mich stechen und somit schrecklich nerven konnte. Mückenstiche waren etwas fürchterliches. Vorallem, weil ich auch noch eine Allergie hatte und meine Mückenstiche so groß werden, wie der Grand Canyon. Na ja, wahrscheinlich übertrieb ich ein wenig. Ich reckte mich ausgiebig und stand dann auf. Es war merkwürdig aus dem Fenster zu schauen und zu merken, dass du ganz woanders warst, als am letzten Morgen. Ich war definitiv woanders. Es war zugeben ein richtiges Paradies. Viele Palmen, schönes Wetter, schöner Strand. Es sah einfach atemberaubend aus. Das musste ich auf jeden Fall irgendwann fotografieren. Es war einfach zu schön, um wahr zu sein.
Plötzlich fiel mir ein, dass Sam und ich überhaupt keine Zeit vereinbart hatten, an der wir uns treffen wollten. Und es war schon Vormittags. Ich wollte ihm nicht in Schlafsachen entgegen treten. Das wäre echt peinlich. Schnell lief ich aus meinem Zimmer und ging ins Bad. Dort duschte ich, putzte mir die Zähne und schminkte mich dezent. Ich zog eine Hotpants und ein blaues Top mit Spaghettiträgern an. Es war warm und es war angenehm, luftig herumzulaufen. Schnell ging ich in die Küche und aß einen Apfel und trank Wasser.
„Machst du Diät?“, fragte mein Vater mit besorgter Miene. Ich war dünn, aber nicht zu dünn. Genau richtig, wie ich auch selbst fand. Und mein Vater hatte immer Angst, dass ich magersüchtig werde, weil er in einer Klinik für Magersüchtige gearbeitet hatte. Also passte er immer genau auf, was ich aß. Zum verrückt werden war das, wenn er mir jedes Mal einen Vortrag über einen perfekten Essensplan aufdrängte.
„Nein, nein. Ich bin nur spät dran. Ich glaube Sam kommt gleich, um mir die Umgebung zu zeigen“, antwortete ich schulterzuckend.
„Ja..“, erwiderte mein Vater mürrisch. „Deine Mutter hat mir davon erzählt. Weißt du Luci.. ist es nicht noch ein bisschen früh für dich einen-“
Ich unterbrach ihn genervt. „ Dad! Bitte! Das nervt langsam richtig! Sam möchte mir nur alles zeigen, was es zu zeigen gibt. Mehr nicht. Also bitte reg dich ab!“
Mein Vater schniefte, beließ es dennoch dabei. Und schon klingelte es. Ich lief leichtfüßig zur Tür. Und da stand er. Mit einem wunderschönen, atemberaubenden Lächeln, dass mein Herz schneller schlugen ließ. Er war einfach perfekt. Zumindest vom Aussehen her. Das Wichtigere, den Charakter, werde ich auch noch unter die Lupe nehmen. Darauf konnte er sich verlassen.
„Hey, Luci“, sagte er.
„Hey, Sam. Also wo wollen wir denn heute hin?“, fragte ich mit einem interessierten Lächeln.
Er schaute mich ungläubig an. „Heute so fröhlich und freundlich?“
Ich runzelte die Stirn. „Heute hast du mich noch nicht auf die Palme gebracht.“
„Werde ich auch nicht“, sagte er. „Auf eine Palme zuklettern ist sehr mühsam. Ich werde dich lieber an den Strand bringen und dir die Schule zeigen.“ Er lachte. Ich zog die Augenbraue hoch, musste dann aber doch mitlachen.
„Na schön. Dann los.“
Ich verabschiedete mich schnell von meinen Eltern. Nachdem ich ihnen hundert Mal versichert hatte, dass ich in der Nähe blieb, sollte man dazu sagen. Außerdem hat meine Mutter mir höchstpersönlich mein Handy in die Hosentasche gesteckt, was so peinlich war, dass ich knallrot wurde. Doch Sam stand nur daneben und sah uns mit unbeteiligter Miene zu.
„Tut mir leid wegen meinen Eltern. Sie sind echt peinlich, ich weiß“, sagte ich als wir die Gassen entlang gingen.
Er schaute mich an. „Ach, das kenne ich auch von meinen Eltern. Früher als wir hierher gezogen sind. Aber ich kann auch verstehen, dass deine Eltern so reagieren. Schließlich hast du dich ja gestern verlaufen. Und wenn ein netter Junge dir nicht geholfen hätte, dann wärst du jetzt wahrscheinlich immer noch auf der Suche nach deinem Zuhause.“ Er lachte. War er eingebildet? Oder war das nur ein Necken?
„Ja, danke. Könntest du mir vielleicht irgendwann malaysisch beibringen?“, frage ich vorsichtig.
Sam sah mich lächelnd an. „Damit du auch andere nach den Weg fragen kannst, wenn du dich wieder verläufst?“
„Nein, dafür habe ich ja dich“, erwiderte ich und stieß ihm spielerisch in die Rippen.
„Aua. Du fängst schon so an wie Somchai. Der haut mir auch immer sein Ellbogen in die Rippen“, sagte Sam wehmütig.
Ich lachte. „Oh der arme Sam. Ich hoffe du weinst nicht.“
Er schaute mich neugierig an. „Wohl nicht sehr einfühlsam, was?“, fragte er ernst.
Sofort verstummte mein Lachen. „Das war doch bloß Spaß.“
„Ich weiß“, sagte Sam. „Ich würde einfach gern mehr über dich erfahren. Aber wenn du nur Späße machst, kann ich nicht aus dir schlau werden. Damit willst du nur von dir ablenken.“
Ich sah ihn stirnrunzelnd an. „Und du bist ein Psychologe? Ein Menschenkenner? Oder einfach nur Humorlos, wenn es um dich geht?“
Nun kam wieder der spielerische Gesichtsausdruck bei Sam zurück. „Ich würde sagen, von jedem etwas.“
„Das hab ich mir schon gedacht. Aber beantworte doch meine Frage. Würdest du mir malaysisch beibringen?“, harkte ich nach.
„Klar, wenn du magst“, antwortete er lächelnd.

„Und wie findest du es hier so?“, fragte Sam nach einer Weile.
„Es ist ein Paradies. Ich hätte nicht gedacht, dass es so vollkommen ist, so schön“, schwärmte ich.
Sam lächelte. „Ja, es ist wirklich toll hier. Wir sind gleich beim Strand. Da wirst du staunen.“
Und da hatte er recht. Der Strand war so wunderschön, dass ich kurze Zeit vergaß zu atmen. So etwas raubte mir immer den Atem. Die Schönheit der Natur. Das war meine Schwachstelle. Ich war so gebannt, sodass ich alles um mich herum unbewusst ausblendete. Ich fragte mich, ob das bloß ein Traum sei, deswegen kniete ich mich hin und nahm Sand in die Hand. Er floss durch die Zwischenräume meiner Hand wie bei einer Sanduhr. Er fühlte sich so fein und weich an, sodass ich gleich noch eine Handvoll nahm.
„Hab ich zu viel versprochen?“, fragte Sam sichtlich zufrieden, mich überrascht zu haben.
„Es ist wunder, wunderschön, Sam. Ich kann es noch gar nicht fassen, dass es so etwas gibt. Es ist WIRKLICH ein Paradies.“
„Ja, das stimmt. Nun komm, wir können einen anderen Tag schwimmen gehen, wenn du magst. Aber nun zeige ich dir die Schule“, sagte er.
„Okay“, sagte ich bloß. Er wollte mit mir schwimmen gehen? Wow. Das hätte ich nun wirklich nicht erwartet.
Langsam gingen wir durch die Menschenmengen und unterhielten uns über unsere vorherige Zeit.
Dann schwiegen wir eine Zeit lang. Plötzlich murmelte er etwas und ich konnte jedes Wort verstehen. „Glaube an Wunder,
Liebe und Glück,
Schaue nach vorne,
Und niemals zurück,
Tu das was du willst,
Und stehe dazu,
Denn dieses Leben,
Lebst nur du!“ Es hörte sich wunderschön in seiner Stimmfarbe an. Sehr harmonisch.
„Wow. Das hört sich echt toll an, Sam“, sagte ich noch vollkommen erstaunt. Er lächelte mich an. „Das hat mir mein Bruder zugeflüstert, als er starb. Und komischerweise, habe ich es mir gemerkt, obwohl er es ganz leise und schwach gesagt hat. Es hat sich vermutlich in mir eingebohrt.“
Ich senkte den Kopf. „Es tut mir sehr leid wegen deinem Bruder. Somchai hat mir erzählt, wie er gestorben ist. Es muss schlimm für dich gewesen sein.“
Sam nickte. „War klar, dass er seine Klappe nicht halten kann.“
Ich schaute ihn verblüfft an. „Tut mir leid, falls ich es nicht wissen sollte.“
„ICH wollte es dir erzählen. Aber da ist mir Somchai wohl zuvorgekommen.“ Sam schaute mich mit einem halben Lächeln an. Ich erwiderte es nicht. Ich schaute ihn immer noch ernst an. „Es tut mir wirklich leid, dass du deinen Bruder verloren hast.“
„Hast du Geschwister, Luci?“, fragte Sam.
„Äh.. Nein?“
„Du wirkst aber so. Ich lag falsch. Du bist sehr wohl einfühlsam“, stellte er fest.
Ich lächelte. „Tja, man muss mich ja auch erst kennen, bevor man urteilt.“
„Ja, da hast du recht. Entschuldige“, sagte er vollkommen ernst.
„Und Somchai hat dich aufgenommen?“, harkte ich vorsichtig nach.
Sams Kopf flitzte zu mir. „Also weißt du alles?! Okay. Ja, er hat mich bei sich aufgenommen. Meine Eltern waren nicht imstande, um sich um mich zukümmern“, sagte er achselzuckend und gleichgültig.
Ich sah ihn mit zugekniffenen Augen an. „Ich wette, es macht dir viel mehr aus, als du zugeben willst. Ich glaube, es war schrecklich für dich.“
„Du kannst wohl Seelen lesen?“, fragte er sanft.
„Nein“, erwiderte ich. „Aber ich weiß, wie normale Menschen auf so etwas reagieren würden, wenn die Eltern einen abschieben müssen, weil sie total in Trauer versunken sind.“
„Du bist unglaublich“, sagte Sam verblüfft.

Dann endlich waren wir da. Eine relativ große Schule. Und wie erwartet waren auch hier der Natur keine Grenzen gesetzt. Es sah toll aus.
„Oh Gott. Wie soll ich hier denn her finden?!“, fragte ich verzweifelt.
Sam grinste. „Keine Sorge. Ich hole dich ab und dann gehen wir zusammen hin.“
Ich strahlte ihn an. „Das würdest du tun?“
„Ja, natürlich. Warum nicht?“, sagte Sam verwirrt.
Zu meiner eigenen Überraschung fiel ich ihm um den Hals. Er erwiderte meine Umarmung und streichelte meinen Rücken. Was tat ich denn da? Ich umarmte einen noch eher fremden Jungen. Verschämt löste ich mich. „Tut mir leid.“
„Es tut dir leid, dass du mich umarmt hast?“, fragte Sam ungläubig. Ich zuckte die Schultern und er fing an zu lachen. „Du bist echt witzig, Luci.“ Wieder lachte er. Ich ging nicht darauf ein und stolzierte neben ihm her.
„Morgen ist dann also dein erster Schultag an deiner neuen Schule“, stellte Sam fest, als er sich endlich wieder beruhigt hatte.
„Ja, sieht so aus. Ich freue mich ja so. Meine Mutter hat schon nach einem Dolmetscher für mich gesucht. Aber noch keinen gefunden. Morgen muss ich den Tag ohne ihn überstehen und ich weiß nicht wie. Ich spreche kein Wort malaysisch oder sonst eine von euren Sprachen.“
„Ich könnte dein Dolmetscher sein. Ich bin mir sicher, dass wir sowieso in eine Klasse gehen“, sagte er.
„ Du bist aber heute echt großzügig, Sam“, erwiderte ich lächelnd. „Hätte ich gar nicht erwartet.“
„Tja, man muss mich erst kennen lernen, um über mich zu urteilen“, sagte er grinsend.
„Da hast du recht. Entschuldige.“ Auch ich grinste.
Plötzlich klingelte mein Handy und schaute auf das Display. Meine Mutter. Ich stöhnte genervt auf. Dann drückte ich auf den grünen Hörer.
„Ja? Was ist los, Mama?“, fragte ich genervt.
„Wo bist du?“ Sie klang völlig hysterisch.
„Mach dir keine Sorgen. Sam hat mir gerade die Schule gezeigt. Alles in Ordnung. Was ist denn los?“
„Komm nach Hause Luci. Es gibt bald Essen. Wir sprechen dann über alles“, sagte sie und legte auf. Ich schaute zu Sam, der mich erwartungsvoll ansah.
„Ich muss nach Hause..“, sagte ich. Sam nickte nur und zusammen gingen wir wieder die Gassen entlang bis zu meinem neuen Zuhause.
„Na dann, bis morgen. Ich hole dich um halb acht ab. Dann haben wir noch eine halbe Stunde ehe die Schule beginnt. Und du musst ja sowieso noch Papiere holen. Tschüss“, sagte er und umarmte mich.
„Okay. Tschüss“, erwiderte ich und ging ins Haus.
Ich atmete noch einmal tief durch, denn gleich würde ich auf meine hysterischen Eltern treffen. Ich ging durch den Flur und in die Küche. Und da standen sie auch schon mit verschränkten Armen.
„Was ist nun wieder los?“, fragte ich genervt.
„Nicht in diesen Ton, mein Fräulein“, sagte mein Vater tadelnd und ärgerlich.
„Wo warst du denn so lange, Luci?“, fragte meine Mutter etwas ruhiger als mein Vater.
„Ich habe doch gesagt, dass Sam mir die Gegend zeigt“, verteidigte ich mich.
„6 Stunden lang?“, fragte mein Vater ungläubig.
„Ja, 6 Stunden lang.“ Waren es wirklich 6 Stunden? Mir war das wirklich nicht aufgefallen, dass ich so lange weg war.
„Du kennst den Jungen doch gar nicht“, sagte meine Mutter.
„Der Junge heißt Sam und natürlich kenne ich ihn schon!“
„Er ist nichts für dich. Ich meine du bist doch noch ein-“, sagte mein Vater.
„Sag jetzt bitte nicht Kind! Wenn du mich nicht in den Wahnsinn treiben willst, dann sage bitte nicht ich sei noch ein Kind!“, sagte ich.
„Aber das bist du doch noch. Zumindest wie du dich benimmst, Luci“ sagte mein Vater mürrisch.
„Was mache ich denn?! Er hat mir doch bloß die Umgebung gezeigt!“, brüllte ich.
Gerade wollte mein Vater wieder loswettern, da ergriff meine Mutter das Wort. „Geh jetzt nach oben, Luci. Es ist 19 Uhr. Ich sag dir bescheid wenn es Essen gibt.“
Ich nickte und stiefelte die Treppe hinauf. Wie ich die Auseinandersetzungen mit meinen Eltern verabscheute.
Deswegen war ich nun froh, dass meine Mutter mich erlöste und in mein Zimmer schickte.
Dort ging ich sofort wieder an meinem Laptop, um meine Nachrichten zu checken. Keine neuen Mails. Na super. Pia hatte es wohl noch nicht geschafft und es nicht für nötig gehalten mir zurück zu schreiben. Ich schmiss mich auf mein Bett und dachte über Sam nach. Sam.. er war so anders. Was ich positiv empfand. Er war nicht wie die anderen Typen die nur Dummheiten im Kopf hatten und total pubertierten. Er wirkte älter als er war. Er sprach reifer und verhielt sich auch als wäre er einer der Erwachsenen. Es gefiel mir. ER gefiel mir wirklich gut. Ein Gefühl entflammte und ich wusste auch sofort, wie ich dieses Gefühl benennen konnte. Liebe. Ich hatte mich in Sam verliebt. ♥

Am nächsten Tag war ich so fröhlich und erpicht darauf, endlich Sam wieder zusehen. Und da stand er auch schon pünktlich auf der Matte und ich fiel ihm in die Arme.
„Hey Luci. Können wir?“, fragte mich Sam und ich nickte. Meine Mutter hat gestern noch eingewilligt, dass Sam mein Dolmetscher sein durfte und ich glaubte, sie hasste ihn deshalb weniger.
„Und hast du schon Lust auf Schule?“, fragte mich Sam nach einer Weile.
„Na ja. Ich verachte eigentlich die Schule, aber komischerweise, finde ich es im Moment gar nicht mal so übel dort hinzugehen“, antwortete ich lächelnd. Ich sagte es ein wenig mit der Absicht zu flirten, doch wahrscheinlich bemerkte er diese Tatsache gar nicht.
Als wir ins Schulgebäude hineinkamen, holte Sam meine Schulbücher und ich ging ins Sekretariat, um meinen Stundenplan zu holen. Sam hatte mir vorher einen Zettel geschrieben, wo drauf stand, was ich sagen musste. Doch ich konnte diese Worte nicht aussprechen und so gab ich der Frau vor dem Tresen einfach den Zettel hin. Sie nickte und gab mir einen Stapel mit Papieren. Was war das denn alles? Ich beließ es dabei, nickte noch einmal kurz und verschwand dann aus dem Sekretariat. Sam war noch nirgends zu sehen und so entschloss ich mich, ein wenig die Schule zu erkunden.
Schlendernd ging ich durch den Flur und versuchte die Blicke der anderen auszublenden. Klar waren sie alle neugierig. Und klar, dass es mal wieder Jungs gab, die es toll fanden, einem das Bein zu stellen. Gott sei Dank flog ich nicht hin, dafür lagen nun meine Papiere auf den Boden verstreut. „Vielen Dank“, sagte ich beißend sarkastisch zu dem Kerl. Ich wusste, er konnte mich nicht verstehen, doch mit Sicherheit merkte er, dass ich ihn verachtete. Was hatte er auch anderes erwartet? Wahrscheinlich war dies auch der Zweck der Situation. Er wollte mich sofort bloßstellen. Was ihm geling. Mehrere Schüler standen um uns herum und verfolgten das Geschehen. Ich bückte mich um die Blätter aufzuheben und sofort waren da zwei weitere Hände. Im ersten Moment dachte ich, es sei der Typ der mir das Bein stellte, doch als ich aufschaute, sah ich Sams Gesicht. Zusammen brachten wir die Papiere wieder zusammen und er gab sie mir. Dann richteten wir uns auf. Er schaute den Kerl wütend an. „Apa itu? dia hanya baru di sini. dan anda harus segera membuat hidupnya seperti di neraka? agak menyampaikan bahawa aku hidup anda tidak masuk neraka. (Was sollte das?! sie ist gerade neu hier. und du musst ihr gleich das Leben zur Hölle machen? Pass lieber auf, dass ich dein Leben nicht zur Hölle mache.)“
Mit wütendem Blick zog der Kerl von dannen.
Sam sah ihm noch lange hinterher, ehe er sich mir zuwandte.
„Können wir?“, fragte er grinsend.
„Klar“, sagte ich noch völlig verblüfft von seiner Tat. Er hatte mich verteidigt. Schmetterlinge flogen in meinem Bauch herum, als wären sie aufgescheucht worden und vorher geschlummert hatten.
Wir gingen in unser Klassenzimmer. Alle starrten mich wieder an. Ich würde mich daran gewöhnen und außerdem, schien es so zu sein, dass sie Sam gar nicht mehr angafften. Das gab mir Mut. ER gab mir Mut. Noch nie war ein solcher Mensch in meiner Welt. Und ich hätte auch nicht gedacht, dass es so jemanden gab. Er reichte mir seine Hand und ich nahm sie lächelnd entgegen. Zusammen gingen wir zur Lehrerin und ich vermutete, dass er ihr gerade erklärte, dass ich neu sei und er vorübergehend mein Dolmetscher sein würde. Die Lehrerin nickte mir lächelnd zu und deutete auf zwei freie Plätze.
„Sitzt du immer allein?“, fragte ich Sam, als wir saßen.
„Nein, aber Luan ist heute scheinbar nicht da“, antwortete Sam schulterzuckend.
Er half mir durch den Unterricht und falls ich eine Antwort nicht wusste, so sagte er die Antwort und tat so, als ob ich es ihm gesagt hatte. Er war durch und durch gut. Und charmant und liebevoll und hilfsbereit und gutaussehend und schlau. Einfach ein perfekter Mensch.
Als die Schule zu Ende war, sah er mich lächelnd an.
„Was ist?“, wollte ich wissen.
„Hast du heute Lust mit mir im Meer zu schwimmen?“, fragte er ein wenig verlegen. Ein Date oder einfach nur ein freundschaftlicher Ausflug? Ich hoffte Ersteres.
„Klar, warum nicht?“, antwortete ich gelassen, um mir nicht anmerken zu lassen, wie fröhlich ich über diese Einladung gewesen war. Innerlich machte ich nämlich Freudensprünge.
Dann gingen wir nach Hause. Natürlich brachte er mich erst einmal zu mir.
„Wie hast du es geschafft zu überleben? Ich meine, du warst ganz allein hier. Keine Freunde am Anfang. Du warst sicher unglücklich hier“, sagte ich mitfühlend.
Er musterte mich. „Nein. Ich war nicht unglücklich. Die Welt hier hat mir gezeigt, dass man überall glücklich sein kann, wenn man sich bemüht. Klar, wenn man aufgibt, dann wird man schrecklich unglücklich sein. Ich werde dir zeigen was ich meine. Aber ich denke das wird eine Zeit dauern“, sagte er und zwinkerte. Ich staunte wieder über seine klugen Worte, wunderte mich jedoch wie er mir das erklären wollte.
Als wir bei mir waren, nahm er mich wieder in den Arm und ging dann. Ich hatte eine Stunde Zeit, bevor er mich abholte. Ich lief in mein Zimmer und zog schnell meinen Bikini unter mein Kleid. Dann packte ich mir meine Tasche. Handtuch, Sonnencreme und Sonnenbrille. Das müsste es gewesen sein. Ich machte mir schnell einen Zopf und ging dann schnell in die Küche, um etwas zu essen. Meine Eltern waren überraschenderweise nicht da und so schrieb ich ihnen einen Zettel. Ach und ich sollte immer bescheid sagen, wenn ich wegginge?
Hey Mama, Hey Papa.
Ich bin ein wenig am Strand. Macht euch keine Sorgen, ich bin um 18 Uhr wieder zu Hause.
Hab euch lieb.
Luci
Ich aß noch schnell einen Apfel und schon klingelte es. Ich machte mit einem Lächeln auf und Sam grinste ebenfalls.
„Somchai ist mit deinen Eltern unterwegs. Du sollst dir keine Sorgen machen“, sagte er sofort.
„Na dann. Lass uns gehen“, antwortete ich fröhlich.
Und schon marschierten wir los. Er nahm mir sofort die Tasche ab und trug sie für mich. Ein Gentleman auch noch. Wieder ein Pluspunkt auf meiner Liste. Ich fühlte mich frei neben ihm, in der Sonne, in so einem Paradies wo ich war.
Als wir da waren, war nicht allzu viel am Strand los. Ich schaute Sam fragend an.
„Die arbeiten alle noch. Und die Kinder treiben sich nur selten hier rum“, sagte Sam lächelnd. Er wusste anscheinend, was ich fragen wollte.
„Wieso?“, harkte ich nach. Der Strand war wirklich wunderschön.
„Weil viele nicht schwimmen können, deswegen.“
„Aber du kannst schwimmen oder?“, fragte ich unsicher.
„Du etwa nicht?“ Er hielt inne.
„Doch, na klar“, sagte ich und lachte. Auch er lachte.
Er zog sein T-shirt aus. Seine lange Badehose hatte er bereits als Hose an. Sein Körper war muskulös und glatt, sodass ich einfach hinschmachten musste. Auch ich zog mein Kleid aus und zusammen liefen wir im Sand entlang und hinein ins Wasser.
Das Wasser war angenehm und sehr klar. Wir schwammen und planschten lachend herum, dann kam er zu mir und nahm mich in den Arm. Es war so schön seine Arme um meine zu spüren und ich legte den Kopf auf seine Schulter.
„Bist du bereit, dass zu sehen, was unter der Oberfläche liegt?“, fragte Sam.
„Ja“, sagte ich und wir tauchten unter. Es war unglaublich, wie viele wunderschöne Fische an uns vorbei schwammen. Das Wasser war so rein, sodass man alles genau erkennen konnte. Zusammen tauchten wir in eine Art Bucht. Als ich auftauchte war er ganz nah. Ohne nach zu denken schwamm ich zu ihm und schlang meine Arme um seinen Hals.
„Ich liebe dich“, rutschte es mir heraus. Verdammt, was tat ich denn da? Ich sprach einen Gedanken aus, völlig unbewusst.
Er sah mich überrascht an. Dann lächelte er liebevoll und kam mit seinem Gesicht immer näher. Und dann endlich berührten sich unsere Lippen und ich fühlte mich vollkommen. Seine Lippen waren so warm, so zärtlich auf meinen und wir harmonierten auf ganzer Linie. Wir waren eins. Und würden es wahrscheinlich auch bleiben.
Dann plötzlich löste er sich schlagartig und ich öffnete verwirrt die Augen. Luan war neben uns im Wasser und starrte Sam sauer an.
„Bolehkah anda mengatakan kepada saya sekali, apa yang anda lakukan, Sam? Anda mencium seorang gadis? Apa yang kita mengatakan?! (Kannst du mir mal verraten, was du da treibst, Sam?! Du küsst ein Mädchen?! Was hatten wir denn gesagt?!)“, schrie Luan sofort los.
Ich verstand mal wieder kein Wort und schaute nur verwirrt zu Sam. Dieser sah nun auch ganz schön sauer aus.
„Itu bukan apa yang saya lakukan! Hanya kerana anda mempunyai pengalaman buruk dengan wanita, saya tidak mempunyai lama dibenci! (Es geht dich nichts an, was ich mache! Nur weil du schlechte Erfahrungen mit Frauen hast, muss ich sie schon lange nicht verachten!)“, brüllte Sam zu ihm.
„Anda seorang teman yang buruk! (Du bist ein schlechter Freund!)“, rief Luan und es war still. Sam erwiderte nichts.
„Was ist denn los? Was hat er gesagt?“, fragte ich Sam voller Neugier.
„Klappe halten. Dich nichts angehen!“, sagte Luan hasserfüllt zu mir. Er konnte also doch meine Sprache sprechen. Ich war völlig verblüfft.
„Was ist los? Was willst du von uns?“, fragte ich.
„Nichts von dich!“, fuhr er mich an. Ich zog eine Augenbraue hoch.
„Du kannst doch so gut meine Sprache, dann kannst du mir doch auch erklären, was dein Problem ist oder?!“, fuhr ich Luan an.
„Du sein mein Problem!“, brüllte er zurück. „Geh da hin wo du her kommen!“
Das war ein Schlag unter die Gürtellinie. Zu wissen, dass man nicht erwünscht ist, wo man ist, ist etwas fieses und grausames für jeden. Ich schwamm von den beiden weg und ging ans Ufer. Sam folgte mir nicht. Sie waren immer noch da, wo sie sich vorher befanden.
Beleidigt stakste ich davon und schaute mich nicht um. Ich nahm meine Sachen, zog mein Kleid an und verschwand von dem Strand. Es war heißer, als wir kamen. Ich versuchte mich ungefähr an den Weg zu erinnern. Ich wusste zwar die Richtung, doch nicht genau die Wege, die ich gehen musste. Trotzdem ging ich immer weiter. Ich war zu aufgebracht, um halt zu machen. Und ohne hin, was hätte das gebracht?!
Irgendwann beruhigte sich meine Stimmung und wurde überdeckt von Verzweiflung. Ich wusste nicht, wo ich mich befand. Ich hatte diese Gegend noch nie gesehen, also war ich mir sicher, völlig falsch gegangen zu sein. Nicht schon wieder, dachte ich genervt. Immer wieder verlief ich mich. Ich brauche unbedingt ein Navigationsgerät, dachte ich sarkastisch. Konnte aber nicht wirklich darüber lächeln, weil das Ganze überhaupt nicht rosig für mich aussah. Meine Eltern waren nicht Zuhause und niemand war da, der meine Sprache sprechen konnte. Doch ich versuchte es trotzdem. Einige Leute sahen mich verwirrt andere eher abweisend an und ich verstand bald, dass das alles keinen Sinn hatte. Was hatte ich mir bloß dabei gedacht, alleine aufzubrechen?! Das war völlig dumm und leichtsinnig. Wobei ich mich hier überhaupt nicht auskannte. Es war zum verrückt werden, alles sah gleich aus, alle Menschen sahen gleich aus und ich hatte das Gefühl, als würde ich im Kreis gehen.
Plötzlich packte mich eine Hand am Arm. Ruckartig drehte ich mich um und schaute erleichtert in das Gesicht von Sam. Schnell versteckte ich die Erleichterung und zeigte meine beleidigte und wütende Seite. Er ließ mich einfach ziehen, ohne in Erwägung zu ziehen mir zu folgen.
„Mensch Luci. Ich hab dich schon überall gesucht. Warum bist du einfach weggelaufen?“, sagte Sam erleichtert.
„Das fragst du noch?! Ich bin unerwünscht, schon vergessen?“ patzte ich ihn an.
„Luci, ich habe dir gesagt, dass er etwas gegen weibliche Wesen hat“, sagte er und verdrehte die Augen. „Das hat aber nichts mit dir speziell zu tun. Und außerdem, bist du nicht bei mir unerwünscht. Ich bin froh, dass du bei mir bist.“
Mein Herz schwoll an und ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen.
„Aber du bist mir doch nicht gefolgt..“, sagte ich ernst und niedergeschlagen.
„Nur weil ich Luan sagen musste, dass wir keine Freunde sein können, solange er etwas gegen dich hat“, ergänzte er grinsend. Ich nahm ihn in den Arm und küsste ihn zärtlich. Ich war so dumm. Ich bin weggelaufen wie ein kleines Baby, ohne Grund. Zumindest war der Grund einfach Einbildung. Sam war auf meiner Seite.
Er erwiderte meinen Kuss sofort. Es war schön ihn zu küssen. Seine Lippen waren warm und weich. Keine Spur von Nervosität oder Angst war von seiner Seite zu spüren. Bei mir war ich da nicht so sicher. Schließlich hatte ich sehr viel Angst von ihm abgewiesen zu werden. Doch diese Sorgen waren unnötig, da er nicht vorhatte mich wegzuschieben. Im Gegenteil er umarmte mich stärker und streichelte sanft meinen Rücken. Womit hatte ich dieses Glück bloß verdient? Womit hatte ich SAM verdient? Er war rundum perfekt. Er war nicht wie ich. Ein bockiges Mädchen. Nein, er war egal wann, immer freundlich zu mir wohingegen ich die meiste Zeit ziemlich fies war. Doch er nahm es in Kauf und half mir jedes Mal aus der Klemme- genauso wie jetzt. Ich löste mich und schaute ihm in seine Augen. Er lächelte mich an, was mein Gedanke, dass ich zu mickrig, dass ich nicht genug war, noch verstärkte. Ich sah ihn unglücklich an und er sah verwirrt aus.
„Hab..hab ich was falsch gemacht?“, fragte er verunsichert. Was er schon wieder dachte. Das war vollkommener Unsinn, dass er etwas falsch gemacht hatte.
„Im Gegenteil. Du bist zu gut für mich, Sam“, sagte ich niedergeschlagen.
Er sah mich stirnrunzelnd und ungläubig an. „Das ist Schwachsinn. Du bist großartig, Luci.“
„Nein, ich bin nicht gut genug für dich“, erwiderte ich und blickte zu Boden.
„Willst du mich los werden?!“, fragte Sam lächelnd. Als ich nichts antwortete legte er seine Hand unter mein Kinn und hob es an, damit er mir in die Augen schauen konnte.
„Du bist gut, Luci. Du bist umwerfend, du bist lustig, liebevoll, überraschend einfühlsam und einfach nur ein toller Mensch. Mach dich nicht schlecht. Denn das lässt dich dumm erscheinen. Es ist dumm, zu denken, dass du nicht gut genug für MICH bist“, sagte er völlig ernst.
„Siehst du! Genau das ist es!“, antwortete ich lauter. „Was du sagst, alles was du tust, du zeigst mir eine Seite, die es in meiner Welt nie gab. Es gab keinen Jungen, der so ist wie du. Verstehst du? Du bist wie ein Erwachsener.. Ich kann einfach nicht fassen, dass ich dich verdiene!“
„Ich glaube, ich muss dich doch zum Psychologen schicken“, sagte Sam lachend und gab mir einen flüchtigen Kuss. Ich ließ mich auf seine Stimmung ein.
„Ich dachte du bist hier der Psychologe“, sagte ich lachend und erinnerte mich an das Gespräch, ganz am Anfang als wir uns kennen lernten. Dann veränderte ich meine Stimme. „Bitte helfe mir!“, sagte ich und lächelte.
Dann beugte er sich zu mir und küsste mich leidenschaftlich. Das verstand er also, wenn es ums Helfen geht.
Er löste sich grinsend von mir und nahm meine Hand.
„So, jetzt gehen wir, ehe deine Eltern ausrasten“, sagte er dann.
„Alles klar. Dir ist es wohl sehr wichtig, dass meine Eltern einen guten Eindruck von dir haben“, sagte ich misstrauisch und doch fröhlich.
„Das auch. Aber eigentlich will ich eher, dass du es dir nicht mit deinen Eltern verspielst“, korrigierte er.
Ich lachte. „War ja klar.“
Er machte eine Unschuldsmiene. „Wieso war das klar?“
„Weil du perfekt bist und dich um mich sorgst“, antwortete ich und stieß ihm neckend in die Rippen.
„Ich glaube, dir muss ich wirklich mal als Psychologe helfen und ich sollte mir Schoner für den Oberkörper besorgen. Mensch, das tut echt weh!“, sagte er und rieb sich die Stelle, wo ich hineingestoßen hatte.
„Sei kein Weichei“, sagte ich schnippisch.
„Tut mir leid.“
„Du weißt, dass ich mal wieder keine Ahnung habe, warum du dich DAFÜR entschuldigst?“, fragte ich ihn stirnrunzelnd.
„Ich weiß“, antwortete er grinsend.
Ich schüttelte bloß den Kopf und ließ es darauf beruhen.
Als wir durch die Gassen schlenderten, bekam ich ein schlechtes Gewissen. Ich hatte Sam und Luan getrennt. Eine sehr gute Freundschaft und hatte mich noch nicht einmal entschuldigt, geschweige denn bedankt, dass Sam mich ihm vorzog. Und nun war es zu spät. Es würde so herüberkommen, dass mir erst nun auffiel, dass das so toll von Sam war. Aber dies war nicht der Fall. Ich wusste es, dass dies eine schwere Entscheidung war, dessen war ich mir bewusst, und doch hatte ich nicht den passenden Moment gefunden, eine Entschuldigung beziehungsweise Bedankung auszusprechen. Ich war egoistisch. Davon war ich jedenfalls überzeugt.
Wir schwiegen den ganzen Weg nach Hause und er schien nachdenklich. Vermutlich überlegte er, ob es wirklich die richtige Entscheidung war. Bei dieser Spekulation zog sich mein Herz unsanft zusammen. Ich hatte dies jedoch schnell wieder im Griff, ehe er etwas merken konnte. Als wir vor meinem Haus standen küsste er mich rasch dann ging er ohne ein Wort. Was war das denn? Damit hatte er meine Spekulation verstärkt und das machte mir große Sorgen. Ich schlenderte ins Haus hinein und wartete schon auf den Ausbruch meiner Eltern. Doch sie waren noch gar nicht da. Ich stieg die Treppen zu meinem Zimmer hinauf und machte meinen Laptop an. 1 neue Nachricht. Juhu. Sie war von Pia.
Hey Luci,
Oh mein Gott! Robert und ich sind seid dem Kinobesuch zusammen! Danke, dass du mir Mut gemacht hast! Er war echt lieb.
Deine Mutter hat wieder einen Dekotick? Na, das kennen wir ja schon.
Sam? Und wie ist er so? Könntest du dir etwas mit ihm vorstellen?
Hab dich ganz dolle lieb
Pia
Ich seufzte als ich ihr antwortete.
Hey Pia,
danke für deine Mail. Echt? Ihr seid zusammen? Herzlichen Glückwunsch!
Habe ich doch gerne gemacht. Habt ihr euch geküsst? Du musst mir alles erzählen.
Sam ist toll. Aber zu perfekt für mich. Ich fühle mich neben ihm mickrig. Wir haben uns geküsst, aber das ist alles kompliziert. Sein Freund hat etwas gegen Frauen und ist total sauer auf Sam. Und ich glaube Sam denkt darüber nach, sich nicht mehr mit mir abzugeben. Ich weiß noch nicht mal, ob wir zusammen sind... Wir haben uns zwar geküsst, aber die Frage ist nicht aufgetaucht.
Hab dich auch lieb
Luci
Als ich es abschickte, war mir mulmig zu mute. Bestimmt würde sie mich mit Mitleid nur so überschwemmen. Ich hasste Mitleid. Ich hasste es sehr. Aber sie war eine sehr gute Freundin und ich wusste sie fand es toll von mir, dass ich ihr das alles anvertraute.
Klar, mich würde das auch freuen, aber mir ihr überaus nerviges Mitleidgetue anzutun, ist echt eine Zumutung. Das ist nicht normal bei ihr. Es ist wie bei meiner Mutter beim dekorieren. Sie übertreibt maßlos. Pia terrorisiert mich dann mehrere Wochen mit Fragen und wie ihr das alles so leid tut. Ist es nicht nervig wenn man gesagt bekommt: „Oh du musst echt total niedergeschlagen und unglücklich sein.“ Man wird immer wieder daran erinnert, dass dies wirklich die Tatsache ist. Das ist doch echt völlig bescheuert. Ich brauchte jedenfalls kein Mitleid. Außerdem war es ja alles nur Spekulation mit Sam. Ich wusste im Grunde gar nicht wieso er so reagierte. Vielleicht war er wegen einer anderen Sache in sich gekehrt. Es musste nicht mit mir zu tun haben. Ich bin schließlich nicht der Nabel der Welt. Es war wahrscheinlich nur Einbildung. Ich hatte das Gefühl nicht gut genug für Sam zu sein. Und daraus resultierte die Angst. Angst abgestoßen zu werden. Von Sam, den einzigen Jungen, für dem ich wahrhaftige Liebe verspürte. ♥

Am nächsten morgen stand ich früh auf. Es war wieder Schule und ich musste mich beeilen. Sam holte mich wieder ab, war jedoch immer noch sehr verschlossen. Ich beschloss ihn zu fragen, was mit ihm los war.
Er schaute mich flüchtig an. „Es ist einfach nur schlimm, seinen besten Freund zu verlieren. Er hatte mir ganz am Anfang viel geholfen.“
Ich schwieg eine Weile, ehe ich sagte: „Es tut mir leid, dass du dich wegen mir mit Luan gestritten hast.“
„Das war nicht deine Schuld. Es war allein meine Entscheidung. Entweder Luan oder du. Ich habe mich für dich entschieden. Ganz einfach“, erwiderte er achselzuckend. Natürlich wusste ich, dass es ihm mehr ausmachte, als er zu gab, doch ich beließ es dabei. Keine Ahnung warum ich ihn nicht weiter ausgefragt hatte, wahrscheinlich hatte ich einfach nur Angst, dass er sich in der Konservation doch anders entscheiden würde. Ich war wirklich egoistisch.
Auf einmal hielt ein Auto vor uns an und ein blonder Mann streckte seinen Kopf aus dem Fenster. Die Frau neben ihm war wirklich sehr hübsch und hatte große Ähnlichkeit mit Sam.
„Hey. Was ist los?“, fragte Sam. Aber natürlich, es waren seine Eltern.
„Sollen wir euch zur Schule bringen? Wir wollen zum Markt. Da fahren wir dran vorbei“, sagte der Mann.
„Klar“, meinte Sam und nahm meine Hand, um mich in das Auto zu führen.
Schüchtern setzte ich mich auf die Rückbank und schaute Sam an, der neben mir seinen Platz einnahm.
„Hallo Luci. Wir sind Sams Eltern, Lilly und Klaus“, stellte sich die hübsche Frau vor. Sie wusste meinen Namen, also musste Sam schon etwas über mich erzählt haben. Hoffentlich nicht, dass ich an dem Streit von Luan und Sam Schuld war.
„Hallo. Freut mich Sie kennen zu lernen“, erwiderte ich förmlich.
„Ach du kannst ruhig „du“ zu uns sagen“, erklärte Klaus.
Obwohl ich sie nicht kannte, waren sie dennoch wahnsinnig vertraut.
„Danke. Sie- ich meinte ihr solltet mal meine Eltern kennen lernen. Die beiden sind schon ganz verzweifelt, weil sie nur Somchai kennen, der deutsch kann“, sagte lachend. Die anderen drei stimmten ein.
„Ja, wir sollten uns wirklich mit deinen Eltern bekannt machen“, meinte Lilly.
„So, jetzt müsst ihr aber erst mal zur Schule“, sagte Klaus und stoppte das Auto. Wir waren vor dem Gebäude und ich stieg mit Sam zusammen aus. Ich sah die Welt plötzlich mit anderen Augen, als ich sie an meiner Ankunft sah. Und das hatte ich Sam zu verdanken. Thailand war einfach ein Paradies. Wunderschön und unbeschreiblich lebendig.
Sam nahm meine Hand und zusammen schlenderten wir in die Schule. Sofort sah ich Luan, der uns böse Blicke zuwarf, doch ich achtete gar nicht darauf. Er würde sich früher oder später wieder einkriegen.
Wir hatten heute früher Schluss, weil es Lehrerkonferenzen gab und somit schlenderten Sam und ich langsam die Gassen entlang.
„Wie kamst du darüber hinweg deinen Bruder verloren zu haben?“, fragte ich ihn.
„Es war wirklich eine harte Zeit und ich bin froh, dass ich hier leben darf, weil hier alles so fröhlich und friedlich aussieht, sodass man schneller vergessen kann. Aber ich war wirklich frustriert bis ich endlich loslassen konnte. Weißt du.. Phil war immer der mutigere von uns. Man kann doch heutzutage nur überleben, wenn man mutig ist“, erklärte Sam.
Zum ersten Mal stimmte ich ihn überhaupt nicht zu. „Na und du siehst, wie gut Phil überlebt hat. Er war mutig und ist deswegen gestorben.“ Es klang hart, aber es war die Wahrheit.
„Dieser Unfall hatte nichts mit Mut zutun. Er war leichtsinnig, nicht mutig, das weiß ich. Aber man muss manchmal stark sein. Und dazu gehört Mut. Phil wäre besser über mein Tod hinweggekommen, als ich über seinen“, antwortete er.
Ich schaute ihn zweifelnd an. „So wie du über den Tod sprichst, bist du sehr gut darüber hinweggekommen. Und dein Bruder wäre wirklich stolz auf dich, dass du es so gut geschafft hast, egal wie lange es gedauert hat.“
Er drückte meine Hand. „Danke.“
Zuhause angekommen, nahm ich ihn mit auf mein Zimmer. Meine Eltern waren nicht da und deshalb waren wir einwenig ungestört.
Oben schaute er sich um und lachte in sich hinein. „Du scheinst Spaß an dekorieren zu haben.“
Ich lachte. „Nein, nicht ich. Meine Mutter.“
Er kam auf mich zu. „Ich liebe dich.“ Wow, das war WIRKLICH ein schneller Themenwechsel.
„Ich dich auch“, antwortete ich und küsste ihn zärtlich. Dann ließ ich von ihm ab.
Ich setzte mich auf mein Bett und starrte ihn an. Sam ging zum Fenster und schaute auf das Meer hinaus.
„Weißt du eigentlich, dass du mir gezeigt hast, dass es hier einfach wunderbar ist?“, fragte ich ihn gut gelaunt.
„Ehrlich..ich-“ Plötzlich stoppte er mitten im Satz. Ich schaute ihn verwirrt an. Seine Augen waren geweitet. Er kam auf mich zu.
Sam riss an meinem Arm und zog mich weg.
„Was ist denn los?“ fragte ich völlig verwirrt.
„Wir müssen hier weg! Ein Tsunami!“, schrie Sam und rannte samt mir durch mein Zimmer. Unten rannten wir durch die Tür. Nun nahm er meine Hand, damit er besser laufen konnte. Er zog mich mit, doch ich war völlig verstört und starr, trotzdem ließ ich mich mitziehen. Ein Tsunami?!
„Meine Eltern!“, schrie ich durch den Menschengetümmel, als ich es endlich realisierte hatte und wieder klar denken konnte. Panische Rufe bohrten sich in mein Hirn. Und ich versuchte sie verzweifelt auszublenden. Ich hasste es unendlich dolle, andere leiden zu sehen oder gar zu hören. Es ist wirklich ein Stromschlag ins Herz.
„Erst musst du in Sicherheit!“, rief mir Sam zu. Ich versuchte mich loszureißen. Er sah mich völlig panisch an. Und das brachte mein Herz dazu, ganz kurz komplett auszusetzen. So hatte ich ihn noch nie gesehen. So verzweifelt, so panisch, so ängstlich. Und er wollte mich in Sicherheit wissen. Doch noch konnte ich das mit meinem Gewissen nicht vereinbaren. Meine Eltern waren irgendwo und suchten mich wahrscheinlich genauso hysterisch wie ich sie. Sie würden sich bestimmt so panische Fantasien ausdenken, was mit mir vermutlich bereits geschehen war, dass sie nicht klar dachten und sich mitten ins Verderben stürzten. Ich bekam Gänsehaut bei diesem Gedanken.
„Ich geh nicht ohne meine Eltern!“, sagte ich fest entschlossen und blieb stehen.
Er überlegte eine Weile, ehe er sagte: „Okay, wir haben keine Zeit, zu diskutieren. Komm, wir suchen sie“
Dann rannte er auch schon samt mir los. Ich konnte kaum etwas sehen, so viele Menschen liefen herum. Viele Leute weinten und hielten ihre Kinder ganz fest in den Armen, während sie panisch umherrennten und wussten nicht wohin. Es war als würde ich in Zeitlupe an diesen vielen verzweifelten Menschen vorbeilaufen und ich merkte, dass ich eigentlich genauso aussehen musste. Es fühlte sich so ein, als würde ich einen Knoten in den Hals bekommen, so sehr bewegte ich meinen Hals hin und her, verzweifelt auf der Suche nach meinen Eltern. Und dann bekam ich auch noch einen riesigen Kloß im Hals, als ich versuchte meine Tränen herunterzuschlucken.
Plötzlich wurden Sam und ich auseinandergerissen und ich konnte ihn nicht mehr sehen. Die Leute wurden immer hysterischer und hatten keine Kontrolle mehr über sich und den Mitmenschen.
„SAM!“, schrie ich, doch er antwortete nicht. Ich lief wild umher und versuchte ihn zu finden. VERDAMMT! Langsam aber sicher bekam ich Panik. Und diese wurde immer stärker, bis ich es fast nicht mehr aushielt. Adrenalin stieß in mein Körper und ich rannte wie wildgeworden durch die Menschenmenge. Immer wieder schrie ich Sams Namen, doch niemand antwortete. Plötzlich hörte ich ihn, als meine Füße schon nass waren. Ich blickte dort hin, woher die Stimme kam. Er hatte sich auf eine Garage gestellt und winkte mich zu sich. Sofort rannte ich los und sprang in vollem Lauf hoch, um seine ausstreckte Hand zu nehmen, sodass er mich hinaufzog. Mit ganzer Kraft und so schnell wie möglich schlängelte ich mich auf die glatte Garage hinauf, arbeitete mich immer weiter vor und achtete gar nicht darauf, dass ich mich mehrmals verletzt hatte. Ich war völlig panisch und so war ich auf einmal in Sams Armen. Er strich mir sanft über die Wange.
Ich schaute hinunter. Mehrere Leute wurden schon von der Strömung mitgerissen und ich sah sogar, wie manche gegen Haus prallten und sich nicht mehr bewegten. Tränen rannen über meine Wangen und ich konnte nicht mehr sprechen. Ich starrte wie gebannt auf die schmerzenden Bilder, die sich vor meinen Augen boten. Doch plötzlich schoss wieder Adrenalin in meine Adern, als ich meine Eltern sah, wie sie zusammen gegen eine Palme prallten und rote Flüssigkeit zu erkennen war. Sofort wollte ich zu ihnen, doch Sam hielt mich zurück. Ich schaute wieder zu der Stelle, doch niemand war mehr zu sehen. NEIN! NEIN! NEIN! Das konnte nicht wahr sein?! Ich schrie so laut ich kann die Namen meiner Eltern und weinte so sehr, dass ich dachte, ich würde ersticken. Sam nahm mich fester in den Arm. Auch er weinte.
„Luci, du bleibst hier. Meine Eltern sind da hinten. Ich bin gleich wieder da“, sagte er schnell, ließ mich los und rannte von einem Hausdach, zum nächsten. Das Wasser war bereits so hoch, dass die Garage nicht mehr lange davor schützen würde.
Schnell blickte ich nach hinten und sah in diesen Moment, wie Sam abrutschte und ins Wasser fiel. Sofort sprang ich auf.
„SAM! HALT DURCH!“ Ich rannte so schnell wie möglich über das Hausdach, bis ich bei ihm war. Er blutete stark. Ich streckte meine Hand nach ihm aus. „SAM! NIMM MEINE HAND!“ Doch er griff nicht danach. Er sah mich nur mit starrem Blick an. Ich versuchte mich soweit wie möglich vom Dach zu lehnen, doch ich kam einfach nicht an ihm ran. Wenn ich nun selbst ins Wasser sprang, würde ich ebenfalls von der Strömung mitgerissen und ich konnte ihm nicht helfen. „SAM!“ schrie ich und spürte wie mir Tränen über die Wangen liefen. „SAM! BITTE! NIMM MEINE HAND!“ Er rührte sich nicht und eine weitere Strömung erfasste ihn. Sein Arm war in einem Seil verschlungen, sodass er nicht mitgeschwemmt wurde, doch der Druck war hart. „KOMM SCHON! DU SCHAFFST DAS!“ brüllte ich ihn an. „Glaube an Wunder, Liebe und Glück, Schaue nach vorne, Und niemals zurück, Tu das was du willst, Und stehe dazu, Denn dieses Leben, Lebst nur du!“, sagte er schwach und lächelte mich an. Als ich begriff wurde mein Körper starr. Nein! Es war der Spruch, den sein Bruder ihm sagte, bevor er starb. Ehe ich reagieren konnte, löste er das Seil und ehe er es losließ sagte er noch: „Ich liebe dich.“ Dann wurde er mit der Strömung mitgerissen und tauchte unter. „NEIN!“, brüllte ich schmerzerfüllt. Ich ließ mich auf die Knie fallen. Unbändige Tränen flossen über meine Wangen. „SAM!“, schrie ich, doch ich wusste, dass es zu spät war. Er war bereits tot. Genauso wie meine und seine Eltern. Ich schlug auf das Hausdach, so dolle, sodass meine Hand blutete. Dann vergrub ich mein Gesicht in meinen Händen und hoffte, dass das alles bloß ein schlimmer Traum war und fragte mich, wann ich wohl endlich erwachen durfte. Ich spürte einen Schmerz in meiner Brust. Mein Herz wurde zerquetscht. So fühlte es sich an. Ich sah auf das Wasser, was immer noch um mich herum floss und hasste mich dafür, dass ich darin mit Freude geschwommen war. Und zwar damals mit Sam. Und dieser war nun tot. SAM WAR TOT! „WARUM NIMMST DU MIR ALLES!“ schrie ich in Richtung Himmel und meine Wangen waren von meinen Tränen überflutet. Auf einmal spürte ich eine Hand auf meinen Rücken. Ich drehte mich um und schaute in Somchais verletzten Gesicht. Er hatte Strieme auf der Wange die stark bluteten. Er sah mich besorgt an. Ich dachte auch er sei bereits tot, doch er kniete vor mir. „Wo ist Sam?“ fragte er tonlos.
Ich fiel ihm in die Arme. „Er ist tot.“ Rief ich schmerzerfüllt. Ich lag regungslos in seinen Armen und krallte meine Hände in sein T-Shirt. Ich hatte alles verloren. Somchai führte mich in Sicherheit und wir warteten dort bis sich das Wasser zurückgezogen hatte. Ich starrte die ganze Zeit auf einen Fleck und Tränen rannen mir unkontrollierbar über die Wangen. Viele Leute sagen „Du wirst es verkraften.“ Aber meistens sind es dann die Leute, die nicht wissen, wie es ist, so etwas zu erleben. Mein Leben war zerstört.

Eine Tage später...

Ich sah auf die Trauertafel der Opfer, die ums Leben gekommen waren. Mir fielen sofort die Namen ins Auge, die etwas mit mir zutun hatten Sandra Leinert, Jürgen Leinert, Lilly Schubert, Klaus Schubert und.. Sam Schubert. Mein Herz zog sich unsanft zusammen und ich atmete unregelmäßig. Oben stand die Todesopferzahl. 5.300 Tote aus Thailand. Darunter meine Familie. Wie viele Menschen ihre Eltern, ihre Kinder, ihre Großeltern, ihre Tanten, ihre Onkels, ihre Bekannten und ihre Liebe verloren hatten. Es war unbeschreiblich zu verstehen, wie viele Leute nun litten. Ich schaute hinüber zu der Tafel der Verletzten. Dort standen keine Zahlen, doch mehrere Namen. Ich wünschte mir sehnlichst, dass meine Eltern, Sams Eltern und Sam auf der Tafel standen, nicht auf der anderen. Doch dieser Wunsch konnte nicht erfüllt werden. Ein Sprecher fragte nun, ob jemand etwas sagen wolle, doch niemand meldete sich. Niemand wollte über seine Qualen reden. Außer ich. Ich überraschte mich selbst, als ich die Treppe hinauf trat und mich ans Pult stellte. Alle Gesichter sahen mich mit Tränen auf den Wangen an. Ein Dolmetscher übersetzte den Thailänder meine Worte. Es war so ein schmerzhaftes Bild, dass ich nach unten schaute. „Ich denke, ich spreche für uns alle, dass uns die Verluste unserer Liebsten sehr, sehr nahe gehen.“ Sagte ich mit schwacher Stimme. Ich weinte bereits. Doch ich sprach weiter. „Ich selbst habe meine Eltern, meinen Freund und die Eltern meines Freundes verloren.“ Ich schluchzte. „Ich weiß, sie würden sich alle“ ich zeigte auf die Tafeln. „wünschen, dass wir nun stark sind. Und das wir weitermachen und das wir glücklich sind. Ich wollte nie nach Thailand. Doch als ich Sam kennen lernte, lernte ich zu lieben. Er zeigte mir, dass es egal ist wo du bist, du kannst glücklich sein. Und ich hoffe, dass er dort, wo er nun ist, auch glücklich ist. Er zeigte mir, die Welt mit anderen Augen zu sehen. Und ich sah sie mit seinen Augen. Thailand wurde zu meiner Heimat. Ich hatte mich hier mehr Zuhause gefüllt, als sonst wo.“ Ich achtete gar nicht auf meine Tränen. „Es gibt zu viele Worte, die man dazu sagen könnte. Diese Menschen, die gestorben sind, sind in Würde gestorben. Denn wir alle verbeugen uns vor ihnen. Wisst ihr, ich sagte ihr solltet stark sein. Stark sein bedeutet nicht, dass man nicht fällt. Ihr seit alle gefallen, als ihr eure Liebsten verloren habt. Nein, stark sein bedeutet wieder aufzustehen wenn man fällt. Und genau das solltet ihr tun.“ Plötzlich fiel mir Sams Spruch ein. „Sam sagte mir einen Spruch, bevor er starb und ich finde den sollte die ganze Welt erfahren.“ Es war verwirrend, dass ich die Worte genau kannte. Aber wie Sam es damals begründete: es hatte sich in mir eingebohrt. „Glaube an Wunder, Liebe und Glück, Schaue nach vorne, Und niemals zurück, Tu das was du willst, Und stehe dazu, Denn dieses Leben, Lebst nur du!“ Ich schniefte. „Ich liebe euch, Sam, Mom, Dad. Und ich werde euch niemals vergessen.“ Die Leute verbeugten sich vor mir und manche warfen mir eine Kusshand zu. Dann nahm mich Somchai entgegen und ich fiel ihm in die Arme. Ich werde keinen von euch 5.300 Leuten vergessen, auch wenn ich euch nicht kannte. Aber irgendwie steckten wir doch alle in der gleichen Lage. Unser Leben wurde vom Tsunami entrissen und zerstört.

Anmerkung: Ich hoffe ihr hattet alle eure Taschentücher bereit gelegt xD nein, Spaß. Ich hoffe es hat euch gefallen. Ich finde man sollte soetwas festhalten. Der Tsunami war wirklich schlimm und ich persönlich hatte mich erst mit den Gefühlen der Angehörigen beschäftigt, als ich mich versucht habe in dem Buch in ihnen hineinzuversetzen.
Ich hatte mir vorher noch Videos bei myvideo angesehen und ich muss gestehen, ich hatte da Tränen in den Augen. Also wer jetzt noch weinen möchte, sollte sich das ansehen. Ich poste es in den Klappentext.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 12.08.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich widme dieses Buch allen Opfern und Angehörigen, die den schlimmen Tsunami 2004 miterlebt haben.

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