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Prolog

Mit einem Mal schlug er die Augen auf. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, rotierte in seinem Brustkorb, als wollte es seine Rippen sprengen. Seine Kehle war wie zugeschürt und er brauchte wenige Sekunden, bis er wieder normal atmen konnte. Alles an seinem Körper schmerzte. Arme, Hände, Beine, Rücken und der Kopf. Hinter seinen Schläfen pochte es und Nadelstiche schienen seine Schädeldecke zu malträtieren.
Um ihn herum war es finster. Wenige Meter von ihm entfernt war ein Rechteck, durch welches fahles Licht herein strömte. Ein Fenster.
Langsam versuchte er aufzustehen, doch seine Beine gaben augenblicklich wieder nach und er sackte zurück auf den Boden. Seine Füße fühlten sich taub an, als wären sie ein Fremdkörper.
Er versuchte sich daran zu erinnern, wie er hierher kam. Doch sein Kopf war wie leer gefegt. Ein schwarzes Loch klaffte in seinen Erinnerungen. Er konnte sich nicht daran erinnern, wie er an diesen Ort gekommen war, er konnte sich nicht erinnern, was er am Tag zuvor getan hatte – mein Gott, er konnte sich ja nicht einmal an seinen eigenen Namen erinnern, geschweige denn wie alt er war.
Mit zitternden Händen fuhr er sich übers Gesicht. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn.
Es war ihm völlig unbegreiflich, dass er sich nicht an seinen Namen erinnern konnte. Er erinnerte sich an Schnee, an die Hitze der Sonne auf der Haut und an den Geschmack von Bananen. Doch wann er eine Banane gegessen hatte, wann er die Sonne auf der Haut gespürt hatte und wann er Schnee das letzte Mal gesehen hatte, das war weg. Als hätte man seine Erinnerungen wie Wörter auf einem Blatt Papier wegradiert.
Übelkeit brannte in seinem Magen und Panik kam in ihm auf. Was um alles in der Welt war nur mit ihm geschehen?
Noch einmal versuchte er aufzustehen, dieses Mal gelang es ihm sogar. Seine Beine zitterten zwar bedrohlich und fühlten sich wie Gummi an, doch er stand. Kurz schwankte alles um ihn. Mit den Händen hielt er sich an der Wand fest. Er fühlte vermodertes Holz und Staub. Es dauerte einige Augenblicke, bis sich der Raum nicht mehr drehte und er sich sicherer auf den Beinen fühlte. Zögernd ließ er von der Wand ab und atmete tief durch.
Alte, abgestandene Luft, verwittertes Holz und Autoabgase. Er durchforstete sein Gehirn, doch keine Erinnerungen schienen bei diesen Gerüchen wach geworden zu sein.
Na gut!, dachte er und rieb sich die schweißnassen Hände an der Hose ab. Sein Blick fiel wieder auf das Fenster. Wenn er es schaffte dort hin zu gelangen, dann würde er vielleicht wissen wo er war und vielleicht könnte er sich dann an etwas erinnern. Vorsichtig setzte er einen Fuß nach dem anderen. Seine Beine zitterten bedenklich stark, doch sie knickten nicht mehr weg. Die Schmerzen in seinem Rücken und seinem Kopf schienen bei jedem Schritt stärker zu werden, doch er ignorierte es. Er musste einfach wissen wo er war.
Er hatte die Hälfte des Raumes durchquert, als er aus der Ferne das zuschlagen von Autotüren hörte. Unwillkürlich zuckte er zusammen. Mit gespitzten Ohren lauschte er in die aufkeimende Stille und wartete auf das nächste Geräusch, dass vielleicht noch eine Tür zugeschlagen wurde. Doch dem war nicht so. Für einen kurzen Moment glaubte er Stimmen zu hören, doch das konnte genauso gut auch Einbildung sein. Möglicherweise war all das auch nur Einbildung, ein hässlicher Traum, aus dem er nicht erwachen konnte. Seufzend rieb er sich die Augen und verwarf den Gedanken wieder. Die Schmerzen waren definitiv echt, also konnte es kein Traum sein.
Plötzlich wurde eine Tür aufgestoßen und vor Schreck machte er einen Satz nach hinten. Seine Beine gaben nach und er stolperte an die Wand zurück, von der er gerade erst mühsam gekommen war. Etwas bohrte sich in seinen Rücken und schnürte ihm für einen kurzen Moment die Luft ab. Nach Atem ringend, versuchte er nicht wieder zurück auf den Boden zu sacken, während schwarze Schemen den Raum füllten.
Ein Klicken. Lampen sprangen an und erhellten eine kleine Holzhütte. An den Wänden hingen ausgestopfte Tiere und Bilderrahmen mit Bildern, die man durch die dicke Staubschicht nicht mehr erkennen konnte.
„Hier ist einer“, hörte er einen Mann mit dumpfer Stimme rufen. Augenblicklich wurden die Läufe diverser Schusswaffen auf ihn gerichtet.
Ein dunkelhäutiger Mann mit Glatze stapfte durch die Menschentraube, die sich gebildet hatte. Anders als die anderen war er nicht von Kopf bis Fuß in Schwarz gehüllt. Er trug die legere blaue Uniform eines Polizisten.


Detective Ryan Amstrong hatte die Schnauze voll, gestrichen voll. Seit nun mehr vier Stunden suchten sie nach dem verschwunden Mädchen und diesem Gott verdammten Schänder, der ihm schon seit Wochen schlaflose Nächte bereitete. Nun hatte er endlich geglaubt ihn zu finden und wer stand da vor ihm? Ein Hänfling mit zitternden Beinen und einem absolut verängstigen Gesicht. Konnte er der legendäre Broadway-Augenschäler sein? Ryan musste sich zusammenreißen, um nicht laut loszulachen.
Er blieb vor dem Jungen stehen und musterte ihn von oben bis unten. „Wie ist Ihr Name?“
Der Junge starrte ihn mit großen Augen an, schüttelte aber kaum merklich seinen Kopf. „Ich … ich weiß es nicht.“ Mit der Hand fuhr er sich durch sein wüstes Haar. „Ich kann mich nicht erinnern.“
Grundsätzlich konnte man Ryan Amstrong als geduldigen Menschen bezeichnen, doch auch diese fand irgendwann ihr Ende und dieser Punkt war nun endlich erreicht. Er packte den Jungen am Kragen, zog ihn hoch, damit sie auf Augenhöhe waren und versuchte aus seinem Frust, seiner Wut und dem unbändigen Hass keinen Hehl zu machen. „Was soll das heißen?“, fauchte er. „Wo ist sie?“ Nun wurde er deutlich lauter.
Dem Jungen schien das Herz in die Hose zu rutschen. Sein Blick ging gehetzt hin und her, als suchte er nach einem Ausweg aus dieser aussichtslosen Situation. So hatte sich Ryan den Augenschäler mit Sicherheit nicht vorgestellt, ganz im Gegenteil. „Ich frage dich noch einmal, wo steckt –?!“ Weiter kam er nicht. Seine Hände fassten auf einmal ins Leere und vor sich war nur noch die vermoderte Wand zu sehen, bestückt mit einem ausgestopften Hermelin.
„Was zum?“, brüllte er und fuhr herum. Der Junge stand direkt neben ihm und falls es möglich war, zitterte er nun noch mehr. Ryan formte seine Augen zu Schlitzen. Die Wut war für das erste verraucht und Neugierde und Sorge gewichen. „Was bist du?“, hauchte er, sodass nur der Junge vor ihm es hören konnte.
Wieder schüttelte er leicht den Kopf und blickte gequält vor sich hin. „Ich weiß es nicht.“
„Detective“, rief einer seiner Männer in die aufkeimende Stille. „Ein Krankenwagen ist unterwegs.“ Ryan fing sich wieder und rieb sich die Hände. „Gut“, sagte er und nickte beständig.
Es dauerte nur wenige Minuten, bis der Krankenwagen eintraf und sie den Jungen mitnahmen. Ryan stand noch immer vor der alten, verrotten Holzhütte, die Arme vor der Brust verschränkt und starrte ins Leere. Das alles ergab keinen Sinn.
„Ich glaube, wir können davon ausgehen, dass der anonyme Anruf ein Fake war.“ Es war Phil Barckley, ein unerträglich schlauer Hund, der Ryan schon des Öfteren bei einem Fall die Haut gerettet hatte. „War eigentlich auch offensichtlich. Niemand hat den Augenschäler zuvor gesehen, warum sollte es jetzt anders sein?“
Ryan brummte nur als Antwort. Er war nicht in der Stimmung für ein kleines Pläuschchen.
„Vielleicht solltest du hinterher fahren und sehen, ob der Junge vielleicht doch etwas weiß. Er wäre nicht der erste, der eine Amnesie spielt.“ Da Ryan nicht antwortete, fuhr er fort. „Ich halte hier so lange die Stellung. Werde jetzt die Hunde durch die Gegend hetzen lassen.“
Phil klopfte ihm auf die Schulter und drehte sich auch schon zum gehen um, ehe Ryan das Wort ergriff: „Es ist zum kotzen, man. Es ist einfach zum kotzen.“
„Wem sagst du das“, seufzte Phil und wandte sich schließlich einem Trupp mit Suchhunden zu. Die Hunde bellten aufgeregt, als konnten sie es kaum erwarten ihre Nasen in den Dreck zu stecken und nach landesweit gesuchten Serienmördern zu suchen.
Ryan sollte es recht sein. Er marschierte zu seinem Wagen, ließ sich auf den Fahrersitz nieder und startete den Motor, der leise aufschnurrte. Er lenkte den Wagen von der Hütte weg, fuhr einen holprigen Kiespfad entlang und schließlich über den Highway Richtung Stadt. Innerhalb von zehn Minuten würde er das Krankenhaus erreicht haben. Tausend Fragen gingen ihm durch den Kopf, während er an der Ampel rechts abbog, den Gang wechselte und sanft auf das Gaspedal trat. Ganz offensichtlich wollte jemand, dass der Junge gefunden wurde. Doch warum? Und warum konnte sich dieser an nichts erinnern? Diese und viele weitere Fragen spukten in seinem Kopf herum. Das Auto parkte er hundert Meter vom Krankenhaus entfernt am Straßenrand, bevor er eilig durch den Haupteingang schritt und mit erwartungsvollem Blick vor der Frau am Informationsschalter stehen blieb.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte sie mit einem Akzent, den Ryan nicht zuzuordnen wusste.
Ryan zückte seine Dienstmarke und hielt die der Frau unter die Nase. „Mein Name ist Detective Ryan Amstrong, einer meiner Zeugen befindet sich seit heute Abend in Ihrem Krankenhaus.“
Die Frau musterte zunächst die Marke und anschließend ihn, als glaubte sie, dass er selbst den Jungen verprügelt hätte. Doch schließlich warf sie einen Blick auf ihren Computer. „Dr. Tenorio hatte bereits gesagt, dass Sie hier aufkreuzen würden, Detective. Zimmer eins, null, neun.“
„Danke“, seufzte Ryan und rauschte auch schon an der Informationsdame vorbei.
Er hörte die Frau noch ein mürrisches: „Was auch immer“, murren und verschwand auch schon im Fahrstuhl. Quälend langsam fuhr der Fahrstuhl in den ersten Stock. Ryan drängte sich an einer Gruppe kichernder Mädels vorbei, die in den Fahrstuhl dazu stiegen und eilte den Gang entlang. Zimmer einhundertneun, einhundertneun, einhundertneun … da war es, ganz am Ende des Ganges. Ryan richtete seine Uniform und klopfte mit dem Fingerknöchel gegen die hölzerne Tür.
„Ja, bitte?“, hörte er eine tiefe Männerstimme. Ryan betrat ohne zu zögern den Raum.
Es war ein kleines Zimmer, mit einer verglasten Wand und mehreren Pulten, auf denen Bildschirme befestigt waren. Auf der anderen Seite der Glasscheibe konnte er sehen, wie sie den Jungen in eine weiße Röhre schoben.
„Detective Amstrong“, stellte sich Ryan kurz vor und hielt dem zuständigen Arzt kurz seine Marke entgegen, ohne den Blick dabei von dem Jungen abzuwenden. „Was haben wir hier, Doc?“
„Einen verstörten jungen Mann, wenn Sie mich fragen“, erwiderte der Doktor. „Da wir über keine Personaldaten verfügen, kann ich Ihnen nicht allzu viel sagen – keine Ahnung, ob wir eine Krankenakte von ihm haben. Wir schätzen ihn auf Anfang zwanzig, vielleicht auch etwas jünger.“
„Was ist mit seinen fehlenden Erinnerungen?“
„Detective, wir nennen so etwas retrograde Amnesie. Der Junge ist im Grunde fitt im Kopf, kann Hauptstädte den Ländern zuordnen, weiß im Grunde wie die Welt funktioniert. Nur persönliche Erinnerungen, Daten und Fakten sind für ihn nicht erreichbar; angefangen vom Namen, bis hin zu Freunden und Familie. In den meisten Fällen können sich die Betroffenen nach geraumer Zeit wieder erinnern.“
„Wie wird so etwas verursacht?“ Ryan war neugierig, dieser Junge war möglicherweise doch interessant genug.
„Das kann verschiedene Ursachen haben, ein Schlag auf den Kopf oder einfach schon genug psychischer Stress – je nachdem wie der Betroffene gestrickt ist, wenn Sie mich verstehen.“ Er zuckte mit den Schultern. „Wir haben Blutproben genommen, das Ergebnis sollte nicht allzu lange auf sich warten lassen.“
Ryan seufzte und nickte schließlich. „Gut, das ist ja schon mal ein Anfang.“
Ein Assistenzarzt reichte dem Doktor eine blaue Plastikschale. „Ach ja, ganz vergessen“, sagte der Arzt und reiche sie an Ryan weiter. In der Plastikschale befand sich nichts, außer einem schmalen, weißen Bändchen.
Ryan runzelte die Stirn. „Was ist das?“
„Das hatte Ihr Freund um sein Handgelenk. Er konnte sich nicht daran erinnern es angelegt zu haben, aber das war ja zu erwarten. Was ich hingegen wesentlich interessanter finde, ist der Aufdruck.“ Er blickte kurz auf das Band und dann wieder zu Ryan. „Vielleicht sollten Sie es sich mal ansehen, Detective. Ich bin mir sicher, dass Sie das interessieren wird.“
Ryan nahm einen Plastikhandschuh an, den ihm einer der Assistenzärzte reichte und schlüpfte mit der rechten Hand hinein. Vorsichtig nahm er das Bändchen und musterte es von beiden Seiten. Mit schwarzer Schrift hatte man etwas darauf gedruckt.

Logan Andrews, Subjekt T13

„Ich schätze, das könnte sein Name sein“, sagte Ryan nach kurzem schweigen. Logan Andrews. Der Name sagte ihm nichts. Es war kein außergewöhnlicher Name, aber auch nicht an jeder Straßenecke zu finden. Ryan seufzte; das alles bereitete ihm schreckliche Kopfschmerzen. „Ich werde den Jungen befragen müssen, wenn Sie mit ihm fertig sind.“ Er reichte dem Arzt die Plastikschale mit dem Band und schälte seine Hand aus dem Handschuh. „Rufen Sie mich, wenn Sie mit ihm fertig sind oder Sie das Blutbild haben – einfach wenn irgendwas ist. Ich muss mir einen Kaffee holen.“ Er hob die Hand zum Abschied und wandte sich schon zum gehen um.
Gerade als er die Tür geöffnet hatte, murmelte der Arzt. „Der Automat ist ein Stock tiefer.“
Nachdem sich Ryan einen warmen Kaffee und einen Nussriegel aus dem Automaten gezogen hatte und gedankenverloren aus dem Fenster am Ende des Flures gestarrte hatte, bemerkte er jemanden hinter sich. Es war der Arzt, Doktor Tenorio. „Ja?“, fragte Ryan mit einem Seufzer und kippte sich den letzten Rest Kaffee in den Hals.
„Die Untersuchungen des Blutes sind zwar noch nicht abgeschlossen, aber wir haben ein paar Anomalien festgestellt.“ Er reichte Ryan ein Blatt Papier.
Daten, Fakten, irgendwelche roten Striche. Ryan hatte keine Ahnung, was das zu bedeuten hatte. Mit hochgezogenen Augenbrauen sah er zum Doktor. „Und?“
„Im Blut des Jungen befinden sich fremdartige Elektroteilchen in Nanogröße, die munter mit den Leukozyten, Erythrozyten und Thrombozyten koexistieren. Grundsätzlich ist das nicht möglich, deswegen müssen wir noch weitere Tests durchführen.“ Er schwieg einen kurzen Moment und musterte die Ergebnisse vor sich. „Solche Partikel in Gewebezellen können nicht nur die DNA schädigen, sondern auch Krebs verursachen, was der Junge nach unseren Test allerdings nicht hat. Es ist schlicht und ergreifend Besorgniserregend.“
Ryan runzelte die Stirn. „Was für Elektroteilchen?“
Dr. Tenorio rieb sich den Nacken und zuckte mit den Schultern. „Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass es eine Art Naniten ist.“
Ryans Blick fiel auf den hinteren Teil des Flures, wo der Junge – Logan Andrews – gerade von einer Pflegerin in ein anderes Zimmer geführt wurde. „Wer ist dieser Kerl?“

.

 

1

 

Mit einer schnellen Handbewegung schloss Logan die Tür seines matschgrünen Nissans und eilte, an der Motorhaube vorbei, auf den belebten Bürgersteig. An der Beifahrertür gelehnt, stand sein Freund da und starrte wie gebannt auf den dreckigen Boden. Die behandschuhten Hände hatte er tief in die Hosentaschen gegraben und die Stirn nachdenklich in Falten gelegt.

Logan schnipste am Ohr Fynns, um dessen Aufmerksamkeit zu erlangen. „Nicht einschlafen. Komm schon“, lachte er und begann sich einen Weg durch die eiligen Geschäftsmenschen und schimpfenden Mütter zu bahnen.

Fynn murmelte etwas unverständliches, setzte sich aber dann auch in Bewegung. Er war hochgewachsen und trotz der vielen Muskeln erstaunlich schmächtig, das blonde Haar stand zu allen Seiten ab, fiel ihm aber vorzugsweise vor die Stirn. Gemeinsam betraten sie das Polizeipräsidium. Die Luft war warm und roch nach Druckerschwärze und Minze – eine seltsame Mischung, wie Logan fand. Es herrschte ein konstantes Stimmengewirr, aus dem man nur wenige verständliche Worte heraushören konnte. Am Empfang saß ein junger Polizist, der vermutlich gerade erst von der Akademie hier her versetzt wurde und blickte Logan und Fynn erwartungsvoll an. Doch die beiden jungen Männer rauschten einfach an ihm vorbei und durch den großen Eingangsbereich. Zielstrebig durchquerten sie die mit blauem Teppich ausgelegten Flure und erreichten kurz darauf auch schon das Büro des Polizeichefs.

Während Fynn einen langgezogenen Seufzer von sich gab, klopfte Logan an die Tür und trat erwartungsvoll einen Schritt zurück.

„Herein“, brummte eine tiefe Stimme auf der anderen Seite der Tür. Logan erkannte sofort die Stimme des neununddreißig Jahre alten Polizeichefs, Ryan Amstrong und für einen kurzen Augenblick erschien die Erinnerung ihrer ersten Begegnung vor seinem inneren Auge.

Die beiden jungen Männer betraten das Büro. „Ah, Mr. Andrews und Mr. Watson.” Ryan saß an seinem Schreibtisch, die Ellenbogen auf dem dunklen Holz gestemmt und hatte die Hände gefaltet. Seine Augen leuchteten beim Eintreten der Neuankömmlinge kurz auf.

Das Büro war recht klein und wurde auf der rechten Seite lediglich mit einer Glaswand vom Rest des Polizeipräsidiums abgetrennt. An der Frontwand waren drei große Fenster, die Ryan mit Jalousien verdunkelt hatte und an den restlichen Wänden befanden sich Bücherregale und Schränke, gefüllt mit Akten. Inmitten des kleinen Büros war ein massiver Schreibtisch, vollgestopft mit einem alten Computer, diversen Akten und einem Foto, auf dem man Ryans feste Freundin und seine Eltern erkennen konnte. Die Luft war staubig und es roch nach abgewetztem Leder und Schweiß.

Um den Schreibtisch standen mehrere Männer in Anzügen, die finster vor sich hin starrten. Keiner von ihnen würdigte Logan und Fynn auch nur eines Blickes. Stattdessen war es Ryan, der sich erhob und seinen Anzug glatt strich, bevor er hinter seinem Schreibtisch hervor trat und Logan und anschließend Fynn die Hand schüttelte. „Gut, dass Sie so schnell kommen konnten.“ Nun machte er aus seiner Freude wirklich keinen Hehl mehr. „Wenn ich Ihnen die freundlich dreinblickenden Leute vom FBI vorstellen dürfte: die Special Agents Henry Crawford, Richard Mellow und Spencer Yamada. Momentan sind es dunkle Zeiten, Jungs.“

Special Agent Mellow war der erste der Bundesagenten, der das Wort ergriff: „Wir wären dann fürs erste fertig, Amstrong. Wenn Sie noch etwas für uns haben, dann geben Sie uns bescheid.“

„Sie finden uns in unseren Räumlichkeiten“, murmelte Yamada. Crawford hingegen nickte den Männern nur schweigend zu.

Ryan nickte ebenfalls und wartete, dass die Leute vom FBI sein Büro verlassen hatten. Erst nachdem die Tür ins Schloss gefallen war und einige Sekunden verstrichen waren, begann er wieder zu reden: „Ich hasse es, wenn sich das FBI in unsere Fälle einmischt. Als ob wir das nicht selbst auf die Reihe kriegen würden.“ Er schüttelte seinen Kopf.

„Weshalb haben Sie uns herbestellt?“, fragte Logan direkt. Er hatte nicht sonderlich viel Lust seine Zeit durch schweigen und herum stehen zu vergeuden.

Ryan streckte ihnen den ausgestreckten Mittel- und Zeigefinger entgegen. „Aus zwei Gründen. Erstens, heute steht eure all monatliche Besprechung zum Thema Resozialisierung an und zweitens, gibt es Neuigkeiten aus dem Krankenhaus.“

Fynn hob die Augenbrauen an. „Aus dem Krankenhaus?“

Ryan reichte Logan eine Akte, welcher diese augenblicklich aufklappte. Sie beinhaltete den Bericht des zuletzt gefundenen Hybriden, Martin Christensen. Sie hatten ihn erst wenige Tage zuvor in einer abbruchreifen Baracke herausgeholt, nachdem er in seiner Verzweiflung zwei Obdachlose angegriffen und diese ihn beinahe zu Tode geschlagen hatten. Bloß mit Mühe und Not hatte die Polizei alle Beteiligten beruhigen und in das örtliche Krankenhaus bringen können. Logan und Fynn waren an dieser Aktion beteiligt gewesen und hatten Martin zeigen können, dass er nicht der einzige mit diesen seltsamen Fähigkeiten war und es keinerlei Grund zum Fürchten gab. Grundsätzlich war es ein gut gelungener Einsatz gewesen, weswegen Logan ein Stich durchs Herz ging, als er die letzte Passage des Berichtes las.

Mr. Martin Christensen verstarb am frühen Morgen durch Strangulation am Halswirbelbereich.

Logan spürte, wie Fynn ihm über die Schulter guckte, um ebenfalls den Bericht zu lesen. Auch Fynn war einer von denen, die Logan gemeinsam mit der Polizei gefunden hatte. Ohne Erinnerungen und mit seltsamen Fähigkeiten war er an einer stillgelegten Baustelle aufgewacht und hatte versehentlich einen Polizisten getötet, während seine Fähigkeiten sich das erste Mal zeigten. Die Anwälte hatten Fynn die Spritze geben wollen. Doch Ryan und Logan hatten sich für den gerade einmal einundzwanzig Jahre alten Briten eingesetzt und nun war er nicht nur Logans bester Freund, sondern auch unter anderem unentbehrlich für die Bergung weiterer Hybriden.

„Wieso Strangulation?“, fragte Fynn schließlich mit gerunzelter Stirn. „Die anderen Hybriden sind an Herzversagen oder einem Aneurysma im Gehirn gestorben. Strangulation klingt viel eher nach Mord oder –“

„Selbstmord“, beendete Ryan den Satz. „Ja, Martin Christensen hat sich in seinem Krankenzimmer erhängt. Gestern wachte er aus seinem komatösen Zustand auf und redete die ganze Zeit, dass er sich erinnern kann und dass er alle töten muss. Die Ärzte gaben ihn für die erste Nacht ein Beruhigungsmittel und als sie heute Morgen nach ihm sahen, fanden sie ihn baumelnd an der Decke.“

Logan verzog sein Gesicht. Wenn sich Martin tatsächlich an etwas erinnern konnte, dann hätte er mit Sicherheit nützliche Informationen gehabt, weswegen sich keiner von ihnen an irgendetwas erinnern konnte und warum man sie jeweils an entlegenen Orten ausgesetzt hatte. Doch ihre Chance war verstrichen, was Logan beinahe mehr Leid tat als der Tod des Hybriden.

Fynn schien ähnlich gedacht zu haben. Mit einem Knall klappte er die Akte zu und warf sie unsanft auf den Schreibtisch. „Das ist doch Scheiße“, brummte er.

„Er wäre unser erster Anhaltspunkt nach drei Jahren gewesen“, seufzte Logan und fuhr sich mit der Hand durch sein braunes Haar. „Wirklich zu schade.“

Ryan bedachte sie mit einem Blick, der deutlich zeigte, wie wenig er von all dem hielt. „Und ihr zwei seid euch sicher, dass ihr euch erinnern wollen? Ich meine, der Knilch hat sich selbst das Leben genommen, weil er sich erinnern konnte. Vielleicht ist diese Amnesie ja euer Segen.“

„Wohl kaum“, erwiderte Logan erstaunlich gelassen, obwohl in seinem Inneren der Frust und die Wut der letzten drei Jahre wieder aufkochte. Sie waren so nah an einer Antwort gewesen.

„Wir hätten schon gestern mit dem Kerl reden sollen“, sagte Fynn und verschränkte die Arme unter der Brust. „Warum haben Sie uns nicht schon für gestern die Erlaubnis für ein Gespräch gegeben?“

Ryan verschränkte nun ebenfalls die Arme und bedachte den jungen Briten mit einem genervten Blick. „Weil ihr keine Polizisten seid. Es ist schon ein Wunder, dass man euch überhaupt in die Nähe der Tatorte, Opfer oder ähnliches lässt. Strapazier dein Glück nicht, Jungchen.“ Er schüttelte seinen Kopf und durchquerte schließlich mit großen Schritten sein Büro. „Wie dem auch sei, der Junge ist tot und somit wieder einer weniger eurer bezaubernden Gattung.“

Bei den Worten zuckte Logan kaum merklich zusammen. Viele der Eingeweihten hielten die beiden jungen Männern für eine neuartige Spezies, für die neuen Menschen. Ihre mutierten Gene und die Naniten in ihrem Blut, sowie das überdurchschnittlich vorhandene Biofeedback ließen da kaum Zweifel aufkommen, auch wenn sich Logan gerne das Gegenteil gewünscht hätte. Wahrscheinlich war das der Grund, weswegen er so verbissen nach Antworten suchte. Dass sie nun auch den Titel Hybriden bekommen hatten, war hingegen einer Idee von Doktor Tenorio entsprungen, welcher für seine Berichte einen Begriff gesucht hatte, um das allgemeine Problem zu benennen.

Zusammen mit Ryan gingen die beiden Hybriden abermals durch die Flure des Polizeipräsidiums und fuhren mit dem Fahrstuhl in das Untergeschoss. Keiner von den Männern verlor auch nur ein einziges Wort, bis sie unten ankamen und bereits von einer Frau im weißen Kittel empfangen wurden. Das Polizeipräsidium war lediglich hundert Meter von einer Arztpraxis entfernt, die sich auf das testen der Naniten in den letzten drei Jahren spezialisiert hatte. Durch einen schmalen Gang, konnten sie von dem einen Gebäude ins andere gehen, ohne dabei Aufmerksamkeit zu erregen. Selbst wenn der Staat über die Existenz der Hybriden wusste, so war ihm nichts wichtiger als Diskretion. Ob nun weit mehr als über dreißig junge Erwachsene an ihren körperlichen und seelischen Leiden starben, war dabei erstaunlicherweise nebensächlich geworden. Keine Aufmerksamkeit, das war die Devise. Danach richteten Logan und Fynn ihren Lebensstil.

Sie erreichten eine eiserne Tür, die von der Frau aufgestemmt wurde. Sie wies die Männer an, hindurch zu gehen. Nachdem auch Fynn durchgegangen war, der die Nachhut gebildet hatte, schloss sie die Tür wieder mit einem lauten Rums. Die Frau zog sich augenblicklich wieder zurück, ohne dabei auch nur einen Mucks von sich zu geben.

Sie warteten wenige Augenblicke, bis eine weitere Frau zu ihnen stieß. Sie hatte langes braunes Haar und einen schrägen Pony, der einen Teil ihrer dicken Brillengläser verdeckte. Sie wank den Männern schon von weitem breit grinsend zu. „Hey, Jungs.“

„Doktor Frisbey“, begrüßte Logan sie mit einem nicken.

Um Fynns Mundwinkel zuckte es, bevor er ebenfalls zu lächeln begann. „Hallo Wendy, wie geht es den Kindern?“

Professor Doktor Wendy Frisbey lachte auf und schüttelte den Kopf, während sie eine hölzerne Tür öffnete und die Männer in den Warteraum zu einem Behandlungszimmer führte. „Wie sollte es einem Dreizehnjährigen gehen, der herausgefunden hat, dass seine Klassenkameraden es cool finden, wenn man mit einer Zigarette in der Schnauze durch die Weltgeschichte läuft?“ Sie schnaubte, wenn auch mit wenig Ernst. „Aber Amy geht es gut, sie hat ihr Stipendium bekommen.“

„Alle Achtung“, kommentierte Fynn und ließ sich auf einem der weichen Stühle nieder.

Logan war als erster dran. Er folgte der kichernden Doktor Wendy Frisbey durch einen Türbogen in den Untersuchungsraum. Da er einzig zur Untersuchung der Hybriden angelegt war, befanden sich lediglich eine schlichte Liege und zwei weiße Schränke darin. Durch ein quadratisches Loch in der Wand konnte man auf eine riesige, silberne Maschine blicken, die den Nanitengehalt im Blut testete und weitere Anomalien anzeigte, auf die die legitimen Gerätschaften nicht anschlugen – zumindest hatte man es Logan so erklärt.

Während Logan den Ärmel seines Hemdes hochkrempelte, begann Wendy über ihre Kinder zu monologisieren. Aus einem der Schränke holte sie ein Pulsmessgerät und legte Logan die Manschette um den Arm. Er ballte seine Hand zu einer Faust und wartete, dass Wendy die Manschette wieder ablegte und er seine Muskulatur entspannen konnte. Sie notierte sich etwas auf einem Zettel und zog auch schon die Spritze heraus. „Fünfundsiebzig pro Minute, bislang sieht alles ganz normal aus“, sagte sie lächelnd und tupfte mit einem weißen Stück Stoff seine Armbeuge sauber, bevor sie die Spritze durch seine Haut jagte. Es ziepte ein wenig und Logan verzog angewidert sein Gesicht. Wenige Sekunden später, zog Wendy die Nadel schon wieder heraus und drückte eine Kompresse auf die Stelle, wo bereits eine Träne roten Blutes heraus quoll. Sie erhob sich von ihrem Stuhl und nachdem sie die gläserne Kanüle mit Logans Blut von der Spritze entfernt hatte, legte sie diese durch das quadratische Fenster in das Messgerät. Ein Surren ertönte und ging schließlich in ein konstantes Piepen über. Logan hatte währenddessen auf die Kompresse gedrückt, nahm jetzt aber seinen Finger weg, damit Wendy ihm ein Pflaster darüber kleben konnte.

„Danke“, sagte er und rutschte auch schon von der Liege herunter.

Logan verließ das Behandlungszimmer und ließ sich im Wartezimmer neben Ryan nieder, während sich nun Fynn den Ärmel hoch krempelte und zu Wendy trottete.

„Wie läuft es denn so?“, bemerkte Ryan schließlich nach kurzem Schweigen, den Blick nach wie vor auf eine Zeitschrift geheftet. Er leckte sich über die Fingerkuppe seines Daumens und Blätterte um, bevor er sich lautstark räusperte. „Bezüglich College, Freundeskreis – na, du weißt schon.“

Logan wusste ganz genau was er meinte. Die Resozialisierung hatte kurz nach seinem unsanften Erwachen in der Holzhütte stattgefunden. Der Staat finanzierte ihm sein Studium und erstattete ihn die Miete für seine lachhaft kleine Wohnung. „Es läuft ganz gut“, antwortete Logan und faltete die Hände auf seinem Bauch. „Halte alle Abgabetermine ein, erscheine regelmäßig zu den Vorlesungen und von Fynn abgesehen, pflege ich auch sozialen Kontakt zu anderen Studienkollegen und ab und an sogar zu dem ein oder anderen Nachbarn.“

Ryan nickte und klappte die Zeitschrift zu. „Sehr gut. Wie sieht es mit der Damenwelt aus?“

Logan blickte den Polizisten einen Moment lang schweigend an. „Schwarz wie die Nacht.“ Dass Ryan auch noch als Antwort auflachte und Logan auf die Schulter klopfte, ging ihm gewaltig gegen den Strich. „Und wie ist es mit dir? Beatrice einen Antrag gemacht?“

Augenblicklich erstarb Ryans Lachen und er setzte eine ernste Miene auf. „Verschone mich damit. Die Frau hat Ansprüche wie keine zweite; da werde ich wohl eine weitere Hypothek aufnehmen müssen, um überhaupt über einen Ring nachdenken zu können.“ Er überlegte und fuhr schließlich fort: „Aber immerhin habe ich eine Frau.“

Für eine geraume Zeit sagte niemand von ihnen etwas. Aus dem Behandlungszimmer drang das Gelächter von Fynn und Wendy, die sich aufgeregt zu unterhalten schienen.

„Wie sieht es mit dem Jungen aus?“, brach Ryan schließlich die Stille. „Kann er sich an irgendetwas erinnern?“

Logan schüttelte seinen Kopf und verschränkte die Arme. „Nein, es herrscht immer noch diese gähnende Leere an dem Platz, wo seine Erinnerungen sind – bei mir übrigens auch. Fynn sagte, dass er ab und zu mal träume, sich aber nicht sicher ist, ob es bloß Gespinste seines Gehirnes sind oder doch greifbare Erinnerungen. Davon abgesehen, verblassen die Bilder nach wenigen Stunden wieder.“ Auch Logan hatte hin und wieder Träume, die sich so real anfühlten, als wären es Erinnerungen. Doch sobald er erwachte, fühlte es sich wieder unwirklich an und sobald er sie sich wieder ins Gedächtnis rufen wollte, war alles schleierhaft und kaum greifbar, als würde er durch eine klebrige Masse stapfen, die ihn langsamer und schwerfälliger werden ließ.

Zusammen mit Fynn kam Wendy nun zurück in das Wartezimmer. Fynn ließ sich auf einen der Sitze nieder, sichtlich desinteressiert auf das, was nun folgen würde. Wendy räusperte sich, um die Aufmerksamkeit der Herren auf sich zu lenken und reichte Logan ein Blatt Papier. „Die Naniten haben sich seit dem letzten Test nicht verändert. Die Anzahl ist weder zurückgegangen, noch ist sie gestiegen, ebenso wie die Aktivität.“

„Keine Anomalien“, schlussfolgerte Logan. Erleichtert versank er in seinem Sitz und musterte das Papier. Da stand es, wenn auch unverständlich, Schwarz auf Weiß.

 

***

 

Der Geruch nach Zigaretten verflüchtigte sich, als die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel und dem Geruch von Alkohol und billigem Parfum wich. Ausgezeterte Luft und eine konstante Geräuschekulisse von unentwirrbaren Stimmen umhüllte sie wie eine warme Decke. Logan schälte sich aus seiner Lederjacke und führte die kleine Gruppe von Studienkollegen an einen leeren Tisch, inmitten einer gut besuchten Bar. Sie waren zu fünft, drei Jungen und zwei Mädchen. Fynn nahm neben Logan Platz, sein Atem roch nach Tabak.

„Ich würde sagen, dass wir uns zu aller erst etwas zu trinken holen und dann entscheiden, wie wir fortfahren“, warf Stanley ein. Stanley war kleiner als Logan, hatte durch die einstige Akne in pubertären Tagen ein stark vernarbtes Gesicht und eine breite Nase. Trotzdem war er äußerst intelligent und würde sein Studium wahrscheinlich als Jahrgangsbester abschließen - was ihm die Zukunft danach auch immer bescheren würde.

Amber fuhr sich durch ihr dunkelblondes Haar. „Wenn du uns die erste Runde ausgibst, bin ich dabei.“ Sie war groß und schlank, hatte unglaublich langes, glattes Haar und eine reine Haut, wie man sie sonst nur an Porzellanpuppen sah. Ihre silbernen Augen funkelten Stanley heraufordernd an, bevor er die Hände beschwichtigend anhob.

„Hey, hey, wir wollen ja nicht gleich übertreiben. Anders als du habe ich eine eigene Bude, mit eigenen Mietkosten.“

„Stimmt, Mommy und Daddy zahlen dir kein Geld dafür, dass du ab und an mal das Haus verlässt“, lachte Cassandra. Sie hatte schwarze Rastalocken, die ihr locker über die Schulter fielen und so dunkle Augen, dass man sie beinahe als Schwarz betiteln musste. Doch Logan wusste, dass sie im richtigen Licht braun leuchteten, wie die Wüste im Sonnenuntergang. Amber streckte Cassandra die Zunge entgegen.

„Ich dachte, du hast eine Prämie bekommen?“, warf Fynn ein und grinste den vernarbten Jungen schelmisch an. „Lass doch mal was von dem Batzen sehen.“

Stanley verzog sein Gesicht zu einer Grimasse, antwortete aber nicht. Dafür meldete sich nun Logan zu Wort, um seine Freunde wenigstens einigermaßen zu beschwichtigten. „Jeder bezahlt seine Drinks selber, wie sonst auch. Aber Stanley darf das Trinkgeld übernehmen.“

Amber klopfte mit der Faust auf den Tisch. „Hört, hört, das ist ein Wort.“

Wenige Augenblicke später waren die Drinks bestellt und Amber hatte aufgehört dem Kellner in seiner engen schwarzen Jeans hinterher zu starren. „War irgendeiner von euch gestern in der Vorlesung?“, fragte sie schließlich in die Runde. Diese Frage betraf eigentlich nur sie und Logan, da sonst niemand anderes von ihnen Psychologie studierte.

„Nicht in deiner Vorlesung, aber ich sage dir, wir haben den Hefe gestern auseinander genommen“, kicherte Cassandra und warf Stanley dabei einen belustigten Blick zu.

„Was war denn gestern in eurer Vorlesung?“, versuchte Fynn das Thema wieder zurück zu lenken.

„Ein Wort“, rief Amber voller Euphorie und breitete die Arme aus. „Verhaltenspsychologie!“ Offensichtlich hatte sie Beifall oder zumindest Bewunderung erwartet, doch es folgte lediglich ein nicken Seitens Fynn, der Rest blickte recht unbeeindruckt drein. Sichtlich enttäuscht ließ sie sich in ihrem Stuhl sinken.

„Das ist … interessant“, kommentierte Fynn, dessen Blick nun zu Logan wanderte. „Ihr zwei könnt nun also unser Verhalten deuten?“

Logan wog den Kopf. „Nicht wirklich. Wir kennen die Anhaltspunkte und haben selbst Experimente mit Mitstudenten gemacht, aber ob ich euer Verhalten analysieren könnte, fragwürdig. Deins hingegen wäre eigentlich noch recht simple, da du immer und immer wieder den gleichen Ablauf von Bewegungen vollziehst, wenn du bestimmten Gedankengängen nachgehst.“

Fynn hob die Augenbrauen an. „Ach wirklich?“

„Ja, wenn du beispielsweise wütend bist. Als erstes beißt du dir auf die Lippe, meistens die Unterlippe, weil du es hasst dich zu streiten. Das beißen auf die Unterlippe wird als Selbststrafe klassifiziert. Anschließend presst du die Lippen aufeinander, um dich selbst zum Schweigen zu bringen. Dabei zucken deine Augenbrauen, bevor du die Stirn kraus ziehst und zum Schluss spannst du die Schultern an. Das erste, was du dann denkst, ist, dass du eine Zigarette brauchst, denn ansonsten würde dieses Ritual von Bewegungen wirkungslos werden.“

Kurz kehrte Schweigen ein – was bei der Geräuschkulisse allerdings unbemerkt blieb – und alle sahen zu Fynn, der die Stirn gerunzelt hatte und über Logans Worte nachzudenken schien.

„Okay“, warf Stanley irgendwann ein. „Ihr beide verbringt definitiv zu viel Zeit miteinander.“

„Wenn Fynn so ein markantes Verhaltensritual hat, können wir ja froh sein, dass er nur Physik und kein Politik studiert“, lachte Cassandra. Alle anderen, Fynn ausgeschlossen, stimmten in ihr Lachen mit ein.

Eine Kellnerin kam mit einem Tablett voller Getränke zu ihnen am Tisch. Doch nur Fynn, Cassandra und Stanley wurden von ihr bedient, Logan und Amber warf sie einen entschuldigenden Blick zu. „Ihre Drinks werden Ihnen jeden Augenblick serviert, bitte haben Sie noch einen kurzen Moment Geduld.“ Mit diesen Worten verschwand sie auch schon wieder an den nächsten Tisch.

„So ein Pech aber auch“, lachte Stanley, hob sein Glas an und nickte in Logans Richtung, bevor er einen großen Schluck nahm.

Amber schnorrte sich einen Schluck von Cassandra, bevor sie sich erhob. „Entschuldigt ihr mich kurz? An der Bar steht Hugh Steiner, der Wichser schuldet mir noch dreißig Dollar.“ Sie verschwand in der Menge und man konnte sie nur noch ab und an ihren Schopf ausmachen. Die anderen blickten ihr einen Moment des Schweigens hinterher, bevor Stanley wieder das Wort ergriff:

„Ich habe möglicherweise ein Praktikum bei AKANH.“

Anerkennende Blicke folgten.

„Ja, sie haben mich zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Aber wie sie es formuliert haben, bin ich überzeugt, dass ich die Stelle so gut wie sicher habe.“

Logan nickte. „AKANH macht sich bestimmt hervorragend im Lebenslauf.“

„Hast du dich für eine Außenstelle beworben?“, fragte Cassandra und nippte an ihrem Drink.

Stanley nickte. „Für einen Sitz in Dänemark. Drei Monate Dänemark, könnt ihr euch das vorstellen?“

Fynn nahm einen großen Schluck und schüttelte den Kopf. „Nicht wirklich.“

Logan begann unwillkürlich zu grinsen. Als er vor geraumer Zeit sein Praktikum in einer argentinischen Tagesklinik absolvieren sollte, war er ebenso voll Zuversicht und Enthusiasmus; er konnte es Stanley nicht verdenken, denn wann würde ein Kerl wie er schon eine erneute Chance für einen Aufenthalt in Dänemark bekommen?

Aus dem Augenwinkel bemerkte Logan, wie eine kleine Gruppe Menschen auf sie zukamen. Zunächst vermutete er, dass es sich dabei um Amber und Hugh Stein handelte, doch als er genauer hinsah, blickte er in die Gesichter dreier ihm völlig unbekannter Mädchen. Sie hielten die Mittlere an den Händen, als bräuchte sie Bestärkung und drängten sich immer weiter in Richtung ihres Tisches. Sie blieben einen halben Meter vor ihrem Tisch stehen und musterten zu aller erst Logan und Stanley und anschließend Cassandra mit einem abschätzenden Blick, der sich besonders bei Cassy zu reinem Gift verwandelte. Erst als Fynn in ihr Augenmerk rückte, glätteten sich ihre Züge und die mittlere von ihnen begann sogar zu lächeln. Es bestand kein Zweifel, sie waren welche von Fynns vielen Verehrerinnen.

Für Logan war es unbegreiflich, dass die vielen Studentinnen – ja, sogar die ein oder andere Nachbarin – dem Briten so sehr verfallen waren, obwohl sich dieser nicht einmal groß um weibliche Gesellschaft bemühte oder sie gar wollte.

„Hey, Fynn“, kam es wie aus einem Chor von den dreien.

Stanleys Reaktion, bestehend aus schallendem Gelächter, folgte augenblicklich und Cassandra stieg auch sogleich mit ein.

Den Mädchen stieg die Schamesröte ins Gesicht, doch sie ließen sich nicht beirren und blieben eisern dort stehen, den Blick auf den blonden Engländer geheftet.

Fynn wandte sich ihnen zu und musterte sie, bevor ein dümmliches Lächeln aufsetzte. „Hey, ihr drei.“

Dass er ihnen auch noch Aufmerksamkeit geschenkt hatte, schien die drei nur zu bestärken und sofort ergoss sich ein Schwall von unverständlichen Worten und Gequieke über Fynn, der zurück gelehnt und mit entspannter Miene einfach nur da saß.

„Wie du in deiner Facharbeit die Interpretation der Quantenmechanik besonders in Bezug auf den Determinismus in Frage stellt hast, war einfach nur grandios!“, schwärmte das Mädchen in der Mitte. „Auch der Abschnitt, indem du die Kopenhagener Interpretation als Gegenstück verwendet hast und besonders den nicht messbaren Zeitpunkt des Verfall eines Atoms hervorgehobenen hast –“

Weiter kam sie nicht, da sie bereits von einer ihrer Freundinnen unterbrochen wurde. „Du bist wirklich ein Genie.“ Man konnte die drei förmlich lechzen sehen.

„Im Grunde hat er doch nur das wiedergegeben, was andere Menschen bereits vor Jahren herausgefunden haben“, bemerkte Cassandra mit gerunzelter Stirn. Drei Blicke, voller brodelndem Gift und Todeswünschen, trafen sie sogleich, wenn auch ohne Wirkung.

„Wir stellen fest“, fuhr Stanley fort und hob sein Glas an. „Unser lieber Fynn ist hervorragend in nachplappern und wiedergeben.“ Er setzte das Glas an seinem Mund an und kippte sich so viel hinein, wie es möglich war. Auch er erntete Blicke mörderischer Absicht.

Fynn war bislang schweigsam gewesen, doch Logan erkannte in dessen braunen Augen das lodernde Feuer, welches die Flammen wie Arme ausstreckte. Er würde die Tatsache, dass ihm die Mädchen vollends verfallen waren, ausnutzen und seinen Spaß haben. Logan verdrehte die Augen und versuchte seine Aufmerksamkeit auf die Kellnerin zu lenken, die nun auch endlich Ambers und seinen Drink brachte – auch wenn Amber noch immer nicht zu ihnen zurückgekehrt war. Er bedanke sich höflich.

Gerade als er das Glas anhob, um ein lang ersehnten Schluck zu nehmen, spürte er, wie etwas in seiner Hosentasche vibrierte. Sofort ließ er das Glas wieder sinken und fingerte das Handy hervor. Ryan Amstrong, stand auf dem Display.

„Entschuldigt mich“, presste Logan hervor und erhob sich sogleich. Mit eiligen Schritten durchquerte er die Bar und ging hinaus. Kalte Luft und Zigarettenqualm hüllten ihn ein und noch immer vibrierte das Handy in seiner Hand. Er nahm den Anruf entgegen: „Ja?“

„Andrews, hier ist Amstrong.“ Seine Stimme war angespannt wie Draht.

„Was gibt’s, Ryan?“ Logan lehnte sich an die kalte Mauer bestehend aus braunen Backsteinen.

„Ich will nicht großartigen drum herum reden, dafür bleibt uns keine Zeit. Schnapp dir Watson und mach dich auf den Weg zur Parker Street. Wir haben wahrscheinlich einen Hybriden gefunden, vermutlich weiblich. Ich sage es dir, wir haben keine Zeit zu verlieren. Mach. Dich. Sofort. Auf. Den Weg.“ Mit diesen Worten legte er auf.

2

 Fynn hatte den drei Mädchen gestattet sich zu ihnen an den Tisch zu setzten, was sie mit großem Entzücken entgegengenommen hatten – anders als Cassandra und Stanley. Diese hatten sich abgeschottet und führten nun ein intensives Gespräch über die Protozoologie, die Wissenschaft der Urtierchen.

Mit dem einen Arm auf der Lehne und die andere Hand um sein Glas, hatte Fynn sich den Neuankömmlingen zugewandte und hörte zu, wie sie sich aufgeregt über die Quantenmechanik und die String-Theorie unterhielten. Dass sie dabei ihren Blick nicht von ihm lassen konnten, bemerkte er hingegen nicht.

Ebenso Logan, der eilig und mit gehetztem Blick auf sie zu kam, blieb vorerst unbemerkt. Bis er Fynn unsanft am Kragen hoch auf die Beine zog. Dieser erschrak und hätte Logan beinahe ins Gesicht geboxt. „Himmel, was soll das?“, fluchte er und hätte dabei fast den Tisch umgestoßen. Alle Blicke waren auf die beiden jungen Männer gerichtet und selbst an den nahe liegenden Tischen hatten sich ein paar Leute zu ihnen umgedreht.

„Ryan hat angerufen“, erwiderte Logan trocken, ohne auf die Blicke und die aufkeimende Spannung zwischen ihnen zu achten. „Wir müssen los. Sofort.“ Er ließ von Fynn ab und schnappte sich seine Lederjacke, bevor er Cassandra und Stanley zum Abschied zunickte.

Cassandra hob, sichtlich irritiert, die Hand und wank, während Stanley nur dämlich aus der Wäsche guckte.

Fynn wusste sofort worauf Logan hinaus wollte und folgte ihm, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, aus der Bar heraus und in Richtung des matschgrünen Nissans. Nun war Logan erleichtert, dass sein Getränk erst später kam und er noch nicht getrunken hatte, ansonsten hätte sich ihre Fahrt etwas schwieriger gestaltet. Er ließ sich auf den Fahrersitz nieder und wartete, dass auch Fynn sicher neben ihm saß und die Autotür schloss. Der Motor kreischte auf und sie fuhren mit erhöhter Geschwindigkeit Richtung Parker Street. Die Lichter der Straßenlaternen rauschten an ihnen vorbei, erhellten den Innenraum des Autos und ließen anschließend wieder Dunkelheit einkehren. Eine Abfolge von Licht und Schatten. Tag und Nacht. Leben und Tod.

Logan lenkte den Wagen aus der Innenstadt heraus und durchquerte Vororte und Waldstücke. Die Parker Street war wiedererwartend abgelegen und zog sich wie ein schmutziger Fluss durch ein Fabrikgelände. Blecherne Wände ragten zur Rechten und Linken empor und schimmerten im gelben Licht der Laternen rostbraun. Die Minuten rollten quälend langsam vor ihnen her, bis sich vor ihnen eine Ansammlung von Polizeiwagen, Blaulichtern und Menschen auftat.

Der Nissan wurde etwas abseits geparkt, im Schatten zwischen den Laternen und die beiden jungen Männer stiegen hastig aus. Es galt keine Zeit zu verlieren. Aus dem Handschuhfach hatte Fynn zwei Marken mitgenommen, eine davon reichte er nun seinem besten Freund.

Sie erreichten das Absperrband, kletterten drunter durch und zeigten einem Polizisten ihre Marken, die sie dazu befugte, Tatorte zu betreten, ohne das Fragen aufkamen. Sie hatten weder Titel noch andere Befugnisse. Nur ihre Anwesenheit war wichtig.

Ryan fanden sie an einem Klapptisch, wie er sich über eine Karte beugte. Sie zeichnete den Grundriss des Geländes und der drum herum liegenden Straßen, sowie zwei kleine Waldgebiete. Als Logan und Fynn den Tisch erreichten, deutete Ryan auf ein altes Fabrikhaus. „Dort“, war das einzige Wort, was er raunte.

Die beiden Hybriden musterten den Grundriss. Es war eine große Halle, umringt von weiteren, wenn auch kleineren Hallen und Gebäuden. Bis zum Wald waren es gute dreihundert Meter, wenn nicht sogar noch mehr. Zwischen den Hallen war genug Platz, damit sich die Polizei versammeln konnte. In den Gebäuden konnten sich die Scharfschützen verstecken. Grundsätzlich war die Fabrikhalle ein unsagbar schlecht gewählter Ort, um dort unentdeckt fliehen zu können.

Fynn rieb sich die behandschuhten Hände. „Wie gehen wir vor?“

Ryan räusperte sich. „Laut den Wärmebildkameras befinden sich dreizehn Menschen in diesem Gebäude. Soll heißen, die Entführer – oder Aussetzer, wie auch immer – sind noch da. Es ist das erste Mal, dass wir sie erwischen und dann hier.“ Er breitete seine Arme aus. „Das muss ein schlechter Witz sein. Das Gebäude ist umstellt, die Scharfschützen gehen gerade auf Position. Die ersten Polizisten werden das Haus stürmen. Ihr zwei wartet, bis wir Entwarnung geben.“ Er wandte sich Phil Barckley zu. „Ich will so viele Festnahmen und so wenig Tote wie möglich.“

Barckley nickte und ging auch schon zu einer Gruppe von Polizisten, vollkommen in Schwarz gehüllt, und gab ihnen die letzten Anweisungen.

Nun war es so weit. Die ersten Polizisten schlichen, die Waffen im Anschlag, auf das Fabrikgebäude zu und verschwanden schließlich hinter einer rostigen Tür. Es herrschte bedrückende Stille, niemand wagte es auch nur ein Wort zu sagen. Selbst atmen wirkte wie ein Akt ohrenbetäubender Sünde.

Die Sekunden der Stille zogen sich wie ein Kaugummi in unerträgliche Länge.

Ryan hatte sich vor seinen Kollegen aufgebaut, den Blick starr auf das Gebäude vor sich gerichtet. Die Waffe lag in seiner Hand, entsichert und bereit zu töten. Jemand rief seinen Namen. Es klang wie das Einschlagen einer Bombe. Zu laut. Ryan wandte sich um und sah auf einen Polizisten, der einen Mann im Schlepptau hatte.

Der Mann war klein, mager und hatte ein rundes Gesicht, das einen an einen Hamster erinnerte.

Mit eiligen Schritten kam Ryan auf den Polizisten und den Mann zu, die Waffe noch immer in den Händen. „Wer ist das?“

„Wollte aus dem Fabrikgebäude fliehen. Haben ihn abgefangen. Er hat keine Waffen bei sich. Hatte sich auch direkt ergeben.“ Der Polizist zuckte mit den Schultern.

Ryans Blick wanderte wieder abschätzig zu dem Mann. Hatten sie tatsächlich, nach drei langen Jahren, einen derer festgenommen, der an der Entstehung von Hybriden beteiligt war? Es war zu schön, um wirklich wahr zu sein.

„De-De-Defekt“, wisperte der Mann und begann zugleich am ganzen Leib zu zittern. Er wand sich im Griff des Polizisten, schien aber zu schwach zu sein, um sich zu befreien. „Sie ist ein Defekt.“ Seine Stimme wurde fester, war aber noch immer ein leises Flüstern. „Töten.“

„Was?“, fauchte Ryan. „Sprechen Sie deutlich.“

„IHR MÜSST SIE TÖTEN!“ Kreischte der Mann nun. Der Polizist erschreckte sich und hätte den Festgenommenen beinahe losgelassen. Dieser wand sich nun immer stärker und mit aufkeimender Kraft. „SIE IST EIN DEFEKT! IHR MÜSST SIE TÖTEN!“

Ryan sog die Luft scharf durch seine Nasenlöcher ein. Schließlich deutete er auf einen der Polizeiwagen. „Bring ihn dort hin und verriegle die Türen. Mit ihm befassen wir uns später.“ Er wandte sich um und versuchte sich wieder voll und ganz auf das Geschehen in der Fabrikhalle zu konzentrieren, auch wenn es ihm sehr schwer viel.

Trotz Gerangel schaffte es der Polizist, den Festgenommenen in das Polizeiauto zu verfrachten. Dieser schrie unablässig und seine bebende Stimme erfüllte das ganze Gelände, lag schwer auf den Köpfen der Anwesenden und wurde von den Wänden widergehallt, wie ein Boxer, den man zurück in den Ring stieß.

 

Tötet sie.

Sie ist ein Defekt.

Sie wird uns alle töten.

Ihr müsst sie töten.

 

Logan und Fynn wechselten kurze Blicke. Doch Logan war zu erfreut darüber, dass sie endlich jemanden von denen in Gewahrsam hatten, der ihnen diese schreckliche Tortur des Vergessens und der Absonderlichkeiten beschert hatte, als dass er sich Sorgen machte. Nicht mehr lange und sie würden Antworten erhalten. Sie würden endlich erfahren, warum man ihnen solches Leid zugefügt hatte, warum ausgerechnet sie dafür auserwählt wurden. Egal wie die Antworten ausfallen würden, ob sie schmerzhaft waren oder nicht, sie würden Logan mit Befriedigung erfüllen, wie es sonst nur die fehlenden Erinnerungen vermochten.

Fynn ging in die Hocke und musterte das Fabrikgebäude vor sich. Nervös zupfte er an seinen Handschuhen, wagte es jedoch nicht sie auszuziehen – denn das wäre ein fataler Fehler. „Wieso brauchen die da drinnen so lange?“, fragte er schließlich. „Himmel, die Warterei hält man ja kaum aus.“

Logan konnte ihm da nur beipflichten. Es dauerte definitiv zu lange.

Und dann geschah es. Die ersten Schüsse fielen. Ein schrilles Donnern von Kugeln, die abgefeuert und kreischend durch die Luft flogen, bevor sie ihr Ziel trafen oder verfehlten.

Sofort gingen alle in Deckung. Waffen wurden gezogen und Läufe richteten sich auf den einzigen Zugang.

Die Schreie eines Mannes drangen aus der Fabrikhalle heraus und urplötzlich kehrte Stille ein. Niemand wagte es sich zu bewegen oder auch nur einen Mucks von sich zu geben, während mit Adrenalin im Blut und angespannten Muskeln auf die rostige Tür geblickt wurde. Eine deutlich spürbare Spannung keimte zwischen den Polizisten und Hybriden auf und Logan glaubte, nach ihr greifen zu können.

Ryan regte sich als erster. Er hob seine Hand und bedeutete zwei seiner Männer, dass sie nachsehen sollten. Diese nickten als Antwort und schlichen auf leisen Sohlen in das Fabrikgebäude hinein. Zunächst passierte nichts und Logan spitzte gespannt seine Ohren. Die Luft um sie herum zwirbelte und knisterte.

Logan warf Fynn einen kurzen Blick zu. Der blonde Brite hatte sich wieder aufgerichtet und die Hände tief in den Hosentaschen gegraben. Er wirte so deplatziert wie es in diesem Moment nur möglich war. Seine unbeteiligte Haltung versetzte Logan einen Stich. Hinter den Wänden vor ihnen befand sich ein weiteres Opfer derjenigen, die auch ihr Leben mächtig auf den Kopf gestellt hatten und nun waren sie so nah wie noch nie an Antworten - und dennoch wirkte Fynn vollkommen desinteressiert.

Logan presste die Zähne aufeinander und zwang sich, sich wieder auf das Geschehen vor sich zu konzentrieren.

Wieder ertönten Schüsse und noch bevor einer der Wartenden hätte reagieren können, kamen Menschen aus dem Gebäude vor ihnen gerannten. Dicht gefolgt von dichtem Qualm. Sofort stieg Logan der Geruch von Feuer in die Nase und er verzog sein Gesicht. Das hatte nichts Gutes zu bedeuten.

„Was ist passiert?“, rief Ryan den Männern zu, die ihnen entgegen rannten.

Einer von ihnen wedelte mit den Armen herum, als wollte er ihnen bedeuten, sich zurück zu ziehen. Logans Magen zog sich schmerzhaft zusammen, denn irgendetwas war gewaltig schief gelaufen.

„Sie hat alle umgebracht!“, kreischte einer von ihnen. „Sie ist aufgewacht als wir gerade zugreifen wollten und hat jeden in unmittelbarer Nähe niedergemetzelt.“

Logan näherte sich dem aufgebrachten Polizisten, denn er wollte jedes einzelne Wort hören.

„Wie?“, war Ryans einzige Antwort und die Bewegung seiner Lippen seine einzige Reaktion. Wie vereist stand er da und starrte auf das Fabrikgebäude. Der Qualm wölbte sich aus der offenen Tür und stieg gleichmäßig gen Himmel.

Der Polizist zuckte hilflos mit seinen Schultern. „Mit Waffen. Sie hatte sie auf einmal in ihrer Hand.“

Ryan fuhr sich mit der Hand über die Glatze. „Gut, dann wissen wir jetzt wenigstens womit wir es zu tun haben. Ich möchte, dass alles auf seinen Positionen bleibt. Machen Sie sich schießbereit. Wie viele von den anderen haben Sie da drin gesehen, Gordon?“

Die Antwort Gordons ging in dem Geschrei des Festgenommenen unter, der nun im Polizeiwagen zu randalieren begann. Mit den Fäusten schlug er gegen die Fensterscheiben und schrie wie ein Wahnsinniger, dass man den Defekt doch töten sollte. Am liebsten hätte Logan sich die Ohren zugehalten, doch seine Arme hingen unbeteiligt an seinem Körper herunter.

 

 

Anders als Logan hatte Fynn seinen Blick nicht von der Fabrikhalle genommen. Wie aus dem Schlund eines Monsters kroch der Qualm aus dem Eingang heraus und breitete sich aus. Angestrengt versuchte Fynn etwas durch diese milchige Suppe zu erkennen, die im fahlen Licht der Straßenlaternen gelblich schimmerte.

Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte er einen dunklen Schemen zu erkennen, der sich wankend aber doch beständig bewegte. „Da ist etwas!“, stieß Fynn laut genug hervor, um den randalierenden Mann im Polizeiwagen zu übertönen. Aus dem Augenwinkel sah er, wie sich nun auch Logan und Ryan wieder umdrehten.

Der Schemen bewegte sich langsam und nahm erst nach ellenlangen Sekunden Gestalt an. Wer sich auch immer auf sie zu bewegte, war recht klein und von schmaler Statur. Fynn vermutete zunächst ein Kind – auch wenn es das erste Mal wäre, dass sie einen Hybriden unter einundzwanzig Jahren entdecken würden. Langsam lichtete sich der Qualm und Fynn erkannte nun weibliche Kurven.

Er hörte das Klicken der entsicherten Waffen. Sein Blick traf den von Logan, welcher ihm mit einer wagen Kopfbewegung verdeutlichte, zu den anderen Polizisten zu gehen. Fynn gehorchte und als er an Logan vorbei ging, raunte dieser ihm ins Ohr: „Sorg dafür, dass sie nicht schießen.“

Fynn nickte als Antwort und ging so beiläufig wie möglich zu den Männern mit den gezogenen Pistolen. Die Spannung in der Luft war dem zerreißen nahe.

Er versucht den Schatten nicht aus den Augen zu lassen und sich doch zeitgleich auf die Polizisten zu konzentrieren. Dem ein oder anderen zitterten bedenklich die Hände, was Fynn ein wenig Sorgen bereitete. Noch hatten sie die Möglichkeit aus diesem Einsatz einen Erfolg zu machen, doch jede noch so kleine falsche Bewegung würde alles zunichtemachen. Fynn atmete tief durch und raunte schließlich einem der bewaffneten Männer zu: „Sagen Sie Ihren Männern, dass sie nicht schießen sollen.“

„Wir müssen schussbereit sein, Anweisung vom –“, flüsterte der Polizist zurück, wurde jedoch von Fynn auch sogleich unterbrochen.

„Das ist eine neue Anweisung.“

Die Reaktion des Polizisten bekam er allerdings nicht mit. Denn der Schatten war stehen geblieben. Noch immer wurde er – oder sie – vom Rauch eingehüllt, sodass Fynn kein Gesicht erkennen konnte. Etwas blitzte in der Hand des Schattens auf und noch bevor irgendjemand ein Geräusch von sich geben konnte, ertönte ein Knall. Es war der Schuss aus einer Pistole.

Ein Stöhnen und darauf folgendes Gurgeln war zu hören, bevor ein Mann aus dem Qualm stolperte. Die Hände hatte er um seinen Hals gelegt, aus dem ein Schwall von Blut floss. Er stolperte, geriet ins Straucheln und fiel letzten Endes zu Boden, wo er auch sogleich regungslos liegen blieb.

Nun trat der Schemen aus dem Qualm heraus. Es war tatsächlich ein Mädchen, das vor ihnen stand, die Beine gespreizt. Aus den Ärmeln ihrer blauen Jacke ragten Klingen, die in Licht der Laternen sanft aufblitzten. Das Mädchen hatte rot-braune Haare und sehr helle Haut. Das Haar war kurz, beinahe kürzer als Fynns Haar. Ihr eisiger Blick wanderte über den Boden, als suchte sie nach etwas.

Fynn bemerkte, dass er die Luft angehalten hatte. In seinem Magen begann etwas zu flattern – ein Gefühl, das er kaum zu definieren wusste – und ihm wurde schwummrig.

„Polizei!“, brüllte Ryan dem Mädchen entgegen. „Legen Sie ihre Waffen nieder.“

Fynn wusste was als nächstes passieren würde. Logan würde sich zu dem Mädchen teleportieren, ihr zeigen, dass sie nicht die einzige ist, die mit Absonderlichkeiten zu kämpfen hatte und dass man ihr helfen würde. Wenn nötig würde er ihr Trost spenden. Anschließend würde er sie, gemeinsam mit Polizisten im Schlepptau, ins Krankenhaus bringen, wo man sie untersuchen würde. Das war ihre übliche Vorgehensweise. So hatten sie bislang immer die anderen Hybriden aufgenommen.

Doch Logan bekam gar nicht erst die Gelegenheit, um sich dem Mädchen zu präsentieren. Aus dem gelblichen Qualm ertönte ein wütender Schrei und im gleichen Moment sprang ein Mann in Schwarz heraus. In seiner Hand hatte er ein Stück eines abgebrochenen Rohres. Mit hoch erhobenem Rohr rannte er auf das Mädchen zu.

„Nein!“, entfuhr es Logan.

Das Mädchen wandte sich blitzartig um und stieß den anrennenden Mann eine der Klingen, die aus ihren Ärmeln ragte, in den Hals. Er röchelte und gurgelte, bevor seine Beine weg knickten und er zuckend zu Boden fiel.

Aus der Fabrik lösten sich drei weitere Menschen, alle in dem gleichen Weiß gehüllt. Sie waren keine Polizisten, das war offensichtlich. Diese Menschen rannten brüllend auf das Mädchen zu und versuchten sie zu packen. Doch das Mädchen war schneller. Dem einen stach sie mit einer der Klingen in die Brust, dem anderen durchschnitt sie das Gesicht. Dem dritten musste sie zunächst ausweichen, doch mit graziösen Bewegungen tänzelte sie um ihn herum, passte die Gelegenheit ab und packte ihn schließlich mit langen Fingern ins Gesicht. Fynn verstand erst nicht was sie da vorhatte, doch dann ertönte ein ohrenbetäubender Knall, Licht blitzte auf und der Kopf des Mannes bestand nur noch aus einer glibbrigen Masse, bestehend aus Gehirn, zermalmten Knochen und Hautfetzen.

Aus dem Augenwinkel bemerkte Fynn, wie Logan verzweifelt versuchte, sich an den Polizisten vorbei zu drängen, die nun allesamt ihre Waffen entsicherten. Ein kollektives Klicken erfüllte die Luft. Urplötzlich wirkte die Welt langsamer. Fynn wirbelte zu den Polizisten neben sich herum und riss diesem die Waffe aus der Hand. „Nein!“, brüllte auch nun er. „Nicht schießen!“

Doch schon schoss einer. Die Kugel pfiff durch die Luft. Fynn erkannte nicht wohin sie flog und wo sie einschlug. Nur das Mädchen schien sie verfehlt zu haben. Diese wandte sich nun ihnen zu. Zum ersten Mal schien sie den Auflauf an Menschen wahrhaftig wahrzunehmen. Ihre Augen funkelten und ihre Muskeln spannten sich an.

„Waffen fallen lassen!“, rief Ryan erneut.

Tatsächlich ließ das Mädchen die Klingen fallen. Mit einem Klirren fielen sie auf den Boden. Erleichtert atmete Fynn auf, die Situation konnte doch noch gerettet werden.

Und dann geschah das, was Fynn die ganze Zeit über gefürchtet hatte: das Mädchen hob ihre Hand, in der eine kleine, schwarze Pistole lag – Fynn konnte sich nicht erklären, wo sie die auf einmal her hatte. Den Lauf der Waffe richtete sie zunächst auf Ryan und ließ ihn schließlich die ganze Reihe von Polizisten entlang schweifen. Dabei ging sie langsam einen Schritt nach hinten.

„Waffen fallen lassen!“ Erneut Ryan.

Das Mädchen schoss. Sie schoss auf die Köpfe der Polizisten, auf die Wagen und in die Luft. Wie von der Tarantel gestochen schoss sie um sich. Fynn warf sich auf den Boden und versuchte sich hinter dem nächsten Polizeiwagen zu verstecken. Kugeln pfiffen bedenklich nahe an seinem Ohr vorbei.

Auch Logan hatte sich geduckt und zusammen mit Ryan hinter dem umgestoßenen Tisch, worauf zuvor noch die Karte des Geländes gelegen hatte, Schutz gesucht.

Die ersten erwiderten das Feuer. Sie duckten sich, schossen und duckten sich wieder. Doch niemand von ihnen schien das Mädchen zu treffen, denn der Kugelhagel auf sie alle nahm kein Ende.

Wie konnte sie so lange schießen, ohne ein leeres Magazin zu haben?, schoss es Fynn durch den Kopf.

„Wir müssen etwas tun!“, kreischte Logan.

„Was denn?“, brüllte Fynn über seine Schulter hinweg. Er wagte es nicht, seinen sicheren Platz hinter dem durchlöcherten Auto zu verlassen.

„Zieh deine Handschuhe aus!“

Fynn wäre beinahe vor Entsetzen aufgesprungen. „Was? Nur über meine Leiche!“

„Zieh deine verdammten Handschuhe aus!“

Doch zu einer Antwort kam Fynn nicht mehr. „Granate!“, rief einer der Polizisten und im nächsten Augenblick ertönte ein ohrenbetäubender Knall. Sie alle wurden von einer gewaltigen Druckwelle niedergestreckt und eine Welle der Hitze breitete sich über sie aus.

Fynn hielt die Arme schützend vor sein Gesicht und zog die Beine an seinen Körper. Die Hitze leckte über seinem Körper und zerrte an seiner Kleidung. Das Atmen fiel ihm urplötzlich schwer und sein Herz schlug ihm bis zum Hals. In seinem Ohr lag ein konstantes Piepen, das zur Sorge trug, dass er kaum einen klaren Gedanken fassen konnte. Erst als es um sie herum abgekühlt war, der Druck verschwunden war und Stille einkehrte, wagte Fynn sich wieder zu bewegen. Zögernd kroch er hinter seinem Versteck hervor.

Er erblickte Logan, welcher auf dem Boden kauerte und sich die Ohren zuhielt. Er – so wie viele andere Polizisten – gab ein klägliches Wimmern von sich und krümmte sich vor Schmerz.

Fynn zog sich am Polizeiwagen hoch und auf die Beine. Anschließend ging er, wenn auch recht schwankend, auf seinen Freund zu. Der Geruch von verbranntem Fleisch stieg ihm in die Nase und Fynn wurde sogleich speiübel. Er geriet ins Straucheln und musste sich mit den Händen auf dem Boden abstützen, um nicht vollständig auf die Nase zu fliegen. Mit einem dicker werdenden Kloß im Hals schwankte er zu Logan, welcher sich nun stöhnend auf den Rücken rollte, alle Viere von sich gesteckt.

„Bist du verletzt?“, keuchte Fynn. Völlig außer Atem und mit klebrigem Schweiß auf der Stirn, hockte er sich neben seinen Freund.

Logan kniff die Augen zusammen und atmete tief durch. „Was?“, rief er. Ganz offensichtlich hatte auch dieses penetrante Piepen in seinem Ohr.

Fynn sah genauer hin und stellte fest, das sein bester Freund aus dem rechten Ohr blutete und ein Teil seiner Kleidung verbrannt war. Darunter lugte verbranntes Fleisch heraus, Schwarz und Rot. Sein Hemd hing an der einen Seite nur noch in Fetzen da, während die andere so gut wie unversehrt war.

Logan versuchte sich aufzurichten, verzog sein Gesicht jedoch schmerzvoll und sank wieder zurück auf den Boden. „Was ist mit dem Mädchen?“, rief er, obwohl um sie herum Stille herrschte.

Fynn konnte sich ein mitleidiges Lächeln nicht verkneifen. Doch um seinem verletzten Freund einen Gefallen zu tun, richtete er sich auf und sah hinter die gefallene Barrikade von Polizisten, auf den Eingang der Fabrikhalle. Auch diese hatte Feuer gefangen. Dunkler Rauch wölbte sich gen Himmel. Doch von dem Mädchen war keine Spur mehr zu sehen.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 07.12.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für meinen wundervolles Bruder, Dorian.

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