Hallo! Mein Name ist Amelie Gilbert. Ich bin 17 Jahre alt und habe meine Eltern im Frühjahr (vor 3 Monaten) bei einem Autounfall verloren. Seitdem hat sich so einiges geändert und mein Leben geht soweit seinen normalen Gang. So normal wie es eben ging, wenn von einen auf den anderen Tag ohne Eltern auskommen muss. Ich wohne nicht alleine, meine Eltern hatten wohl vor ihrem Tot bereits dafür gesorgt, dass im Falle von einem Unfall ich zu meiner Tante ziehen würde. Manchmal ertappte ich mich dabei wie ich sie verfluchte, weil sie anscheinend schon damit gerechnet hatten das sie mich frühzeitig alleine lassen würden. Ich hasste das was mir passiert war. Ich hasste die kleine Stadt in der meine Tante wohnte und ich hasste die Normalität. Oft wünschte ich mir, dass irgendwas neues, irgendwas spannendes in mein Leben treten würde und ich endlich merkte, dass es einen Sinn hatte jeden Morgen aufzustehen. Im Moment gab es nichts was mich aufmuntern konnte.
Ich ging noch nicht wieder zur Schule. Dafür hab es 2 Gründe.
Zum einen fühlte mich einfach noch nicht bereit dafür. Ich hatte mehrmals drüber nachgedacht, doch mich immer wieder dagegen entschieden. Als ich die Nachricht bekommen hatte, dass meine Eltern mit schweren Verletzungen im Krankenhaus lagen und eventuell nicht überleben würden, hatte ich in der Schule gesessen. Ich wusste nicht ob es vielleicht eine Art Trauma war, doch ich hatte nicht den Mut mich wieder in ein Klassenzimmer zu setzen und zu lernen. Es gab mir das Gefühl, dass nie etwas passiert war. Und in meiner Situation durfte man so niemals denken. Es würde schnell so weit sein, dass ich mir wieder einbildete das meine Eltern noch da wären. Mir war das zwei oder drei Mal passiert und danach hatte ich Tage gebraucht bis es mir wieder einigermaßen gut ging.
Der zweite Grund ist, dass ich noch nicht sicher war ob ich hier bleiben wollte. In wenigen Monaten war mein achtzehnter Geburtstag. Ich wäre dann alleine im Stande zu entscheiden wo ich hinwollte und was ich machen wollte. Meine Tante hatte Angst davor, dass ich mich gegen ein Leben bei ihr entscheiden würde. Sie hatte meinen Eltern versprochen auf mich aufzupassen, doch ich konnte es eben nicht versprechen. In dieser Gegend war ich früher oft mit meinem Vater oder meiner Mutter gewesen. Wir hatten hier Urlaub gemacht und etwas zusammen unternommen. Die Erinnerungen waren zu stark. Manchmal wenn ich alleine im Bett lag überkamen sie mich und dann weinte ich die halbe Nacht während ich die andere Hälfte mit quälendem Herzrasen auf den Sonnenaufgang wartete.
Früher, als ich noch jünger gewesen war, hatte ich es geliebt wenn es dunkel war. Ich hatte oft lange bei meinem Vater auf dem Schoß gesessen und in die Sterne geguckt. Er hatte mir stundenlang Geschichten erzählt. So lange bis ich irgendwann einschlief und es für ihn an der Zeit war mich in mein Bett zu bringen. Ich vermisste diese unbeschwerten Stunden in denen ich einfach nur gelebt hatte.
»Amelie?«
Die Stimme meiner Tante riss mich aus meinen Gedanken. Ich zuckte leicht zusammen. Es war nicht das erste Mal, dass meine Tante mit mir sprach, während ich einfach nur vor mich her starrte und nicht antwortete, geschweige denn verstand was sie mir sagen wollte.
»Ist mit dir alles in Ordnung?«
Ich nickte nur. Es kam nicht oft vor, dass sie mich so direkt nach meinem Befinden fragte. Ganz am Anfang als ich gerade eingezogen war hatte sie sich oft Sorgen gemacht und die meiste Zeit bei mir gehockt wie eine Glucke. Das hatte sie allerdings irgendwann abgestellt als sie gemerkt hatte, dass ich nicht darauf einging.
Meine Tante heißt übrigens Wendy Baker.
Sie hatte sich an die Anrichte unserer kleinen Küche gelehnt und fuhr sich nervös mit einer Hand durch ihre langen, braunen Haare. Sie sah mir ähnlicher als meine Mutter. Schon oft hatte man uns für Geschwister gehalten. Es fiel den Leuten in der kleinen Stadt dennoch leicht uns als Familie anzusehen. Wendy hatte mir einmal erzählt, dass es wegen neuen Einwohnern oft schon Probleme gegeben hatte. Sie wurden einfach nicht akzeptiert. Sie nannte auch ein paar Namen die ich mir allerdings nicht merken konnte.
Als sie mich einfach nur weiter stumm ansah entschied ich mich dazu ihr eine Antwort zu geben die über ein Nicken, Kopf schütteln oder Schulter zucken hinaus ging.
»Ja, mir geht’s gut. Wie geht’s dir?«
Wendys Miene wurde weicher. Sie schien sich zu entspannen.
Sie nickte. »Soweit ganz gut. Mein Chef hat angerufen, ich muss heute die Nachtschicht übernehmen. Du kommst doch klar, oder?«
Mich überkam ein schlechtes Gewissen. Seitdem ich bei ihr wohnte war sie kürzer getreten was Arbeiten und Ausflüge anging. Ich wusste, dass sie ihre Arbeit liebte. Bevor meine Eltern starben hatte sie fast jeden Tag lange Schichten in dem kleinen Krankenhaus in Shadow Falls gearbeitet. Sie liebte ihren Job einfach. Sie liebte es Menschen zu helfen und sie liebte mich. Das letzte war wohl eher ein Klotz am Bein als Glück. Ich machte es ihr nicht leicht.
»Natürlich komm ich klar. Mach dir keine Sorgen.«
Auf Wendys Gesicht breitete sich ein warmes Lächeln aus. Sie strich mir behutsam über die Wange und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Gut. Das freut mich. Ich muss vorher noch einkaufen gehen, ich mach mich auf den Weg. Wenn was ist, du hast meine Handynummer. Du kannst jederzeit anrufen, ja?«
Ich nickte und stand auf. »Ich wird ein bisschen Fernsehen gucken und dann schlafen. Sei so gut und weck mich wenn ich auf dem Sofa einschlafe.«
Meine Tante lachte. Es kam nicht oft vor, dass ich Witze machte und sie schien sich über meine offensichtlich gute Laune zu freuen. Zum Glück merkte sie nicht wie wenig davon echt war. Mit einem letzten Lächeln verschwand sie schließlich. Ich wartete bis die Haustür zuschlug und der Motor ihres Autos ansprang bis ich mich auf den Weg in unser kleines, aber gemütliches Wohnzimmer machte. Es war in einem hellen orange gestrichen. Es standen ein kleines Ecksofa, ein Glastisch, ein Flachbildfernseher (das wohl teuerste in der Wohnung) und ein Regal mit Büchern und CDs darin.
Es passte alles auf eine merkwürdige Art zusammen.
Zu meinem Bedauern lief nichts gescheites im Fernsehen, weshalb ich mich schließlich dafür entschied eine DVD zu gucken. Mein Lieblingsfilm – eine schnulzige Liebeskomödie, die nicht weit verbreitet war. Manchmal glaubte ich, dass irgendwer aus der Gegend ihn vielleicht privat aufgenommen hatte. Egal wem ich den Namen gesagt hatte in der Vergangenheit, niemand hatte auch nur ansatzweise eine Ahnung von dem Film gehabt.
Seitdem zeigte ich ihm jedem, der ihn noch nicht gesehen hatte. Beziehungsweise, ich hatte ihn jedem gezeigt. Wie gesagt, ich hatte mich verändert. Ich ertrug es nur schwer wenn viele Menschen um mich herum waren. Zu viele Leute die mich durchschauen konnten.
Zu viele Menschen die merken konnten wie es wirklich in mir aussah.
Während ich den beiden Hauptdarstellern zuhörte wie sie sich ihre Gefühle offenbarten überkam mich eine seltsame Müdigkeit. Ich schlief nicht gut, aber noch nie war ich so müde gewesen, dass ich um diese Uhrzeit einschlief. Es war schließlich gerade einmal sieben Uhr Abends. Für gewöhnlich ging ich um 10 ins Bett und schlief dann irgendwann in den nächsten Stunden ein. Nur schwer schaffte ich es aufzustehen und den Fernseher auszustellen. Ich ging nach oben in mein kleines Zimmer mit bunt zusammen gewürfelten Möbeln, schlüpfte in meine Schlafsachen und stieg in mein Bett.
Sofort fielen mir die Augen zu und ich fiel in einen tiefen Schlaf.
Mir standen mehrere mir unbekannte Menschen gegenüber. Sie waren so verschieden wie man nur sein konnte. Verschiedene Haar, Haut und Augenfarben. Verschiedene Kleidungsstils, verschiedene Staturen. Sie waren so verschieden, dass ich mich nicht entscheiden konnte auf wen ich meine Aufmerksamkeit richten sollte. Mit schnellen Schritten versuchte ich mich durch die Mengen zu kämpfen, ehe eine große Frau, mit langen schwarzen Haaren und dunkelbraunen Augen sich vor mich stellte. Neben ihr kam ein großer, dunkelhäutiger Mann zum Vorschein. Er war viel, viel größer als ich, doch im Gegensatz zu der Frau sah er mich freundlich an. Ihre Augen funkelten und mich überkam das Bedürfnis zurück zu weichen und wegzurennen. Sie nahm meine Hand und lächelte. Ihre Zähne waren schneeweiß. Doch nicht einmal mit dem Lächeln sah sie freundlich aus. »Willkommen in der School of Mystic, Amelie Gilbert.«, sagte sie und riss mich zu sich. Meiner Kehle entfuhr ein Schrei.
Ich fuhr hoch.
Mein Hände krallten sich um mein Kopfkissen und ich war völlig nassgeschwitzt.
Zu meinem Erstaunen hatte ich nur knapp eine halbe Stunde geschlafen. So lange wie ich geträumt hatte. Jetzt war ich wieder hellwach.
Meine Muskeln hatten sich verkrampft und es tat fast weh als ich mich auf den Weg ins Badezimmer machte. Eine warme Dusche würde mir schon helfen mich zu entspannen.
Und vielleicht half das warme Wasser mir auch aus meinem Traum schlau zu werden. Wahrscheinlich hätte sich niemand so viele Gedanken gemacht, doch ich muss dazu sagen, dass ich die letzten Monate, seit dem Tot meiner Eltern immer nur von kaputten Autos, lautem Krachen und Wasser geträumt hatte. (Das Auto meiner Eltern war in so etwas wie einen Fluss gefallen, nachdem mein Vater die Kontrolle über den Wagen verloren hatte.)
Jetzt auf einmal jedoch träumte ich von Menschen, fremden Menschen und einer Schule von der ich noch nie etwas gehört hatte und die es wahrscheinlich auch überhaupt nicht gab.
Ich hatte Recht, die Dusche entspannte meine müden und verkrampften Muskeln. Doch meine Gedanken entspannten sich nicht. Sie ließen sich nicht beruhigen und jedes Mal wenn mir das Bild dieser unbekannten Frau ins Gedächtnis kam fing mein Herz an wie wild zu schlagen.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte war ich hellwach und ich fühlte mich gut. Ich hatte mich entschlossen meiner Tante von meinem Traum zu erzählen. Ein paar aufbauende Worte würden mir gut tun und Wendy war gut in so was. Sie fand immer die richtigen Worte.
Zu meinem Bedauern schlief sie nach der Nachtschicht immer bis Nachmittags. Ich musste mir die Zeit also noch ein wenig mit etwas anderem vertreiben. Nachdem ich mich erneut geduscht, angezogen und die Zeichen der kurzen Nacht übergeschminkt hatte schlurfte ich nach unten, ließ mich in der Küche nieder und starrte an die grüne Wand.
Ich hatte keinen Hunger, auch wenn ich schon fast einen ganzen Tag nichts gegessen hatte.
Um meinem Magen wenigstens etwas gutes zu bieten aß ich einen Müsliriegel und spülte mit Milch direkt aus der Packung nach. Anschließend zappte ich durch die Fernsehkanäle, gab es nach zehn Minuten aber auf und schaltete das Gerät wieder ab.
Es machte mich wahnsinnig wenn ich nichts zu tun hatte also entschied ich mich Sally anzurufen. Sie war in New York die einzige Freundin gewesen auf die ich mich wirklich verlassen konnte, doch seitdem ich hier wohnte war der Kontakt so gut wie abgebrochen. Ab und an, wenn einer von uns mal wieder an den anderen dachte dann riefen wir uns gegenseitig an und quatschten eine Weile über all den alltäglichen Kram.
Es klingelte zwei Mal, ehe die vertraute Stimme von Sally am anderen Ende der Leitung auftauchte.
»Hey, Amelie! Wie geht’s dir? Schön, dass du mal wieder anrufst!«
Es klang aufrichtig.
»Mir geht’s ganz gut.« log ich. Sie musste ja nicht wissen, dass es mir eben überhaupt gar nicht gut ging. Als meine Eltern gestorben waren hatte Sally versucht für mich da zu sein, doch sie hatte es irgendwann aufgegeben mir gute Ratschläge zu geben. Jeder der das bislang versucht hatte, einschließlich ein Therapeut, waren kläglich gescheitert.
»Und wie geht’s dir? Tut mir leid, dass ich mich so lange nicht gemeldet hab. Ich war.. beschäftigt.«
Sally seufzte laut. »Ja, mir geht’s auch ganz gut. Es ist nur alles ziemlich anstrengend mit der Schule und dem tanzen.« (Sally war leidenschaftliche Tänzerin. Ich selbst hatte auch getanzt, doch nach dem Unfall hatte ich darauf keine Lust mehr gehabt, beziehungsweise keine Motivation mehr um überhaupt irgendwas zu machen.)
»Wie läufts denn so mit dem tanzen? Wie geht’s den anderen?«
»Es geht allen super. Wir hatten letzte Woche einen Auftritt. Zweiter Platz. Du kannst dir gar nicht glauben wie wir uns gefreut haben! Ich glaube, es geht langsam voran, Amelie! Schade, dass du nicht mehr bei uns bist, du würdest staunen was wir gelernt haben!«
In meinem Kopf ging ich Antworten durch die ich geben könnte, doch mir fielen keine ein, die ihr eingeleuchtet hätten. Wahrscheinlich hätte sie nicht verstanden, dass mir mein altes Leben überhaupt nichts mehr bedeutete. Sie selbst war mir zwar noch wichtig, aber ich hatte das Gefühl, dass ich solange ich weg war und solange ich mich von ihnen fernhielt alles so langsam vergaß. Es wurde weniger und weniger. Manchmal fiel es mir schwer mich an das Aussehen von damaligen Freunden zu erinnern. Das würde ich natürlich nie laut zugeben!
»Vielleicht besuch ich euch irgendwann mal. Ich freu mich mir das alles mal anzusehen.«
Zwar entsprach das nicht der Wahrheit, weil ich sie nicht besuchen würde, doch mir fiel in dem Moment nichts anderes ein. Sie wäre traurig gewesen wenn ich nicht die angemessene Begeisterung zeigen für unsere damalige Leidenschaft. Das Tanzen hatte uns immer irgendwie verbunden. Jetzt wo ich drüber nachgedacht fiel mir auf, dass es wohl auch das einzige gewesen war was wir gemeinsam hatten.
»Das wäre super. Ich muss Schluss machen, tut mir leid. Bis bald dann!«
Noch ehe ich antworten konnte legte Sally auf.
Irgendwas an unserem Gespräch war anders als sonst doch mir fiel bei weitem nicht ein was und wenn ich wirklich ehrlich war, dann machte ich mir darüber auch keinen Kopf. Früher, als ich noch anders war, hätte ich sie sofort zurück gerufen und nachgefragt was los ist doch dazu fehlte mir nun das nötige Interesse. Mich interessierte so gut wie gar nichts mehr.
Es gab Tage an denen ich mir wünschte, dass es anders wäre. An denen ich mir wünschte wieder irgendetwas zu fühlen außer Schmerz und Sorge. Irgendetwas was mir zeigte, dass ich überhaupt noch richtig am Leben war. Angst war mein täglicher Begleiter und so sehr ich mich auch bemühte sie blieb nicht fern. Was für eine Angst genau mich verfolgte konnte ich nicht mit Gewissheit sagen. Irgendeine Mischung zwischen Verlustängsten und Angst vor mir selbst vielleicht. Am Ende des Tages, wenn die Sonne hinter dem Horizont verschwand, kam noch eine weitere dazu. Ich hatte Angst vor der Dunkelheit. Und nicht aus dem Grund wie kleine Kinder, sondern einfach weil ich Angst hatte etwas zu verpassen das vielleicht wichtig war. Etwas zu verpassen was Nachts in der Dunkelheit verborgen blieb.
Ich warf einen Blick in den Spiegel.
Außer des offensichtlichem Schlafmangel der sich unter meinen Augen und über mein ganzes Gesicht ausgebreitet hatte konnte ich zufrieden mit meinem Aussehen sein.
Ich hatte lange, leicht gewellte braune Haare, strahlend blaue Augen und eine leicht gebräunte Haut auf die ich sehr stolz war. Ich hatte sie wohl von meinem Vater geerbt. Er selbst hatte nie in der Sonne sitzen müssen um eine perfekte, natürliche Bräune zu haben. Bei mir war das nicht ganz so perfekt, ein oder zwei Tage im Sommer waren schon nötig, dass ich eine so schöne Farbe hatte wie er früher, doch ich konnte mich nicht beklagen. Meine sehr weiblichen Gesichtszüge unterstrichen das alles angenehm. Früher hatte ich mich oft damit beschäftigt aus mir jemand anderen zu machen. Ich hatte meine Haare gestylt und mich geschminkt, einfach nur aus Spaß an der Veränderung. Jetzt tat ich das alles nur noch gewohnheitsmäßig. Leicht Maskara und ein bisschen Puder an die Wangen. Mehr nicht!
Meine Haare hingen entweder langweilig gewellt herunter oder ich band sie zu einem ebenso lahmen Pferdeschwanz. Für wen sollte ich schließlich gut aussehen?! Ich selbst war zufrieden mit mir und das zählte für mich nun einmal am meisten.
»Guten Morgen, Amelie.«
Wendy legte mir eine Hand auf den Arm.
»Oh, du bist schon wach! War ich zu laut?« fragte ich und warf ihr einen entschuldigenden Blick zu. Sie schüttelte nur mit dem Kopf ohne weiter darauf einzugehen.
»Hast du gut geschlafen?«
Einen Augenblick überlegte ich ob ich lügen sollte. Irgendwas in meinem Kopf sagte mir, dass es die bessere Entscheidung gewesen wäre, doch ich entschied mich dagegen. »Ehrlich gesagt, nein. Ich hab schlecht geträumt und konnte dann nicht mehr einschlafen.«
Wendy unterbrach ihren Kampf mit der Kaffeemaschine und sah auf.
Sie versuchte sich nichts anmerken zu lassen, doch ihr Interesse war deutlich spürbar. Für meine Ansicht war es ein bisschen zu viel Interesse wegen eines einfachen Traumes.
In ihrem Blick lag Sorge. »So schlimm? Worum ging es in deinem Traum?«
Trotz der Stimme in meinem Kopf erzählte ich ihr in jeder Kleinigkeit meinen Traum. Ab und an veränderte sich ihre Miene. Von Sorge, zu neugierig, dann wieder zu Sorge, Angst, Verzweiflung. Von allem etwas. Wendy unterbrach mich kein einziges Mal, sondern wartete bis ich verstummte. Dann stand sie auf, drehte sich ein paar Mal verwirrt um ihre eigene Achse ehe sie sich wieder auf einen Stuhl fallen ließ. Sie vergrub ihr Gesicht in ihren Händen und schüttelte den Kopf, immer wieder.
»Ist alles in Ordnung?« Es war das erste Mal in den letzten Monaten das ich diese Frage stellte. Bis zu dem Zeitpunkt hatte ich nie daran gedacht ob es ihr auch schlecht ging. Sie hatte meine Eltern auch verloren. Doch irgendwas sagte mir, dass es hier um mehr ging als um diesen Verlust. Etwas, dass mein Leben verändern würde.
Wieder schüttelte sie den Kopf. Als sie schließlich nach einer gefühlten Ewigkeit aufsah lag in ihrem Blick nichts als Verzweiflung. Irgendwas schien sie fertig zu machen.
Ich rutschte auf den Stuhl neben ihr und legte ihr beruhigend einen Arm um die Schulter. »Was ist denn los? Sshh, alles wird gut.«
Sie schniefte.
Für mich war es komisch sie so aus der Fassung zu sehen. Immerhin hatte sie während der letzten Monate nicht ein einziges Mal eine Träne für mich vergossen, während sie jetzt auf einmal völlig aufgelöst neben mir saß. Sie erinnerte mich an ein Kind dem man das schönste Spielzeug weggenommen hatte oder das hingefallen war. Eine Mischung aus beidem.
Irgendwann als ihre Tränen versiegt waren richtete sie sich wieder auf und lächelte.
»Es tut mir leid. Ich hätte nicht damit gerechnet, dass es so bald passiert.«
Jetzt war ich vollkommen verwirrt. Es war doch überhaupt nichts passiert?!
»Was meinst du?« fragte ich, zog meine Hand zurück und rutschte mit meinem Stuhl weiter nach hinten. Ich wollte ihr in die Augen sehen. Sie hatte sich allerdings wieder gefangen. Ihre Miene verriet nichts.
»Amelie, hat dir deine Mutter jemals irgendetwas über Vorfahren von dir erzählt?«
Verwirrt schüttelte ich den Kopf. Sie hob eine Hand um mir zu zeigen, dass ich nicht weiter fragen sollte.
»Tu mir einen Gefallen! Ich erklär dir das alles, aber du musst versprechen mich nicht zu unterbrechen. Wenn ich dir alles erklärt habe, dann kannst du mir gerne Fragen stellen sollte noch irgend etwas unklar sein. Es ist wichtig, dass du mir ganz genau zuhörst.«
Ich nickte.
Zu meinem Bedauern zog sich Wendy zurück um zu duschen und sich generell fertig zu machen. Aus irgendeinem Grund war ihr Outfit nicht angemessen. Ich überlegte lange wieso sie sich unbedingt anziehen musste bevor sie mir erklärte was sie so aus der Fassung gebracht hatte und was das alles mit meinen Vorfahren und meinem Traum zu tun hatte. Es fiel mir schwer überhaupt einen klaren Gedanken zu fassen. Alleine der Grund, dass meine sonst so starke und standhafte Tante vor mir in Tränen ausgebrochen war verwirrte mich so sehr, dass ich andauernd wieder das Bild von ihr im Kopf hatte. Sie, zusammen gesunken auf unserem Küchenstuhl, direkt neben mir. – Völlig verzweifelt.
Als Wendy nach einer Stunde endlich wieder bei mir Platz nahm hielt ich es vor Neugier schon gar nicht mehr aus! Sie hatte sich soweit wieder im Griff.
»Hast du etwas dagegen wenn ich dir alles unterwegs erkläre?«
Ich zog automatisch meine Augenbrauen zusammen. Ihr Verhalten machte mich misstrauisch. Wohin konnte sie schon auf einmal mit mir wollen? Wir hatten nie etwas zusammen unternommen seit ich hier war. (Ich war selbst Schuld. Ich hatte jeden Versuch von ihr das wir uns ein bisschen näher kommen hatte ich abgeblockt.) Es schien mir nicht glaubhaft, dass sie auf einmal wieder von vorne anfangen wollte mit ihren Bemühungen, weil ich ein bisschen schlecht geträumt hatte. Doch das war anscheinend auch nicht der Grund.
Wendy wartete nicht auf eine Antwort. Sie stand auf, kramte ihr Handy, ihre Geldbörse und die Tasche mit meinem Ausweis zusammen und steckte alles zusammen in eine kleine schwarze Umhängetasche. Dann schnappte sie sich meine und ihre Jacke von der kleinen Garderobe im Flur und warf sie mir zu.
»Guck nicht so ängstlich, Amelie! Ich werde dir alles erklären. Das verspreche ich dir!«
Ich überbrückte den Abstand zwischen uns und hielt sie am Arm zurück gerade als sie sich zum Gehen wandte.
»Wohin fahren wir denn? Und wieso kannst du mir das nicht alles hier erklären?«
Wendys Miene verfinsterte sich. Sie entzog sich meinem Griff und sah mich böse an.
»Pass auf, ich hab gesagt ich erklär dir alles wenn wir fahren. Vertrau mir einfach, ja? Ich hab mir das alles nicht ausgesucht und ich wünschte jemand anderes würde dir das alles sagen! Bitte steig ein und mach es mir nicht noch schwerer! Du kannst mir vertrauen.«
Obwohl ich mir nicht sicher war ob ich ihr wirklich vertrauen konnte ging ich zur Beifahrertür und ließ mich auf den Sitz fallen. Die Türen flogen geräuschvoll zu. Erst meine und dann ihre.
Ich traute mich nicht sie noch einmal anzusprechen.
Erst als wir an den kleinen Einkaufsläden der Stadt vorbeifuhren die sich ordentlich aneinander reihten ergriff sie schließlich das Wort.
»Weißt du, Amelie. Ehrlich gesagt weiß ich nicht wie ich anfangen soll.« Wendy runzelte die Stirn. Immer wenn sie nachdachte oder sich Sorgen machte tat sie das.
Wir hatten die kleine Stadt fast hinter uns gelassen als wir in eine Seitenstraße einbogen. Die Grundstücke neben der schmalen Straße wurden von kleinen Häusern gesäumt. Die meisten sahen ganz gewöhnlich aus. Rote Steine, rote Dachziegel. Keine Besonderheiten. Weder arme Leute noch reiche Leute. Eben ein ganz normales Wohnhaus mit einem ganz normalen Garten. Hin und wieder blühten in einem Garten mehr Blumen oder es stand ein Apfelbaum inmitten des Gartens. Bei einem Haus war daran eine kleine Schaukel befestigt. Unwillkürlich schwirrten mir die Bilder meiner eigenen Kindheit im Kopf herum. Früher hatte ich auch so eine Schaukel gehabt. Leider hatten wir in New York nicht das Glück einen Garten zu haben. Mein Vater hatte improvisiert und meine Schaukel notdürftig an meiner Zimmerdecke befestigt. Ich konnte mich noch daran erinnern wie glücklich ich über diese Kleinigkeit gewesen war. Jetzt schien mir das alles seltsam belanglos zu sein.
Ich warf meiner Tante einen ungeduldigen Blick zu.
»Eigentlich hat alles bereits bei deiner Geburt begonnen. Wie du weißt bist du fast zwei Monate zu früh auf die Welt gekommen. Du warst klein und schwach, aber hast es dennoch geschafft dich irgendwie durchzubeißen. Deine Eltern haben das als normal angesehen. Sie haben dich früher immer „unsere Kämpferin“ genannt.« Wendy lächelte. »Die Ärzte waren nicht ganz so überzeugt davon, doch sie ließen alles ihren Lauf nehmen. Dir ging es immer besser und schon nach einigen Tagen hatte keiner mehr das Gefühl ein Frühchen vor sich zu haben. Du warst genauso wie jedes andere Baby in deinem Alter. Es gab also keinen Grund einzuschreiten oder dich genauer zu untersuchen. Man freute sich, dass du so tapfer warst.« Wendy drehte die Heizung runter und öffnete ihr Fenster. Ihre Hände zitterten immer noch ein bisschen was mich erkennen ließ, dass sie immer noch sehr nervös und aufgeregt war. Sie fuhr um die nächste Ecke und nach einigen Minuten des Schweigens erreichten wir einen kleinen Ort, genau hinter unserer Ortsgrenze. Wir fuhren auch hier eine Art Hauptstraße entlang. Wendy sagte nichts und ich wollte sie auch nicht drängen. Neugierig blickte ich mich um. Dieses Mal waren es keine kleinen Häuser mehr, sondern große, helle, sehr teure Häuser. Sie sahen aus wie aus einem dieser Filme in denen ein ganz normales Mädchen auf einmal erfuhr, dass sie eine Prinzessin war. Mal ganz davon abgesehen das die Häuser denen in den Filmen sehr ähnelten fühlte ich mich irgendwie genauso. Wie ein normales Mädchen das gerade etwas spannendes über ihr Leben erfuhr.
Wie als könnte sie meine Gedanken lesen fuhr Wendy fort. »Du bist hier früher oft gewesen. Wahrscheinlich erinnerst du dich nicht mehr. Einer der Ärzte die dich im Krankenhaus betreut haben hat hier gewohnt. Ich nehme an, dass er schon lange umgezogen ist, aber ich dachte ich zeig dir das alles mal.«
»Wieso?« Meine Stimme klang seltsam. Irgendwie kratzig.
Meine Tante lächelte wieder. »Weil es ein Teil deines Lebens ist. Ich hab schon viel zu lange gewartet. Ich hatte einfach Angst.«
Wieder unterbrach ich sie. »Aber wovor? Ich versteh nicht was du mir sagen willst.«
»Davor wie du reagieren würdest.« Sie zögerte einen Moment und erzählte dann an der Stelle weiter an der ich sie unterbrochen hatte. »Es wurde immer deutlicher, dass du nicht wie jedes andere Kind bist. Je älter du wurdest desto mehr Rätsel kamen auf. Deine Großmutter hat sich damals leider nicht mehr an viel aus der Kindheit deiner Mum oder an ihre eigene erinnert, aber sie konnte uns trotzdem etwas geben.« Wendy griff unter ihren Sitz und zog ein altes, dünnes Buch hervor. Der Einband fing bereits an sich aufzulösen und die Seiten waren vergilbt. Dennoch, ich erkannte unseren Namen auf dem Deckel des Buches. Es war eingraviert worden, auf einer goldenen Plakette die wie ein kleines Schild aussah. GILBERT. Meine Tante legte es mir auf den Schoß und antwortete auf die Frage die mir wahrscheinlich deutlich ins Gesicht geschrieben stand.
»Das ist die Geschichte deiner Familie, deiner Vorfahren und deine eigene.«
Ich verstand nicht was das bedeuten sollte. »Hast du es gelesen?«
Hoffnung lag in meiner Stimme. Ich hatte nicht die Geduld mir das ganze Buch durchzulesen um endlich zu wissen was genau hier eigentlich los war. Immerhin hatte ich wirklich keine Ahnung. Mir ging es gut und außer meinem komischen Alptraum hatte sich nicht wirklich etwas geändert.
»Natürlich, Schatz.«
»Erzähl weiter.« bat ich.
Wendy nickte und schenkte mir ein Lächeln. »Vor ein paar Jahrhunderten ist es das erste Mal bekannt geworden. Einer deiner Vorfahren, ein gewisser Alonis Gilbert war etwas was man in unserer heutigen Zeit als Wissenschaftler bezeichnet. Er hat viel geforscht und am Ende sehr viele Reisen unternommen. Er ist überall in der Welt auf der Suche nach Sachen gewesen die ihm Ruhm und Reichtum bringen konnten. Alles in allem war er ein sehr oberflächlicher Mann. Früher konnte es eigentlich egal sein wer was fand nur wenige überlebten lange Strecken, schließlich gab es keine Autos oder Flugzeuge doch Alonis Gilbert war der festen Überzeugung, dass die Welt sich ändern würde wenn nur erst mal der erste Schritt gemacht worden war. Am Ende wurde er allerdings von seiner Gier angetrieben. Jeder der ein bisschen Menschenverstand hatte wusste das es mit ihm kein gutes Ende nehmen konnte und so war es schließlich. Er starb bei einer seiner Unternehmungen. Zurück ließ er eine verzweifelte Frau und zwei Kinder. Über die letzten Jahrhunderte verteilt hat dein Stammbaum immer überlebt und keiner ahnte, dass ihr etwas besonderes wart. Vor ungefähr 100 Jahren..« Wendy machte eine Pause und verzog das Gesicht. »Tut mir leid, die Aufzeichnungen sagen nicht genau wann. Das ungefähr stört irgendwie immer, find ich.«
Irgendwie gelang es mir sie nicht ungläubig anzustarren. Ein kleines Lächeln stahl sich auf meine Lippen ehe Wendy weitersprach. Wie von selbst konzentrierte ich mich wieder auf ihre Stimme und auf ihre Worte. Noch nie hatte mich Geschichte wirklich interessiert, aber ich hatte das Gefühl das der spannende Teil jetzt kommen würde. Und ich fühlte, dass es mein Leben verändern würde.
Die Bäume vor unseren Fenstern flogen vorbei.
Mir war nicht aufgefallen, dass wir bereits die Stadt umrundet hatten. Ich erkannte einen Teil der Läden wieder und der Name meines Lieblingskaffees blinkte in einer grünen Leuchtschrift über einem der Gebäude. Wir waren fast wieder bei unserem Haus.
Ich fragte mich wozu wir überhaupt losgefahren waren wenn sie noch nicht einmal vor hatte irgendwo anzuhalten geschweige denn mir irgendwas bedeutendes zu zeigen.
Wendys Stimme drang wieder an mein Ohr und ich lauschte ihr gespannt.
»Als vor 100 Jahren ungefähr eine Frau Namens Joanne Gilbert auftauchte und sich in dieser kleinen Stadt niederließ kam jedoch ein Geheimnis ans Licht, dass hier alles verändert hat. Für viele. Shadow Falls ist seit dem eine der meist besuchten Städte für.. Wie soll ich sagen? Für alle die anders sind als normale Menschen.«
Ich zog eine Augenbraue hoch. »Du sagst die ganze Zeit das wir anders sind. In wie fern anders? Was unterscheidet mich denn von dir?«
Sie lachte kurz auf. »Darf ich dir die Geschichte zu Ende erzählen?«
»Klar.« Ich lächelte und Wendy zwinkerte mir zu.
»Joanne war anders auf eine Art die niemand verstand. Sie lebte völlig zurückgezogen und man sah sie nur selten auf der Straße. Wenn man sie sah, dann war sie alleine und niemand kam irgendwie an sie heran. Sie war eine Einzelgängerin. Als sie schließlich 2 Jahre hier lebte wandte sie sich doch an die Öffentlichkeit. Es war das erste Mal, dass jemand sie richtig sprechen hörte. Sie plante eine Schule zu bauen. Eine Schule am hinteren Ende der Stadt. Sie sollte für die Schüler sein die in ihrem Leben schon einmal etwas getan hatten wofür sie keine Erklärung hatten. Doch es ging nicht darum, dass jemand sich ein Kleid gekauft hat und sich dann fragte wieso eigentlich, weil es auf einmal nicht mehr ihrem Geschmack betrat. Es ging um Teenager die Magie anwenden konnten oder auf eine andere Art irgendwie übernatürlich waren. Übermenschlich.« Wendy zögerte und sah mich misstrauisch an. Offensichtlich sollte ich etwas sagen.
»Was meinst du damit?« fragte ich schließlich.
»Die Leute die diese Schule besuchten waren das was man heute Hexen nennen könnte. Oder Werwölfe. Jegliche Art von Wesen die wir immer nur in unserer Fantasie kannten haben sich angemeldet und dort gelernt wie sie mit ihrem Schicksal umgehen und wie sie es anwenden können.«
Ich musste schlucken. Das konnte nur ein doofer Scherz sein.
Oder ein schlechter Traum.
»Das.. Ich.. Wie?.. Das ist doch unmöglich, oder?« stammelte ich. Nun waren es MEINE Hände die zitternd den Griff an der Tür umklammerten. Und MEIN Herz was so schnell schlug, dass es mir schwer fiel richtig zu atmen. Und es war MEIN Leben worüber wir hier gerade sprachen. MEIN Leben was eventuell auf irgendwelchen Mythen aufgebaut war.
Wendy schüttelte den Kopf und parkte das Auto.
Ich sah mich verwirrt um.
Wir standen auf einem Parkplatz nicht weit entfernt von unserem Haus. Ich war schon öfter mit dem Bus an dieser Stelle vorbei gefahren ohne mich jedoch richtig umzusehen. Jetzt tat ich das. Der Platz wurde von kleinen Bäumen umrundet die alle in verschiedene Formen geschnitten waren. Einer sah aus wie eine Frau. Sie war mit einem Bogen bewaffnet und zielte auf etwas das meinen Augen verborgen blieb. (Klar, es war auch nur ein Baum. Sie zielt natürlich auf nichts spezielles.) Andere sahen aus wie Fabelwesen für die ich keinen Namen hatte. Bunte Blätter flogen umher und verliehen dem ganzen einen irgendwie eigenartige Note. Magisch.
Hinter den Bäumen waren zwei Hügel. Der vordere etwas kleiner, der hinter war riesig. Dahinter hätte locker eine ganze Stadt liegen können und man hätte sie hier nicht sehen können. Es war erstaunlich wie mich dieser Ort faszinierte.
»Wo sind wir hier?«
Wendy stand einige Meter von mir entfernt. Sie beäugte mich skeptisch.
Irgendwas in ihrem Blick sagte mir, dass sie auf einen Gefühlsausbruch oder ähnliches wartete. Immerhin hätten viele wahrscheinlich anders reagiert.
Möglichkeit 1) Ich hätte einfach die Tür vom Auto aufreißen können und mich im fahren rausschmeißen können. Nicht zu vergessen hätte ich einen dramatischen Schrei ausstoßen müssen um meiner Panik Ausdruck zu verleihen.
Möglichkeit 2) Ich hätte mich einfach dazu entscheiden können dem ganzen keinen Glauben zu schenken. Ich hätte mich dagegen wehren können. Tante Wendy hätte nach Hause fahren müssen und ich hätte ihr verboten auch nur ein weiteres Wort darüber zu verlieren.
Ich jedoch, verrückt wie eh und je, entschied mich für etwas ganz anderes. Ich glaubte ihr UND ich wollte weiter zuhören. Ich wollte wissen was los ist und ich wollte vielleicht sogar ein Teil von dem ganzen sein wenn es stimmte. Mich interessierte es zu welcher Art übernatürlichem Wesen ich gehörte und ich wollte dem ganzen eine Chance geben. Mein Leben hatte sich vor drei Monaten so schlagartig verändert, dass ich mir einfach wünschte, dass etwas geschah was wieder frischen Wind in die Segel brachte.
Vielleicht war das genau das richtige.
Wendy seufzte und kam dann langsam näher. Sie hob eine Hand und zeigte auf die beiden Hügel die ich vor wenigen Augenblicken selbst entdeckt und beobachtet hatte. »Dahinter liegt die School of Mystik.« erklärte sie. »Sie wurde so gebaut, dass man sie von der Stadt nicht sehen kann. Die Einwohner von Shadow Falls waren früher nicht sehr angetan von der Vorstellung das überall übernatürliche Menschen herumlaufen würden und sie haben das zur Bedingung gestellt. Keiner der Wesen die dort lebten durften die Stadt betreten bis vor ungefähr 40 Jahren. Mit der Zeit sind die Anwohner lockerer geworden. Sie haben nicht mehr an die Geschichten geglaubt und hielten es mehr für eine Art Internat wo die Kinder aus anderen Ländern leben konnten wenn ihre Eltern zum Beispiel beruflich unterwegs waren. Es lebt sich seitdem leichter für euch.«
Wir sahen eine Weile schweigend in die Ferne während jeder seinen Gedanken nachging. Irgendwann, ich wusste nicht wie lange wir einfach nur da gestanden hatten trat Wendy nach vorne. Sie deutete mir zu folgen. Mit langsamen Schritten ging ich hinterher auf die beiden Hügel zu. Je näher wir kamen umso mehr wurde mir bewusst, dass es von weitem größer aussah als es eigentlich war. Die Schule war riesig. Mir stockte der Atmen als ich das Gebäude in eine Art Kuhle sah. Deshalb konnte man sie also nicht sehen!
Wir überquerten eine kleine Brücke die mich an eine Zugbrücke aus den alten Ritterfilmen erinnerte und betraten eine Eingangshalle die ungefähr drei Mal so groß war wie unser ganzes Haus. Ich konnte nicht anders als stehen zu bleiben und mich umzusehen.
Es war erstaunlich hell und freundlich eingerichtet.
Ich konnte mir nicht vorstellen, dass hier irgendwelche übernatürlichen Wesen leben sollten und mich wunderte es nicht, dass die Bewohner von Shadow Falls es für ein Internat hielten.
Auch von innen konnte es locker als eins durchgehen. Eins für Kinder mit reichen Eltern.
An den Decken hingen große Kronleuchter in der Größe eines Kleinwagens. Sie strahlten gleichmäßiges Licht aus, sodass man trotz der vielen Lampen nicht geblendet wurde.
An den Wänden hingen große, unzählige Gemälde. Sie waren alle unterschiedlich. Einige zeigten große Schlachten. Überall war Blut und ich konnte Waffen erkennen. Andere zeigten bunte Lichter die aus der Hand einer Frau kamen. Wieder andere zeigten gar nichts was man erkennen konnte. Sie waren alle wunderschön und fesselnd. Die Rahmen die, die Bilder umschlossen sahen wirklich teuer aus. Für jeden Sammler wäre das hier das Paradies gewesen, da war ich mir sicher! Einige der Bänke waren zwar besetzt, doch es gab niemanden der uns auch nur ansatzweise Aufmerksamkeit schenkte. Offensichtlich war es hier ganz normal, dass fremde ein und ausgehen konnten.
»Komm mit, Amelie.« sagte Wendy und legte mir eine Hand auf die Schulter. Sie drückte sie aufmunternd. »Ich bin mir zwar nicht sicher wie das hier abläuft, aber ich hab mir sagen lassen, dass James und Elisabeth dich sehen wollen.«
Ich zog eine Augenbraue hoch. »Sollte ich wissen wer das ist?«
»Das sind die Schulleiter hier.«
»Ah! Ok, dann gehen wir?«
Wendy nickte nur. Sie nahm meine Hand und führte mich durch die Eingangshalle. Sie öffnete eine große Holztür am Ende davon und betrat mit mir zusammen einen langen Gang. Er ähnelte vom Stil der Halle in der ich noch vor wenigen Momenten gestanden hatte. Es war halt eben keine Halle sondern ein Gang. Die Farben waren identisch und ich fragte mich sofort ob es irgendwo in diesem Schloss auch noch andere Farben gab.
»Ziemlich eintönig, oder?«
Meine Tante nickte und warf mir einen liebevollen Blick zu. »Stimmt. Aber! Man soll die Hoffnung nicht aufgeben. Lassen wir uns überraschen.«
Einige Meter und unzählige Bilder später gingen wir eine lange Wendeltreppe nach oben und blieben vor einer Tür stehen auf dessen Schild „Elisabeth und James. Schulleiter!“ stand.
Ich hatte die ganze Zeit meine Aufregung unterdrücken können doch nun hielt ich es für gar keine so gute Idee mehr hier her gekommen zu sein. Am liebsten hätte ich doch schreiend wegrennen sollen. Jetzt schlug mein Herz mir buchstäblich bis zum Hals.
Wendy warf mir einen tröstenden Blick zu. »Du schaffst das. Glaub mir, das ist das richtige.«
Ich konnte nicht antworten. Meine Angst schnürte mir die Kehle zu. Um nicht ganz so hilflos zu wirken zwang ich mich zu einem kleinen Nicken, ehe ich die Hand hob und an die massive Holztür klopfte. Eine weiche, freundliche Frauenstimme rief „Herein!“ und die Tür flog auf noch ehe ich die Chance hatte sie selbst zu öffnen.
Mir blieb der Mund offen stehen. Eine Frau mittleren Alters saß hinter einem Schreibtisch aus hellem Holz. Sie nahm ihre goldene Brille von ihrer viel zu perfekten Nase und lächelte mich so atemberaubend an, dass ich mir seltsam unbeholfen vor kam.
»Ah! Du musst Amelie Gilbert sein.« Sie stand auf und kam mit anmutigen Schritten auf mich zu. »Ich hab schon viel von dir gehört.«
Ich war nicht im Stande ihr zu antworten, sondern starrte sie einfach nur an. Sie lächelte, sah hinter mich und ihr Lächeln wurde noch breiter. »Wendy!« Die Frau vor mir, die offensichtlich Elisabeth war breitete die Arme aus und umarmte meine Tante mit einer Selbstverständlichkeit die mich staunen ließ. Ich hatte nicht gedacht, dass meine Tante sie kannte, nachdem wie sie vorhin über sie gesprochen hatte. Wahrscheinlich hatte sie mir nicht noch mehr erzählen wollen, sondern hielt es für angemessen wenn jemand der wirklich Ahnung hatte das übernahm. Als sie sich ausgiebig begrüßt hatten wandte Elisabeth sich wieder mir zu.
»Ich hoffe dir geht es gut?« Ich nickte und sie sprach weiter. »Ich nehme an deine Tante hat dir von dieser Schule erzählt und wer sie gegründet hat. Du kannst stolz auf deine Familie sein! Du hast bedeutungsvolle Vorfahren, wenn ich das so sagen darf.« In ihrer Miene lag eine Aufrichtigkeit die ich nicht verstehen konnte. Immerhin kannte sie mich gar nicht.
»Ähm, danke.«
Elisabeth ging um ihren Schreibtisch herum und ließ sich auf ihren Stuhl fallen. Zu meiner Überraschung war es ein ganz normaler Schreibtischstuhl den man drehen konnte.
»Was genau hat deine Tante dir erzählt?«
Ich überlegte. Es fiel mir schwer mich an alle Worte zu erinnern.
Wendy sah meinen hilfslosen Blick und übernahm das Wort. »Die Geschichte rund um die Schule und wie es hierzu kam. Ich hab den Rest noch nicht erzählt, Elisabeth. Ich dachte es ist besser wenn du es ihr sagst wenn sie hier ist. Mir hätte sie wohl eh nicht geglaubt.«
Elisabeth nickte und lächelte mich freundlich an.
»James ist leider nicht hier. Er hat eine bessere Ausdrucksweise um unseren neuen Schülern alles zu erklären. Jetzt hast du wohl das Pech, dass ich das übernehmen muss.«
Sie zog ein kleines Heft aus ihrer Schreibtischschublade und reichte es mir. Mit mechanischen, langsamen Schritten trat ich näher an sie heran. Das Heft war dicker als es von weitem ausgesehen hatte. Es ähnelte eher einem kleinen Buch.
Elisabeth bat mich die erste Seite aufzuschlagen und erklärte mir mit ihrer hellen Stimme was ich noch nicht wusste. Es fing an mit den ersten Schülern dieser Schule bis hin zum Unterricht der sich nicht viel von „normalen“ Schulen unterschied. Zu den allgemeinen Fächern Mathe, Sprachkunde und Künstlerisches Gestalten gab es allerdings noch Mythengeschichte, Kampfsport, Waffenkunde und Magie. Ich nickte zwischendurch um Elisabeth zu zeigen, dass ich ihr folgen konnte. Sie verstummte irgendwann nach ungefähr zwanzig Minuten und erhob sich wieder. »Den Rest erzähle ich dir auf dem Weg. Es wird Zeit, dass du dein Zimmer bekommst und auspacken kannst. Ich hoffe es macht dir nichts aus aber wir haben deine Sachen bereits herkommen lassen.«
Müde schüttelte ich den Kopf. Ich hatte nicht gut geschlafen und jetzt war es bereits spät in der Nacht. Die Vögel begannen bereits zu zwitschern. Ich hatte nicht gedacht, dass wir so lange gefahren waren. Ich gähnte. »Tut mir leid.«
Elisabeth nickte und Wendy entfuhr ein Lachen.
»Du musst dich dann verabschieden. Angehörige haben bedauerlicher Weise keinen Zutritt zum Rest der Schule. Aus Sicherheitsgründen. Es wird zu viel getratscht.«
Einen Augenblick blieb ich einfach nur fassungslos stehen.
Erwarteten sie beide ernsthaft das ich alleine, ohne einen Menschen den ich kannte, durch dieses Schloss wanderte? Sie sahen beide ziemlich ernst aus was mich seufzten ließ.
Wiederwillig trat ich auf meine Tante zu und drückte sie. »Danke.«
Wendy zog mich näher an sich. »Dafür brauchst du dich nicht bedanken.«
Als wir uns noch eine Weile einfach so gehalten hatten trat ich schließlich nach hinten und marschierte nervös hinter meiner neuen Schulleiterin her.
Sie führte mich zurück in den Gang durch den ich schon vor wenigen Stunden gegangen war und bog dann nach links. Eine Weile säumten weitere Bilder die Wände an der Seite, doch nach einigen weiteren Metern hingen keine mehr an den Wänden, Ritterrüstungen standen an der Seite. Zwischen ihnen gleichmäßige Abstände. Ich hatte das Gefühl, dass mich aus ihnen jemand beobachtete. Na super! Das versprach ein tolles Schuljahr zu werden.
Gruseliger konnte es nicht mehr werden!
Elisabeth ging einfach weiter. Sie achtete nicht wirklich auf mich und ich fühlte mich nur noch schlechter und nervöser. Was auch immer sie mir zeigen wollte – Es war ziemlich weit von ihrem Büro entfernt. Ich fragte mich wieso sie es nicht einfach in die Nähe der Schüler eingerichtet hatten. So wie es jetzt war konnten die Schüler doch machen was sie wollten ohne das wirkliche Gefahr bestand, dass man erwischt wurde, oder?
Ich warf Elisabeth einen unauffälligen Seitenblick zu. Sie hatte ein kleines Lächeln auf den Lippen und die Augen starr gerade aus gerichtet. Sie sah aus als müsste sie sich auf irgendetwas wirklich konzentrieren.
Währen ich irgendwann nicht mehr darauf achtete wohin wir eigentlich gingen bog Elisabeth sicher um sämtliche Ecken und blieb schließlich vor einer hellen Mahagonitür stehen.
»Da wären wir.« Das erste Mal seit wir losgegangen waren sah sie mich an.
»Hier wohne ich?«
Elisabeth nickte nur.
»Sind meine Koffer denn schon drin oder muss ich die irgendwo abholen?«
»Die sind bereits hergebracht worden. Du brauchst dich um nichts mehr kümmern.« Elisabeth zog ein Blatt Papier aus ihrem langen, hellgrünen Umhang. »Deine Mitbewohnerin heißt Jady Harrols. Sie ist in deinem Alter und ich denke ihr werdet euch gut verstehen. Gute Nacht, Amelie. Wir sehen uns dann beim Frühstück in genau..« Sie warf einen kurzen Blick auf ihre Uhr. »2 Stunden. Ich denke es ist am besten du legst dich solange noch hin.«
Ich nickte zustimmend. Elisabeth drehte sich um und verschwand. Erst als ich mir sicher war das sie mich nicht mehr sehen konnte stieß ich die Tür vor mir leise auf und schloss sie hinter mir wieder. Das Zimmer war leicht erleuchtet. Mir klappte die Kinnlage nach unten als ich sah woher das Licht kam. An der Decke hing ein Kronleuchter. Aber kein normaler. An dem goldenen Stangen hingen kleine Lampen in Form von Schleifen. Sie leuchteten in verschiedenen Farben und ließen das Zimmer genauso magisch erscheinen wie alles andere hier in diesem Schloss. Auf einem der Betten standen meine Koffer, auf dem anderen saß ein kleines Mädchen mit roten, wuscheligen Haaren. Sie trug nur eine kurze Shorts und ein Trägertop. Vor ihr stand ein Laptop der mit Stickern übersät war. Sie schien mich nicht zu bemerken. Ich ging zu meinem Bett, nahm meine Taschen runter und ließ mich darauf fallen.
Das Zimmer war beeindruckend, aber ich hatte keine Lust mich jetzt umzusehen. Dafür hatte ich die nächsten Tage noch genug Zeit. Jetzt wollte ich einfach nur schlafen.
Noch ehe mein Kopf das Kissen richtig berührte schlief ich auch schon.
Am nächsten Morgen, oder beziehungsweise nach den wenigen Stunden, wurde ich von einem lauten Knall geweckt.
»AU! VERDAMMT!«
Ich fuhr hoch.
Das Mädchen was ich vorhin schon gesehen hatte hüpfte durchs Zimmer. Sie hatte das Gesicht vor Schmerzen verzogen und hielt wackelte mit der Hand in der Luft herum.
Als sie sah wie erschrocken ich aussah blieb sie stehen und sah mich entschuldigend an.
»Oh nein. Hab ich dich geweckt? Das wollte ich nicht. Dieser Nachtschrank, die Schublade ist aufgeflogen! Es war keine Absicht, weißt du. Ich hab noch halb geschlafen und da kann das schon mal vorkommen bei Anfängern wie mir. Es tut mir wirklich schrecklich leid.« Sie sprach so schnell, dass ich sie kaum verstehen konnte. Mit schnellen, fast hüpfenden Schritten kam sie auf mein Bett zugehastet und streckte mir die kleine Hand entgegen.
Ihre Nägel waren rot lackiert und unzählige Armbänder klimperten bei den kleinsten Bewegungen. Sie lächelte nun und gab den Blick auf ihre Zähne frei. Vorne hatte sie eine kleine, fast unsichtbare Zahnlücke die sie irgendwie kindlich aussehen ließ. Ihre roten Haare standen immer noch ab und sie trug immer noch ihre Schlafsachen. Auf den zweiten Blick erkannte ich, dass sie ungefähr einen ganzen Kopf kleine war als ich. Ich schätzte sie so auf ein Meter sechzig. Neben meinen Eins dreiundsiebzig war das sehr klein.
»Ich bin Jady, wir wohnen zusammen, denke ich?«
»Amelie.« antwortete ich und nahm ihre Hand.
Sie drehte sich weg und ging zu ihrem Bett zurück. »Also, noch mal. Es tut mir sehr leid, dass ich dich geweckt habe! Du hast bestimmt kaum geschlafen. Wann bist du denn gekommen?«
Verwundert zog ich meine Augenbrauen zusammen. Sie hatte mich also wirklich nicht gesehen. »Vor zwei Stunden ungefähr. Du hast auf deinem Bett gesessen und irgendwas am Laptop gemacht. Ich wollte dich nicht stören und du hast mich wahrscheinlich nicht bemerkt, oder so. Auf jeden Fall hast du nicht reagiert.«
Ich kam mir irgendwie doof vor, weil ich mich nicht vorgestellt hatte, doch meine Sorge stellte sich als ziemlich albern heraus.
Jady lächelte gequält. »Weiß ich gar nicht mehr. Ich muss im Sitzen geschlafen haben. Das passiert mir manchmal, weil ich am Tag so viel zu tun habe. Ich bin sehr arrangiert was die Schule angeht und deshalb bin ich immer ziemlich müde Abends.«
Ich musste lachen. Im Sitzen geschlafen? Sie war mir sofort sympathisch.
»Verstehe.« sagte ich, hiefte meine müden Beine über die Bettkante und lächelte sie an. »Sag mal, wo kann ich mich hier fertig machen?«
Jady stand schwungvoll auf und ging zu einer Tür am Ende des Zimmers. Ich konnte nicht erkennen an welcher Stelle sie die Tür berührt hatte. Sie flog jedenfalls auf, was ich ziemlich cool fand. »Wie hast du das gemacht?« fragte ich.
Wieder verzog sie das Gesicht. »Ich bin eine Hexe. Das ist für mich nicht schwer.«
Ich konnte nicht anders, ich wurde wieder nervös. Schnell kramte ich eine schlichte, blaue, kurze Jeans, ein weißes T-Shirt und einen schwarzen Bolero aus meinem Koffer und ging durch die Tür die Jady eben geöffnet hatte.
Das Badezimmer war groß, sehr groß. Es gab eine Badewanne UND eine Dusche. Die beiden waren von einer Trennwand getrennt. Ich fühlte mich sogar fast wohl hier, auch wenn mir alles fremd war. Ich zog die Tür ohne ein Wort hinter mir zu, duschte mich im Eiltempo und zog mich an. Meine Haare ließ ich mir locker über die Schulter fallen.
Ein bisschen Maskara noch und fertig!
Ich sah zufrieden in den Spiegel. So konnte ich wahrscheinlich einen echt guten Eindruck machen. Und mal sehen wozu das hier gut war.
Als ich wieder zurück ins Zimmer kam lag Jady ausgestreckt auf ihrem Bett. Sie verschwand ebenfalls im Badezimmer und ich musste fast lachen als sie wieder herauskam.
Sie hatte sich ein buntes Tuch um die Stirn gebunden. Um ihren Hals hingen jetzt ebenfalls fast so viele Ketten wie an ihren Armen und ihre roten Haare waren gelockt. Ihre Klamotten waren so bunt, dass es bei jedem anderen wahrscheinlich albern ausgesehen hatte. Bei ihr jedoch nicht. Es verpasste ihr den letzten Schliff und ich fand es passte zu ihr.
»Ich weiß, ich klimpere und es ist zu bunt.« Ihre Miene verfinsterte sich.
Schnell schüttelte ich den Kopf. »Nein!« sagte ich laut. »Ich finde du siehst toll aus!«
Jady schenkte mir ein strahlendes Lächeln. »Echt? Danke.«
Ich gab ihr keine Antwort sondern nickte nur.
»Wir müssen los.« sagte sie schließlich nach einer Weile des Schweigens. Sie deutete auf ihre Armbanduhr (sie war neongelb) und rannte an mir vorbei. »Komm schon!«
Ich folgte ihr einen weiteren Gang entlang, eine Wendeltreppe nach oben, dann noch eine und blieb irgendwann völlig außer Atem vor einer Tür stehen. In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie eine so große, massive Tür gesehen. Fast hätte ich wieder den Mund aufgeklappt, doch ich konnte mich beherrschen.
»Wenn du mich fragst ist das alles hier viel zu protzig!« sagte Jady und tippte gegen die Tür. Mit einem leisen Knarren öffnete sie sich und wir traten ein.
Die Halle war nicht ganz so groß wie die Einganshalle, aber dennoch doppelt so groß wie unser Haus. Es standen lange Tische darin auf denen sich das Essen nur so stapelte.
Es erinnerte mich ein bisschen an die Große Halle von Harry Potter.
Die Lehrer saßen allerdings nicht an einem eigenen Tisch sondern hatten sich unter die Schüler gemischt. Sie unterhielten sich alle wie Freunde miteinander.
So etwas hätte es bei uns an der alten Schule nicht gegeben.
Jady nahm meinen Arm und zog mich hinter sich durch die Menge. Sie schuppste mich vorsichtig an einen der Tische und ließ sich neben mich fallen.
Vor uns saßen zwei Jungs, ungefähr ein oder zwei Jahre älter als wir und spielten mit ihrem Essen. Sie schienen Jady allerdings beide zu kennen. Als wir uns setzten unterbrachen sie ihr Spiel und grinsten uns breit an.
»Wen haben wir denn da, Jady? Zuwachs?« fragte der eine. Er sah so normal aus. Gar nicht wie ein übernatürliches Wesen. Seine blonden Haare hatte er nach oben gestylt. Er hatte braune Augen und trug stink normale Klamotten. Ich konnte zumindest keine Marke erkennen. Er hatte eine rauchige, fast krächzende Stimme die mich ein bisschen an meinen alten Mathelehrer erinnerte.
Jady lachte und knuffte dem Jungen über den Tisch weg in den Arm.
»Das ist Amelie.. Den Nachnamen weiß ich nicht. Sie wohnt mit mir zusammen seit heute.«
»Gilbert.« sagte ich. »Amelie Gilbert.«
Alle drei und zwei weitere an unserem Tisch sahen mich ungläubig an. Ich starrte zurück. Ein bisschen erschrocken, ein bisschen verwirrt. Was war jetzt los?
»Gilbert? Wie die Gilbert die diese Schule gegründet hat?« Der andere Junge, ein dunkelhaariger, ebenfalls braunäugiger, eher schlaksiger Typ wandte sich neugierig an mich.
Ich nickte. Mir war bis eben nicht bewusst gewesen, dass das hier irgendeine Rolle spielen würde. Ich meine wie lange war das jetzt her? Ein Jahrhundert?
»Krass.« sagte der Junge.
»Jetzt ist gut, Jungs. Starrt sie nicht so an!« Jady sah die beiden finster an und schenkte mir ein entschuldigendes Lächeln. »Sie können sich nicht benehmen. Das liegt in ihrer Natur.«
»Ihrer Natur?«
Jady nickte. »Jep. Werwölfe.«
Meine Augen weiteten sich. Werwölfe? Ich meine, echte Werwölfe?
Mir wurde ein bisschen schwummerig als mir klar wurde mit wie vielen eigentlichen Legenden ich jetzt zusammen wohnte. War das nicht irgendwie auf ein bisschen gefährlich? Immerhin hatte ich in vielen Büchern gelesen und in vielen Filmen gesehen, dass Werwölfe sich nicht sonderlich gut unter Kontrolle hatten wenn sie sich einmal verwandelt hatten. Mal abgesehen davon, dass ich es mir ganz schön schwierig vorstellte alle Schüler die sich bei Vollmond verwandelten unter Kontrolle zu halten.
»Ich wette einen Schein, dass sie gleich umfällt.«
»Die Wette gilt.« Die beiden Jungs klatschten ab und beobachteten mich neugierig.
Jady funkelte die beiden wütend an, sagte jedoch nichts. Sie schien sich wirklich Sorgen um meine seelische Verfassung zu machen.
»Amelie, ist alles in Ordnung?«
Ich nickte schwerfällig, atmete einmal tief ein und wieder aus und lächelte dann. »Klar.«
Jady entspannte sich ein wenig. »Ok. Also. Das sind Brady und David.« sagte sie und zeigte jeweils auf einen wenn sie den Namen nannte. Der blonde war Brady, der dunkelhaarige David. Sie grinsten immer noch, wobei Brady einen nicht ganz so zufriedenes Gesicht machte. »Ich schätze, du gewinnst..« sagte er und drückte David einen Schein in die Hand.
Um nicht wirklich in den nächsten Minuten irgendwann umzukippen schnappte ich mir etwas von einem der Teller und steckte es mir langsam in den Mund. Die kleinen runden Bälle waren mit Vanillepudding gefüllt und schmeckten köstlich.
Ich nahm mir noch zwei und fühlte mich gleich besser.
»Zu welcher Rasse gehörst du eigentlich?« fragte Brady und sah mich neugierig an. »Ich meine, die Gilberts haben das hier zwar gegründet, aber kaum einer äußert sich darüber.«
Einen Augenblick lang überlegte ich ob Elisabeth oder Wendy was gesagt hatten, doch mir fiel nichts mehr ein.
»Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Es war alles ein bisschen hektisch.«
Jady verschluckte sich an ihrem Toast. Sie sah mich ungläubig an.
»Dir hat niemand etwas gesagt? Das ändern wir, komm mit. Wir gehen zu James.«
Brady und David standen ebenfalls auf. Offensichtlich wollten sie auch mitkommen. Zusammen gingen wir zurück durch die verschiedenen Gänge und klopften an eine Tür viel näher an unseren Zimmern als das Büro in dem ich und meine Tante mit Elisabeth gesprochen hatten. Eine warme, sehr tiefe Stimme bat uns einzutreten.
Hinter dem Schreibtisch saß der dunkelhäutige Mann aus meinem Traum. Er lächelte erfreut als er mich sah und sprach mit einem komischen, mir unbekanntem Akzent.
»Ah, Amelie Gilbert! Wie schön dich zu sehen! Setzt euch, meine lieben!«
Jady grinste und zog eine Grimasse in meine Richtung. Ich grinste zurück.
Mir fiel auf, dass ich sie wirklich mögen könnte, wenn wir uns näher kannten. Sie war irgendwie verrückt. Auf eine liebevolle Art.
Jady ergriff sofort das Wort. »James, wir wollen nicht stören.«
»Ihr stört doch nicht! Ich freu mich wenn mich mal jemand von meinen Schützlingen besuchen kommt. Was habt ihr auf dem Herzen?«
»Amelie wurde noch nicht erklärt zu welcher Art sie gehört. Sie wissen ja, dass so was hier einer der ersten Fragen ist und deshalb sind wir hier.«
James verzog das Gesicht. »Elisabeth hat es dir nicht gesagt?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Joanne Gilbert, von ihr hast du sicherlich gehört?«
Dieses Mal nickte ich. James lächelte.
»Sehr gut! Zuerst muss ich dir sagen, dass es hier nicht viele von deiner Art gibt. Streng genommen sind es ungefähr 10 von knapp 3000 Schülern.«
Na Super. Ich war so was wie ein wandelnder Freak oder was?
Eigentlich hatte ich nicht damit gerechnet, dass ich es hier schaffen würde aufzufallen.
Jady, David und Brady schienen zu ahnen was ich war. (Oh gott, wie sich das anhörte.)
Sie atmeten alle drei scharf ein und grinsten dann erfreut. Offensichtlich war es etwas tolles was sie gerade erraten hatten.
»Du gehörst zu der Gruppe der Vampire.« sagte James und wieder lächelte er.
Ich riss die Augen auf. Vampir? Ich und ein Vampir? Das konnte nicht sein. Vampire tranken Blut, ich nicht. Vampire verbrannten in der Sonne, ich nicht.
Mir wurde dieses Mal richtig schlecht. Ich würgte ein paar Mal und hielt mir die Hand an den Magen. James sah erschrocken aus.
»Bitte nicht auf den Teppich! Hier!« Er stellte einen Eimer vor mich. Gerade rechzeitig, wenn ihr versteht was ich meine. »Ganz ruhig! Eigentlich bist du noch gar keiner. Du verwandelst dich noch.«
Ich wischte mir den Mund ab. »Was heißt das?«
»Du brauchst Blut damit du dich verwandeln kannst. Dein ursprüngliches Wesen tritt nur dann in Kraft, wenn du es herauslockst. Blut ist so fast das einzige was Vampire locken kann. Allerdings würde es dir nicht gut tun, wenn du es nicht machen würdest. Du brauchst das. Es ist deine Natur! Ihr braucht Nährstoffe und eure Nährstoffe sind im Blut vorhanden!«
Ich kniff die Augen zusammen und sah ihn stirnrunzelnd an. »Also muss ich mich entscheiden ob ich den Rest meines Lebens so was wie krank bin oder ob ich ein Monster werde? Ich meine, das wäre ich doch dann, oder?«
James schüttelte energisch den Kopf. »Aber nicht doch, mein Kind!«
Jady hatte die ganze Zeit nichts gesagt. Langsam drehte sie sich zu mir um und schüttelte ebenfalls den Kopf. »So darfst du das nicht sehen, Amelie. Ich kenne ein paar Vampire von hier. Du bringst schließlich niemanden um. Es gibt andere Möglichkeiten.«
»Und welche?«
Ich wandte mich wieder an James als ich merkte, dass Jady mir nicht antworten wollte.
James hatte wieder ein Lächeln aufgesetzt. »Wir haben etwas - ich nenne es Saft, weil es wirklich fast genau das gleiche ist. Du bekommst etwas davon.«
»Was ist es?«
»Getränke in verschiedenen Geschmacksrichtungen. In ihnen ist ein kleiner Anteil Menschenblut. Du wirst es kaum schmecken und daher besteht keine Gefahr, dass du jemanden angreifst, weil du noch mehr möchtest.«
Ich runzelte die Stirn. »Woher kommt das Blut?«
»Es gibt einige Menschen hier in Amerika die sehr wohl bereit sind etwas zu spenden für uns. Sie arrangieren sich sehr für uns.«
Für einen Moment wurde mir wieder übel.
Eine lebendige Blutbank also. Lecker.
James stand auf. »Es tut mir leid, meine lieben. Aber ich hab noch zu tun. Seit so gut und holt Amelie doch bitte etwas zu trinken wenn sie sich dazu entscheidet, ja?«
Jady, David und Brady nickten. »Ja, Sir.«
Mir kam das alles irgendwie nicht real vor. Es erinnerte mich an die Bücher, Serien und Filme nach denen alle meine damaligen Schulkameraden so verrückt gewesen waren.
Sally hatte doch einmal tatsächlich geäußert, dass sie gerne ein Vampir gewesen wäre und jetzt saß ich hier und wurde dazu motiviert Blut zu trinken damit ich einer wurde.
Ich selbst hatte die Bücher niemals angerührt und sofort den Kanal gewechselt, wenn so etwas wie „Tagebuch eines Vampirs“ oder „Moonlight“ anfing. So etwas blödes.
Ich konnte noch gar nicht richtig glauben, dass ich nun hierher gehörte.
Gestern hatte ich mich noch gefreut und das hier als Chance angesehen. Jetzt jedoch fiel es mir schwer mich überhaupt über irgendwas zu freuen. Eine Hexe sein, schön und gut. Da wäre ich wenigstens zu etwas im Stande gewesen. Werwolf, ja. Und was gab es hier noch? Ich wusste noch nicht einmal das! Mir kam es so vor als wenn man mir überhaupt gar nichts erzählt hatte. Elisabeth hatte mich vollkommen ins offene Messer rennen lassen!
Wut durchfuhr mich. Wieso musste ausgerechnet mir so etwas passieren?
Mit müden Schritten folgte ich den anderen dreien hinaus auf den Gang und zurück in den Speisesaal. Ich hatte keinen Hunger mehr und ich interessierte mich nicht genug für die Gespräche der anderen um zuzuhören. Also ging ich meinen Gedanken nach.
James hatte gesagt, dass ich mich dazu entscheiden sollte entweder 1) das Blut zu trinken und zu einem Vampir zu werden, der bei jeder zu großen Menge Blut wahrscheinlich völlig durchdrehen würde. Oder 2) es nicht trinken sollte und mich dann dazu entscheiden sollte den Rest meines Lebens Schmerzen und etwas zu haben von dem ich selbst überhaupt keine Ahnung hatte. Was also sollte die bessere Möglichkeit sein? Schade, dass ich nicht einfach vergessen konnte was sie mir erzählt hatten und eventuell wieder nach Hause zu Wendy konnte. Hier würde ich mich doch niemals wohlfühlen. Oder?
»Jady?« Ich drehte mich meiner Zimmermitbewohnerin.
Sie unterbrach ihr Gespräch und lächelte mich an. »Was ist los, Amy?«
Ich sah sie stirnrunzelnd an. Amy? Jetzt gaben sie mir hier schon Spitznamen. Mir gefiel das irgendwie. Es zeigte, dass ich hier willkommen war, oder? Immerhin würden sie sich sonst die Mühe nicht machen. Das erste Mal fühlte ich, dass ich und Jady gute Freunde werden konnten und auch Brady und David schienen gar nicht übel zu sein. Sie grinsten jedes Mal wenn mein Blick einmal zu ihnen wanderte und ihre neckenden Kommentare waren alles andere als Ernst zu nehmen. Es fiel mir leicht in ihrer Nähe ebenfalls zu lachen.
»Ich hab mich gefragt was es hier sonst noch für Wesen gibt. Und wieso ich eigentlich hier bin. Kann ich noch etwas anderes außer Blut trinken und im schlimmsten Fall Menschen umbringen? So etwas wie in den Filmen wie enorme Schnelligkeit? Stärke? Gutes Gehör? Das wäre immerhin ein bisschen praktisch!«
Brady und David unterbrachen ebenfalls ihr Gespräch und hörten nun bei uns zu.
»Außer Vampiren, Hexen und Werwölfen gibt es hier noch die Amazonen. Das sind sehr geschickte Bogenschützen. Sie verfügen über übermenschliche Geschicklichkeit und Gabe die irgendwie in der Lage ist Stimmungen zu erahnen. Wenn jemand lügt, dann können sie das spüren.«
Mir fiel der Baum auf dem Parkplatz ein und ich konnte mir leicht ein Bild von den Amazonen machen. »Sind die immer weiblich?«
Jady schüttelte den Kopf. »Nein, nicht immer. Aber die meisten schon. Jungs sind wahrscheinlich einfach nicht in der Lage so etwas wie Stimmungen zu erahnen. Sie haben von so etwas keine Ahnung, glaub mir.« Sie schnitt eine Grimasse und lachte über die wütenden Blicke von Brady und David. »Ich mache nur Witze. Die männlichen Amazonen sind meistens noch geschickter als die weiblichen aber mit den Stimmungen haben es die weiblichen leichter. Das muss also wirklich am Geschlecht liegen!«
»Und außer den Amazonen?«
»Es gibt noch ein paar Heiler. Sie können durch Berührung Schmerzen und Krankheiten heilen. Ihre Fähigkeit verbessert sich mit dem Alter. Je jünger die Heiler sind, desto kleinere Krankheiten können sie heilen. Wenn sie älter sind dann fällt ihnen das leichter. Manche sehr gute Heiler sind in der Lage Krebs und Folgen eines Schlaganfalls zu heilen.«
Ich fragte mich ob es möglich gewesen wäre meine Eltern zu retten nach ihrem Unfall. Noch ehe ich richtig drüber nachgedacht hatte verbot ich mir den Gedanken wieder.
Es änderte sowieso nichts und jetzt musste ich für mich eine Entscheidung treffen.
Eigentlich hatte ich das schon getan als James mir gesagt hatte, dass es mir ohne Blut schlecht gehen würde. Ich MUSSTE das machen.
»Zurück zu meiner ersten Frage.« Ich nahm mir eine Weintraube und rollte sie in meiner Hand hin und her, ehe ich sie in den Mund steckte. »Kann ich auch irgendwas anderes?«
Jady lachte auf. »Eigentlich ist es genau wie in den Filmen und Serien. Du bist schneller als Werwölfe, schneller als ich und viel schneller als Menschen. Wenn du dich anstrengst oder besser gesagt konzentrierst, dann kannst du ziemlich weit hören und du bist stärker als jedes andere übermenschliche Wesen hier. Fast unbesiegbar.« Sie wuschelte mir durch die Haare und knuffte mich in den Arm. »Es ist wirklich nicht so schlimm wie es sich anhört. Die Vampire die außer dir hier sind, sind sogar zufrieden mit ihrem Schicksaal.«
Müde nickte ich. Mir tat der Kopf weh von all den Informationen. »Also schön. Können wir es gleich machen? Ich ändere sonst meine Meinung noch!«
Einige Stunden später saß ich mit Jady bei uns im Zimmer. Wir hielten beide eine kleine Glasflasche in der Hand die mit einer roten Flüssigkeit gefüllt war. Irgendwie sah es doch sehr nach Blut aus auch wenn alle mir versichert hatten, dass es nicht viel war.
Jady hatte mir zur Bestätigung sogar noch eine gezeigt die noch zur Hälfte mit einer gelben Flüssigkeit gefüllt war und ich machte mir nun ein bisschen weniger Sorgen.
»Los, nun trink!« Jady nickte mir aufmunternd zu und lächelte. »So schlimm wird das nicht sein. Du hast doch gehört was die anderen gesagt haben!«
Ich erinnerte mich nur undeutlich an die Worte von den beiden anderen Vampiren die wir in der Kühlkammer getroffen hatten. Sie hatten versucht mich aufzumuntern, aber es fiel mir dennoch irgendwie schwer ihnen zu glauben. Klar, sie waren auch schon seit zwei Jahren hier. Vom Anfang ihrer Zeit hatten sie nichts erzählt und ich hatte meine eigene Vorstellung davon wieso sie das nicht taten.
Meine Hände öffneten zitternd den Drehverschluss der Flasche.
Langsam hob ich sie an den Mund und nahm einen großen Schluck.
Es schmeckte wirklich nur nach Saft und ich fühlte mich gleich besser.
»Weißt du wie viel ich davon trinken muss?«
Jady schüttelte den Kopf. »Die kleine Flasche wirst du ja wohl schaffen, oder?«
Ich nickte, nahm noch einen Schluck.
Es dauerte nicht lange, aber ich das Zeug war so süß, dass mir schlecht wurde.
Meine Digitaluhr zeigte 10 Uhr Abends an und ich entschied mich dazu mich hinzulegen und zu schlafen. Jady hatte mir erklärt, dass sich der Prozess im Schlaf vollziehen würde und ich wollte das alles so schnell wie möglich hinter mich bringen.
Kurz bevor ich die Augen schloss fiel mir noch eine Frage ein die mein Herz höher schlagen ließ. »Jady?«
Sie hob ihren Kopf vom Kissen, schaltete das Licht an und sah mich besorgt an. Offensichtlich machte sie sich Sorgen. »Ja?«
»Wenn ich wir einer der Vampire aus den Serien bin.. Sterbe ich auch?«
Ihrem Gesicht nach zu urteilen war es genau die Frage von der sie gehofft hatte, dass ich sie nicht stellen würde. Irgendwann, eine gefühlte Ewigkeit später antwortete sie doch.
»Ja. In gewisser Weise schon.«
Ich nickte und lächelte sie dankbar an. »Danke, Jady. Ich weiß das sehr zu schätzen, dass du ehrlich zu mir bist. Bis morgen, schlaf gut.«
Diese Nacht würde ich also sterben..
Am nächsten Morgen wurde ich sehr spät wach.
Jady rannte bereits fertig gemacht durchs Zimmer. Sie schien nervös zu sein.
Immer wieder warf sie hektische Blicke in meine Richtung bis sie registrierte, dass ich die Augen geöffnet hatte. Mit schnellen Schritten kam sie auf mich zu, ließ sich neben mich aufs Bett plumpsen und sah mich mit besorgtem Gesicht an.
Unter ihren Augen waren dunkle Ringe die darauf hindeuteten, dass sie nicht wirklich viel geschlafen hatte. »Ist alles in Ordnung? Wie fühlst du dich?«
Einen Augenblick lang überlegte ich. Ich streckte meine Beine aus, ließ meine Finger knacken und drehte meinen Kopf einmal nach links und einmal nach rechts.
»Normal.« stellte ich fest. Das einzige was überhaupt nicht normal war, war der kleine Schmerz in meinem Kiefer, das Glänzen meiner Haare und das Brennen in meinen Augen. (Morgens hatte ich normalerweise NIE irgendwelche Schmerzen. Abgesehen von Herzschmerz natürlich.)
Ich seufzte und setzte mich langsam auf. »Meine Augen brennen und ich hab einen leichten Druck auf meinem Kiefer aber sonst fühl ich mich ganz gut.«
Jady warf einen prüfenden Blick auf meine Augen und lächelte. »Sie sind andersgeworden.« sagte sie und hielt mir einen kleinen Spiegel hin. Ich sah hinein und erschrak.
»Was ist das um Himmels Willen?« Schei*e. Meine Augen hatten nicht mehr das dezente, unauffällige Braun. Sie waren beige! Mit violetten Sprenkeln und dichten, schwarzen Wimpern. Sie sahen gruselig und wunderschön zugleich aus.
»NIEMAND HAT GESAGT DAS ICH MICH VERÄNDERE.« rief ich panisch aus. »Was ist sonst noch anders, Jady? Irgendwelche Symbole auf der Haut?«
»Beruhig dich Amy, du siehst toll aus. Da wäre allerdings wirklich noch etwas.« Sie verzog das Gesicht. »Versprich mir das du ruhig bleibst!«
Ich sah auf ihren Finger den sie drohend nach oben hielt und nickte unsicher. »Okay.«
»Ich weiß von den anderen, dass die weggehen sobald du dich unter Kontrolle hast. Auftauchen tun sie nur, wenn du wütend wirst oder Hunger beziehungsweise Durst hast, also keine Panik!« Wieder hielt sie den Spiegel vor mein Gesicht. »Lächele mal.«
Vorsichtig zog ich meine Mundwinkel nach oben und entblößte zwei Reißzähne. Sie waren zwar nicht übermäßig lang, sahen aber ziemlich spitz und unheimlich aus.
»Oh mein Gott!« Ich hielt mir die Hand vor den Mund und riss entsetzt die Augen auf. »Das ist nur ein schlechter Traum. Du hast keine Reißzähne, Amelie. Das ist unmöglich. Gleich wachst du auf und kannst drüber lachen!« Ich schloss die Augen und wartete. Doch ich wachte nicht auf. Als ich die Augen aufschlug stand ich immer noch neben Jady in unserem Zimmer und ich hatte immer noch furchtbare, spitze Eckzähne!
»Ich find du siehst ziemlich cool aus! Darf ich die mal anfassen?«
Wütend funkelte ich sie an. »Nein, du darfst meine Zähne nicht anfassen und jetzt nimm endlich den verdammten Spiegel runter bevor ich ihn dir aus der Hand schlage!«
Jady lachte schallend. »In Ordnung, reg dich weiter auf. Deine Zähne verschwinden dann allerdings gar nicht mehr. Ehrlich, Ams. Atme tief ein und aus.«
Oh, schon ein zweiter Spitzname. Super.
Auch wenn ich ziemlich wütend auf Jady und auf alle anderen auf dieser Schule eingeschlossen meiner Vorfahren war tat ich was sie sagte. Das letzte was ich wollte war mit Reißzähnen durch die Gegend rennen und wohlmöglich alle Leute in Angst und Schrecken zu versetzen.
»Spring unter die Dusche und entspann dich! Wir kriegen das hin!«
Eine Stunde und etliche Panikausbrüche später saßen wir zusammen mit Brady und David beim Frühstück. Jady erzählte ihnen in allen Einzelheiten was nach meinem Aufwachen geschehen war. Mit jedem Wort leuchteten die Augen der beiden heller.
»Du hast echt Reißzähne? Cool.« sagte Brady und David nickte zustimmend.
Genervt verdrehte ich die Augen. »Ich find das alles überhaupt nicht cool.«
»Ein bisschen cool ist das schon! Das ist echt selten, dass Vampire ihren Weg hierher finden. Komm schon, Amy. Lass uns die Freude.«
Mir fiel auf, dass mich die beiden bereits bei meinem Spitznamen ansprachen. Zu meiner Überraschung und trotz meiner Anspannung gefiel mir das. Ich hatte hier Freunde die zu mir hielten auch wenn sie mich gerade einmal 48 Stunden kannten. Und das war schon ein Grund zur Freude. Dazu kam das ich endlich zu etwas dazugehörte, auch wenn ich zu einer „Rasse“ angehörte die selten war. Sie akzeptieren mich nicht nur, sie respektierten mich!
Ich ließ meinen Blick durch den Speisesaal wandern und blieb an einem Jungen hängen der nicht weit von uns entfernt saß. Er war mir gestern nicht aufgefallen was mich ziemlich wunderte. Er schien zu merken, dass ich ihn ansah, denn er wandte sich ebenfalls zu mir. Schnell senkte ich meine Augen und sah auf die Tischplatte vor mir.
Aus den Augenwinkeln meinte ich ihn lächeln zu sehen.
Nach dem Essen verabschiedete ich mich von den anderen dreien und machte mich auf den Weg in die Bibliothek. Ich war sehr spät gekommen und hatte eine Menge nachzuholen. Außerdem wollte ich unbedingt mehr über Vampire erfahren und wo konnte ich da am besten anfangen? Richtig! Zwischen Regalen die mit Wissen nur so gefüllt waren.
Ohne wirklich darauf zu achten wo ich hinlief betrat ich mehrere verschiedene Räume und blieb schließlich vor dem richtigen stehen. Vorsichtig öffnete ich die Tür und ging nach drinnen. Hier unterschied sich so einiges von der Bibliothek in meiner alten Highschool.
Dort hatte man nämlich den Mund zu halten. Bei jedem kleinsten Geräusch wurde man entweder rausgeschmissen oder wenn man besonders viel Pech hatte zu einer Strafarbeit verdonnert. Hier waren so viele Schüler, dass es einem schwer fiel den Überblick zu behalten. Sie lachten laut, warfen mit Papier und zeigten sich die neusten Sachen die sie gelernt hatten. Zwischen ihnen erkannte ich einige Gesichter aus dem Unterricht wieder. Es schien keinen zu interessieren wie laut es war. Wie sollte man sich hier bitte konzentrieren?
Ich ging zu einem Regal worüber ein großes „V“ angebracht war, schnappte mir vier Bücher davon und machte mich damit auf den Weg zu einem der runden Tische in der hintersten Ecke. Ich hatte meinen Blick auf das erste Cover gesenkt und sah nicht, dass jemand auf mich zu kam. Mit einem lauten Knall rannte ich in einen anderen Schüler und ließ die Bücher auf den Boden fallen.
»Das tut mir wahnsinnig leid. Ich hab nicht aufgepasst.« Ich wendete meinen Blick von den Büchern auf dem Boden und sah in das Gesicht meines „Opfers“.
Es war der Junge aus dem Speisesaal. Er hatte schwarze, etwas längere Haare die ihm locker ins Gesicht fielen. Seine Augen waren hellgrüne Augen die von schwarzen, dichten Wimpern umrahmt wurden. Sein Mund war zu einem Lächeln verzogen. Seine weißen Zähne glichen denen aus einer Zahnpastawerbung. Auch wenn es eigentlich nicht meine Art war – Ich konnte nicht anders als ihn anzustarren. Er sah gut aus. Wirklich unwahrscheinlich gut, aber das war es nicht was meinen Blick fesselte. Es war seine Ausstrahlung. Er sah so selbstsicher aus! Und er hatte wirklich ein umwerfendes Lächeln.
»Kein Problem. Ich hätte auch aufpassen können. Ist alles okay bei dir?«
Ich nickte. »Ja, alles bestens. Ich bin etwas durcheinander. Normalerweise guck ich nach vorne wenn ich laufe. Tut mir wirklich leid.«
Er hockte sich hin und sammelte meine Bücher auf. »Echt, ist nicht schlimm. Aha! Du bist also die neue hier! Ich wusste doch, dass ich dich nicht kenne.«
»Woher weißt du das? Ist das so offensichtlich?«
Er schüttelte lachend den Kopf. »Eigentlich nicht. Es spricht sich rum wenn ein Vampir auftaucht. Da muss man immer hin vorsichtig sein das man sich mit dem nicht anlegt.« Er zwinkerte und zeigte mit einem Finger auf die Bücher. Klar, sie handelten alle von Vampiren.
»Oh, ich denke nicht, dass ich eine Gefahr für irgendwen darstelle. Ich hab keine Ahnung was genau ich kann, geschweige denn wie ich es anwenden könnte. Also, kein Grund zur Sorge.«
»Verstehe. Wollen wir uns vielleicht setzen?«
Hinter mir begannen die anderen Schüler zu flüstern und auf uns zu zeigen. Sie schienen sich über irgendwas zu ärgern. Vor allem die Mädchen schienen irgendwie wütend zu sein.
Verwirrt ließ ich mich dem unbekannten gegenüber auf einen der Stühle fallen.
Er lächelte unentwegt. »Ich bin übrigens Damian.«
»Amelie.« sagte ich und erwiderte sein Lächeln. »Wieso starren uns alle so an?«
»Ich weiß nicht. Wahrscheinlich sind sie neugierig was dich betrifft.«
Ich war nicht überzeugt. »Ah, alles klar. Und jetzt die Wahrheit, bitte.«
Damian lachte. »Du bist sehr aufmerksam. Okay, es liegt wohl daran, dass ich hier gerade mit dir sitze. Ich hab mir in den letzten Jahren einen gewissen Ruf zugelegt.«
»Was bedeutet, dass du...?« harkte ich nach.
»Ich bin der aufregende, geheimnisvolle Junge der mit niemandem ein Wort spricht.«
»Du sprichst gerade mit mir.«
Ich warf den Schülern hinter Damian einen wütenden Blick zu.
Mir gefiel es nicht angestarrt zu werden und noch weniger gefiel es mir wenn man es so auffällig machte. Es dauerte keine Sekunde da waren sie wieder da. Die Zähne.
Ich ließ ein leises Knurren hören. Einige der Schüler sahen mich nur erschrocken an, andere wandten schnell den Blick ab und wieder andere sahen jetzt vollkommen neugierig aus.
»Hey, Amelie! Ist alles okay? Du hast.. deine Zähne.« Damian tippte mir vorsichtig auf die Schulter. Er schien sich Sorgen zu machen, dass ich gleich auf irgendwen losgehen würde.
Ich nickte schnell, atmete tief ein und aus und klappte den Mund zu.
Wenige Augenblicke später fühlte sich mein Kiefer wieder normal an.
Das konnte heiter werden! Wenn das jedes Mal geschah wenn ich mich ein bisschen aufregte, dann würde ich bald nur noch mit den Dingern herumlaufen.
»Tut mir leid, ich bin momentan nicht ich selbst. Ich muss gehen. Machs gut.«
Mit eiligen Schritten verließ ich die Bibliothek. Ich rannte die dunklen Gänge bis zu meinem Zimmer und ließ mich dort auf mein Bett fallen.
Texte: Die Personen sind alle von mir ausgedacht. Ebenso wie die Geschichte. Die Rechte daran liegen also bei mir!
Tag der Veröffentlichung: 18.04.2012
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für meine Schwester Jessica ♥
Weil sie mich motiviert weiter zu machen, immer fleißig meine Geschichte liest und mir immer ihre ehrliche Meinung sagt!
Und natürlich für alle die mich hier unterstützen und meine Geschichte lesen! :*