Cover

Teil 1

Kapitel 1

Noah

 

 

Mit einem müden Seufzer ließ er seine Umhängetasche auf den Boden, direkt neben dem großen Bücherregal, fallen und schleppte seinen ermatteten Körper zu der Couch. Mit einem leisen plumps ließ er sich auf diese fallen, wobei er sein Gesicht in das kühle Kissen drückte. Es war ein anstrengender Tag gewesen. Denn direkt nach seiner Vorlesung musste er zu der Bank of Canada eilen, um dort seine Schicht im Münzmuseum zu beginnen. Was tat man nicht alles, um sein Studium zu finanzieren?

Noah rollte sich auf die Seite und musterte sein Spiegelbild im ausgeschalteten Fernseher. Es sah wirklich müde aus und so fühlte er sich auch. Mental versuchte er sich auf die Dusche vorzubereiten, nur um danach gleich ins Bett zu fallen. Doch er wusste, dass ohnehin wieder etwas dazwischen kommen würde. Ob nun eine seiner Schwestern noch mit ihm reden, sein Vater von seinem Angelausflug erzählen oder seine Mutter sich großspurig über die Nachbarn aufregen wollte – seine Ruhe würde Noah ganz bestimmt nicht finden.

Wie in Zeitlupe setzte er sich auf, sank jedoch augenblicklich wieder in sich zusammen. Seine Muskeln waren erschlafft und schienen ihm nicht mehr zu gehorchen. Er verfluchte sich selbst dafür, dass er die Uhrzeit seiner Vorlesung vergessen und seine Schicht nicht verschoben hatte. Noch einmal würde ihm das nicht passieren, dachte er. So wie er es jedes Mal dachte, wenn er seine Vorlesungen verschwitzte.

Sein Blick fiel aus dem Fenster und verharrte auf dem Nachbarshaus. Bald würde Carina zurück aus New York kommen, dachte er. Jetzt in diesem Augenblick saß sie im Flugzeug, las ihr Lieblingsbuch von Emily Brontë und trank ein Glas Wasser. Vermutlich hatte sie ihr seidiges, blondes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden; wie sie es immer tat, wenn sie unterwegs war.

Noah liebte es, wenn sie einen Pferdeschwanz hatte. Denn dieser glitt immer so sanft durch seine Finger, wenn er damit spielte, während sie versuchte zu lesen oder mit ihm redete.

Schon morgen würde er Carina wieder in seine Arme schließen können, nach drei langen Monaten, in denen sie ein Praktikum in New York gemacht hatte. Wirklich nachvollziehen konnte Noah das nicht, da New York für ihn keinerlei Reiz hatte. Doch Carina war von Anfang an begeistert, als sie die Bestätigung der New York Times-Redaktion in den Händen hielt. Einzig die Tatsache, dass sie beide drei Monate getrennt waren, stimme sie ein wenig wehmütig.

Noah hatte sich für sie gefreut, daran bestand kein Zweifel, doch vermisste er sie einfach zu sehr. Vermutlich war es egoistisch zu hoffen, dass sie eher nach Hause kommen würde und Noah wusste, dass das falsch war. Dennoch hatte er jeden Tag kurz daran gedacht und sich danach dafür geschämt.

Die Haustür ging auf und nachdem mehrere Füße ins Haus stapften, fiel sie auch wieder ins Schloss.

„Noah?“, hörte er seine Schwester Amy rufen.

„Ja?“, erwiderte er und starrte wieder auf sein Spiegelbild im Fernseher. Er sah wie Amy hinter ihn trat, gefolgt von seiner anderen Schwester Lily und seinen beiden Eltern. Sie alle sahen besorgt drein. Sein Vater blieb im Türrahmen stehen, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Seine Mutter eilte zu ihm und ließ sich neben ihm auf die Couch nieder. Mit ihren langen Fingern umschloss sie seine viel größere Hand.

„Noah, Schatz, geht es dir gut?“, fragte sie und blickte ihn dabei eindringlich an.

Irritiert versuchte er ihr seine Hand zu entziehen, doch dann packte sie noch fester zu. Entschlossen, ihn nicht loszulassen.

„Ich bin ein bisschen platt von der Arbeit, aber ansonsten –“, begann er, wurde dann jedoch von seiner Mutter unterbrochen.

„Du hast es also noch nicht gehört?“

Lily hatte sich neben ihn auf die Couchlehne gesetzt und legte ihre Hand auf seine Schulter. „Noah, es ist etwas schreckliches passiert. Es läuft gerade überall in den Nachrichten, deswegen dachten wir, dass du bereits bescheid weißt“, sagte sie und biss sich auf die Unterlippe.

„Was ist passiert?“, fragte Noah und richtete sich langsam auf. Ein ungutes Gefühl breitete sich in seiner Magengegend aus.

„Mr. und Mrs. Harcourt haben uns vorhin angerufen, da sie dich nicht auf dem Handy erreichen konnten. Sie haben uns erzählt, dass das Flugzeug, in welchem Carina gesessen hat, einen technischen Fehler hatte. Es hatte urplötzlich in der Luft Feuer gefangen und die Motoren sind explodiert. Das Flugzeug stürzte sieben Meilen von Montreal entfernt ab“, erzählte seine Mutter und drückte Noahs Hand immer fester. „Die Rettungskräfte versuchen seit zwei Stunden die Passagiere zu bergen, doch bislang wurden nur Leichen geborgen. Darunter auch die von –“ Ihr versagte die Stimme.

„Carinas Leiche wurde geborgen und ist nun auf dem Weg hier her nach Ottawa“, meldete sich nun auch Noahs Vater zu Wort. Er stand noch immer im Türrahmen, doch nun hatte er die Arme verschränkt.

„Was?“, keuchte Noah. „Ich wollt mich auf den Arm nehmen. Mein Gott, der erste April war vor zwei Tagen. Über so etwas macht man keine Späße.“

„Noah“, setzte seine Mutter an.

Dieser riss sich von ihrer Hand los und erhob sich schwungvoll von der Couch. „Nein“, rief er und fuhr sich mit den Händen durch sein braunes Haar. „Nein.“ Langsam lösten sich seine Hände von seinem Haar und fuhren zu seinen Augen, in welchen sich bereits Tränen gesammelt hatten. Er sackte in sich zusammen und fiel auf seine Knie.

Sofort stürzten sich eine Mutter und seine beiden Schwestern auf ihn, schlangen ihre Arme um ihn und drückten ihn an sich.

Amy drückte ihre Lippen auf sein Haar und schloss ihre Augen. „Es tut mir so leid, Noah“, seufzte sie schließlich und begann selbst bitterlich zu weinen.

Noah saß da, spürte die warmen Körper seiner Familie auf sich, spürte ihre Nähe. Doch die brauchte er nicht. Er wollte Carina in seinen Armen haben, wollte sie an sich drücken und wieder ihren Pferdeschwanz durch seine Finger gleiten lassen, sie necken und mit ihr zu einem Footballspiel der Ottawa Renegades gehen.

Schlagartig wurde ihm bewusst, dass er dies nie wieder machen konnte. Nie wieder würde er sie von der Arbeit abholen können und ihr bei einem Baseballspiel zujubeln können.

Er schlang eine Arme um seinen eigenen Körper und beugte sich immer weiter nach vorne, bis seine Stirn den Teppichboden berührte. Er rang nach Luft, doch die Kehle war wie zugeschnürt. Tränen über Tränen rannen über sein Gesicht und tropften auf den rauen Stoff des Teppichfußbodens.

 

 

Noah saß an seinem Bett angelehnt und starrte vor sich hin. Er nahm weder sein Zimmer, noch den strengen Geruch nach gebratenem Fleisch war. Sein Magen knurrte, denn immerhin dieser wusste, dass es Zeit zum essen war. Doch Noah wollte nichts essen, er wollte sich nicht mehr rühren.

Er ließ seinen Kopf auf die Bettkante fallen und starrte an die Decke. Sie war mit weißen Sternen beklebt, die Carina ihm einst geschenkt hatte. Noah atmete tief durch und versuchte sich daran zu erinnern, doch vor seinem inneren Auge erschienen nur Bilder, die sein Gehirn durcheinander warf.

Sie hatten die Sterne gemeinsam aufgeklebt. Er hatte sie auf seine Schultern genommen, da sie keine Leiter gefunden hatten und sie ansonsten zu klein war. Sie waren gemeinsam bei einem Footballspiel gewesen; für Noah war es das erste Mal, doch Carina hatte sich in dem Stadion schon fast heimisch gefühlt. Sie waren gemeinsam in der Bibliothek und hatten an ihren Facharbeiten geschrieben. Carina klebte auch Sterne an seinen Bettpfosten auf, nur um zu demonstrieren, dass sie nicht für alles zu klein war.

Mit der Hand fuhr sich Noah durch sein Gesicht, rieb sich die Augen und rollte sich auf den dunklen Teppichboden vor seinem Bett zusammen.

Es klopfte an seiner Zimmertür und bevor Noah etwas sagen konnte, wurde sie geöffnet und sein Vater kam herein. Er schloss die Tür und ließ sich auf Noahs Bett nieder. „Hey Champ, wie geht es dir?“

Noah antwortete nicht, sondern starrte weiter vor sich hin.

„Es tut mir wirklich leid, was mir Carina passiert ist.“ Sein Vater faltete die Hände. „Ich kann nicht erahnen wie du dich gerade fühlst, aber glaube mir, wenn ich dir sage, dass deine Mutter, deine Schwestern und ich für dich da sind. Wenn du jemandem zum reden brauchst –“

„Ich brauche niemanden zum reden“, unterbrach Noah ihn. Er richtete sich auf und stützte seinen Oberkörper auf seine Knie. Er brauchte etwas ganz anderes: Carina.

Sein Vater gab einen tiefen Seufzer von sich: „Okay, jetzt hör mir bitte mal zu, ja?“ Noah blickte zu seinem Vater auf und nickte. „Ich weiß, dass du jetzt alleine sein möchtest, über alles nachdenken möchtest und trauern möchtest und das respektiere ich auch, sobald ich aus deinem Zimmer bin. Aber eins solltest du dennoch wissen: du darfst das alles nicht in dich hinein fressen. Deine Tante Jane, die Schwester deiner Mutter, ist daran kaputt gegangen. Du erinnerst dich an sie?“ Noah schüttelte den Kopf. „Ist vermutlich auch eine Weile her, als wir sie das letzte Mal in der Anstalt besucht hatten. Sie hatte sich nach dem Tod von Jonathan vollkommen vergessen, die Welt ausgeblendet und ist nach und nach daran kaputt gegangen. Verstehst du was ich dir damit sagen will, Champ?“

„Ich werde geisteskrank wie Tante Jane“, gab Noah wieder. Er erhob sich und strich seine Jeans glatt. „Danke, Dad, das war ein aufbauendes Gespräch.“

Noah ging an seinem Vater vorbei und verließ sein Zimmer, dieser folgte ihm augenblicklich.

„Essen ist fertig!“, rief seine Mutter durch das Haus, doch Noah hörte ihr gar nicht zu, versuchte den schmackhaften Geruch von gebratenem Fleisch und gekochtem Gemüse auszublenden. Er nahm sich die Schlüssel seines Wagens von der Kommode und eilte zur Haustür.

„Noah, wo willst du hin?“, fragte sein Vater besorgt.

„Weg“, antwortete dieser knapp.

Sein Vater wollte ihm aus dem Haus hinaus folgen, doch seine Mutter hielt in auf. „Owen, lass ihn gehen.“

Zusammen blieben sie stehen und sahen Noah nach, wie er über die Straße ging. Noah konnte ihre Blicke in seinem Rücken spüren. Er wusste nicht, ob er sich über ihre Besorgnis aufregen oder ärgern sollte. Ihm ging es doch gut. Seine Sorge galt viel eher Carinas Eltern. Er nahm sich vor bei ihnen vorbei zu schauen und gemeinsam mit ihnen zu trauern, bevor er sich in irgendein Pub zurückzog.

Noah hatte gerade die Hälfte der Straße überquert und festigte den Griff um seinen Autoschlüssel, als er seine Mutter aufschreien hörte. Das grelle Hupen eines Autos drang in sein Ohr und noch bevor er den Kopf in dessen Richtung drehen konnte, erfasste ihn etwas Schweres. Er hörte seine Knochen knacken und ein unerträglicher Schmerz durchzuckte seinen gesamten Körper. Augenblick wurde alles um ihn herum schwarz und die Geräusche wurden immer dumpfer, bis sie vollkommen erloschen.

 

 

Noah hörte ein gleichmäßiges Klicken in seinem rechten Ohr. Seine Gliedmaßen fühlten sich unsagbar schwer an und seine Schläfen pochten in einem stetigen Rhythmus. Doch Schmerzen hatte er keine. Langsam öffnete er seine Augen. Zunächst war noch alles verschwommen und unscharf. Es dauerte einige Sekunden, bis aus den Schemen feste Gegenstände mit scharfen Konturen wurden.

Die kahlen Wände waren gräulich oder weiß und wurden von Leuchtstoffröhren erhellt, die von der Decke hingen. Es roch seltsam, so fand Noah und für einen kurzen Augenblick glaubte er, dass er in einem Krankenhaus liegen würde. Doch der unbequeme Grund, auf welchem sein Körper lag, schien dem zu widersprechen.

„Willkommen, Mr. Seaton. Es freut uns, dass Sie endlich aufgewacht sind.“

Noah hob seinen Kopf an und erblickte sogleich eine graue Tür. Vor dieser stand ein Mädchen, die ein Klemmbrett fest an ihre Brust gepresst hatte. Sie fixierte ihn durch ihre rechteckige Brille mit einem durchdringenden Blick. Sie hatte rotes, dünnes Haar und ein mit Sommersprossen übersätes Gesicht. Noah hatte sie noch nie zuvor in seinem Leben gesehen und dennoch hatte er das Gefühl, dass ihre Anwesenheit für ihn wichtig war. Ihr Gesichtesausdruck strahlte eine Ruhe aus, die Noah selbst das Gefühl von Sicherheit gaben.

„Wo bin ich?“, krächzte Noah und verfiel sogleich in einen Hustenanfall.

„Sie sind im Jenseits.“

„Im was?“

„Im Jenseits, Sir. Sie sind vor vierzig Komma drei, sieben, acht, neun, zwei Sekunden verstorben.“

Noah sah sie für einen kurzen Moment schweigend an. Schließlich wandte er seinen Blick von ihr ab und sah sich im Raum um. „Ach so“, sagte er mit erstaunlich ruhiger Stimme, obwohl sein ganzer Körper zu zittern begann. Sein Herzschlag beschleunigte sich und Übelkeit überkam ihn.

„Soll ich ihnen einen Psychologen zur Seite stellen?“

„Nein“, seufzte Noah. Er drehte sein Becken, sodass seine Beine von der Liege glitten. Mit den nackten Füßen berührte er die Fliesen auf dem Boden. Sie waren kalt. Sie fühlten sich so echt an. Er atmete tief durch. Auch das fühlte sich echt an. So sollte es sich also anfühlen, wenn man tot ist?

„Mein Name ist Feena Empson und ich werde Ihnen in der Eingewöhnungsphase zur Seite stehen. Sollten Sie Fragen haben, so wenden Sie sich bitte an mich.“ Sie schenkte ihm ein zurückhaltendes, aber freundliches Lächeln. „Wenn Sie möchten, können Sie sich jetzt ankleiden, damit ich Sie herum führen kann.“

Noah sah an sich herunter und sofort lief ihm die Schamesröte ins Gesicht. Er war vollkommen nackt. Sofort hielt er seine Hände vor seinen Schritt. „Ja, Kleidung wäre ganz nett.“

Ein kleiner, rechteckiger Teil des Bodens fuhr surrend nach oben und ein weißer, metallischer Kleiderständer mit farbenfroher Kleidung kam zum Vorschein. Noah fischte sich schnell Shorts, blaue Jeans, ein weißes T-Shirt, ein rotes Hemd und ein paar Schuhe heraus und kleidete sich an.

Seine Betreuerin Feena hatte währenddessen den Blick abgewandt, wie Noah zu seiner Belustigung feststellte.

„Wenn es Ihnen nichts ausmacht, dann würde ich Ihnen jetzt gerne in unser System einführen, damit auch Sie sich schnell bei uns zurecht finden werden. Es wird Ihnen vieles erleichtern, wenn Sie von Anfang an ein Verständnis für uns entwickeln“, erklärte sie. Sie wartete geduldig an der Tür, bis Noah zu ihr stieß.

Gemeinsam verließen sie den Aufwachraum und gingen einen schmalen Flur entlang. Ihnen kamen viele Menschen entgegen, welche die gleiche, weiße Uniform wie Feena trugen. Sie bogen rechts ab und fanden sich in einer Zentrale wieder. Viele Menschen saßen vor Monitoren, auf denen Daten erschienen und wieder verschwanden. Sie schienen die beiden Besucher gar nicht zu bemerken, während sie in ihre Headsets sprachen.

Noah konnte dank des Durcheinanders kein Wort verstehen und versuchte sich daher auf Feena zu konzentrieren: „Wo sind wir hier?“

„Hier werden die Verstorbenen überwacht und Neuverstorbene in Listen einsortiert und Akten angelegt, damit wir über ihren Verbleib im Bilde sind. Sollten Sie jetzt ihre Wohnung beziehen und einen Job annehmen, so erfassen das unsere Computer und diese Daten werden in dafür vorgesehene Teilte Ihrer Akte abgespeichert. Sollte die Polizei Informationen über Sie benötigen, können Sie einfach auf diese Daten zugreifen.“

Augenblicklich dachte Noah an Carina und ein Gefühl der Höhe überkam ihn. Auch sie war verstorben! Ob auch sie sich in diesem Datennetz befand? Es wäre eine optimale Möglichkeit sie aufzuspüren. So müsste er sich nicht erst in dieser Welt zu Recht finden müssen und er hätte viel Zeit und Mühe gespart. Zeit, die er lieber mit Carina zusammen verbringen wollte und nicht mit der Suche nach ihr. „Was ist, wenn ich nach jemandem suchen möchte. Kann auch ich auf diese Daten zurückgreifen?“

„Dazu benötigten Sie die Zugangsberechtigung, welche nur der Polizei oder höheren Mitgliedern unseres Systems zuteil wird“, antwortete Feena. „Sollten Sie sich für den Beruf des Polizisten interessieren, können wir Sie auf die Bewerbungslisten eintragen lassen.“

„Wie lange würde es dauern, bis ich den Beruf des Polizisten ausführen könnte?“

Fenna schwieg einen Moment. „Das kommt darauf an, wann ein Platz frei wird, der Ihren Fähigkeiten entspricht. Es kann sehr schnell gehen, wenn Sie Glück haben. Aber bedauerlicherweise kann es auch passieren, dass Sie über Monate und Jahre warten müssen. Sollte dies der Fall sein, empfehle ich Ihnen einen anderen Beruf zu wählen, wenn auch nur Vorzeitig.“ Sie warf einen Blick auf ihr Klemmbrett, dann wirbelte sie herum und verließ die Zentrale. Noah folgte ihr einfach.

„Sie haben angefangen Journalismus zu studieren, Mr. Seaton. Auch hier verfügen wir über eine Zeitung für welche Sie arbeiten könnten, wenn es Ihren Interessen entspricht. Meines Wissens nach sind sogar wieder ein paar Stellen frei geworden.“

„Wie können Stellen frei werden, wenn hier Menschen leben, die bereits tot sind?“

„Nach der Eingewöhnungsphase können sich die Menschen entscheiden, ob sie auf der Erde wiedergeboren werden möchten. Diese Entscheidung ist jedoch nicht Pflicht. Es gibt auch Verstorbene, die bereits seit mehreren Jahrhunderten hier leben und lieber den Wandel unserer Welt genießen, als ein paar Jahre auf der Welt der Lebenden zu verweilen.“ Sie zuckte mit ihren Schultern und führte Noah in eine Eingangshalle. „Forschungen haben ergeben, dass sich hauptsächlich Paare dafür entscheiden, ein neues Leben zu beginnen. Ein entscheidender Punkt dafür ist, dass man hier keine Kinder gebären kann, sich die Paare jedoch eben diese wünschen. Zwar verfügen wir über die Möglichkeiten einer Adoption, aber das kann auch nicht jeden zufrieden stellen.“

„Besteht denn auch die Chance, dass man sich nach der Wiedergeburt wieder findet?“ Noah fand das mehr als spannend. Denn sollte er Carina in dieser Welt gefunden haben, so könnten sie sich einfach wieder in ihre Welt gebären lassen und ein Leben führen, wie sie es eigentlich geplant hatten.

„Wir legen den Grundstein, dass Sie sich kennen lernen können. Der Rest liegt ganz bei Ihnen. Natürlich gibt es dafür keine Gewähr und es ist auch schon passiert, dass die Paare nicht zueinander gefunden haben. Aber das ist ein Risiko, dem sich diese Paare von Anfang an bewusst gewesen sind.“ Feena beäugte ihn streng. „Würden sie eine Wiedergeburt in Erwägung ziehen?“

Noah kratzte sich verlegen am Kopf. „Es wäre doch eine interessante Option.“

„Sollten Sie den Gedanken nicht verworfen haben, können Sie mich gerne kontaktieren. Ich würde Sie bei diesem großen Schritt gerne begleiten.“

„Zählt das zu Ihren Aufgaben?“

„Sollten Sie meine Hilfe in Anspruch nehmen wollen, dann ja“, erläuterte sie und lächelte ihn dabei freundlich an. „Natürlich liegt die Entscheidung ebenfalls bei Ihnen. Aber um auf das vorher angeschnittene Thema zurück zu kommen; Sie sind verpflichtet in den ersten drei Wochen nach ihrer Ankunft einen Beruf auszuüben oder sich für Seminare oder Vorlesungen einzuschreiben. Andernfalls wird das Versorgungspaket auf ein Minimum reduziert und Sie werden in einen anderen Distrikt ziehen müssen – wenn Sie erlauben, Noah Seaton, versuchen sie das zu vermeiden. Ein Konto wurde bereits für sie eingerichtet und die dazu gehörigen Daten befinden sich in einem Schließfach in der Bank, dessen Schlüssel sie in ihrer ersten Wohnung finden werden. Das Startguthaben von zwölftausend Dollar wird Sie für die ersten Wochen über Wasser halten können. Aber täuschen Sie sich nicht. Das meiste Geld werden Sie durch die Mietkosten wieder verlieren.“

„Wie hoch wird die Miete sein?“, fragte Noah. Eine Gruppe von uniformierten Menschen drängte sich an ihnen vorbei. Ein hagerer, kleiner Mann stieß gegen Noah, entschuldigte sich jedoch augenblicklich mit gesenktem Blick und verschwand in dem Geäst aus Fluren.

„Das hängt davon ab, in welchem Distrikt Sie wohnen und ich welchem Bezirk ihre Wohnung liegt. Doch für die Neuverstorbenen werden zumeist kostengünstige Wohnungen gewählt, welche man zur Anfangszeit auch mit einem Durchschnittsgehalt finanzieren kann. Sollte Ihr Gehalt nicht für die Wohnung ausreichen, können Sie mich gerne kontaktieren. Entweder wird Ihnen eine günstigere Wohnung zugeteilt oder sie bekommen Hilfsgelder vom System.“

Noah nickte und sah auf eine große Anzeigetafel, die über einer Sitzecke angebracht war. Mehrere Namen wurden nacheinander eingeblendet, Zahlen erschienen und schon kam ein neuer Name. Wilma Young. Jannipa Bayarri. Ivan Komarow. Michiko Suzuki. Aadhi Wonghkamlao. So viele Namen aus den verschiedensten Ländern. Noah war sich sicher, dass jeder von ihnen gerade verstorben war und sie nun in dieser Welt landeten. Sein Name stand bestimmt ebenfalls für einige Minuten auf dieser Anzeigetafel. Noah Seaton. Carina Harcourt.

Feena hatte einen kleinen Apparat aus ihrem Gürtel gezogen und das Display aufmerksam studiert, bevor sie sich wieder ihm zugewandte. „Sie haben Glück, Mr. Seaton. Ihnen wurde bereits eine Wohnung zugeteilt, die Sie nun beziehen können. Wenn Sie möchten, dann kann ich Sie jetzt dort hin führen.“

Noah wandte sich von der Anzeigetafel ab und sah Feena neugierig an.

„Sie befindet sich im Distrikt C, das ist bloß wenige Blocks von hier entfernt.“

Als er gelebt hatte, hatte er schon öfters mit dem Gedanken gespielt, endlich auszuziehen. Er hatte sich sogar bereits nach billigen Zwei-Zimmer-Wohnungen umgesehen und zu Anfang auch auf Carinas Unterstützung gebaut. Nun hatte er ohne irgendwelche Mühen gehabt zu haben gleich seine erste eigene Wohnung. Es fühlte sich falsch an, das neue Heim zu beziehen, ohne vorher Carinas Rat bezogen zu haben.

Gemeinsam mit der kleinen Feena verließ er das Haus der Sterbenden. Sie gingen eine schmale Straße entlang, die bloß von wenigen Lichtern, die an den hohen Hauswänden angebracht waren, beleuchtet war. Der Himmel war pechschwarz. Noah suchte angestrengt nach Sternen, doch bloß vereinzelte grünliche Kugeln zierten das Firmament – und er war sich sicher, dass dies keine Sterne waren.

Binnen Minuten hatten sie eine breite Straße erreicht, die ebenfalls von hohen Häusern umgeben waren. Die Erdgeschosse bestanden hauptsächlich aus kleinen Restaurants, Modeboutiquen und Bars. Vor einem Schaufenster tummelten sich mehrere Menschen und Noah war geneigt, ebenfalls nach zu sehen, was denn dort passierte. Doch Feena nahm ihn am Arm und zog ihn hinter sich her. „Dort gibt es nichts für Sie zu sehen“, sagte sie eilig. „Es sei denn, Sie wollen von der Polizei mit dem Drogenkartell in Verbindung gebracht werden.“

„Wie bitte, was? Ein Drogenkartell im Jenseits?“ Noah war überrascht, wie ähnlich diese Welt doch der Welt war, in der er noch vor einer Stunde gelebt hatte.

„Es gibt hier noch viel dunklere Ecken, wo bloß die schlechtesten Menschen unserer Welt hausen. Deswegen, Mr. Seaton, gibt es hier die vorhin erwähnte Polizei. Dachten Sie, dass diese hier bloß den Verkehr leiten?“

Noah lachte auf, schüttelte dann aber auch schon den Kopf. „Ich habe gar nicht darüber nachgedacht. Die Ähnlichkeiten der Welten, die ich kenne, sind nur sehr verblüffend.“

„Es gibt hier tatsächlich nur wenige Unterschiede, die auch eher im optischen Bereich liegen. Wie Ihnen schon aufgefallen sein muss, ist der Himmel einheitlich Schwarz und nicht mit Sternen übersäht. Ähnlich gestaltet es sich mit der Sonne.“

Verdutzt bleibt Noah stehen. „Es gibt hier keine Sonne?“ Das konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen. Das, war er immer für so selbstverständlich gehalten hatte – die Sonne und die Sterne – würde er vorzeitig nicht mehr wieder sehen. Es kam ihm zu bizarr vor, als das er sich damit einfach so abfinden konnte.

Feena schien seine Verwirrung zu bemerken und schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. „Sollten Sie den Drang verspüren, ein paar UV-Strahlen zu tanken, dann haben wir extra dafür entwickelte Anlagen in Distrikt H und M.“

Noah fragte nicht nach, was dies für Anlagen waren, doch er konnte sich vorstellen, dass sie den typischen Solarien ähnelten.

Es dauerte nicht lange, als sie den Wohnblock erreicht hatten, in welchem Noah nun leben würde. Auch hier wirkte alles dunkel und bloß wenige Lichter an den Hauswänden erhellten die Straße. Noah konnte weit und breit keine Menschenseele entdecken, hörte aber die wenige hundert Meter entfernte Bahn, wie sie über die Gleise ratterte.

„Es ist eine sehr ruhige Gegend; perfekt für einen Neuanfang“, schwärmte Feena. „Wenn Sie die Straße entlang gehen, erreichen sie innerhalb weniger Minuten den Bahnhof, wo alle fünfzehn Minuten ein Zug einfährt. Zusätzlich haben sie von hier aus gute Verbindungen nach Distrikt D, in welchem Sie nach Herzenslust einkaufen und ausgehen können.“ Sie blieben vor einer schwarzen Eingangstür stehen.

Noah fuhr mit der Hand über das kalte Gestein des Gebäudes. „Ja, perfekt.“ Feena reichte ihm einen Schlüssel, der an einem Stofftigerschlüsselanhänger hing. Noah nahm ihn entgegen und musterte ihn mit belustigtem Blick. „Süß.“

Sie umfasste ihr Klemmbrett mit beiden Händen und lächelte ihn an. „Meine Arbeit ist fürs erste getan. Sollten Sie trotz allem noch Fragen haben, meine Nummer ist in ihrem Telefon unter der Kurzwahltaste drei abgespeichert, die Kurzwahltaste eins ist für die Polizei und die Kurzwahltaste zwei für die Feuerwehr. Auf ihrem Schreibtisch befindet sich ein Rund-um-die-Uhr-Ticket für die Schwebebahn, welches sie den kommenden Monat nutzen können – es ist ein Geschenk unserer Seits. Der Schlüssel für Ihr Bankschließfach befindet sich unter Ihrem Telefon und eine Broschüre für die folgenden Seminare und Vorlesungen befindet sich auf Ihrem Esstisch. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend. Ach, und Noah … viel Glück in unserer Welt. Ich weiß wie schwer es am Anfang sein kann, aber ich kann Ihnen garantieren, es wird sich lohnen. Hier ist es gar nicht so übel.“ Mit diesen Worten zwinkerte sie ihm zu, drehte sich um und ging den Weg zurück, den sie zuvor gekommen waren.

Den brünetten Mann ließ sie einfach dort stehen. Er sah ihr noch kurz hinterher, bevor er sich zu seinem neuen Heim wandte und die Tür aufschloss.

Es roch nach Farbe, frischem Holz und Desinfektionsmittel. Man hatte die Wände in ein sanftes blau gestrichen und neue Möbel aufgestellt. Direkt neben der Tür stand eine graue Ledercouch, davor ein schwarzer Couchtisch aus Lack und an der Wand war ein Fernseher angebracht. Noah hasste es, Fernsehen zu sehen und war sich sicher, dass er dieses Ding sobald nicht anstellen würde. Vielleicht konnte er ihn ja auch irgendwo verkaufen, um seine Suche nach Carina finanzieren zu können oder er schaffte sich vorerst ein Auto an. Durch einen offenen Türbogen konnte man einen Blick in das kleine Esszimmer werfen, wo ein schwarzer Lacktisch stand, umringt von vier mit weißem Stoff überzogenen Stühlen.

Auf einem kleinen Tisch neben dem Türbogen stand ein Plattenspieler. Es war bereits eine Platte eingelegt. Neugierig ging Noah darauf zu und legte die Nadel vorsichtig auf die Platte. Sofort ertönte ein altes Lied aus den dreißiger Jahren; Frank Sinatras Song: The Lady is a Tramp. Noah kannte es aus dem Musikunterricht und weil Carina es sich mal angehört hatte, als er sie bei sich zu Hause besucht hatte.

Beim Gedanken an Carina zog sich sein Magen zusammen und er gab einen lang gezogenen Seufzer von sich, bevor er sich auf die Couch nieder ließ. Er vergrub sein Gesicht in seinen Händen und gab ein gequältes Schluchzen von sich. Wie sollte er Carina nur in dieser skurrilen Welt wieder finden? 

Kapitel 2

 

Gwynne

 

 

Mit erhobenem Haupt verließ Gwynne das Büro ihres Vorgesetzten, wo sie gerade die Berichte ihres letzten Einsatzes abgegeben hatte. Mit ermattetem Blickt sah sie eine junge Frau an, die an ihr vorbei eilte und in eines der vielen Büros verschwand. Vermutlich war sie eine von den Sekretärinnen; eine absolut talentfreie Frau, die ihren Job bloß noch nicht verloren hatte, weil sie sich gelegentlich ihrem Vorgesetzten für wenige Minuten hingab. Gwynne hatte schon viele solche Frauen gesehen und war froh, dass sie selbst nicht zu ihnen gehörte.

Die Polizistin blieb vor einem Getränkeautomaten stehen und warf eine Geldmünze in den Schlitz. Ungeduldig drückte sie auf das Tastenfeld und beobachtete, wie die Coladose langsam heraus fuhr und in den Schacht fiel.

Die Dose war angenehm kalt. Das Kondenswasser perlte auf ihre Hand.

Gwynnes Blick fiel auf die Anzeigetafel über den Informationsbereich. Mit grüner Schrift auf schwarzem Hintergrund wurde die Aufstellung der neuen Teams für dieses Quartal angezeigt. Gwynne wurde ebenfalls ein neuer Partner zugeteilt und das selbst nach längeren Protesten gegen ihrem Vorgesetzten. Angespannt starrte sie auf die vielen Namen ihrer Kollegen und wartete, dass ihr Name eingeblendet werden würde, gemeinsam mit ihrem neuen Partner.

Es dauerte nicht lange und sie wusste, was sie wissen wollte. Zunächst erschien ihr eigener Name, bevor ein weiterer daneben eingeblendet wurde. Noah Seaton. Der Name war ihr gänzlich unbekannt und somit konnte Noah Seaton keiner der aufstrebenden Streifenpolizisten sein, welche sich bis aufs Blut um die neusten Stellen als Officer bewarben und stritten. Hatte man ihr etwa einen Frischling zugeteilt?

Mit gemächlichen Schritten und angehobenem Hauptes, um sich ihren Ärger nicht anmerken zu lassen, ging sie zum Computerraum des Präsidiums, dabei genüsslich ihre Cola am trinken. Doch es war nicht nur der Ärger, der sie in die verlassenen Räumlichkeiten mit den surrenden Monitoren trieb. Auch Neugierde brodelte unter ihrer Haut und während sie auf ihrer Unterlippe zu kauen begann, ließ sie sich auf einen der mit Stoff überzogenen Stühle nieder und hackte mit den Fingern auf die Tastatur ein. Der Bildschirm sprang an und das Emblem der Polizei erschien vor ihren Augen. Mit der Hand fuhr sie über den Touchscreen der in den Tisch eingelesenen Tastatur. Jeder Angestellte des Präsidiums hatte eine ordentlich geführte Akte auf der Festplatte, welche Gwynne mit Leichtigkeit ausfindig machen konnte. Sie würde einen Grund finden, der Noah als Partner für sie ungeeignet machte – auch wenn im Grunde seine Nonerfahrung erheblich Ausschlaggebend war – und sie somit weiterhin als einsamer Wolf ihre Arbeit verrichten konnte.

Nach geschlagenen vier Stunden und zwei Tassen mit widerlichem Automatenkaffee hatte sie noch kein Ergebnis, war aber mächtig beeindruckt. Nicht nur, dass Noah Seaton ein kluger Kopf zu sein schien, so hatte er auch die Ausbildung zum Polizisten in Rekordzeit abgeschlossen. Mit herausragenden Noten und sogar einer persönlichen Empfehlung des auszubildenden Chiefs hatte Noah bereits nach Monaten in den Dienst treten dürfen. Entweder war Noah ein Ausnahmetalent, was seinen Berufswunsch als Polizist jedoch fraglich werden ließ oder er verfolgte ein bestimmtes Ziel, welches Gwynne allerdings schleierhaft war.

Mit der Hand fuhr sie sich durch ihre schwarze Lockenpracht. Was trieb einen so jungen Mann wie Noah dazu an, nach seinem Tod so verbissen an einer Polizeikarriere zu arbeiten? Gwynne vermutete zunächst, dass es womöglich mit seinem eigenen Tod zusammenhängen könnte, schließlich starb er durch einen Autounfall. Doch stand in seiner Akte, dass er während des überqueren einer Straße von einem Lastkraftwagen erfasst wurde – daher schien dies nicht der Grund zu sein. An seinem Tod hätte selbst die Polizei nichts ändern können. Auch sein näheres Umfeld, welches in verschiedenen Teilen seiner Akte angeschnitten wurde, wies keinerlei Hinweise auf. Gwynne schürzte die Lippen und kratzte sich am Kinn. Was für ein Geheimnis verbarg dieser junge Mann bloß? Sie war ratlos. Sie konnte ihn aufgrund der Daten nicht einmal für unzurechnungsfähig einstufen. Ganz im Gegenteil, er schien zu wissen, was er tat.

Sie gab ein knurren von sich und schaltete den Computer wieder aus.

 

 

Gerade hatte sie den Computerraum mit aufkommenden Kopfschmerzen verlassen, als die kleine Kommunikationskonsole an ihrem Gürtel leise aber stetig zu surren begann. Gwynne nahm sie in ihre Hand und drückte auf den Freisprechknopf. „Was?“, seufzte sie mit angespanntem Unterton.

„Officer Bancroft, seinen Sie doch mal ein bisschen freundlicher.“ Es war die amüsierte Stimme ihres Vorgesetzten Mr. Alistair Brown.

Wie gerne wäre Gwynne ihm jetzt ins Gesicht gesprungen und hätte ihm durch das wulstige Gesicht gekratzt. Die Wut in ihr kochte und ließ ihre Haut kribbeln. „Wie sollte ich, wenn Sie Ihre Versprechen nicht einhalten?“

„Meine Versprechen?“, fragte er verwundert.

„Wir hatten vereinbart, dass Sie mir, wenn überhaupt, einen erfahrenen Polizisten zuteilen. Doch dieser ist ein blutiger Anfänger. Meine Güte, er kommt gerade einmal von der Polizeischule und hatte noch nicht einmal seinen erste Streife, geschweige denn seinen ersten Einsatz. Er wird, und das garantiere ich Ihnen, in der ersten Woche da draußen draufgehen und mich mitreißen. Wir hatten eine Vereinbarung, Mr. Brown.“

„Er passt perfekt zu Ihnen, auf mehr kommt es nicht an. Sie zwei werden sich da schon zusammenraufen können.“

„Mr. Brown –„

„Officer Bancroft, Sie können meine Entscheidungen gerne in Frage stellen, doch haben Sie diese dennoch zu befolgen. Mr. Seaton wird Ihr Partner sein. Sollten Sie nach wie vor etwas einzuwenden haben, dann können wir uns gerne in meinem Büro und über ihre Zukunft bei unserer Polizei unterhalten.“

Gwynne biss sich auf die Zunge.

„Sie werden ihn noch heute Abend kennen lernen, vor Ihrer gemeinsamen Nachtschicht. Beschnuppern Sie sich, lernen Sie sich kennen. Vielleicht irren Sie sich ja mit ihrer Einstellung, Miss Bancroft.“ Mit diesen Worten legte Mr. Brown auf.

Gwynne stand da und starrt auf ihre Kommunikationskonsole. Man hatte sie tatsächlich an der Nase herum geführt. Ihre Nasenflügel blähten sich auf und voller Wut stopfte sie ihre Kommunikationskonsole zurück in die Halterung. Das würde sie sich nicht gefallen lassen, beschloss sie. Sie stapfte die Gänge des Polizeipräsidiums entlang und betrat den Pausenraum. Hier würde sie warten, bis sie ihren neuen Partner zu Gesicht bekam und dann würde sie ihm sein Leben hier und überall sonst im Jenseits zur Hölle machen.

Knurrend ließ sie sich auf das Sofa fallen und starrte auf den Fernseher an der Wand. Es liefen gerade die Nachrichten, die von einem Mann mit jugendlichen Gesichtszügen moderiert wurden. Gwynne hörte ihm zu, wie er über den Bestand der Rotbäume sprach, der sich in Distrikt D nach Jahren endlich zu erholen schien und schließlich auf einige Einsätze der Polizei zu sprechen kam und deren Fähigkeiten kritisierte – oder viel eher von seinem Teleprompter ablas.

Der hatte wirklich leicht reden, dachte Gwynne mit angespannten Muskeln. Er musste nicht in solch gefährlichen Situationen agieren und über Leben und Tod entscheiden. Er saß nur hinter seinem schicken Lackschreibtisch und redet. „Mistkerl“, murmelte sie.

 

 

Gwynne hatte sich zwischenzeitlich ein Nickerchen gegönnt und sich umgezogenen. Die blaue Uniform wurde gegen eine weiße Bluse und eine schlichte schusssichere Weste mit dem Emblem der Polizei eingetauscht. Nun ging sie vollends entspannt zum ersten Treffen mit ihrem neuen Partner. Zwar war sie noch immer wütend auf ihren Vorgesetzten, doch hatte sie sich dafür entschlossen, dem Frischling eine Chance zu geben. Denn auch sie war mal eine von den Neuen gewesen. Nur hatte sie Glück gehabt und damals einen einfühlsamen und lehrreichen Partner bekommen, mit dem sie die ersten Monate genüsslich auf Streife gehen konnte, um das Handwerk des Polizisten in der Praxis zu beherrschen. Sie würde das gleiche für Noah Seaton tun, damit er nicht bei den ersten Einsätzen sein Leben lassen musste.

Man erwartete sie bereits im Büro ihres Vorgesetzten Mr. Brown. Der alte Mann mit dem grauen Haaransatz und den struppigen Augenbrauen begrüßte sie breit lächelnd, doch Gwynne ignorierte ihn demonstrativ. Ihre Aufmerksamkeit galt einzig und allein dem jungen Mann, der auf einem Stuhl saß und ihren Blick, wenn auch etwas scheu, erwiderte. Er war hoch gewachsen, wirkte sportlich und hatte diesen traurigen Blick, den man oft bei den Neuverstorbenen sah. Gwynne wurde das Herz schwer. Sein hellbraunes Haar hatte er sorgfältig auf Seite gekämmt und die grünen Augen musterten sie neugierig. Sein schmales Gesicht und die vollen Lippen erinnerten sie an die englischen Männer, die sie oft im Fernsehen gesehen hatte.

„Guten Abend“, sagte sie freundlich und reichte dem jungen Mann ihre Hand. „Mein Name ist Officer Gwynne Bancroft.“

„Noah Seaton“, sagte er mit einer rauen Stimme, die Gwynne durch Mark und Bein ging. Er drückte ihre Hand sanft, bevor er sie wieder los ließ. Gwynne machte keinerlei Anstalten sich hinzusetzen, weswegen Noah nun aufstand.

Auch Mr. Brown erhob sich, aber vermutlich auch nur, um mit den beiden Partnern auf Augenhöhe zu sein. „Sie beide arbeiten nun zusammen als Officer in Distrikt D“, sagte er und reichte Gwynne eine Akte. „Dort geht es in letzter Zeit etwas rau zu. Ein paar aus unserer Fandungsliste sollen dort gesehen worden sein.“ Er bedachte sie mit einem ersten Blick, bevor er fort fuhr. „Besonders Sergei Orlow scheint dort in den letzten Wochen öfters zu gegen gewesen sein. Man munkelt, dass er sich in diesem Distrikt niedergelassen hat. Er hat zwar oberste Priorität, vergessen sie dennoch nicht die anderen tausenden von Menschen.“

„Sergei Orlow war sonst immer ein Problem des FBIs. Warum sollen wir ihn jetzt unter unsere Fittiche nehmen?“, fragte Gwynne und begutachtete das Bild des russischen Mafiosi in der Akte. Er hatte blondes Haar mit grauen Strähnen, die er dem Alter zu verdanken hatte und eine fahle Haut, die mit Pigmenten übersäht war. Ein schöner Anblick war er bei weitem nicht, aber sein Gesicht würde Gwynne sich mit Sicherheit merken können.

„Und die werden auch weiterhin an diesem Fall arbeiten. Aber Sie kennen das ja, Miss Bancroft, vier Augen sehen mehr als zwei.“ Brown setzte sich mit einem Keuchen in seinen Stuhl und wedelte mit der Hand umher. „Nur, dass es in diesem Fall mehr Augen sind – Sie wissen schon.“

Gwynne nickte als Antwort und kehrte ihrem Vorgesetzten den Rücken zu. So schnell würde er sie nicht mehr zu Gesicht bekommen. Dafür musste erst sich erst einmal wieder ihr vollwertiges Vertrauen zurück gewinnen. Gefolgt von ihrem neuen Partner, verließ sie das Polizeirevier.

 

 

Schweigend waren sie durch Distrikt A gegangen und hatten die erste Bahn nach Distrikt D genommen. Keiner von ihnen hatte auch nur ein Wort während der Fahrt gesprochen, was Gwynne nach geraumer Zeit mehr unangenehm fand. Sie hatte das Bedürfnis etwas zu sagen, fand jedoch nicht die richtigen Worte. Noah schien es ähnlich zu gehen, so glaubte Gwynne zumindest. Aus seiner Mimik wurde sie kaum schlau. „Waren Sie bereits in Distrikt D, Noah?“, fragte sie ihn schließlich.

Dieser schüttelte den Kopf. „Nein, bislang war ich nur in meinem Wohndistrik und Distrikt A, wo die Polizeischule ist und das Haus der SterbendenHauHausFfffffsfs.“ Er zuckte mit seinen Schultern. „Ich hatte bislang keine Zeit für Sightseeing.“

Gwynne atmete auf. Anscheinend waren sie doch in der Lage eine Konversation zu führen. „Das habe ich aus Ihrer Akte gelesen. Sie haben meinen Respekt, Noah. Noch nie ist mir jemand untergekommen der die Ausbildung so schnell abgeschlossen hat und direkt als Officer angestellt wird. Bei Gelegenheit müssen Sie mir davon erzählen.“

Noah lachte auf. „Von meiner Seite gibt es da nicht viel zu erzählen.“

Gwynne musterte ihn mit ihren dunklen Augen und lächelte ihn schief an. „Sie müssen doch einen Grund haben, weswegen Sie so schnell fertig waren. Selbst Menschen mit gewissem Talent haben länger gebraucht; bei Ihnen steckt deutlich mehr dahinter. Auch jetzt kann ich es an Ihrem Blick erkennen. Sie wollen etwas damit erreichen.“ Noahs Blick ging auf einmal starr geradeaus, als dachte er an etwas oder jemanden. Gwynne hatte ins Schwarze getroffen. „Was ist es, Noah?“

Ein Lächeln umspielte seine vollen Lippen, bevor er seine Hände in die Hosentaschen gleiten ließ. „Ich bin auf der Suche nach jemand. Jemand ganz besonderem.“ Er hüllte sich in Schweigen, bevor er erneut zu erzählen begann. „Diese Person starb kurze Zeit vor mir und –“

„Um Gottes Willen, Sie haben sich doch nicht etwa wegen dieser Person umgebracht?“

„Nein, nein. Ich hatte keinerlei Einfluss den jeweiligen Tod. Vielleicht war es ein Zufall, vielleicht Schicksal.“

Gwynne war kein Mensch, der an Schicksal glaubte, aber sie würde Noah den Glauben nicht ausreden wollen – so grausam war sie nicht. Sie nickte lediglich und hielt ihren Blick auf die Straße. Die Suche nach jemandem war ein bedeutender Antrieb, besonders in dieser Welt. Gwynne selbst hatte nach ihrer Mutter gesucht, jedoch vergebens. Sie hatte sich zwei Jahre zuvor für eine Wiedergeburt entschieden und war nun wieder im Diesseits.

Wenige Minuten später erreichten sie Distrikt D. In mitten dessen war ein tiefer Abgrund, dessen Boden man nicht erspähen konnte. Am Rande des Abgrundes waren mehrere Ebenen eingesetzt, auf welchen Menschen lebten und arbeiten. Treppen und Fahrstühle sorgten dafür, dass man auf die verschiedenen Ebenen wechseln konnte. Gwynne liebte diesen Distrikt. Die Straßen waren immer voll – überall herrschte Leben. Trotz des offensichtlichen Vorrückens der Mafia, war die Verbrecherrate äußerst gering und somit konnte Gwynne sich auf entspannte Arbeitstage freuen.

Noah war stehen geblieben und starrte mit großen Augen über die Brüstung und den Abgrund hinunter. Gwynnes Mundwinkel hoben sich zu einem Lächeln an. So hatte auch sie drein geschaut, als sie das erste Mal hier gewesen war. Ihr Herz hatte wie wild in ihrer Brust geschlagen und ihr Blick versuchte so viel wie möglich zu erhaschen.

„Was ist dort unten?“, fragte Noah an Gwynne gewandt.

Diese lehnte sich an die Brüstung und musterte ihren brünetten Partner. „Es gibt Gerüchte, dass dort unten ein Gefängnis wäre, oder dass dort eine Miene wäre, wo früher nach Edelmetallen gesucht wurde. Man ist sich darüber nicht einig.“ Sie zuckte bloß mit ihren Schultern, denn ihr Interesse galt anderen Dingen. Dieser Abgrund entstand lange vor ihrer Zeit und somit war er für sie von wenig Bedeutung. „Wenn du es herausfinden willst, dann spring doch herunter.“ Ein leises Lachen entsprang ihrer Kehle, bevor sie abwinkte und weiter ging.

Auch Noah lachte auf und holte sie mit wenigen Schritten wieder ein. „Dieser Distrikt sieht toll aus“, schwärmte er und blickte sich begierig um. Die Läden, die im gelblichen Licht schimmerten und die vielen Menschen, die im Strom der Masse lebten, gaben diesem Distrikt ein besonderes Flair, welchem sich nur die wenigsten Menschen wieder entziehen konnten.

Sie schenkte ihm ein breites Lächeln, wandte dann ihren Blick aber wieder auf die hell erleuchtete Straße. „Ja, das ist er in der Tat. Deswegen sind die Wohnungen hier auch nahezu unbezahlbar, besonders wenn sie nahe am Abgrund liegen und auch die Läden sind binnen Tage neu vermietet. Vergleicht man es mit anderen Distrikten, boomt der Immobilienmarkt hier regelrecht.“

„Und hier dürfen wir jetzt also arbeiten“, seufzte Noah glücklich.

„Bis Brown sich dagegen entscheidet, ja.“

Kapitel 3

 

Carina

 

 

Der Wind peitschte und zerzauste ihr blondes Haar. Wir kleine Nadeln stach er durch ihr Gesicht und ließ ihre Wangen und die Nasenspitze rot werden. Obwohl sie tot war, obwohl sie in Stücke gerissen wurde, konnte sie rot werden. Blut floss durch ihren toten Körper, als wäre sie im Diesseits, als wäre nie etwas passiert.

Man hatte ihr gesagt, dass es für die Entstehung und dem Auftauchen in dieser Welt keine wissenschaftliche Erklärung gab. Man hatte sie abgewimmelt und mit unzähligen Fragen zurück gelassen. Nur mit schwerem Herzen konnte sie sich damit abfinden, dass es keine Antworten gab. Vor wenigen Monaten hatte sie immer nach Antworten gesucht, für jegliche Kleinigkeit. Doch nun war es anders, sie hatte sich verändert. Diese Welt hatte aus ihr einen fremden Menschen gemacht. Wenn Noah jetzt ihr wäre, ihr wundervoller Noah, er hätte sie nicht wieder erkannt. Irgendwann wird sie wieder bei ihm sein und dann konnte sie die junge Frau sein, die sie einst gewesen war.

Sie zog die dunkelblaue Kapuze über ihren Kopf und warf einen wachsamen Blick auf den Distrikt. Sie stand so weit oben und konnte so tief hinunter gucken. Mit ernstem Blick beobachtete sie eine Gruppe von Männern, wie sie sich an den Straßenrand drängten. Keiner von ihnen bewegte die Lippen, sie tauschten lediglich Blicke aus. Aber Blicke sagten oftmals mehr, als tausend Worte.

 

Kapitel 4

Noah

 

 

Gegen seine Erwartungen vermisste er die Sonne nicht und besonders die Schönheit seines derzeitigen Arbeitsplatzes hatte es ihm angetan. Dass er einst in einer anderen Welt, auf der Erde gelebt hatte, erschien ihm wie ein seltsamer Traum. Stinkende Abgase und Fabriken gehörten nun der Vergangenheit an. Noah konnte sich nicht daran erinnern, jemals so reine Luft eingeatmet zu haben, wie es sie in seiner neuen Heimat gab. Die Erde erschien ihm nun wie ein verdreckter und niederträchtiger Ort, den er am besten meiden sollte. Er hatte zwar ohnehin nicht vorgehabt zu gehen, bevor er Carina gefunden hatte, doch nun war der Gedanke noch abtrünniger.

Mehrere duzende Akten waren auf seinem Bett verteilt. Viele beinhalteten unaufgeklärte Fälle, die nun erneut aufgerollt werde sollten oder das Profil eines Verbrechers, der sein Unwesen in Distrikt D trieb. Niemand von diesen Verbrechern war äußerst gefährlich. Sie schmuggelten lediglich mit gestohlener Ware oder verkauften Crystal Meth oder Koks an das Drogenkartell. Kleinganoven, wie sie im Buche standen. Doch die meisten hatten Kontakt mit Sergei Orlow gepflegt, was Noah zunehmend ein ungutes Bauchgefühl bescherte.

Laut der Uhr an seiner Wand würde es bald Mitternacht sein. Das Zeitgefühl hatte ihn dank der fehlenden Sonne schon längst verlassen. Noah regte und streckte sich, bevor er sich auf der Decke, zwischen all den Akten, zusammen rollte. Den Blick hielt er starr Richtung Fenster, wo er die Silhouetten der vorbeigehenden Menschen beobachten konnte. Oftmals schrak er auf, da er Carina in einer der Schemen zu erkennen glaubte, doch sie war es nie.

Irgendwann war er eingeschlafen und durchlebte eine traumlose Nacht. Eine Nacht, die niemals erhellen würde.

 

 

Es war bereits Mittag, als Noah sich aus dem Bett quälte und auf nackten Füßen durch seine Wohnung tapste. Er griff nach dem Telefonhörer und ließ sich zeitgleich auf die Couch fallen. Er drückte auf die Kurzwahltaste drei und wartete geduldig, bis jemand auf der anderen Seite der Leitung den Hörer abnahm.

„Feena Empson, Betreuerin für Neuverstorbene, guten Tag?“, erklang die Stimme des Mädchens.

„Feena, hier ist Noah Seaton, erinnerst du dich?“

Kurz herrschte Schweigen und Noah begann bereits an der Verbindung zu zweifeln, doch dann ergriff sie schon das Wort: „Natürlich, ich betreute Sie vor geraumer Zeit. Haben Sie sich gut in unserer Welt eingelebt, Mr. Seaton?“

Noah gab ein helles Lachen von sich. „Ich habe mir zumindest aller größte Mühe geben.“ Er warf einen schnellen Blick aus dem Fenster, an welchem eine Gruppe von jungen Frauen vorbei lief. Carina war nicht dabei.

„Was kann ich für Sie tun, Noah?“ Ihre Neugierde war deutlich zu vernehmen.

„Ich wollte dich fragen, ob du mir ein paar Informationen besorgen könntest? Als Polizist habe ich die erforderliche Freigabe erreicht, aber da ich sehr beschäftigt bin mit meinem Distrikt –“

„Was für Informationen?“

Augenblicklich schnellten Noahs Augenbrauen in die Höhe und etwas verwundert und doch angenehm überrascht blickte er kurz ins Leere. „Über eine junge Frau, die kurz vor meinem Tod hier im Jenseits erschien.“

Noah hörte, wie Feena auf einer Tastatur tippe. „Name, Todesdatum und Todesort.“

Um seine Mundwinkel zuckte es und sein Herz begann schneller zu schlagen. War es nun endlich so weit? Nach vielen Monaten konnte er seine Suche nach Carina endlich voransetzten.  „Carina Harcourt, 25.04.2015, sieben Meilen vor Montreal.“

Wieder hörte er das tippen. Voller Spannung biss er sich auf seine Unterlippe.

„Es waren sieben Komma vier, fünf, sieben Meilen“, warf Feena schließlich ein und wieder hackte sie mit ihren Fingern auf der Tastatur herum. „Carina Harcourt kam genau sieben Stunden vor Ihnen bei uns an und wurde in psychische Behandlung gebracht. Ähm … sie hatte einen Nervenzusammenbruch … ihr Aufenthalt dauerte nur wenige Tage an … ihr wurde eine Wohnung in Distrikt E zugeteilt, allerdings bezog sie schlussendlich eine Wohnung in Distrikt H.“

„Wo ist Distrikt H?“

„Dieser Distrikt grenzt an Distrikt G, I und K und zählt mitunter zu den kleinsten Distrikten in unserem System. Er ist das Zentrum für Künste und Kultur und wird vorwiegend von Menschen bewohnt, die vor ihrem Tod in dieser Branche tätig waren. Das macht siebenundsechzig Prozent der Bevölkerung in diesem Distrikt aus, die anderen dreiunddreißig Prozent sind überwiegend wegen der hellen und freundlichen Atmosphäre dazu gezogen, ebenso aufgrund der Nähe zu Distrikt G“, ratterte Feena herunter. Sie machte eine kurze Pause um Luft zu holen und fuhr anschließend fort.  „Carina teilt sich eine Wohnung mit einem gewissen Herrn Darcy. Vince Darcy.“

Ein Stich durchfuhr das Herz Noahs. Carina lebte mit einem anderen Kerl zusammen? Wer war dieser Bastard? „Wer ist Vince Darcy?“

Feena schwieg einen Moment. „Dient dies der Suche ihrer Freundin, oder gilt diese Frage eher der Eifersucht? Noah, auch ich muss mich an Richtlinien halten. Da spielt es keine Rolle, ob Sie der Polizei angehören oder simpler Straßenmusiker sind.“

„Wenn ich mehr über ihn weiß, dann kann ich durch ihn Carina finden“, konterte Noah ohne mit der Wimper zu zucken. Ungeduldig begann er mit dem Saum seines T-Shirts zu spielen, während er auf weitere Informationen wartete.

Feena atmete tief durch. Offensichtlich war sie nicht sonderlich glücklich über seine Sturheit. „Vince Darcy war während seiner Lebzeiten ein britischer Adliger, verstarb jedoch vor hundertdreißig Jahren, infolge eines Unfalls. Zunächst war er hier in einer Bank angestellt, machte sich jedoch anschließend mit seiner Kunst selbstständig. Zwischenzeitlich hat er bei verschiedenen Ringkämpfen teilgenommen und laut diversen Zeitungsartikeln konnte er bislang immer das Preisgeld erkämpfen. Wie bereits erwähnt, er wohnt nun in Distrikt H, zusammen mit Carina Harcourt.“

Noah knirschte mit seinen Zähnen. „Wie lange leben sie mittlerweile zusammen?“

Feena seufzte und Noah glaubte zu wissen, dass sie ihre Augen verdrehte. „Zwölf Wochen und Noah, nur um das erwähnt zu haben, sie ist lediglich bei ihm gemeldet, was das Zusammenleben vermuten lässt. Ob sie tatsächlich bei ihm lebt ist damit nicht gesagt. Viele Menschen lassen sich aus Kostengründen in billigeren Wohnungen melden, bei Freunden oder Verwandten. Möglichweise lebt sie ja ganz woanders und möglicherweise sogar allein.“

„Kannst du Bilder von Überwachungskameras finden und sie mir schicken?“

„Nein.“

„Kannst du nicht?“

„Doch natürlich bin ich dazu in der Lage, aber ich werde Ihnen keine Bilder unseres Überwachungssystems zukommen lassen – das würde mich meine Sicherheitsfreigabe kosten.“

„Feena, ich bitte dich.“

„Es tut mir leid, Noah. Aber ich werde Ihnen dabei nicht helfen können.“ Mit diesen Worten legte sie auf und eine erdrückende Stille umfing Noah augenblicklich.

Nun war er einen großen Schritt weiter gekommen und dennoch erfüllte ihn das nicht mit Genugtuung. Er wollte mehr wissen, besonders was Vince Darcy betraf. Mit einem Seufzer zwang er sich aufzustehen und mit eiligen Schritten verließ er seine Wohnung. Es würde mit der Hochbahn in den Distrikt H fahren und sich dort umsehen. Vielleicht begegnete er Carina dort.

In wenigen Minuten hatte er den Bahnhof erreicht, wo sich viele Menschen auf den Bahnsteigen tummelten. Geschäftsmenschen hielten ihre Aktenkoffer fest an ihren Körper gepresst und Söldner mit verdreckter Kleidung rauchten genüsslich ihre billigen Zigarillos. Der Qualm kräuselte sich über ihren Köpfen und vermischte sich mit der Luft. Noah hielt sich im Schatten der Überdachung auf und wartete, dass die richtige Bahn einfuhr. Es war eine alte Bahn, wo die Farbe abblätterte und buntes Graffiti die Fenster zierte. In der Bahn lief die Klimaanlage auf vollen Turen, sodass Noah den Kragen seiner Jacke aufstellen musste und die Hände tief in die Jackentasche vergrub. Er ließ sich auf einen der blauen Sitze nieder und sank in sich zusammen.

Binnen Sekunden fuhr die Bahn weiter, über die Straßen hinweg und schlängelte sich an den hohen Häusern entlang. Zunächst durchquerten sie Distrikt E, in welchem überwiegend Fabriken standen. Die Luft war dick und stank und alles wirkte dunkler als es ohnehin schon war. Selbst die Menschen schienen dunkler zu sein. Distrikt E war einer der größten Distrikte und somit brauchte die Bahn über vier Stunden, bis sie über die Grenze zu Distrikt F fuhren. Augenblicklich wurden die Gebäude heller, die Luft klarer und die Straßen leerer. Dieser Distrikt war für die Herstellung von Automobilen und Flugtransportern verantwortlich. Es waren nur kleine Fabriken, die sich im westlichen Teil des Distrikts befanden, im restlichen Teil  waren hohe Wohnhäuser und Boutiquen.

Die Bahn hielt am Hauptbahnhof des Distrikts und viele Leute stiegen zu. Eine ältere Dame ließ sich neben Noah auf die Sitzbank nieder. Kurz schenkte sie ihm ein verlegenes Lächeln, bevor sie ihren Blick aus dem Fenster richtete. Noah musterte sie für einen kurzen Augenblick, versank doch schließlich wieder in seine Gedankenwelt.

Die Bahn fuhr wieder aus dem Hauptbahnhof raus und über die Straßen des Distriktes hinweg. Sie fuhren über die 5th Avenue und überquerten den Sanktusplatz. Überall verteilten sich Menschen und noch mehr Fahrmobile verstopften die Straßen. Der Berufsverkehr hatte begonnen.

 

 

Binnen einer halben Stunde hatten sie auch diesen Distrikt verlassen und fuhren in Distrikt G hinein. Es war ein kunstvoller Distrikt, der sich ganz dem Geiste gewidmet hatte. Überall waren prachtvolle Kirchen und Tempel errichtet worden, deren Türme hoch in den Himmel ragten. Moscheen wurden an prachtvollen Plätzen errichtet und Schreine in mysteriös wirkenden Wäldern oder auf kleinen Felsen. Gaslampen erhellten den gesamten Distrikt und vertrieben den pechschwarzen Himmel, sodass man fast vergaß, dass im Jenseits keine Sonne existierte.

Noah hatte auf der Polizeiakademie viel über diesen Distrikt gehört. Vor allem, dass die Weltreligionen hier in vollem Einklang miteinander waren und nicht, anders als in der Welt der Lebenden, sich gegenseitig bekriegten und zu vernichten versuchten. Niemand wurde mehr für seine Religion verurteilt.

Ein Lächeln umspielte Noahs Lippen, als die Bahn an einem buddhistischen Tempel vorbei fuhr. Carina hatte sich sehr für den Buddhismus interessiert, sich jedoch nie getraut zu konvertieren – aus Angst man könnte sie dafür verurteilen. Der Tempel war aus rotem Holz gebraut und graue Steintreppen führten zu einem muschelförmigen Eingang. Säulen hielten das hervorstehende, schwarze Dach, welches mit vergoldeten Figuren geschmückt war. Lichter brannten in Glaskästen, welche von rotem Holz umrahmt waren und erhellten den Garten vor dem Gebäudekomplex.

Noah würde Carina an diesen Ort führen, sobald er sie gefunden hatte und alles seine Normalität erreicht hatte. Normalität. Eine Norm, die in der Gesellschaft  so hoch geschätzt war und doch von jedem einzelnen Menschen anders ausgelegt wurde. Normalität war nur eine Illusion, welcher unglückliche Menschen nacheiferten oder anderen aufzwängen wollten. Noah wurde bewusst, dass auch er zu den Unglücklichen gehörte. Unglücklich mit seiner Situation. Unglücklich mit dem was er tat. Unglücklich dem was er dachte. Unglücklich mit dem was er fühlte. Reines Unglück und nichts vermochte es in das Gold von Frieden und Glückseligkeit zu verwandeln.

„Möchten Sie ein Minzbonbon, Junge?“, wurde Noah von der alten Dame gefragt und somit aus seinen Gedanken gerissen. Sie hielt ihm mit einem freundlichen Lächeln eine grüne Tüte mit Bonbons hin und blickte ihn dabei mit hochgezogenen Augenbrauen  erwartungsvoll an.

Dankend nahm Noah sich eins und schob es unter ihrer Aufsicht in seinen Mund, bevor sie fröhlich kichernd ihre Schultern anhob und ihren Blick wieder aus dem Fenster richtete. Der frische Geschmack von Minze breitete sich in seinem Mund aus, erfüllte seine Zahnlücken und belebte die Schleimhäute. Sein Speichel fühlte sich auf einmal kühl und voller Leben an, während er seinen Hals benetzte.

Sie verließen Distrikt G und erreichten nun endlich Distrikt H. Die Gebäude wurden wesendlich stilvoller, als wären sie in der Zeit der Gotik erbaut worden. Mit hellbraunen Gestein und schwarzen Dachziegeln und ebenso hellen Beleuchtungen wie im Distrikt zuvor wirkten die Häuser einladend. Sie zogen Noahs Blick auf sich, als wollten sie, dass er sie damit verschlang und nie wieder hergeben würde.

Die Bahn hielt in einem kleinen Bahnhof, bestehend aus einem zehn Meter langen Steg und einer kleinen Überdachung, wo lediglich Platz für drei Menschen war. Noah verabschiedete sich bei der alten Dame und verließ die Bahn. Augenblicklich nachdem er ausgestiegen war fuhr sie weiter und ließ ihn alleine.

Menschen eilten unter dem Bahnsteg umher und schienen gar nicht zu bemerken, dass sich etwas über ihren Köpfen befand. Noah stieg die Treppe herunter und blickte sich um. Große Häuser, mit riesigen Treppen standen um einen Platz herum, in dessen Mitte eine riesige Statue stand. Sie war ein bärtiger Mann, mit einer Mütze auf dem Kopf, wie Noah sie noch nie gesehen hatte. Carina würde wissen wer das war, sie kannte sich mit so etwas aus. Sein Magen zog sich zusammen. Nun war er Carina so nah, wie schon lange nicht mehr. Dieser Distrikt mochte zwar zu den Größten gehören, war mit Distrikt E jedoch nicht gleichzustellen. Ihre Wohnung würde er also schnell gefunden haben, da war er sich sicher.

Mit schnellen Schritten eilte er auf das erste Hochhaus zu, das er mit seinem Blick einfangen konnte. Als er es erreichte, studierte er akribisch die Namen an den Briefkästen. Niemand der Bewohner hieß Darcy oder Harcourt mit Nachnamen. Auch bei den zwei darauf folgenden Wohnkomplexen hatte er keinen Erfolg und allmählich empfand Noah nur noch Enttäuschung und Wut.

Er spazierte an der Noir, dem Fluss, der denn Distrikt durchfloss, entlang. Künstler saßen auf ihren Stühlen und malten auf Paletten den Fluss in dem künstlichen Licht, wie er gleichmäßig Richtung Westen floss.

Bäume mit schwarzen Stämmen und dunkelgrünen Blätter wuchsen auf hellgrünen Wiesen. In Noah kam der Impuls auf, einen der Stämme zu berühren, um sich zu vergewissern, dass er echt war. Doch er schüttelte den Kopf und ging einfach weiter.

Es dauerte fast eine Stunde, bis er das nächste Wohnhaus erreichte. Es war weniger hoch als breit und barg nur vier Wohnungen. Noah bezweifelte zwar, dass er nun fündig werden würde, aber dennoch warf er einen Blick auf die Namensschilder auf den Briefkästen und tatsächlich, da stand es: Darcy / Harcourt

Noahs Herz setzte für wenige Sekunden aus und er fühlte sich wie in Trance. Nun hatte er sie endlich gefunden. Seine Hand zuckte zu der Klingel, doch hielt er inne. Konnte er einfach so vor ihrer Haustür auftauchen und sie mit seinem Dasein im Jenseits, seinem Tod überrumpeln? Ein bitterer Geschmack bildete sich auf seiner Zunge. Carina würde ihn vermutlich dafür hassen, wenn er sie so überfiel. Doch gehen konnte er auch nicht. Noah ging mehrere Schritte zurück und betrachtete das Haus.

Es war bloß zwei Stockwerke hoch. Die Wand war hellbraun und das Dach grün, beides sauber und gepflegt. Die Fenster waren alle mit Gardinen verziert, sodass  er keinen Blick hinein werfen konnte. Der Vorgarten bestand aus einem kurzen Stück Wiese, die an einer Mauer angrenze, welche das Grundstück vom Gehweg abtrennte. Hier lebte Carina. Hier lebte sie zusammen mit Vince Darcy. Noah spannte seinen Unterkiefer an und ging wieder auf die Haustür zu. Mit dem Daumen drückte er auf die Klingel und wartete. Er wollte wissen wer dieser Vince Darcy war und er wollte wissen, wieso Carina bei ihm lebte. Egal wie die Wahrheit aussah, er würde sie akzeptieren müssen. Sein Herz schlug wild in seiner Brust, während sich die Sekunden wie Jahre anfühlten. Abermals klingelte er, doch im inneren des Hauses regte sich nichts.

Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Einundzwanzig Uhr. Es müsste doch jemand zu Hause sein. Noah klingelte noch mal und wartete ein paar Sekunden. Nichts. Er schloss die Augen und massierte mit Daumen und Zeigefinger seinen Nasenrücken. Wie hatte er es nur soweit kommen lassen?, fragte er sich und im selben Augenblick nahm er Anlauf und trat die Tür ein. Das Schloss zersplitterte und sie sprang laut krachend auf. Kurz verharrte Noah in seiner Bewegung und lauschte, doch im Haus herrschte nach wie vor Stille.

Leise vor sich hin murrend betrat er das Haus. Zwei Türen im Erdgeschoss führten zu Wohnungen. Noah sah sich die Namensschilder unter den Klingeln an. Nagata und Fuchs. Eine Treppe am anderen Ende des Flures führte in das erste Stockwerk. Auch dort musterte Noah die Namensschilder: Yuwen und endlich Darcy / Harcourt. Noah klingelte noch einmal und wartete wenige Sekunden. Aus der Wohnung drang kein Geräusch, nur drückende Stille.

Er musterte die Tür und überlegte, wie er sie aufbekommen sollte. Doch da bemerkte er, dass sie gar nicht abgeschlossen war. Der Riegel war nicht vorgeschoben und somit konnte Noah sie ganz einfach öffnen. Entweder waren sie so leichtsinnig und vertrauten auf die untere Haustür oder sie hatten vergessen abzuschließen.

Noah schlich sich in die Wohnung. Der Geruch von Zitronen und Aquarellfarbe erfüllte die Luft und brannte in seiner Nase. Es war unordentlich; Farbtuben, Parletten, Bücher und Papiere waren auf dem Boden verteilt und die Wände mit verschiedenen kleinen Kritzeleien übersäht. Er erkannte Carinas Lieblingszeichnung. Eine Lilie, die einen Sonnenuntergang umschloss. So oft hatte sie dies schon auf diverse Gegenstände oder in seine Hefte gezeichnet. Sie war tatsächlich hier gewesen.

Noah suchte nach ihrem Schlafzimmer, doch gab es keinen Raum, der darauf schließen ließ, dass dort jemand schlafen würde. In einem kleinen Raum stand nichts anderes außer einem Klavier, auf welchem sich bereits Staub sammelte. In der Küche war ebenfalls Chaos, wo der Kühlschrank jedoch sorgfältig eingeräumt und sauber war. Noah wurde aus dieser Wohnung nicht schlau und wusste nicht, was er davon halten sollte.

Er blieb mitten im Wohnzimmer stehen und musterte einen Stapel Papiere, der zu seinen Füßen lag. Es waren einfache Skizzen von einem Hafen. Kleine Schemen stellten Menschen dar und Farbkleckse ließen Sonnenlicht erahnen. Es war keine Szene aus dem Jenseits, soviel stand fest.

Gerade als er sich zum gehen aufmachen wollte, fiel ihm ein kleines gerahmtes Bild auf. Langsam ging er darauf zu, bis er die verschwommenen Konturen besser erkennen konnte. Carina war darauf abgebildet, wie sie lachend neben einem braunhaarigen Mann mit Kotletten stand. Sie hielten beide Eistüten in der Hand, während sich hinter ihnen Schwäne über Brotkrumen hermachten. Carina wirkte ausgelassen und auch der Mann neben ihr schien glücklich zu sein. Er war klein, etwas größer als Carina und hatte eine lange Nase. Beim genaueren hinsehen fiel Noah auf, dass dem Mann der kleine Finger an der rechten Hand fehlte. Noah wusste nicht warum, aber er war sich sicher, dass dies Vince Darcy sein musste.

Er stöhnte und verließ die Wohnung wieder. Nun war er so nah dran gewesen und doch schien er noch immer bei Null zu sein. Gerade als er die Treppe herunter kommen wollte, kam eine junge Frau aus der gegenüber liegenden Wohnung. Sie hatte schwarzes Haar, eine hohe Stirn und mandelförmige Augen. Sie sah Noah verdutzt an. „Oh, hallo?“

„Hallo“, erwiderte Noah. Er fühlte sich ertappt und hilflos. Doch wenn er jetzt wegrennen würde, dann wüsste die Frau, dass er etwas verbrochen hatte und das durfte auf keinen Fall passieren. Er war Polizist, er kannte die Konsequenzen von Einbruch.

„Sind Sie der neue Mieter?“, fragte sie und blickte ihn dabei neugierig an.

Verwundert deutete Noah auf Carinas Wohnung und die junge Frau nickte erwartungsvoll. „Neuer Mieter? Nein, ich bin ein Freund von Miss Harcourt. Aber sie scheint offensichtlich nicht da zu sein.“

Die junge Frau lachte auf, als hätte Noah einen Witz erzählt. „Dann scheinen Sie aber kein allzu guter Freund zu sein. Carina war schon seit zwei Wochen nicht mehr hier und auch ihr Mitbewohner, Vince, lässt sich nicht mehr blicken. Wir dachten, dass sie ausgezogen sind.“

Überrascht hob Noah seine Augenbrauen hoch. „Seit zwei Wochen war sie nicht mehr hier?“

Die junge Frau schüttelte den Kopf und blickte ihn mitleidig an. „Tut mir leid.“

Noah wank ab. „Das macht nichts. Ich danke Ihnen.“ Mit diesen Worten drehte er sich um und eilte aus dem Haus hinaus. Also war er tatsächlich noch bei Null. Ein Kloß bildete sich in seinem Hals und das atmen fiel ihm schwer. Seine einzige Spur erwies sich als Sackgasse.

Welch ein Narr war er, dass er glaubte, sie an einem Ort wie diesem wieder finden zu können? Er hatte sich in eine Idee verbissen, die sein Selbst zu etwas verwandelt hatte, was er nicht sein wollte. Nun war er nur noch ein Schatten seiner selbst, getrieben von einem Gedanken – dem Gedanken an Carina.

Wie in Trance ging er die voller werdenden Gehwege entlang, überquerte die bunt gepflasterten Straßen und stieg auf den tristen Bahnsteig empor. Urplötzlich fühlte er sich unendlich müde. Mit einem stummen Seufzer ließ er sich auf einer hölzernen Bank nieder, deren Lehnen mit Metallverziehungen das Bild eines Engels bildete. Unschuldig und erwartungsvoll blickte dieser auf die leeren Gleise. Noah blinzelte und blickte schließlich in den Himmel. Keine Dunkelheit und dennoch auch kein Licht. Als wäre er in einem endlosen Nichts gefangen, woraus er nie wieder ausbrechen würde.

Eine Bahn fuhr ein, doch Noah rührte sich nicht. Jegliche Kraft schien ihn verlassen zu haben

Kapitel 5

Gwynne

 

 

Noah erschien nicht zu ihrer gemeinsamen Schicht im Distrikt D. Nicht nur, dass sie seine Kommunikationskonsole ausgeschaltet war, auch in seiner Wohnung ging er nicht an sein Telefon. Gwynne lief nervös auf und ab, bevor sie sich entschied alleine ihren Dienst anzutreten. Es war bereits Abend, doch die Straßen waren noch immer vom Feierabendverkehr überfüllt und verstopft.

Innerlich verfluchte sie ihren Partner für seine Unzuverlässigkeit und zugleich machte sie sich große Sorgen. Sie wusste um seinen Drang nach Antworten und seiner schier endlos scheinenden Suche. Zwar war sie noch nicht über die Details im Bilde, aber sie spürte, dass Noahs gesamtes Handeln und Denken von seiner Suche bestimmt war. Es beunruhigte sie zunehmend. Ein unkonzentrierter Partner könnte auch ihr eigenes Ende bedeuten.

Wenn ich doch einfach nur sterben könnte, anstatt gleich ganz zu verschwinden!, dachte sie verbittert. Doch sie würde nicht mehr sterben können. Nicht mehr, ohne vorher gelebt zu haben. Aber ein wahrhaftiges Leben zu leben – allein der Gedanke löste in ihr den Würgereflex aus. Ihre Vergangenheit wiegte noch zu schwer auf ihren Schultern, als dass sie sich einem neuen Leben widmen und alles hinter sich lassen könnte.

Gwynnes Kommunikationskonsole knackte und kündigte die Stimme eines der Seeker an, welche die gemeldeten Fälle aufnahmen und an die Polizisten vermittelten. „Bitte kommen“, dröhnte es, bevor die Verbindung mit einem Knacken unterbrochen wurde. Es war eine verzerrte Stimme, sodass Gwynne nicht ausmachen konnte, ob sie männlich oder weiblich war.

„Gwynne Bancroft hier“, antwortete sie. Knack.

Knack. „Leichenfund im Verschlund“, hieß es. Knack.

„Welche Ebene?“ Knack.

Knack. „Ebene acht, Nummer fünfunddreißig.“ Knack.

„Verstanden. Bin unterwegs.“ Knack.

Die wenigsten Menschen nannten den Abgrund noch Verschlund. Es war eine Bezeichnung gewesen, welche sich die Menschen vor mehreren Hundert Jahren hatten einfallen lassen, um die Schwindel erregende Tiefe betiteln zu können. Der Name ging mit den Jahren allerdings verloren und die weniger gebildeten Menschen nannten es schlicht und ergreifend nur noch Abgrund. Gwynne fand es entsetzlich, dass sich ein solch simpler und gewöhnlicher Begriff durchgesetzt hatte.

 

 

Als Gwynne die achte Ebene erreichte, verstopften immer mehr Massen die Straße. Hunderte Schaulustige wollten einen Blick auf die seelenlose Hülle erhaschen, welche nun aus dem Jenseits verschwinden und nie wieder ein Leben beginnen würde. Es kostete Gwynne viel Kraft, um sich an den Menschen vorbei zu drängen.

Die Gerichtsmedizin hatte bereits den Bereich abgesperrt und begonnen die Leiche zu untersuchen. Der im gelben Licht schimmernde Boden war mit rotem Blut benetzt und klebte unter ihren Schuhen.

„Officer Bancroft“, stellte sie sich einem ihrer Vorgesetzten vor und warf einen kurzen Blick auf den Mann, der zusammengesunken an der Hauswand lehnte. „Dies ist mein Zuständigkeitsbereich.“

„Ich weiß“, raunte der Mann und zeigte ihr seine Marke. „Agent Henrik Krogstad.“ Sie beide schwiegen einen Moment, bevor Krogstad fort fuhr. „Solche Morde kommen nicht häufig vor, besonders in Ihrem Distrikt. Entweder hat unser Freund sich auf die falschen Menschen eingelassen oder war zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort.“

„Wie immer“, antwortete Gwynne.

„Wie immer“, pflichtete Agent Krogstad zu.

Ein Mann der Gerichtsmedizin gesellte sich zu ihnen und nickte ihnen zu. „Agent, Officer. Diesem Mann wurde insgesamt fünf Mal in die Brust und drei Mal in den Kopf geschossen. Jeder einzelne der Schüsse hätte tödlich sein können, daher kann ich Ihnen noch nicht sagen, welcher ihm letzten Endes wirklich jegliches Leben ausgehaucht hat.“

„Todeszeitpunkt?“, fragte Krogstad

„Seiner Körpertemperatur zu urteilen, vor etwa zwanzig Minuten.“

„Wie alt ist er?“, fragte Krogstad.

„Ich schätze er ist um die fünfunddreißig Jahre alt, aber auch das kann ich erst nach genaueren Untersuchungen bestätigen.“

„Mich würde ja interessieren wer er überhaupt ist“, seufzte Gwynne. „Sein Gesicht ist mir zumindest gänzlich unbekannt.“

„Keiner aus Ihrer Liga der Bösewichte?“, witzelte Agent Krogstad.

Gwynne schmunzelte. „Nein, nicht aus meiner, Agent.“

„Bedauerlicherweise trägt unser Freund keinen Ausweis oder ähnliches mit sich, was uns mehr über seine Identität verraten könnte, daher müssen wir warten was die Computer ausspucken, nachdem wir seine DNS durch die Daten gejagt haben.“ Krogstad kratzte sich am Kopf und musterte den Toten. „Hoffen wir mal, dass es ein verdienter Tod war.“

„Niemand verdient den letztendlichen Tod, Agent“, raunte der Gerichtsmediziner und wandte sich schließlich wieder der Leiche zu.

„Sein Name ist Vince Darcy“, rief jemand hinter ihnen. Gwynne musste sich nicht umdrehen um zu wissen, wer sie nun mit seiner Anwesenheit beglückte. Noah hatte sich durch die Passantenmenge gedrängt und war über das Absperrband geklettert. Kurz zeigte er einem der Agents seine Marke, bevor er sich Gwynne zuwandte, die ihn überrascht anblickte.

Ihre Lippen wurden schmal und ihre Augen formten sich zu Schlitzen. Am liebsten hätte sie ihn zuerst zu Recht gewiesen, dass er gefälligst pünktlich zur Arbeit erscheinen solle. „Woher weißt du das, Seaton?“

„Ich war heute Mittag in seiner Wohnung“, antwortete er ernst und nüchtern zugleich.

Gwynne hätte sich beinahe an ihrer eigenen Spucke verschluckt. „Du warst wo?“, brachte sie keuchend hervor. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie Krogstads abschätzenden Blick, bevor er seine Kommunikationskonsole herausholte und die Nummer Mr. Browns wählte. Er ging einige Schritte von ihnen Weg, bevor er leise zu sprechen begann.

„Was soll das werden?“, zischte sie Noah entgegen. „Weißt du eigentlich, wie sehr du dich in die Scheiße mit solchen Aussagen reiten kannst?“

Noah schien sich keiner Schuld bewusst zu sein und zuckte nur mit den Schultern. „Ich habe nichts Verbotenes gemacht und meine Verbindung mit ihm ist auch schwammig.“

„Bitte was?“ Gwynne schwirrte der Kopf. Ihr Verständnis für ihren Partner hatte seine Grenzen erreicht. Am liebsten würde sie sich  nun in einer Bar wieder finden, mit einem Gin zwischen den Fingern und beruhigender Musik im Nacken.

„Ich war auf der Suche nach – ich war auf der Suche und dabei bin ich eben bei seiner Wohnung gelandet. Doch sie war verlassen und somit bin auch ich wieder gegangen.“

Sie verschränkte ihre Arme und musterte ihn argwöhnisch. „Wen oder was suchst du, Noah Seaton?“

Noah antwortete nicht, als hätte er ihre Frage nicht gehört und wandte sich dem Leichnam zu. „Er lebt in Distrikt H, wo er als freiberuflicher Künstler tätig ist. Nebenbei verdient er sich sein Geld durch Ringkämpfe.“

Gwynne musterte den Mann. Er sah nicht so aus, als wäre er körperlich fitt und würde sich gegen einen größeren Gegner behaupten können. Doch Gwynne wusste, dass Äußerlichkeiten täuschen konnten. „Und das weißt du woher?“

„Nachforschungen.“

Gwynne schürzte die Lippen, während sie zusah, wie man die Leiche eintütete und schließlich abtransportierte. „Was macht jemand aus Distrikt H hier?“ Nicht nur, dass der Weg zwischen den beiden Distrikten mehrere Stunden dauerte, egal welches Transportmittel man nutzte, im viel näher liegende Distrikt K wurde ebenfalls überwiegend Handel betrieben. Für Gwynne hatte Vince Darcy keinen ersichtlichen Grund, weswegen er ihren Zuständigkeitsbereich betreten sollte.

„Wir werden den Fall übernehmen“, sagte Agent Krogstad und nickte Noah dabei zu. „Sollten Sie etwas Auffälliges sehen oder sollte Ihnen noch etwas einfallen, dann können sie mich gerne Kontaktieren.“ Er reichte Noah seine Karte und verschwand in der Menge.

„Natürlich, die Agents kriegen den Spaß“, seufzte Gwynne und stemmte ihre Hände in die Hüften. Ihr Blick wanderte zu Noah, der nachdenklich ins Leere starte. „Ich glaube, dass du mir einiges zu erzählen hast.“

Noah nickte langsam als Antwort.

 

 

„Das heißt, dass sie seit zwei Wochen verschwunden ist und du nach wie vor keine Ahnung hast, wo sie sich befindet?“, schlussfolgerte Gwynne. Sie und Noah hatten sich nach ihrer Schicht in eine Bar gesetzt und tranken einen Wodka nach dem anderen. In Gwynnes Kopf schwirrte es bereits und dennoch bestellte sie sich beim Barkeeper, Richard Morgan, noch einen Drink.

„So kann man es nennen, ja“, antwortete Noah und kippte sich den Alkohol in den Rachen. „Wenn ich ehrlich bin, dann trauere ich Darcy nicht hinterher. Auch wenn ich ihn nicht kenne, dieser Mistkerl hat bei ihr gewohnt. Er hat bei ihr gewohnt und war bei ihr, als ich es nicht war.“

„Na so was“, lachte Gwynne und klopfte Noah auf die Schulter, ohne zu wissen, wieso sie das eigentlich genau tat. „Da spricht ja die blanke Eifersucht aus dir. Noah, sei doch ehrlich. Wenn du selbst deinen Worten lauschst, dann merkst du doch selbst, wie absurd sie klingen. Du besitzt dieses Mädchen nicht.“

Noah musterte die Tischplatte, wo ihre Gläser nasse Ringe hinterlassen hatten. „Natürlich nicht.“

Gwynne lächelte, sodass ihre weißen Zähne hervorblitzten. „Wenn sich der gute Darcy hier her verirren konnte, dann vielleicht auch deine Kleine.“ Abermals klopfte sie ihm auf die Schulter. Sie konnte Noah ansehen, wie sehr in die Trennung zu seiner Freundin mitnahm und beinahe wäre sie neidisch auf ihn geworden. So eine starke Liebe zu empfinden, dass es sogar schmerzen konnte, davon konnte Gwynne nur noch träumen. Einst, ja einst hatte sie selbst so lieben können. Michael war ein wundervoller Mann gewesen. Wundervoll und unaufhörlich eifersüchtig. Gwynnes Finger berührten ihre Kehle, wo er sie gewürgt hatte. Aus Eifersucht. Bis sie zu atmen aufgehört hatte. Doch sie hatte ihn geliebt. Bis er seine Hände an ihre Luftzufuhr drückte.

Sie nahm das Glas mit dem Wodka in die Hand und kippte sich den gesamten Inhalt in den Hals. Die Erinnerungen würden irgendwann verblassen. Doch bis dahin würde Gwynne sie ertragen müssen. Wenn sie einen Mann sah, der Michael ähnlich sah oder wenn er sie in ihren Träumen aufsuchte.

„Sei nicht wütend auf sie“, hauchte sie schließlich, ohne es beabsichtig zu haben. „Noah, sie wird Gründe haben. Die hat man immer.“

Noah starrte sie einen Moment schweigend an, zuckte dann jedoch mit den Schultern. „Selbst wenn, es war so oder so meine Schuld.“

Gwynne hob ihre Augenbrauen an.

„Ich habe sie alleine gelassen, als sie mich am meisten gebraucht hat. Dass sie sich da in die Arme von jemand anderen stürzt ist ihr eigentlich nicht zu verdenken. Sie war alleine und brauchte Trost.“

„Noah“, begann Gwynne, verfiel jedoch in kurzes Schweigen. „Noah, sie war tot und du warst am leben. Du konntest nicht bei ihr sein.“ Die letzten Worte waren ein verzweifeltes flüstern, während ihre Unterlippe bebte und ihr Herz wie wild in ihrer Brust hämmerte. „Mache dich nicht verantwortlich. So fällst du nur in einen Abgrund, aus dem du nicht mehr herauskommen wirst. Egal wer dir ein Seil hinunterlässt, es wird zu  kurz sein. Sie war tot. Du konntest ihr nicht helfen.“

„Ich bin auch tot. Jetzt könnte ich es.“ Noah fuhr mit der Fingerkuppe seines rechten Zeigefingers über das leere Glase und sammelte vereinzelte Perlen auf. „Aber ich habe versagt.“

„Der Tod hat euch geschieden. Du kannst nicht mehr tun als sie zu suchen. Wenn du sie gefunden hast, dann wird sie verstehen und du wirst sie verstehen.“

Noah verharrte in seiner Bewegung. „Woher willst du das wissen?“

Gwynne lachte leise auf, bevor sie einen weiteren Drink anforderte. „Weil das Liebe ist und offensichtlich ist das zwischen euch wahre Liebe.“

„Woher weißt du das?“ Sein Blick schien ins Leere zu gehen, während seine Hand sich fest um den Rand des Glases schloss.

„Weil ich sie selbst mal erlebt habe“, antwortete Gwynne. Sie dachte nicht daran dies weiter zu erläutern und Noah schien auch nicht fragen zu wollen. Es war etwas, was sie sehr an ihm schätzte. Er hinterfragte ihre Fetzen aus Erzählungen nicht. Irgendwann würden die Scherben ein Spiegelbild ergeben und er würde sie durchschauen können. Doch noch war es nicht an der Zeit. Noch brauchte Gwynne Zeit, um sich seiner sicher zu werden.

„Wir sind alle nur noch Schatten unseres Selbst, die darauf warten irgendwann etwas Leben in sich spüren zu können.“ Noah schien seine Außenwelt vollkommen ausgeblendet zu haben. „Doch hier ist nur der Tod und die Fäulnis, die er säht.“

 

 

Gwynne ließ sich mit einem lauten Schnauben auf ihr Bett fallen. Es war ein anstrengender Tag gewesen und besonders das Gespräch mit Noah hatte sie gefordert. Dieser junge Mann faszinierte sie. Wie ein unbeschriebenes Blatt nahm er alles auf, was er sah und begann ein neues Bild von sich zu zeichnen. Er wuchs heran, er formte sich neu. Gwynne war sich nicht sicher, ob sie selbst auch einen Beitrag dazu leistete. Schließlich sah sie ihn nur während ihrer gemeinsamen Schichten und da redeten sie kaum miteinander.

Sie hörte ein Auto vorbei fahren, dann noch eins. Bald würden die Straßen voll davon sein und die Geräusche der Motoren und Bremsen ihre Wohnung erfüllen. Menschenstimmen würden gedämpft durch die Wände dringen und Gwynne Schnipsel von Gesprächen aufschnappen lassen, die sie wenige Sekunden darauf wieder vergessen würde.

Langsam schälte sie sich auf ihrer Uniform und hing diese feinsäuberlich über die Lehne eines Stuhls. Nur noch in Unterwäsche stand sie im Schlafzimmer und starrte in die Dunkelheit. Mittlerweile kannte sie jede Nische dieser Wohnung, sodass sie nur noch selten das Licht anmachte. Sie hatte schon immer die Dunkelheit gemocht. Es schien sie unsichtbar zu machen, sodass sie trotz der vielen Menschen für sich alleine sein konnte. Es lagen keine Blicke auf ihr und die Last der gesellschaftlichen Normen war von ihren Schultern verschwunden. Im Licht hingegen fühlte sie sich nackt und angreifbar. Wie dumm sie doch war. Niemand würde sie angreifen. Jetzt nicht mehr.

Sie sah in den Spiegel an ihrem Kleiderschrank und blickte sich selbst ins Gesicht. Die früher so hell leuchtenden Augen waren sahen ihr müde entgegen. Das Leuchten war verschwunden. Ihr Haar schien schlaffer und matter geworden zu sein und ihre Haut fahler. Sie alterte im Jenseits nicht, aber die Erinnerungen forderten ihren Tribut. 

Kapitel 6

Carina

 

 

Wie ein Schatten durchstreifte sie die schmalen Straßen. Wie ein Schatten flog sie flink um die Lichtkegel der Straßenlaternen herum. Niemand würde sie wahrnehmen und wenn doch, dann würde man sie nach wenigen Sekunden wieder vergessen. Für die Menschen war sie nur ein Gespenst. Nicht fest genug, um ein Teil ihrer Welt zu sein und doch nicht unsichtbar.

Sie spürte seinen Atem in ihrem Nacken. Bald würde er sie eingeholt haben und dann wäre alles zu Ende. Ihre Flucht. Ihre Hoffnung. Die Möglichkeit auf ein Wiedersehen.

Sie wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und rannte weiter. Ihre Schritte wurden von den hohen Wänden widergehallt, aber niemand schien es zu hören. Niemand schien ihre verzweifelten Atemzüge hören und ihre wehenden Haare zu bemerken. Sie war nur ein Gespenst. 

Kapitel 7

 Feena

 

 

„Ich brauche Informationen über den Verstorbenen von null Uhr fünfundzwanzig. Empson, sie haben diesen Mann empfangen. Schicken Sie mir bitte ihre Berichte.“

Sie nickte.

„Ich möchte zusätzlich noch eine persönliche Einschätzung seiner geistigen Reverenzen von Ihnen in den Anlagen wieder finden, sowie alle Informationen über seine Vergangenheit, die sie ihm entlocken konnten.“

Sie nickte.

„Drei Stunden, dann liegt alles auf meinem Schreibtisch.“

Sie nickte.

Abteilungsleiter Barani Sollai wandte sich um und verschwand in den Fluren, die sich durch das kalkweiße Gebäude schlängelten wie Würmer durch nasse Erde. Er hinterließ eine erdrückende Stille, die Feena mit dem klacken der Tastaturen zu vertreiben versuchte. Wie verrückt hackte sie mit ihren Fingern auf die Tastatur ein.

Nach der Aufwachphase zeigte Mr. Leonard Fisher keinerlei Akzeptanz und Verständnis für seinen eigenen Tod und lebte dies mit einem aggressiven Verhalten aus. Nachdem er mit Hilfe der Sicherheitskräfte beruhigt wurde,  begann er Selbstgespräche zu führen und vollzog mehrere Fluchtversuche. Sobald ich auf das Jenseits zurück zu sprechen kam, begann sein rechtes Augenlied zu zucken und er kratzte sich selbst an seinen Armen. Offensichtlich ist Mr. Leonard Fisher nicht in der psychischen Verfassung, um seine Existenz im Jenseits zu verarbeiten. Dahingehend empfehle ich eine genauere Untersuchung eines psychologischen Therapeuten, sowie eine geeignete Auswahl an Therapiemöglichkeiten, sodass sich Mr. Leonard Fisher schnellst möglicht im Jenseits einfinden wird.

Fenna musterte den geschriebenen Text. Sie selbst war keine Psychologin und wusste nicht, was sich genau hinter dem Verhalten ihres unfreiwilligen Klienten befand. Nachdenklich legte sie ihren Kopf schräg, sodass rote Haarsträhnen von ihrer Schulter rutschten und ihre nackten Arme kitzelten. Mr. Fisher war mitunter einer der harmlosesten Klienten. Feena erinnerte sich an diverse Menschen, welche ihr gegenüber aggressiv und handgreiflich wurden, sodass die Security hatte sie beschützen müssen.

Sie schnalzte mit ihrer Zunge und machte sich wieder an ihren Bericht.

 

Ein Stapel von über dreißig Seiten beschriebenem Papier lag vor ihr auf dem Schreibtisch, ordentlich zusammengeheftet und geschützt in einem braunen Umschlag. Ihre Fingerkuppen schmerzten vom tippen und ihre Augen brannten von dem starren Blick auf den Computerbildschirm.

„Ich bringe Mr. Sollai eben den Bericht vorbei“, sagte sie zu ihrem Kollegen. Ben Spelling, ein kleiner, braunhaariger Mann, mit Hamsterbäckchen und einer krummen Nase, nickte bloß als Antwort. Wie so oft war er in die vergangen Berichte vertieft, die vor Jahrzehnten angefertigt wurden. Besonders der Bericht über J.F Kennedy hatte ihn über mehrere Stunden in seinen Bann gezogen, so unspektakulär er auch war.

Feena eilte mit schnellen Schritten durch die Gänge. Ihr blieben nur noch zehn Minuten, bis ihr Vorgesetzter den Bericht erwartete. Als sie die Fahrstühle erreichte, lief sie beinahe in eine Beere aus Menschen hinein. Um die zwanzig Menschen standen vor den kleinen Kästen, die einen ungeduldiger als die anderen. Feena knirschte mit den Zähnen, wandte sich von den Fahrstühlen ab und eilte zur Treppe. Das würde ihr einige Minuten der Zeit rauben. Mit ihren kurzen Beinen schaffte sie es innerhalb drei Minuten im vierzehnten Stock zu sein. Ihre Lunge brannte und die Zunge klebte an ihrem Gaumen, als sie endlich vor dem Büro stand.

Einen kurzen Moment stand sie einfach nur da, um sich zu sammeln und um sich ihre wüsten, roten Haare zu ordnen. Anschließend klopfte sie an der Tür, wartete wenige Atemzüge lang und öffnete sie. Das Büro war verlassen. Nur das klicken einer Wanduhr war zu hören und der Geruch von Druckerschwärze und Desinfektionsmittel ließ ihren Geruchssinn aufschrecken. Feena beeilte sich den Bericht auf den Schreibtisch zu legen und das Büro wieder zu verlassen.

Urplötzlich fühlte sich ihr Körper ermattet und schlaff an, als hätte sie Tage lang durchgearbeitet. Mit trägen Schritten ging sie die Treppe runter, in den fünften Stock und betrat wieder ihr Büro, welches sie sich mit vier weiteren Mitarbeitern teilte. Niemand blickte auf, als sie herein kam. Niemand schien sich auch nur im Geringsten für sie zu interessieren.

Gerade als Feena sich auf ihrem Schreibtischstuhl gesetzt hatte und lustlos auf ihren Bildschirm gestarrt hatte, hörte sie neben sich etwas rascheln. Gina Thompson beugte sich zu Feena vor, das sommersprossige Gesicht zu einem verschmitzten Grinsen verzerrt. „Das FBI war gerade hier“, flüsterte sie, während ihre Augen zur Tür hetzten. „Sie haben Xiao Lun Han mitgenommen. Einer seiner Klienten, der in Distrikt H lebt, wurde angeblich in Distrikt D umgebracht. Insgesamt soll das alles etwas merkwürdig sein und das FBI hat keinerlei Anhaltspunkte, was den Täter betrifft.“

„Was betrifft das Xiao Lun?“, flüsterte Feena. Neugierde über den neusten Klatsch kitzelte ihr Inneres und belebte ihre Sinne von neuem.

„Er hatte wohl stetigen Kontakt mit seinem Klienten, als wären sie Freunde geworden. Manche munkeln sogar von einer Affäre. Ich meine, hast du gewusst, dass Xiao Lun auf Männer steht? Ich nicht. Mich das hat das richtig überrascht. Ich meine, du weißt doch, dass Xiao Lun öfters mit diesem Mädchen von Distrikt K ausgegangen ist. Ach, wie heißt die kleine noch mal?“ Nachdenklich verdrehte sie die Augen.

„Minji Park“, erinnerte sich Feena. „Sie hat uns immer selbst gemachte Süßigkeiten mitgebracht, wenn sie Xiao Lun besuchen kam.“

„Genau. Aber wenn es stimmt, was alle sagen, dann war das nur Fassade. Oder Xiao Lun ist vielleicht Bisexuell. Wer hätte das gedacht? Du vielleicht? Also ich nicht.“ Gina lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und starrte an die Decke. „Wer weiß, was für Geheimnisse hier noch alles ans Tageslicht kommen, wenn wir hier länger arbeiten. Ich meine, hier sind so viele, verschiedene Menschen. Die kommen doch alle aus verschiedenen Schichten und jeder hat doch irgendwo Dreck am stecken. Eigentlich sollte einen ja gar nichts mehr überraschen, aber irgendwie überrascht es mich dann doch wieder. Als würde man sich einen Film ansehen, einen Horrorfilm, weißt du. Man weiß die ganze Zeit, dass etwas passiert und wartet gespannt und wenn es passiert, dann erschreckt man sich trotzdem. Vielleicht weil man weiß, dass es passiert.“

Feena nahm eine Wasserflasche aus ihrer Tasche und schraubte den Verschluss auf. „Möglich.“

„Ich habe viele Klienten, die eine fragwürdige Vergangenheit haben. Zum Beispielweise hatte ich vor wenigen Tagen einen, der bei den Yakuza war. Ich meine, wer rechnet denn damit, dass so ein Mensch sein Klient wird. Stell dir das mal vor, überall hatte er diese Tatoos. Sie sahen so kunstvoll aus und ich hatte wirklich das Bedürfnis sie zu berühren. Aber ein Yakuza, wer hat denn da nicht Angst?“ Sie schüttelte ihren Kopf, sodass die blonden Locken auf ihren Schultern hüpften. „Zum Glück kontaktiert er mich nur selten. Er ist jetzt ins Asiaviertel in Distrikt N gezogen. Da gibt es viele Yakuza. Alle haben sie Dreck am stecken, da bin ich mir sicher.“

„Möglich“, antwortete Feena, ohne ihrer Kollegin noch weiter Beachtung zu schenken, während diese weiter vor sich hin monologisierte. Während sie ihre Email durchging und Werbung von Anfragen ihrer Klienten trennte, dachte sie an ein Kinderlied, welches ihr zu ihrer Lebzeit oftmals von ihrer Mutter vorgesungen wurde. Sie konnte sich nur noch an die Melodie erinnern und an Bruchstücken des Textes. Eine Katze tanzte für sich allein, allein auf einem Bein.

Nach wenigen Minuten betrat Xiao Lun ihr gemeinsames Büro. Sein Gesicht war blass und die mandelförmigen Augen lagen tief in den Höhlen. Er schien, als hätte er seit Jahren nicht mehr geschlafen. Alle Blicke waren auf ihn gerichtet, besonders Gina schien vor Neugierde beinahe zu platzen. Doch Xiao Lun hielt den Blick gesenkt und ließ sich schweigend auf seinen Schreibtischstuhl nieder.

Feena runzelte ihre Stirn, wagte jedoch nichts zu sagen. Sie wusste nicht allzu viel über Xiao Lun; lediglich dass er in den 1957er Jahren bei einem Bombenangriff auf Penang verstorben war. Anders als Gina würde sie ihn jedoch auch nicht weiter über seine Vergangenheit ausfragen. Der eigene Tod war etwas sehr persönliches und besonders Feena war darauf bedacht, dass niemand genaueres davon erfuhr.

 

 

Es war bereits spät Nachmittag, als es an ihrer Bürotür klopfte. Punani Hughes-Narayan steckte ihren Kopf durch einen kleinen Spalt hinein und musterte die anwesenden Betreuer. „Miss Empson?“, fragte sie mit ihrem starken, indischen Akzent. „Besuch für Sie hier.“

„Welcher Besuch?“, fragte sie, ohne dabei ihren Blick von dem Computerbildschirm zu nehmen. Sie konnte sich nicht erinnern einen Termin mit einem Klienten zu haben und ihre anderen sozialen Kontakte beschränkten sich auf ihre Arbeit.

„Ein Mr. Seaton, aus … was Sie sagten? … ach, aus Distrikt D ... C! Er sagen, dass er Klient von Ihnen.“

Feena rieb sich die Schläfen. Wieso um alles in der Welt musste Noah Seaton nur ein so aufdringlicher und nerviger Klient sein? Sie konnte sich nicht daran erinnern, was ihr Karma so verunreinigt hatte, damit man sie mit solch einem Klienten strafen musste. Sie schnalzte mit ihrer Zunge und blickte zu Punani. Diese erwiderte den Blick mit ihren großen, rehbraunen Augen. „Ich komme. Einen Augenblick.“

Punani nickte und schloss die Tür leise.

„Wer ist er?“, fragte Gina. Ihre blonden Locken hatte sie mittlerweile mit einem Holzstäbchen hochgesteckt. Die Neugierde stand ihr ins Gesicht geschrieben, was Feena nur vorsichtiger werden ließ.

„Ein Klient“, antwortete sie trocken. „Ein nerviger Klient.“

Gina kicherte als Antwort und wandte sich wieder ihrem Bericht zu. „Wenn er gut aussieht, kannst du ihn mir gerne vorstellen.“ Sie zwinkerte Feena zu und musste abermals kichern.

„Glaub mir“, begann Feena und erhob sich dabei aus ihrem Stuhl. „Der ist verrückt, den willst du nicht kennen lernen.“

Gina schnaubte nur und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, den Arm auf der Rückenlehne ruhend. „Schätzchen, ich bin maßlos untervögelt. Wenn ich nicht langsam mal einen gut aussehenden Kerl kennen lernen, werde ich noch zum wilden Tier.“

Feena schürzte die Lippen. Auch wenn sie im Körper einer Fünfzehnjährigen feststeckte, war sie mittlerweile doch alt genug, um zu verstehen, wie maßlos ihre Kollegin zu übertreiben begann. „Es gibt einen Laden in der Waterstreet, der dir mit Imitaten weiterhelfen könnte“, murrte sie und verließ schließlich das Büro, ohne auf Ginas gackerndes Lachen einzugehen.

Noah stand vor dem Büro, an der Wand gelehnt und starrte ins Leere. Sein braunes Haar war wüst und unter den Augen färbten sich die Augenringe bereits blau. Er sah grauenvoll aus. Feena räusperte sich und wartete, bis Noah sie bemerkte.

„Sie sehen grauenvoll aus, Noah.“ Da er nicht antwortete, fuhr sie fort. „Und was, bei allen Göttern jeglicher Religionen, machen Sie hier?“

„Ich braune deine Hilfe“, antwortete er müde.

Feena schloss ihre Augen. Sie hatte schon einmal zu tief in den Akten des Systems herumgewühlt. Es war ein Wunder gewesen, dass niemand Fragen gestellt hatte. „Noah, Sie vergessen, dass ich lediglich als Betreuerin für Neuverstorbene arbeite. Würde ich Ihnen weiterhin helfen, würde ich meine Sicherheitsfreigabe und meine Arbeit gefährden. Das darf nicht passieren.“

Noah packte sie an den Schultern, wo ihre Haut augenblicklich zu kribbeln begann, und blickte sie mit seinen grünen Augen eindringlich an. „Ich flehe dich an. Die Informationen vom letzten Mal führten in eine Sackgasse. Feena, ich verliere noch den Verstand. Ich muss sie finden.“

Sie atmete tief durch und wand sich aus seinen Händen. „Noah, Sie arbeiten bei der Polizei, nehmen Sie einen von denen als ihren Informanten. Ich kann und werde Ihnen nicht helfen.“ Da Noah wieder schwieg, redete sie weiter. „Sie unterschätzen ganz klar die Konsequenzen, die uns beide ereilen würden, sollte man mich dabei erwischen. Nicht nur, dass ich meine Arbeit verlieren, auch Sie würde man vermutlich suspendieren. Legen Sie es nicht aufs Spiel. Ich kenne ihre Akte, Noah, ich weiß wie hart sie gearbeitet haben.“

Noah fuhr sie mit der Hand durch das braune Haar und drehte sich von ihr weg. Feena konnte förmlich spüren, wie sehr die Verzweiflung an ihm nagte. Psychischer Verfall war im Jenseits keine Seltenheit und für viele war dies das Todesurteil, was ihre Seelen für die Ewigkeit verschwinden ließ. Sie atmete tief durch und ging einen Schritt auf Noah zu. „Ich kann Ihnen vielleicht doch helfen. Folgen Sie mir.“

Ihr schlug das Herz bis zum Hals, während sie gemeinsam durch die Gänge streiften. Vorbei an Büros und Wartezimmern und vorbei an den Fahrstühlen. Sie führte ihn in einen breiten Korridor, deren weiße Wände mit bunten Gemälden beschmückt waren. Feena blieb vor einer gläsernen Tür stehen und klopfte.

Zwei hoch gewachsene Männer öffneten die Tür und ließen sie und Noah eintreten. Es war ein quadratischer Raum, welcher in vier weitere Räumlichkeiten mündete. Sie spürte Noahs fragenden Blick auf sich, doch reagierte sie nicht.

Ein älterer Mann trat aus einem der Zimmer ihnen gegenüber. Als er Noah sah, setzte er ein freundliches Lächeln auf. „Guten Tag.“

„fünf, sieben, drei“, sagte Feena und verschwand sofort wieder. Die gläserne Tür schloss sich hinter ihr und sie hörte Noah rufen. Sie hörte wie es polterte und sie hörte, wie man beruhigend auf ihn einredete. Dr. Widmann war ein hervorragender Psychologe und er würde Noah mit Sicherheit helfen können, sagte sie zu sich selbst, bevor sie zurück in ihr Büro ging.

Kapitel 8

Noah

 

 

Er hasste Feena für das, was sie getan hatte. Über eine Stunde hatte er sich mit Dr. Widmann unterhalten müssen. Einem viel zu freundlichen Mann, der sein aufgesetztes Lächeln oftmals zu lange auf den Lippen hatte. Am liebsten hätte Noah im das dämliche Lächeln aus dem Gesicht gerissen, aber dann hätte man ihn vermutlich in die Klapse gesteckt, wie seine Tante Jane.

Fenna hatte ihn verraten. Sie war ihm in den Rücken gefallen. Noah hatte geglaubt, dass er sich auf sie verlassen konnte, aber offensichtlich lag er falsch.

Kochend vor Wut war er zurück in seine Wohnung gegangen, die Hände tief in die Hosentaschen vergraben. Jetzt war er offensichtlich auf sich alleine gestellt. Er drückte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn, bis der Stift zurück fuhr er die Tür aufschieben konnte. Kurz blieb er im Türrahmen stehen und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen, ohne dabei etwas wahrzunehmen. Gerade als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, lief ihm ein Schauer über den Rücken und ein unangenehmes Gefühl, welches er nicht zu beschreiben wusste, überfiel ihn. Jemand war in seiner Wohnung gewesen. Wachsam lauschte er in die Stille hinein. Er hörte Autos, die in der Ferne fuhren; Menschen, die in der Ferne zu einem Teil des Flusses der Toten wurden; Vögel, die in den Bäumen saßen und kreischten. Doch in seiner Wohnung selbst war es totenstill. Seine Hand zuckte zu seinem Gürtel, wo er für gewöhnlich seine Waffe trug. Jedoch hatte er sie in seinem Safe eingesperrt, bevor er sich auf den Weg in Distrikt A gemacht hatte. Mit einer Waffe hätte man ihn sonst mit Sicherheit nicht in das Haus der Sterbenden gelassen.

Er gab ein leises Knurren von sich, bevor er in jedes Zimmer einen Blick warf. Seine Wohnung war verlassen – ihn selbst ausgenommen. Seufzend ließ er sich auf sein Sofa fallen und musterte die Decke. Dr. Widmanns Worte hallten in seinem Kopf wieder: „Sie scheinen die Realität aus den Augen zu verlieren, Noah.“

Noah war sich sicher, dass dem nicht so war. Doch ließen die Blicke des Psychiaters keinen Zweifel zu.  Man hielt ihn für labil und sollte Noah nicht seine fieberhafte, laut dem Doktor sogar krankhafte Suche nach Carina beenden, würde man ihn vermutlich in eine psychiatrische Einrichtung verweisen müssen. Es war ein Spiel mit dem Feuer, das wusste Noah, doch würde er seine Suche aufgrund dessen nicht beenden. Nicht nachdem er schon so lange nach ihr suchte.

Sein Blick wanderte durch das Wohnzimmer und blieb am Telefon hängen. Ein kleiner, weißer Zettel hatte Noahs Aufmerksamkeit erregt. Der gehört da nicht hin!, stellte er mit skeptischer Miene fest. War womöglich tatsächlich jemand in seiner Wohnung gewesen?

Langsam erhob er sich von seinem Sofa und ging vorsichtig auf den Zettel zu, als würde dieser ihn gleich anfallen. Was würde Noah jetzt nur für eine Waffe in seinen zitternden Händen geben. Die Arme schlaff an seinem Körper baumelnd, blieb er vor dem kleinen Lackschränkchen mit dem Telefon stehen. Sein Blick tastete jede Falte des weißen Papiers ab, bevor er ihn in die Hand nahm und auffaltete.

 

 

Flin Armitage

Betreuer der Neuverstorbenen

 

Hollowstreet 6b     Distrikt A

 

Mobil: 0153 6852248

 

 

Noah erkannte die Handschrift von Feena sofort, wusste mit dem Zettel jedoch nicht viel mit der Abschrift einer Visitenkarte anzufangen. Wer war dieser Flin Armitage? Hatte er etwas mit Carina zutun gehabt? Noah legte den Kopf schräg und ging die Zeilen immer und immer wieder durch. War Flin Armitage möglicherweise Carinas Betreuer gewesen, so wie es Feena für ihn gewesen war? Dieser Spur würde er nachgehen müssen. Urplötzlich schämte er sich dafür, dass er gegen die junge Feena wahrhaftigen Hass verspürt hatte. Sie war doch tatsächlich eine treue Seele und unterstützte ihn auf ihre eigene Art und Weise, die Noah jedoch etwas ungewöhnlich fand. Den Besuch bei Dr. Whidmann hätten sie sich wirklich sparen können.

Er schloss seine Faust um das Papier und drückte diese fest an seine Brust. Nun hatte er endlich wieder eine heiße Spur, die ihn zu der Frau bringen würde, die er so sehr liebte. Sein Herz begann wie wild zu schlagen und Adrenalin ließ seine Haut kribbeln. Er musste jetzt sofort zu diesem Flin Armitage, jetzt sofort.

Innerhalb weniger Minuten hatte sich Noah seine Waffe aus dem Safe geholt, in sein Halfter gesteckt, eine lederne Weste angezogen und begann Richtung Bahn zu stürmen. Zum ersten Mal während seiner Zeit im Jenseits wünschte er sich ein Auto, um schneller an sein Ziel zu gelangen.

 

 

Eine gute dreiviertel Stunde war vergangen, bis er vor dem schneeweißen Haus stand, in welchem sich Flin Armitage befand. Aus der Wohnung hörte man laute Musik und der Geruch von gebratenem Fleisch drang in Noahs Nase. Er atmete tief durch und drückte auf die Klingel.

Die wenigen Sekunden fühlten sich wie eine Ewigkeit an, bevor das Surren ertönte und Noah die Tür aufdrücken konnte. Wenige Meter von ihm entfernt lugte der Kopf eines hoch gewachsenen Mannes in seine Richtung. Braune Augen musterten ihn argwöhnisch. „Guten Abend, mein Name ist Officer Noah Seaton“, stellte Noah sich vor und streckte dem Mann seine Hand entgegen.

Dieser beäugte ihn noch skeptisch, begann schließlich jedoch zu lächeln und schüttelte Noahs Hand. „Sehr erfreut, Flin Armitage. Was verschafft mir die Ehre?“ Flin hatte schwarzes, gewelltes Haar, das in alle Himmelsrichtungen abstand und einen Drei-Tage-Bart. Beim näheren hinsehen erkannte Noah die schlaksige Gestalt und großen Füße.

„Ich bin auf der Suche nach meiner Freundin und man hatte mir gesagt, dass Sie mir da eventuell helfen können“, schnitt Noah das Thema an. Es überraschte ihn, dass Flin ihn tatsächlich in seine Wohnung ließ. Sie war in hellen Tönen gehalten, sodass die Räume breiter und höher wirkten. Flin führte Noah zu einer hellgrauen Couchganitur, wo sich die beiden Männer schweigend niederließen. Noahs Hände begannen zu schwitzen und er schob sie unauffällig zwischen seine Knie.

„Mich würde ja interessieren, wer dich mir empfohlen hat“, lachte Flin, bevor er sich Noah entgegen beugte. „Also, wer ist deine Freundin?“

„Carina Harcourt“, erzählte Noah. „Sie ist relativ klein, hat blondes, glattes Haar und braune Augen. Sie starb –“ Weiter kam er nicht, da Flin ihn bereits rüde unterbrach.

„Carina! Natürlich, an sie kann ich mich gut erinnern. Ich war damals nach ihrem Tod ihr Betreuer, aber das wissen Sie mit Sicherheit schon. Sie war damals einer der schwierigeren Fälle, wenn Sie verstehen was ich meine.“ Da Noah nichts sagte, fuhr Flin fort. „Sie hatte Probleme damit, sich mit ihrem Tod abzufinden und ich sah mich gezwungen, sie nach einer Untersuchung von Dr. Whidmann in eine psychiatrische Klinik einweisen zu lassen. Ob es wirklich  notwendig war bleibt fraglich, aber Sie wissen bestimmt: Vorschriften.“ Noah nickte, sodass Flin fort fuhr. „Wissen Sie, so etwas passiert zwar nicht allzu selten, aber trotzdem nehmen einen solche Fälle doch sehr mit. Der Tod ist eine sehr schwierige Angelegenheit, nicht wahr?“

„Mit Sicherheit“, antwortete Noah.

„Einige Wochen nach ihrer Entlassung kam sie mich im Büro besuchen. Zum einen um mir zu danken und zum anderen, um mit mir ihren Umzug nach Distrikt H zu besprechen. Sie bat mich um Mithilfe, damit sie die nötigen Unterlagen sammeln konnte. Es ist für mich wesendlich einfacher und weniger Zeitaufwendig an die nötigen Papiere zu gelangen, als wenn Carina es alleine getan hätte. Ich war sehr froh, dass sie mich daher zu Rate gezogen hat.“

„Haben Sie Carina in den letzten Wochen oder Tagen noch mal zu Gesicht bekommen? Ihr Umzug in Distrikt H ist schließlich eine Weile her und mittlerweile wohnt sie dort auch nicht mehr.“ Noah schluckte.

Flin hob seine Augenbrauen überrascht an. „Tatsächlich? Seit wann denn das?“

Noah zuckte die Schultern. „Ein paar Wochen.“

„Ich habe sie das letzte Mal vor anderthalb Monaten gesehen, aber das Treffen war auch von zufälliger Natur. Sie war damals zu Besuch in Distrikt A und lief mir während meiner Mittagspause über den Weg. Sie erzählte nur, dass sie sich nach einer Arbeit umsehen würde, außerhalb ihres Wohndistrikts.“ Flin zuckte mit den Schultern. „Aber ob sie was gefunden hat, das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich weiß nur, dass nichts gemeldet wurde.“

Es herrschte Schweigen zwischen ihnen, was Noah mehr als unangenehm war. Er hatte das Gefühl, dass er unbedingt etwas sagen müsse, doch fiel ihm nichts Sinnvolles ein.

„Darf ich Sie etwas fragen?“, brach Flin schließlich die Stille. Er hatte sich an seinem Bart gekratzt und in seiner Couch zurück gelehnt. Noah nickte als Antwort. „Sie kennen Carina noch aus Ihren Lebzeiten im Diesseits, nicht wahr?“

Noah senkte seinen Blick. „Ja“, murmelte er. Es überraschte ihn, wie traurig es ihn machte, über seine gemeinsame Vergangenheit mit Carina zu sprechen. Doch bald würde er sie wieder sehen, da war er sich sicher.

„Das ist beeindruckend, die meisten Paare verlieren ihr Interesse am Partner, sobald sie Tod sind. Besonders wenn sie zu unterschiedlichen Zeiten sterben.“

„Ich bin nur sieben Stunden später als Carina gestorben“, erzählte Noah. „Damals erfuhr ich von ihrem Tod und wollte ihre Eltern besuchen, um mit ihnen gemeinsam zu trauern. Doch während ich zu meinem Auto lief, wurde ich von einem Schwertransporter erfasst. Ich kann mich nicht erinnern, warum ich nicht auf den Verkehr geachtet hatte.“

„Womöglich Schicksal“, überlegte Flin.

„Möglich. Doch seither habe ich keine Spur von Carina erhalten, lediglich ihre Adresse in Distrikt H und wie gesagt, dort wohnt sie seit ein paar Wochen nicht mehr. Es sind schon sehr viele Monaten vergangen und es wird immer unerträglicher, je länger ich nach ihr Suche.“

Flin schürzte seine Lippen und starte ins Leere. Wieder legte sich der Schleier des Schweigens über sie, bevor Flin wieder das Wort ergriff: „Ich könnte Ihnen da möglicherweise doch noch helfen, Noah. Allerdings wäre das etwas Einmaliges, da ich möglicherweise nicht dazu befugt bin.“ Noah beugte sich gespannt Flin entgegen, der ihn verschmitzt angrinste. „Sagen Sie mir, Noah, wer war Ihr Betreuer?“

„Feena Empson“, antwortete Noah verwundert.

„Die kleine, rothaarige Irin mit dem emotionslosen Gesichtsausdruck?“, fragte Flin amüsiert. Als Noah nickte, wurde sein Grinsen noch breiter. „Ich verrate Ihnen was Noah. Ich bin schon eine Weile länger im Geschäft als ihre Betreuerin und genieße daher eine höhere Sicherheitsfreigabe. Sie ist nicht mit einem Systemleiter zu vergleichen, bei weitem nicht. Aber ich werde Ihnen vorerst auf legalem Wege mehr entgegen kommen können, als Feena es möglich war. Wissen Sie, Feenas Sicherheitsfreigabe beschränkt sich auf die öffentlichen Akten und Daten der Neuverstorbenen, die am Rande des Systems abgespeichert werden und im Grunde von jedem Idioten abgerufen werden können, vorausgesetzt, er kennt sich mit unserer Technik aus.“

„Also doch kein einfacher Idiot“, lachte Noah. Flin war ihm äußerst sympatisch und er war Feena mehr als Dankbar, dass sie ihm die Visitenkarte abgeschrieben hatte. Er würde es wieder gut machen müssen.

„Ja, das kann gut sein“, grinste Flin. „Unser System ist sehr komplex, damit das Gleichgewicht erhalten bleibt. Man kann verschiedene Informationen zwar extrahieren, allerdings werden zum Schutz extra Ausschnitte in versteckten Schlüsselordnern an der Schaltstelle des isolierten Zwischensystems abgespeichert, sodass ein Eindringen in das Kernsystem des Jenseits unmöglich ist. Zusätzlich müsste man bei einer einfachen Kopie anschließend eine Firewall sowie ein verschlüsseltes Netz aus zusammenhangslosen Daten überwinden, die sich nach jedem Log-In in da System neu anpasst. Verstehen Sie, was ich Ihnen versuche zu erklären?“

Noah schüttelte den Kopf. „Ich war schon froh, dass ich mal einen Trojaner von meinem Computer entfernen konnte. Mein Wissen über Computertechnologie ist daher sehr begrenzt. Ich war eher der sportliche Menschen.“

„Dann lassen Sie es mich einfacher erklären: Wir werden einen Ordner im System ausfindig machen, der verschlüsselte Daten über Verstorbene und Widergeborene enthält. In jedem Ordner befindet sich ein Datenpunkt von jedem Lebewesen, welches in diesem Augenblick im Jenseits ist. Es würde schon reichen die Informationen von zwei Ordnern zu extrahieren, um anschließend ein Bild ihres aktuellen Standortes zu haben. Der Trojaner wird eine Sicherheitskopie von den ausgewählten Daten machen, bevor  sie von unserem System automatisch verschlüsselt werden und ich kann sie nach belieben abrufen.“

Noah blickte ihn verdutzt an. „Und das ist legal?“

Flin wackelte mit dem Kopf. „Sagen wir, es ist eine gesunde Grauzone.“

 

 

Flin hatte seinen Laptop auf dem Esstisch gestellt und diverse Konsolen und Festplatten angeschlossen. Es glich einem Schlachtfeld, welches Noah mit großer Verwunderung betrachtete. Der Bildschirm des Laptops färbte sich dunkelblau, bevor silberne Zahlen und Buchstaben erschienen und wie ein Wirbel um eine unsichtbare Mitte kreisten. Flin hatte es als Netz aus zusammenhangslosen Daten betitelt, doch für Noah hatte es keinerlei Ähnlichkeiten mit einem klassischen Netz. Binnen Minuten hatte sich Flin in das System gehakt und ließ in drei Ordnern der letzten Tage jeweils einen Trojaner hinein, welcher als Bilddatei getarnt war.

„Und wieso darf Feena so etwas nicht machen?“, fragte Noah nach langem schweigen und nachdem sie beide mehrere Bierflaschen geleert hatten.

„Man muss eine zusätzliche Fortbildung machen, die deine Sicherheitsfreigabe erweitert und somit auch das Eindringen in das System ermöglicht. Feena ist nur eine der vielen, die sich gegen solch eine Fortbildung weigert – warum auch immer. Ich für meinen Teil halte das für besonders nützlich.“

Es dauerte noch eine weitere Stunde, bis die Trojaner vollständig mit dem System verschmolzen waren und Flin sich aus dem System zurückziehen konnte. „So, die Trojaner senden jetzt verschlüsselte Dateien an meinen Computer, welche ich entschlüsseln werde und dann werden wir ja sehen, wie sich das gute Carinchen aufhält.“ Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und nippte an seinem Bier. „Das sollte noch ein paar Stunden in Anspruch nehmen. Musst du heute noch irgendwo hin?“

Noah schüttelte seinen Kopf. Heute war der zweite Mittwoch in diesem Monat und sein freier Tag. Gwynne hatte erzählt, dass sie diesen Tag immer dazu nutzte, um sich in Distrikt B einen Wellness-Tag zu gönnen, oder gemeinsam mit einer Gruppe durch die Wälder zu marschieren.

„Dann ist ja gut“, lachte Flin.

 

 

Nach vier Stunden hatten die Trojaner endlich alle Dateien auf Flins Computer kopiert. In der Zeit hatten sie sich ihr Abendessen von einem koreanischen Lieferservice bringen lassen und im Fernsehen The Walking Death geguckt. Flin war ein klasse Kerl, mit dem man sich gut unterhalten konnte.

Er hatte Noah erzählt, dass er zu seinen Lebzeiten in New York gelebt hatte und während des elften Septembers im Jahre zweitaussendeins im World Trade Centre zugegen war. Das erste Flugzeug selbst hatte ihn erfasst und nach wenigen Sekunden war er auch schon tot.

„Hoffentlich können wir mit den Daten von Carina etwas anfangen“, seufzte Noah, als sie sich an den Esstisch setzten. Flin tippte etwas mit der Tastatur ein und sofort erschienen mehrere Bilder auf seinem Bildschirm. Zu sehen war eine in schwarz gehüllte Person, wie sie am Abgrund in Distrikt D stand und durch die Gassen von Distrikt C eilte. Ein Gesicht war nicht zu erkennen, doch Noah spürte, dass es Carina sein musste. Der Herz in seiner Brust begann wie wild zu schlagen und ein Kloß bildete sich in seinem Hals. Sie war die ganze letzte Zeit in seiner Nähe gewesen. Während sie am Abgrund gestanden hatte, war er sogar im Dienst gewesen. Im Dienst!

Flin betrachtete ihn mit mitfühlendem Blick und öffnete das letzte Bild aus dem dritten Ordner. Es zeigte Carina, wie sie in Distrikt D einen Waffenladen betrat. Noah kannte den Verkäufer, Nolan Mannerhoff. Er war ein gewissenhafter und vorsichtiger Mann, der die Gefahr seiner Wahren zu schätzen und zu achten wusste.

„Besitzt Carina denn einen Waffenschein?“, fragte Flin, der aufmerksam Carinas Akte durchstöberte.

„Ja, als sie noch gelebt hatte, war sie mit ihrem besten Freund Dean des Öfteren auf dem Schießplatz. Dean wollte früher immer Polizist werden und hatte schon vorher viel geübt. Doch anders als Carina war er nicht sonderlich treffsicher. Kann der Schein denn auf das Jenseits übertragen werden?“

Flin kratzte sich am Bart und musterte die Akte von Carina. „Ich bin mir nicht sicher. Manche Zertifikate und Abschlüsse sind übertragbar, aber ob das mit dem Waffenschein auch so ist … ich weiß es nicht.“

Noah musterte das Bild auf dem Bildschirm. Man konnte nur ihren Rücken sehen und den wehenden Zopf, während sie den Laden im viktorianischen Stil betrat. Sie war so wunderschön, dachte Noah und gab ein leises Seufzen von sich. Es würde noch den Verstand verlieren, wenn er sie nicht bald wieder in seine Arme schließen könnte. Der Herz wurde ihm schwer und in seinem Kopf schwirrte es.

„Immerhin wissen wir jetzt, in welchen Umgebungen sie sich aufhält. Das ist ein großer Schritt, Noah.“ Flin musterte ihn mitfühlend und schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. „Es wird schon nicht so schwierig sein sie jetzt noch aufzuspüren.“

Noah seufzte erneut und nickte, wenn auch zögerlich. „Kann gut sein“, sagte er mit wenig Überzeugung.

„Ich bin mir da ziemlich sicher“, antwortete Flin. Er nahm einen USB-Stick, um die Bilder von Carina darauf zu kopieren. Schließlich reichte er Noah das silberne Gerät. „Hier, damit du immerhin etwas von ihr hast.“

Noah nahm den Stick dankend entgegen und ließ ihn über seine Handfläche gleiten. Er war Carina wieder einen Schritt näher gekommen, doch wie lange würde das anhalten? Wie lange würde es dauern, bis er wieder in eine Sackgasse trat und von neuem beginnen konnte, wie zuvor? Ein Gefühl von Machtlosigkeit breitete sich in ihm aus und raubte ihm jegliche Kräfte.

„Möchtest du noch ein Bier?“, fragte Flin und erhob sich von seinem Stuhl. Nachdem Noah ein leises Ja gemurmelt hatte, verschwand er in der Küche und kam kurz darauf mit zwei Flaschen Bier und einem gerahmten Bild zurück. Eines der Flaschen drückte er dem niedergeschlagenen Noah in die Hand, während er das Bild auf den Esstisch legte.

Noah musterte es neugierig. Eine brünette Frau war darauf abgebildet, wie sie mit einem sanften Lächeln auf den Lippen an der Kamera vorbei schaute. Ihr Bauch zeigte eine deutliche Wölbung, trotz ihres ansonsten so schmalen Körpers.

Ein warmes und sogleich wehmütiges Lächeln umspielte Flins Lippen. „Ihr Name ist Amanda Watson und die kleine in ihrem Bauch heißt Lili. Sie war für den siebzehnten September ausgezählt.“ Flin schwieg einen kurzen Moment. „Amanda lebt mittlerweile in San Francisco und Lili besucht die siebte Klasse. Sie mag diese neuartigen Boygroups und Ballett. Seit sie sieben Jahre alt war, tanzt sie schon. Amanda hat neu geheiratet, für Lili. Sein Name ist Charlie Heder und er ist Immobilienmakler.“ Flin atmete tief durch. „Amanda hatte Immobilienmakler gehasst, nachdem man uns eine Bruchbude in Queens angedreht hatte. Sie hatte sie bis aufs Blut gehasst. Jetzt hat sie einen geheiratet, für Lili.“

„Das tut mir leid“, sagte Noah.

Flin schüttelte den Kopf. „Nein, das muss es nicht. Was ich damit sagen will: jeder hier in dieser Welt hat sein Päckchen zu tragen. Deswegen sollte man sich nicht zu sehr darauf konzentrieren und die Zeit hier genießen. Was anderes bleibt uns nicht übrig.“ Er nickte ihm mit seiner Bierflasche zu und trank einen großen Schluck. „Tot ist tot.“

„Was ist mit der Widergeburt?“, fragte Noah.

Mit einem tiefen Brummen räusperte sich Flin. „Für mich keine Option. Ich warte auf Amanda und Lili, anders würde ich sie sonst nie wieder sehen.“

Betretenes Schweigen trat ein und schien die Stimmung nur noch weiter herunter zu drücken. Flin lehnte sich schließlich auf den Tisch und musterte Noah mit funkelnden Augen. „Deswegen, Noah, ich bin neidisch auf dich. Du bist kurz nach deiner Liebe gestorben und kannst dich direkt auf die Suche machen. Ich muss noch Jahre lang warten.“

Kapitel 9

Gwynne

 

 

Sie hatte die Zeitung vor sich ausgebreitet und las sich den Artikel über den ermordeten Vince Darcy durch. Der Journalist spekulierte fachmännisch auf einen Drogenkrieg zwischen den verschiedenen Kartellen und gab der örtlichen Polizei Schuld für das blutige Unglück. Wütend knüllte Gwynne das dünne Papier zusammen und warf es auf den Boden. Eine Frechheit war das, dachte sie. Mit den Fingerkuppen klopfte sie auf den Tisch und musterte die vorbeiziehenden Menschen.

Gwynne hatte sich in eines der Cafés am Verschlund gesetzt, auf Ebene siebenundvierzig, tief im Untergrund des Jenseits. Der Himmel war von hier aus nur noch zu erahnen. Hell erleuchtete Straßen und Geschäfte trübten die Sicht und Flugmobile erfüllten die Luft. Gwynne genoss diese Atmosphäre, während sie die dicke Luft einatmete und ihren Gedanken freien Lauf ließ.

„Kann ich Ihnen noch etwas bringen?“, fragte eine junge Frau. Es war die blonde Kellnerin, mit den welligen Haaren und großen, blauen Augen. Sie war klein und mollig, und ihr bezauberndes Lächeln sorgte dafür, dass man sich augenblicklich in ihrer Gegenwart wohl fühlte. Möglicherweise war das auch der Grund, dass es Gwynne immer wieder hier her verschlug, es konnte aber auch der umwerfende Cappuccino mit Amaretto sein, der ihr immerzu auf der Zunge zerging.

„Einen Cappuccino mit Amaretto, bitte“, bestellte sie sogleich und schenkte der Frau ein freundliches Lächeln. Diese nickte, tippte die Bestellung in eine Kommunikationskonsole ein und versicherte ihr, dass der Cappuccino sogleich gebracht werden würde. Gwynne beobachtete sie, wie sie sich den nächsten Gästen zuwandte und ihnen die gleiche Frage stellte. Freundlich und zuvorkommend, dachte Gwynne. So sollten sich mehr Menschen hier im Jenseits geben und nicht nur diese freundliche Bedienung.

Gwynne würde sich niemals dazu bekennen, doch in diesem Augenblick verspürte sie brennenden Neid gegenüber der jungen Kellnerin. Ihre elfenbeinfarbene Haut leuchtete im künstlichen Licht wie Sterne am Himmel und gab ihn beinahe eine engelhafte Ausstrahlung. Gwynne hingegen schien dank ihrer dunklen Haut und den dunklen Haaren mit der Umgebung zu verschmelzen. Unsichtbar für alles und jeden. Wie ein Schatten. Das, was sie sonst so sehr an sich zu schätzen und lieben wusste, war ihr nun ein Dorn im Auge, der immer tiefer zu bohren schien, bis der Schmerz schier unerträglich werden würde.

 

 

Es war später Nachmittag, als ihre Schicht begann und wie jeden Nachmittag traf sie sich mit Noah auf Ebene eins, direkt vor einem kleinen Ökoshop. Zu ihrer Überraschung war dieser am heutigen Tag früher da als sie selbst und reichte ihr einen Pappbecher mit Kaffee.

„’N Abend“, begrüßte er sie und nickte ihr zu, bevor er den Pappbecher an seinen Mund ansetzte und trank. Der Kaffee war noch heiß und hätte ihm eigentlich die Zunge verbrennen sollen, doch Noah verzog keine Miene.

Gwnnye musterte ihn argwöhnisch, während sie vorsichtig an ihrem eigenen Kaffee nippte. Sie war noch vollkommen gesättigt von ihrem Cappuccino und würde bald vollkommen aufgedreht sein, wenn sie noch mehr Koffein zu sich nahm. Mit einem Seufzer stellte sie den Pappbecher auf das gläserne Geländer, welches die Menschen am herunterfallen von den Ebenen hindern sollte, und legte ihren Kopf schräg. „Du bist pünktlich. Was ist passiert?“

Noah warf einen Blick auf seine Armanduhr und hob seine Augenbrauen an. Hatte er etwa gar nicht beabsichtigt pünktlich zu sein? Wieder nahm er einen großen Schluck von dem viel zu heißen Kaffee und zuckte schließlich mit den Schultern. „Timing.“

Gwynne schürzte ihre Lippen und nahm den Kaffee wieder in ihre Hand. „Man, man“, begann sie und schüttelte genervt den Kopf. „Bei dir bekommt man für sein Geld echt etwas geboten.“

Noah grinste sie verschmitzt an, bevor sie gemeinsam ihre erste Runde über Ebene eins begannen. „Bilde dir nichts drauf ein, bei meinen Vorlesungen war ich auch nie pünktlich.“ Er leerte seinen Becher und warf ihn unachtsam über das Geländer, den Abgrund herunter.

„Aus irgendeinem Grund überrascht mich das überhaupt nicht – und Unweltverschmutzung geht auch noch auf dein Konto. Du bist ja echt ein Traum“, witzelte Gwynne. Sie drückte einem alten Mann, dessen verdreckte und mit Flicken übersäte Kleidung auf einen niedrigen Stand wies, ihren Kaffee in die Hand.

Nick warf einen Blick in den Abgrund. „Ich stelle mir immer wieder vor, dass ich jemanden Treffe, dieser sich fragt, welches verdammte Arschloch seinen Kaffeebecher in den Abgrund wirft und anschließend auf jeden, den er auf dem Heimweg begegnet, wütend ist.“

„Das ist aber sehr sadistisch von dir“, warf Gwynne ein, doch ein breites Grinsen konnte sie sich nicht verkneifen. Während ihrer Anfangszeit im Jenseits hatte sie das auch des Öfteren getan, wurde allerdings auch einmal von einem beschwipsten Fahrer eines Schwebetransporters erwischt, der sie anschließend durch die Straßen des Distrikts gejagt hatte.

Nachdem sie Ebene eins ohne irgendwelche Zwischenfälle überquert hatten, betraten sie den Aufzug und fuhren auf die zweite Ebene herunter, um auch dort ihre übliche Runde zu ziehen. Die Straßen waren verstopft, da viele nun ihren Weg nach Hause antraten. Die ersten Läden ließen die Rollläden herunter und verschlossen ihre Eingangstore. Cafés banden ihre Tische und Stühle mit Sicherheitsdrähten zusammen und Zeitungsjungen rannten zu den einzelnen Kiosks, um ihre Wahre in Sicherheit zu bringen. Die Nacht in diesen Distrikt war gefährlich und der Durchschnittsmenschen tat gut daran, schnell in sein sicheres Heim zu kommen. Gwynnes Hand fuhr bei diesem Gedanken reflexartig zu ihrer Glock, welche im Halfter ruhte und auf den Einsatz wartete.

„Ich habe das Gefühl, dass es heute ruhig bleiben wird“, sagte Noah und nickte einem Süßwarenverkäufer zu, welcher gerade die Türen zu seinem Laden verriegelte. Man kannte sie bereits auf den verschiedenen Ebenen und die meisten Menschen waren ihnen freundlich gesonnen.

„Was lässt dieses Gefühl aufkommen?“, fragte Gwynne und beobachtete eine Gruppe Jugendlicher, die sich an einer Apotheke drängelten. Sie würden in diesem Laden keine Drogen erhalten, doch so manche Jugendliche im Jenseits hatten eine bizarre Vorstellung von Sozialverhalten; zum Leidwesen der Polizisten.

Noah schwieg zunächst, was Gwynne verwunderte. Doch schließlich atmete er tief durch und sagte: „Es ist dieses Bauchgefühl, dass man von Anfang an während seiner Schicht hat. Ab und an habe ich schon vor Dienstantritt das Gefühl, dass etwas passieren wird und zumeist ist dem dann auch so. Doch heute ist es anders. Heute sagt mir mein Gefühl, dass es ruhig bleiben wird. Das kennst du mit Sicherheit.“ Er musterte sie, bevor er einen Blick auf einen Schwebetransporter erhaschen konnte, welcher gemächlich an ihnen vorbei zog.

Gwynne folgte seinem Blick. Auf der Ladefläche, wo riesige Kisten befestigt waren, glaubte sie zunächst einen Schatten zu sehen – einen Menschen, was alles andere als zulässig gewesen wäre. Doch dieser verflüchtigte sich mit dem Lichtwechsel. „Ja natürlich“, setzte sie an und blieb stehen, um den Schwebetransporter noch einmal mit ihrem Blick zu untersuchen. „Das Gefühl kenne ich nur allzu gut.“

Noah hob seine Augenbrauen an. „Hast du was entdeckt?“

Gwynne schnalzte mit der Zunge und wandte sich ab, damit sie weiter ihre Runde gehen konnten. „Vermutlich war es nur eine Sinnestäuschung.“

Noah antwortete nicht darauf und nachdem sie Ebene zwei durchkämmt hatten, machten sie sich auf den Weg Richtung Ebene drei. Der Geruch von gebackenem Fisch und frittierten Gemüse stach ihnen in den Nasen, während sie den Aufzug betraten und Gwynne gedankenabwesend auf einen der Knöpfe mit den Pfeil nach unten drückte.

Kapitel 10

Carina

 

 

Mit dem Colt Government unter ihrer schwarzen Lederjacke versteckt, schlich sie sich in die Bank hinein. Es war Rush Hour und mehrere duzende Menschen kamen her, um ihre Konten zu überprüfen und Schecks einzulösen. Sie selbst fiel in der Masse nicht auf. Wie ein Schatten streifte sie durch das Foyer, vorbei an den Schaltern und zu den Schließfächern. Akribisch studierte sie die Ziffern an den Schlössern. 1050. 1050. 1050. Wo war nur das Schließfach mit der Nummer 1050? Es dauerte mehrere Minuten, bis sie das versteckte Schließfach im hintersten Winkel gefunden hatte. Sie nahm die vergoldete Kette in die Hand, die um ihren Hals ging. Mit einem Ruck zog sie daran, der Verschluss zerbarst und der Schlüsselanhänger fiel in ihre Handfläche. Das Schließfach wurde aufgeschlossen und eine Schatulle aus Lack kam zum Vorschein. Sie packte die Schatulle ein und verließ die Schließfächer.

„Ma’am“, begrüßte sie einer der Wachmänner und tippte dabei am Schirm seiner Mütze. „Dürfte ich einmal ihre Daten lesen? Wir hatten gerade Schichtwechsel, ist leider Vorschrift.“

Sie presste ihre Lippen aufeinander und reichte ihm ihren Datenchip. Der Wachmann ließ den Chip von seinem Computer scannen und wartete, dass die Bestätigung für ihr Schließfach auf dem Bildschirm erschien. „Wie lautet Ihre Nummer, Ma’am?“

„Eins, Null, Fünf, Null“, sagte sie. Ihr Herz raste und jeder Muskel in ihrem Körper war angespannt.

Der Wachmann wartete geduldig, während er mit dem Fuß in einem unbekannten Takt tippte. Für sie fühlte es sich wie eine Ewigkeit an, bis er seinen Blick argwöhnisch an sie wandte. „Wie lautet Ihr Name, Ma’am?“

Sie sog scharf die Luft ein. Elende Scheiße. „Carina Harcourt.“

Wieder war der Wachmann einen Blick auf den Bildschirm und tippte mit seinem Fuß. Das Geräusch sägte an ihren Nerven.

Der Wachmann bedeutete ihr zu warten, während er seine Kommunikationskonsole hervor holte und etwas eintippte. „Keine Sorge. Dauert nur einen Moment.“ Er schenkte ihr ein nervöses Lächeln, während er ihr den Chip zurückgab und sich die weißen Handschuhe von den Händen streifte.

Sie nickte als Antwort und verlagerte ihr Gewicht das das rechte Bein. Noch immer Schlug ihr das Herz bis zum Hals.

Ein blonder Mann im Anzug und Krawatte erschien. Er trug dunkle Lackschuhe, deren Absätze auf dem Steinboden hallten und eine silberne Armbanduhr, die ein Vermögen wert sein musste. Sein Körper roch nach süßlichem Schweiß und nach frisch gefallenem Laub, im Gegensatz zu seinem Atem, der nach Bourbon stank und in ihrer Nase brannte. Er streckte ihr seine Hand entgegen: „Josh Bouvier“, stellte er sich vor. Gemeinsam mit dem Wachmann begutachtete er mit finsterem Blick die Daten auf dem Computer, bevor er sich ihr wieder zuwandte. „Haben Sie etwas aus Ihrem Schließfach mitnehmen können?“

„Nein, nichts. Ich wollte nur nach dem Rechten sehen.“ Sie schenkte ihm ein schüchternes Lächeln.

„Das Schließfach läuft auf den Namen Sergei Orlow“, sagte Josh Bouvier. Um seine Augen bildeten sich feine Fältchen, die seinen Blick nur noch ernster werden ließen. „Unsere Vorschriften besagen, dass nur der Besitzer eines Schließfachs die Berechtigung auf das Öffnen besitzt. Anders als auf der Welt der Lebenden haben hier auch keine direkten Nachfahren das Recht dazu, da hier keine Nachfahren gezeugt werden können. Daher muss ich Sie bitten, dass Sie mich kurz begleiten, während wir Kontakt mit dem Besitzer aufnehmen.“

„Es tut mir leid“, setzte sie an und schob ihre Jacke zurück, um den beiden Männern einen Blick auf ihren Colt zu ermöglichen. „Aber ich werde Ihnen nicht folgen können. Seien Sie sicher, meine Herren, Sie wollen nicht, dass der Besitzer hier aufkreuzt.“ Mit langsamen Schritten ging sie am Wachmann und Josh Bouvier vorbei. „Besonders nicht, wenn auch ich anwesend bin.“ Mit diesen Worten wandte sie sich um und rannte zurück ins Foyer, wobei sie beinahe in eine alte Dame gerannt wäre, die sich einen Weg zur Eingangstür zu bahnen versuchte.

Ein dröhnen erklang und wurde von den mit Holz beschmückten Wänden widergehallt, gefolgt von dem lauten Klingeln der Alarmglocken. Die Menschenmassen erstarrten und augenblicklich stürmten die ersten Menschen aus der Bank heraus.

„Sanders! Cuomo! Schließen Sie die Türen!“, rief Josh Bouvier, der versuchte sich durch die Massen zu drängen, doch diese schien wie eine Mauer zu sein. „Und rufen Sie die Polizei!“

„Scheiße“, murmelte sie und drängte sich an der alten Dame vorbei, die dabei beinahe ins Straucheln geriet. Mit aller Kraft drängte sie sich an den vielen Menschen vorbei und konnte einen Blick auf die Tür erhaschen, wo ein kleiner, dicklicher Wachmann die Sicherheitswand herunter fuhr. Ein rothaariger Mann neben ihm, ebenfalls in Wachmannskleidung, sprach in seine Kommunikationskonsole, während er die freie Hand in die Hüften stemmte.

Sie nahm tief Luft und quetschte sich an die letzten Menschen vorbei, bevor sie auf den Boden warf und unter der Sicherheitswand hindurch rutschte. Schnell sprang sie auf und während ihre Hand sicherstellte, dass das Lackkästchen noch immer in der Innentasche ihrer Jacke verstaut war, blickte sie sich um. Würde sie nach Westen rennen, würde sie der Polizei in die Arme rennen, die gerade auf den oberen Eben Streife hatte. Würde sie nach Osten rennen, könnte sie dem Wachpersonal des Verschlunds in die Arme rennen.

Kurzerhand zog sie sich die Kapuze ihrer Jacke über den Kopf und bog sie gen Westen ab. Das Wachpersonal würde in Zehnerteams anrücken und sie binnen Minuten gestellt haben – das konnte sie sich nicht leisten –, hingegen war die Polizei und nur zweit oder zu dritt und mit diesen würde sie mit Leichtigkeit fertig werden.

Kapitel 11

Noah

 

 

Sie hatten gerade das Ende der Ebene zwei erreicht und sich köstlich über einen Pantomimen amüsiert, der einen dicklichen Passanten imitierte, als zeitgleich Noahs und Gwynnes Kommunikationskonsolen knackten. Sie wechselten kurze Blicke, bis Gwynne als erstes die kleine, schwarze Konsole in die Hand nahm und den Anruf eines Seekers annahm.

„Officer Gwynne Bancroft hier, was gibt es?“ Knack.

Knack. „Diebstahl in der Conelius Bank im Verschlund. Täter flüchtig.“ Knack.

„Welche Ebene?“ Knack.

Knack. „Ebene zwei, Nummer vierundachtzig. Täter ist weiblich und bewaffnet. Sie trägt eine schwarze Kapuzenjacke und schwarze Jeans.“ Knack.

„Verstanden. Officer Bancroft und Seaton sind auf dem Weg.“ Knack.

Noah hatte aufmerksam zugehört und warf einen Blick auf die gegenüberliegende Seite des Abgrunds. Sie würden mehrere Minuten brauchen, bis sie die Bank erreicht hatten. Bis dahin konnte der Täter längst über alle Berge sein. Es galt keine Zeit zu verlieren.

Gemeinsam rannten sie den Weg zurück, den sie gerade gekommen waren, vorbei an Geschäftsmenschen und Ladenbesitzern, die alle ihren Weg nach Hause antraten. Kinder unterbrachen ihr Spiel auf dem Gehweg und machten den beiden Polizisten Platz, wenn auch mit unüberhörbarem Gejammer. Noah war deutlich schneller als Gwynne und war bereits einige Meter voraus. Er hatte seinen Blick auf die Menschen gerichtet, um die Täterin rechtzeitig mit seinem Blick zu erhaschen. Es dauerte nur wenige Minuten, bevor eine kleine Frau in Schwarz, mit einer Kapuze auf dem Kopf, vor ihnen erschien.

„POLIZEI!“, schrie Gwynne, die Waffe gezückt. „STEHEN BLEIBEN!“

Die Frau machte auf dem Absatz kehrt und rannte zurück. Wie leichtsinnig, dachte Noah und nahm die Verfolgung auf. Sie rannten gegen den Strom und verwirrte Menschen behinderten den Weg, sodass Noah nicht genug Tempo aufnehmen konnte, um die Frau einzuholen. Sie war klein und geschwind.

Er warf einen Blick auf Gwynne, die ihm mit Abstand folgte, die Waffe noch immer in den Händen. „Schnapp sie dir, Noah!“, rief sie.

Als Noah zurück zu der Frau sah, sah er gerade noch, wie sie ihre Hände um das Geländer schloss und schließ über dieses hinweg sprang, in die Tiefe des Abgrundes. „Gott, steh mir bei“, betete Noah mit verzerrtem Gesicht und sprang kurzerhand hinterher. Der Wind peitschte ihm ins Gesicht und ließ ihn einen Augenblick schweben, bevor ihn die Erdanziehungskraft erfasste und unerbittlich Richtung Grund zog. Vor sich sah er die Gestalt der Frau, wie sie leichtfüßig auf der Ladefläche eines Schwebetransporters landete, sich abrollte und auch schon wieder herunter sprang. Noah landete wenige Zentimeter neben der Stelle, wo sie zuvor gelandet war und folgte ihr sogleich weiter in die Tiefe.

Seine Kommunikationskonsole knackte und im Fall drückte er auf den Freisprechknopf: „Was?“ Seine Stimme war ein wackeliges Schnauben, bevor er mit einem lauten Aufkeuchen auf dem nächsten Schwebetransporter landete.

Die flüchtige Frau hatte ein Gewehr auf die Ebene gerichtet und drückte ab. Ein Widerhaken wurde auf das Geländer gewirbelt, verharkte sich im Glas und zog die Frau mit sich, sodass die leichtfüßig auf Ebene Acht landete.

„Ich folge euch durch die Schlupflöcher in den Gehwegen“, keuchte Gwynne. Er hörte Stoff rascheln und war sicher, dass sie gerade auf eine Ebene tiefer wechselte. „Auf welcher Ebene seid ihr?“

Noah sprang auf einen Schwebetransporter, nahm auf den Holzkisten Anlauf und machte einen großen Sprung auf die Ebene, wo er sich abrollte und für einen kurzen Moment verharrte. Ein Schmerz durchzuckte seine Schulter. „Ebene acht. Beeil dich!“

Gwynne legte auf und schon rannte Noah weiter. Diese Ebene war verlassener, aber noch lange nicht leer. Gruppen von Jugendlichen erschwerten ihm den Weg und beinahe wäre er in einen Straßenkünstler gelaufen. Er nahm wieder Tempo auf und beinahe hatte er die Frau eingeholt. Doch in diesem Moment schlug diese einen Haken, sprang gegen einen Stützbalken am Geländer und Rückhand erneut den Abgrund herunter. Noah folgte ihr augenblicklich und versuchte ihren Kragen zu fassen. Seine Fingerkuppen streiften das Leder, bevor die Erdanziehungskraft sie ihm entzog.

Sie raste an einem Schwebetransporter vor der siebzehnten Ebene vorbei, immer weiter in die dunkle Tiefe. Hingegen Noah genau von dem Transporter erfasst wurde. Erneut rollte er sich ab, die Schmerzen in Schultern und Rücken ignorierend. Er zog seine Waffe und zielte in die Richtung, in die sie gefallen war. Doch die vorbei gleitenden Schwebetransporter versperrten ihm die Sicht. Voller Wut schlug er auf den Container: „Verdammte Scheiße!“ Er war so kurz davor gewesen sie zu erwischen.

Seufzend drückte er auf die Freisprechanlage seines Kommunikationskonsole und wartete, dass Gwynne abnahm. „Ich habe sie verloren“, japste er, noch ganz außer Atem und ließ sich auf seinen Hintern fallen. „Sie war einfach zu schnell.“

Gwynne lachte auf. „Aus dem Verschlund kann sie nur entkommen, wenn sie nach oben kommt. Noch ist nichts verloren. Sag, wo bist du? Ich hole dich ab.“

Noah blickte sie um und versuchte zu schätzen, wie tief er im Abgrund war, während er aus dem Augenwinkel einen Schwebetransporter wahr nahm, wie er langsam und gleichmäßig nahm oben stieg. Zunächst schenkte Noah dem keine Beachtung, doch ein Schatten auf der Ladefläche passte nicht zum Gesamtbild. Er wandte sich um und blickte auf das Schemen der Frau, wie sie majestätisch Richtung Ebene eins stieg.

Sofort hob er die Waffe an und zielte auf ihre Schulter. „POLIZEI! HÄNDE HOCH!“, brüllte er. Mit dem Lauf seiner Glock verfolgte er sie, während sie immer weiter nach oben stieg. Sie würdigte ihn keines Blickes und dank der Kapuze, die einen dunklen Schatten auf ihr Gesicht warf, konnte er ihr Gesicht nicht erkennen. Er feuerte seinen ersten Warnschuss ab. Doch sie zuckte nicht mit einem Muskel.

Seine Kommunikationskonsole knackte und Noah nahm den Anruf von Gwynne mit einer schnellen Handbewegung an.

„Noah?“, erklang Gwynnes Stimme. Auch sie schien mittlerweile vollkommen außer Atem zu sein. „Noah, du befindest auf Höhe von Ebene zwanzig. Ein Seeker hat mittlerweile Kontakt zum Fahrer des Schwebetransporters aufgenommen, er wird dem mit der Täterin folgen. Versuch sie nicht aus den Augen zu verlieren, ich bin schon auf dem Weg.“

„Verstanden“, sagte Noah und fixierte die Frau weiterhin mit seiner Waffe.

Tatsächlich setzte sich der Schwebetransporter in Bewegung und fuhr Noah gleichmäßig aber bestimmt nach oben. Binnen Sekunden hatten sie mehrere Ebenen hinter sich gelassen, als der Schwebetransporter mit der Frau auf der Ladefläche beidrehte und an der zweiten Ebene andockte, um dort seine Lieferung zu tätigen. Die Frau sprang augenblicklich auf den festen Grund.

Am liebsten hätte Noah sich in Rage geflucht, doch die Zeit blieb ihm nicht. Als er zum Sprung ansetzten wollte, drehte sein Schwebetransporter bei und erhöhte die Geschwindigkeit. Der Pilot schien die flüchtige Frau gesehen zu haben und nahm die Verfolgung auf. Siegessicher sicherte Noah seinen Stand auf dem Container und zielte mit der Glock auf die Täterin. Jetzt würde sie ihm nicht mehr entkommen können.

Binnen Sekunden hatte Noah sie eingeholt und erneut rief er: „POLIZEI!“

Noch immer schenkte sie ihm keine Beachtung und rannte unbeirrt weiter.

„BLEIBEN SIE SOFORT STEHEN!“ Wut kochte in ihm auf und am liebsten hätte er einfach auf den Abzug gedrückt. Doch er musste sich an die Vorschriften halten. Er zog die Waffe weiter nach rechts und gab den nächsten Warnschuss ab. Die Frau rannte unbeirrt weiter, als wüsste sie, dass Noah sie nicht einfach so erschießen würde.

„Noah, wo seid ihr?“, hörte er Gwynne durch die Kommunikationskonsole.

„Ebene zwei“, knurrte Noah. Der Fahrtwind peitschte ihm ins Gesicht und trübte seine Sicht. Lange würde er das mit Sicherheit nicht mehr aushalten.

„Was?“, rief Gwynne entsetzt. „Dann bist du jetzt auf dich alleine gestellt. Ich muss die Treppen nehmen, um wieder nach oben zu kommen, das dauert ein paar Minuten.“ Kurz schwieg sie, während Noah der Wind in den Ohren pfiff. „Tut mir leid.“

„So eine abgefuckte Drecksscheiße“, gab Noah nur aufgebracht als Antwort und begutachtete den Abstand zwischen dem Schwebetransporter und der Ebene. Ja, das sollte genügen. „Gwynne, beeil dich. Diese Frau ist flink. Ich bin mir nicht sicher, ob ich sie alleine stellen kann.“ Gwynne legte auf.

Er gab ein tiefes Knurren von sich, bevor er einen Schritt zurück ging und sprang. Mit den Händen konnte er das gläserne Geländer zu fassen bekommen, doch seine Beine schlugen ins Leere. Mit aller Kraft zerrte er seinen Körper auf Ebene zwei und schwang sich über das Geländer. Sobald er diese Frau erwischt hatte, würde er sich in eine Bar zurückziehen und diese erst in zwei Tagen wieder verlassen, das schwor er sich.

Er nahm wieder Geschwindigkeit auf und folgte der Frau die zweite Ebene entlang, die nun vollkommen leer war. Die Frau hielt schnurstracks auf eine eiserne Treppe zu, die auf die erste Ebene führte und ihr somit ermöglichte den Verschlund zu verlassen. Somit könnte sie überall im Jenseits verschwinden. Doch Noah wollte nicht aufgeben, er wollte diese Frau schnappen und sie hinter Gitter bringen, um endlich wieder seine Ruhe zu haben.

Er verringerte den Abstand zu ihr und verfolgte sie über die Treppe, hinauf auf Ebene eins. Gegen seine Erwartungen rannte sie nicht in eine der schmalen Gassen, sondern hielt auf den Rotbaumwald zu, der an dem Verschlund angrenzte.

Es war ein zwölf Hektar großes Waldgebiet, das ausschließlich aus den Rotbäumen – es waren dürre, baumbusartige Gewächse mit weißen Stämmen und roten Blättern – und Feuerfarnen bestand. Als Versteck war es mehr als ungeeignet, da der Wald nicht allzu dickt bewachsen war. Hatte Noah die Frau möglicherweise überschätzt?

Er wurde sich immer sicherer, dass er sie erwischen würde. Mit immer geringer werdendem Abstand rannten sie in den Wald hinein. Dürre Äste schlugen ihm ins Gesicht und zerrten an seiner Kleidung. Noah blieb stehen und lauschte den Geräuschen des Waldes. Hier lebten keine Tiere und Gwynne war noch zu weit weg. Es konnten also nur die Schritte der Täterin sein, die er zu vernehmen glaubte. Sie waren rechts von ihm und bewegten sich langsam und bedacht in seine Richtung.

Noah verbarg sich hinter einer Gruppe aus eng beieinander stehenden Rotbäumen und wartete. Er versuchte so flach wie möglich zu atmen, obwohl sein Puls raste.

Die Waffe mit beiden Händen fest umschlossen und den Zeigefinger auf dem Abzug liegend, wartete er. Es waren nur wenige Sekunden, doch fühlten sie sich für ihn wie lange Jahre an.

Er konnte ihren Atem hören, ihren süßlichen Geruch riechen und die blonden Strähnen sehen, die unter der Kapuze hervor lugten. Jetzt war der perfekte Augenblick gekommen.

Als sie nichts ahnend und auf leisen Sohlen an ihm vorbei geschlichen war, kam er aus seiner Deckung hervor und hielt ihr seine Waffe an den Rücken. „Hände hoch“, raunte er ihr mit fester Stimme zu, die keinen Widerspruch zuließ. Endlich hatte er sie geschnappt.

Ihr zierlicher Körper erstarrte und langsam hob sie ihre Hände an. In der linken Hand hielt sie einen Colt Government, den sie sofort fallen ließ.

Noah zog seine Handschellen von seinem Gürtel und wollte nach ihrem Handgelenk greifen, als sie herum wirbelte und ihm mit voller Wucht in den Magen tritt. Es keuchte auf und ließ vor Schreck sowohl Waffe als auch Handschellen fallen.

Sie setzte zum nächsten Tritt an, der seinem Gesicht gegolten hätte. Doch er fing ihren Fuß mit der Hand ab und verdrehte ihn, sodass sie ihr Gleichgewicht verlor und zu Boden ging. Sofort stürzte er sich auf sie und sie begannen sich am Boden zu rangeln. Sie trat ihm mit den Knien in die Magengrube und versuchte ihm einen Kinnharken mit dem Kopf zu verpassen, doch er war stärker als sie und drückte sie zu Boden, sodass sie sich kaum noch wehren konnte. Wütend riss er ihr die Kapuze vom Kopf, die ihn schon von Anfang an gestört hatte.

Als er ihr Gesicht sah, dieses wunderschöne Gesicht, erstarrte er. Als auch sie sein Gesicht sah, verharrte sie in ihrer Bewegung. Für wenige Sekunden lagen sie einfach nur da und starrten sich an.

Es war Carina!

Kapitel 12

Carina

 

 

Es war Noah, der sich als erstes bewegte. Er wich von ihr zurück und blieb, auf allen vieren, keinen Meter von ihr entfernt, hocken. Seine grünen Augen warten weit aufgerissen. Ebenso wie Carinas eigene. Voller entsetzten blickte sie ihn an. Er war es wirklich. Ihr geliebter Noah hockte da, vor ihrer Nase.

Langsam richtete sie sich auf und schlug die Hände vor ihren Mund. Tränen sammelten sich an ihrem Wimpernkranz und drohten über ihr Gesicht zu laufen. Es war Noah. Noah war tot.

Sie kniete sich hin und streckte zögernd ihre rechte Hand nach ihm aus. Das konnte nur ein Traum sein. Sie musste in ihrem Zimmer liegen und träumen. Die Kuppe ihres Zeigefingers berührte seine Wange. Seine warme Wange, die noch ganz rot von ihrer Verfolgungsjagd war.

Sie berührte seine Wange mit ihrer ganzen Hand, umfasste sein schmales Gesicht.

„Noah“, wisperte sie kaum hörbar. In ihrem Kopf schwirrte es und für einen kurzen Augenblick hatte sie das Gefühl, dass man ihr den Boden unter den Füßen wegzog. Mit der freien Hand stützte sie sich am Boden ab, um nicht umzufallen.

Er umfasste nun auch ihr Gesicht mit seinen Händen. Mit seinen großen, starken Händen, die sich auf ihrer Haut so warm und rau anfühlten. Sie waren so echt.

Wie in Zeitlupe richteten sich beide auf und kamen wieder zum stehen, die Blicke starr aufeinander gerichtet, die Hände an den Gesichtern des jeweils anderen angelegt.

Carinas Herz schien in ihrer Brust zu zerspringen.

„Carina“, wisperte Noah und sie glaubte Tränen in seinen Augen zu sehen. Sie wollte nicht dass er weinte, denn dann würde auch sie in Tränen ausbrechen.

Ihre linke Hand legte sie an seine Brust und spürte, wie sein Herz gegen den Brustkorb schlug. Er war tatsächlich da. Er war hier. Hier im Jenseits. Er war tot.

„Noah“, setzte sie erneut an und die ersten Tränen rannen über ihre weichen Wangen, herunter zu ihrem Kinn und tropften auf ihre schwarze Jacke. Eine Flut aus salziger Flüssigkeit ergoss sich und sie konnte sie nicht mehr aufhalten.

Noah versuchte die Tränen mit seinen Daumen wegzuwischen, doch es waren einfach zu viele. Seine Lippen bebten und nun begann auch er zu weinen. Er drückte seine Stirn gegen ihre und für einen kurzen Moment schlossen sie ihre Augen.

Er war hier.

Sie spürte, wie seine Hände von ihrem Gesicht glitten und seine Arme sich um ihren Körper schlossen. Er zog sie näher zu sich heran und drückte sie an sich, als wollte er sie nie wieder gehen lassen.

Aber sie wollte auch nie wieder fortgehen. Sie wollte nie wieder von ihm getrennt werden. Nie wieder.

Carina öffnete ihren Mund um etwas zu sagen, wurde doch jäh von der Kommunikationskonsole unterbrochen, die leise du knacken begann. Sie wartete auf eine Reaktion von Noah, doch er rührte sich nicht. Er stand weiterhin da, drückte sie an sich und gab einen zufriedenen Seufzer von sich.

Carina hob ihren Kopf an. Sie wollte in seine wunderschönen, grünen Augen sehen. Die Augen, die sie die letzten Monate so vermisste hatte. Das schimmernde Grün mit den braunen Sprenkeln, gepaart mit dem intensiven Blick einer neugierigen Seele, die sie voller Begierde und Liebe anblickte.

Ihre Lippen begannen zu beben. Sie brachte nur ein kläglich klingendes: „Noah“ hervor, bevor die Welt um die herum still stand. Selbst der weit entfernte Verkehr schien abzuebben und schließen zu verstummen. Noah fuhr mit seinen Lippen sanft über ihre Stirn, über ihren Nasenrücken und verharrte schließlich kurz vor ihren Lippen, bevor sie berührten, den Geschmack des anderen auskosteten.

Eine Welle aus Empfindungen brach über sie zusammen und riss sie ohne Erbarmen mit sich. Sie krallte sich mit der rechten Hand an dem weichen Nackenflaum seiner hellbraunen Haare fest, während sie seinen Kuss erwiderte.

So lange hatte sie sich nach diesem Augenblick gesehnt, jedoch auch zeitlich immer Schuld empfunden. Es war töricht zu hoffen, dass sie Noah bald begegnen würde, würde sie sich zeitgleich schließlich auch seinen Tod wünschen.

Langsam lösten sie sich voneinander, beide nach Luft ringend. Er hielt ihre Hände fest, als wollte er sie am weglaufen hindern. Aber Carina war sich sicher, jetzt würde sie nicht mehr weg laufen. Ihre Flucht hatte sein jähes Ende gefunden.

Das Klicken einer entsicherten Waffe erhallte und Noah und Carina wandten sich zeitgleich um. Eine Afrikanerin stand vor ihnen, mit gezückter Pistole zielte sie auf Carina. Sie trug genauso wie Noah die blau-weiße Polizeiuniform. Der Orden an ihrer Brust verriet Carina, dass sie den offiziellen Stand des Officers hatte. Sie war groß, sogar größer als Noah und ihre krauses, schwarzes Haar war zu einem Afro hochgekämmt. „Hände hoch“, zischte sie. Der Schweiß rann ihr über die Stirn.

Carina atmete tief durch, machte einen Schritt von Noah weg und hob ihre Hände.

Auch Noah setzte sich in Bewegung. Er stellte sich mit geschwollener Brust zwischen Carina und dem Lauf der Pistole. „Gwynne, bitte nicht. Bitte.“

Carina konnte dank Noahs breiten Rücken nicht sehen, was Gwynne machte, doch das Geräusch, wie sie ihre Waffe sicherte, drang in ihr Ohr. Erleichtert atmete sie aus und lehnte ihren Kopf an Noahs Rücken.

„Ist das die Kleine, von der du mir erzählt hast?“, fragte Officer Gwynne skeptisch. Carina konnte es ihr nicht verdenken, war ihre erste Begegnung doch nicht von der freundlichen Natur gewesen.

„Ja“, antwortete Noah bestimmt. Er machte einen Schritt auf Seite und legte Carina schützend seinen Arm um ihre Taille. Sie hielt sich mit zitternden Händen an seiner Sicherheitsweste fest.

Gwynnes Gesichtszüge wurden weicher, während sie Carina musterte und letztendlich lächelte sie sogar. „Gut.“ Sie zückte ihre Kommunikationskonsole hervor, sodass Carina das Herz wieder bis zum Hals schlug. „Hier Officer Gwynne Bancroft. Die Flüchtige ist Richtung Tanana Street gelaufen. Ich wiederhole, Flüchtige ist Richtung Tanana Street gelaufen. Mein  Zuständigkeitsbereich endet hier, kontaktieren Sie die örtlichen Einsatztruppen.“ Knack.

Knack. „Verstanden.“ Knack.

Carina rutschte das Herz in die Hose. Erleichtert schloss sie ihre Augen und lehnte sich an Noah, der seinen Arm nur noch fester um sie legte. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte sie sich wieder sicher und geborgen. Sie war in Sicherheit.

Urplötzlich verspürte sie eine unbändige Müdigkeit und nur mit Mühe konnte sie ein Gähnen unterdrücken.

„Ihr zwei werdet jetzt von ihr verschwinden“, sagte Gwynne und steckte dabei die Kommunikationskonsole zurück ins Halfter. „Ich werde jetzt zurück zum Verschlund gehen und dort die Lage beruhigen.“ Sie rückte ihren Gürtel zurecht und machte sich zum gehen bereit. „Kleines, zieh am besten deine schwarze Jacke aus und mach die Haare auf, damit man dein Gesicht nicht sofort erkennt.“ Sie blickte auf Noah. „Lass sie nicht mehr entwischen.“ Mit diesen Worten drehte sie sich um und verschwand hinter den Blättern der Rotbäume.

Carina begann zu lächeln, bevor sie sich von Noah löste und die Jacke abstreifte. Officer Gwynne hatte recht gehabt. Sie suchten doch alle nur nach einer jungen Frau mit einer schwarzen Jacke. Auf eine Frau mit olivgrünem Tanktop achtet nun kein Mensch. Sie reichte Noah ihre Jacke, der sie einfach um seinen Arm legte.

Sie wartete, bis er seine Waffe und die Handschellen aufgesammelt hatte und wieder in die dafür vorgesehen Halterungen verstaute. Auch sie hob ihre Waffe auf, um sie in ihrem Gürtel festzustecken.

Hand in Hand streiften sie durch den Wald, immer weiter Richtung Süden.

 

 

Wie Gwynne gesagt hatte, mit offenen Haaren und ohne ihre Jacke würde man ihr keine Beachtung schenken. Niemand der Polizisten beachtete sie, nur Noah wurde begrüßt oder nach seinem Weg gefragt. Zu ihrem erstaunen hinterfragte keiner seine teilweise absurd klingenden Lügen.

„Ich habe Feierabend, Sir.“ – „Diese Frau wird von Mr. Brown im Präsidium erwartet, ich geleite sie nur dort hin.“ – „Machen Sie das nicht auch? Mit der Uniform ausgehen? Ich sage Ihnen, bei den Frauen schindet das Eindruck.“ – „Ist bloß noch ein Modetick, Sir. Ich bin schon seit Jahren nicht mehr im Dienst.“

Niemand wollte seine Marke sehen. Niemand wollte seinen Ausweis sehen. Die Polizei schien genauso naiv zu sein, wie sie es selbst zu Anfang im Jenseits gewesen war. Doch die Zeiten hatten sich geändert, sie hatte sich geändert.

Noah erzählte ihr, dass er die Polizeiausbildung gemacht hatte, um die nötigen Sicherheitsfreigaben für die Suche nach ihr zu bekommen und das er seither keine Ruhe mehr fand.

Sie fühlte sich schuldig, dass er sich solche Sorgen um sie gemacht hatte.

Als sie seine Wohnung in Distrikt C erreicht hatten, fühlte sie sich beobachtet. Sie wusste was für Menschen hier ihr Unwesen trieben und sie wusste, dass ein paar von denen nach ihr suchten.

Als die Haustür hinter ihr ins Schloss fiel, atmete sie auf. Ihr Blick wanderte durch das kleine Apartment. Es war für eine Einzelperson angelegt worden – ein Apartment für Neuverstorbene. Sie selbst hatte zu Anfang auch in solch einem sterilen Wohnraum gelebt, bevor sie in Distrikt H zu Vince Darcy gezogen war.

Doch die Wohnung passte zu Noah. Er hatte schon immer einfache und schlichte Wohnstile bevorzugt.

Während Noah sich aus seiner Schutzweste und den vielen Halftern schälte, wartete Carina mit verschränkten Händen. Sie suchte im Wohnzimmer nach einer persönlichen Note, die alles etwas wohnlicher aussehen ließ. Dich vergebens. Nur Lacktische, Lackschränke, die Ledercouch und der Fernseher an der Wand.

Sie ließen sich auf seine Ledercouch nieder. Noah hatte den nach vorne gebeugtem Oberkörper auf seinen Beinen abgestützt und Carina hatte sich die Knie bis an Kinn heran gezogen. Schweigend saßen sie nur da und starrten ins Leere.

Carina nahm seine Hand und verschränkte ihre Finger mit seinen.

Sie saßen eine Zeit lang einfach nur da, vollkommen schweigend. Aber das machte Carina nichts aus. Sie genoss seine Anwesenheit, genoss seinen Moschusgeruch in ihrer Nase und das Geräusch seines ruhigen Herzschlags.

Er festigte seinen Griff um ihre Hand und zog sie sanft zu seinem Mund, um auf jeden ihrer Finger einen Kuss zu hauchen. Anschließend streckte Carina ihre Finger aus, um seine Wange zu berühren und über die weiche Haut in seinem Gesicht zu streicheln.

Wieso war das Schicksal so grausam zu ihnen gewesen?

Carina kletterte auf Noahs Schoß und drückte ihr Gesicht an seine Halsbeuge. Sie ließ ihre Hände auf seine Brust sinken, wo sie sich am Stoff seins weißen Hemdes fest hielt. Sie spürte, wie er seine Arme um sie legte und sie näher an sich zog.

Er roch so gut. Nach Moschus, süßlichem Schweiß und einem tiefen Nadelwald, der viele Geheimnisse und Tücken barg.

Sie begann seinen Hals mit zarten Küssen zu übersähen und wanderte immer weiter zu seinen Lippen. „Ich liebe dich“, seufzte sie. Tränen brannten in ihren Augen, während Gefühle sie mit einer schwindelnden Wucht trafen. So sehr hatte sie ich vermisst. Sie hasste sie sich dafür, dass sie seinen Geruch und seinen Geschmack vergessen hatte. Ja, sogar seine Stimme war ihr in Vergessenheit geraten. Nur wenn sie sich stark konzentrierte, konnte sie sich den tiefen Klang in ihr Gedächtnis rufen. „Ich liebe dich“, seufzte sie erneut, während Tränen über ihre Wangen liefen und sie nun seinen Kiefer immer heftiger zu Küssen begann. „Ich –“, setzte sie an.

Jedoch unterbrach Noah sie, indem er ihr Gesicht in seine Hände nahm und sie sanft von sich drückte, nur um ihr in die nassen Augen sehen zu können. „Ich liebe dich auch“, flüsterte er.

Carina lachte leise auf, bevor sie ihre Lippen auf seine drückte. Mit der Zunge drang sie in seinen Mund, kostete ihn aus und fuhr über seine Zahnreihen. So sehr hatte sich ihr Körper in den letzten Monatenn nach ihm verzerrt.

Sie spürte seine Hände, wie sie über ihren Rücken und Hintern strichen; sanft und doch voller Leidenschaft.

Carina schlang ihre Arme und Noahs Hals und drückte ihren zarten Körper an seinen. Beinahe jedes Mal vor dem schlafen gehen hatte sie sich vorgestellt, wie ihr erstes Treffen mit Noah ausgehen würde und unzählige Szenen waren ihr in den Sinn gekommen. Doch keine davon glich der Realität, der perfekten Realität.

Sie berührten sich, küssten sich und versuchten die verlorene Zeit wett zu machen, die sich zwischen ihnen gedrängt hatte.

 

Noah hatte sie nach gefühlten Stunden in sein Schlafzimmer geführt, wo sie sich gegenseitig ausgezogen hatten und Arm in Arm auf seinem weichen Bett eingeschlafen waren. Für Carina war es eine traumlose Nacht gewesen, aus der sie viel zu früh erwachte. Sie erwartete Licht, das durch die Fenster flutete, wie es in Distrikt H der Fall gewesen war. Doch in Distrikt C war es finster wie in der tiefen Nacht. Carina rieb sich die Augen und blickte zu Noah, der noch tief und fest neben ihr lag. Er lag auf dem Bauch, den rechten Arm hatte er auf ihren Körper abgelegt, der andere umschlang das Kissen.

Ein Lächeln bildete sich auf ihren Lippen. Sie hatte ihn endlich wieder bei sich. Ihren Noah.

Sie drehte sich auf die Seite und strich ihm eine braune Haarsträhne aus dem Gesicht. Er schlief so friedlich. Sie beobachtete ihn dabei, wie er flach durch den geöffneten Mund atmete und die Augen unter seinen Augenlidern hin und her zuckten.

Mit einem zufriedenen Seufzer kuschelte sie sich unter seinen Arm, presste ihre Hände an ihre Brust und schloss wieder die Augen. Nur um den Geräuschen in ihrer Umgebung zu lauschen. 

Kapitel 13

Noah

 

Mit einem Mal schlug er die Augen auf. Augenblicklich war er hellwach. Aus Angst, dass die Ereignisse des Vortags nur ein trügerischer Traum gewesen waren, tastete er mit seiner Hand nach dem Körper neben sich. Sie lag noch da.

„Guten Morgen“, drang ihre ruhige Stimme an sein Ohr.

„Guten Morgen“, flüsterte Noah. Er beugte sich zu ihr herüber, um ihr einen Kuss auf den Scheitel zu drücken. Anschließend rollte er sich auf den Rücken und rieb sich gähnend den Schlaf aus den Augen.

Carina erhob sich. Er spürte ihren Blick auf sich ruhen, was alles andere als unangenehm war. Er genoss es, sie endlich wieder bei sich zu wissen. Langsam richtete auch er sich auf und lehnte sich an die Kopflehne des Bettes. Mit einer schnellen Handbewegung drückte er auf den Lichtschalter über seinem Bett. Weißes Licht blendete ihn, sodass bunte Lichtpunkte vor seinem inneren Auge tanzten. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sich seine Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten, die im Jenseits ja sonst so fremd war.

„Du bist wunderschön“, sagte er und streckte ihr seine Hand entgegen, die jedoch sogleich wieder schlaff auf das verwühlte Lacken fiel.

Carina krabbelte ans Kopfende und lehnte sich an ihm an. „Ich danke dir“, kicherte sie und obwohl ihr die blonden Haare ins Gesicht fielen, hatte Noah die Röte auf ihren Wangen sehen können.

Noah beobachtete sie, wie sie zunächst auf ihre Füße sah und anschließend ihren Blick durch den Raum schweifen ließ. Ihr Blick verharrte an der gegenüberliegenden Wand und der Mund öffnete sich.

Noah hatte nach seinem Gespräch mit Flin eine Karte des Jenseits aufgehängt, wo er mit Stecknadeln und einem roten Faden Carinas Weg abgesteckt hatte.

Carina rutschte zum Rand des Bettes und trat mit zögernden Schritten auf die Karte zu. Mit den Fingern berührte sie den Faden und folgte ihm zu der Stecknadel, die auf den Waffenladen von Nolan Mannerhoff gesteckt war, zusammen mit dem Überwachungsfoto. „Woher hast du das?“, fragte sie mit gepresster Stimme, ohne sich dabei umzuwenden.

Noah rutschte an das Fußende seines Bettes. „Von Flin Armitage. Während meiner Suche nach dir habe ich auch ihm einen Besucht abgestattet und nach Informationen gefragt. Er hatte sich für mich in das System gehakt und Überwachsungsfotos gefunden.“

Sie sah auf die anderen beiden Bilder, wo sie auf dem einen durch die Gasse rannte und auf dem anderen am Verschlund stand.

Noah stützte sich auf seinen Armen ab und musterte sie. „Was hast du da gemacht?“, fragte er voller Neugierde.

Carina kam zu ihm zurück aufs Bett und setzte sich zwischen seine Beine, den Blick jedoch noch auf die Karte gerichtet. „Als ich am Verschlund war, war ich gerade auf der Flucht. Ich hatte mich von meiner Vergangenheit verabschiedet und war dabei ein geeignetes Versteck zu suchen.“

„Am Verschlund?“ Er legte sein Kinn auf ihre Schulter.

„Ich werde verfolgt, Noah. Man muss seine Verfolger im Auge behalten. Als ich durch die Gassen gelaufen bin … ich war überzeugt, dass ich wie unsichtbar war. Dass mich niemand wahrgenommen hat. Aber vor dem System kann man sich wohl nicht verstecken.“ Sie schwieg einen Moment und lehnte ihren Kopf an Noahs. „Ich war auf dem Weg zu meinem Versteck, wo ich in Sicherheit war und wo ich glaubte, mich auch sicher fühlen zu können.“ Sie drehte ihren Kopf und küsste seine Wange. „Aber bei dir fühle ich mich am sichersten.“

Noah rührte sich nicht. Er sah mit gerunzelter Stirn auf die Karte. Mit den Augen folgte er dem Faden, der am Haus der Sterbenden begann, an der Psychiatrie vorbei und zu ihrer Adresse in Distrikt E ging, ihrem Weg nach Distrikt H zu Vince Darcy folgte und schließlich ihrem Weg durch Distrikt D mit den vier Bildern entlang ging. „Wer verfolgt dich?“

Er spürte, wie Carinas Herz schneller zu schlagen begann, weswegen er seine Hände auf ihren Bauch legte. Er wollte sie beschützen. Er wollte dass sie glücklich ist.

„Böse Menschen, denen ich geschadet habe“, antwortete sie.

„Was für böse Menschen?“, bohrte Noah weiter.

Carina drehte ihren Kopf wieder Richtung Karte. „Sergei Orlow und seine Drogenmafia.“

 

Carina erzählte ihm von ihren Wochen in Distrikt E, wo sie fieberhaft nach Arbeit gesucht hatte. Die Fabriken nahmen nur ungern junge Frauen, da sie wegen dem Wunsch nach einer Familie eher als andere Menschen zu einer Wiedergeburt tendierten und somit keine lang anhaltenden Arbeitskräfte waren. Zusätzlich war Carina von zierlicher Statur und somit erntete sie schon höhnische Blicke, wenn sie nur nach einer freien Stelle fragte. Sie hatte sich letzten Endes bei einer kleinen Firma beworben, die Antibiotika für die Pharmaindustrie herstellte – zumindest behaupteten sie das. Es war eines der Labore von Sergei Orlow. Dieser war sichtlich von ihr angetan gewesen und hatte ihr vorerst eine Stelle als Telefonfrau geben, wo sie nur Anrufe von Firmen und Apotheken weiterleiten sollte. Es dauerte nur wenige Tage, bis man sie tiefer in die Welt der Drogenmafia einführte und schließlich, nach vier Wochen, zur Bürodame für den Import von illegal erworbenen Zutaten beförderte. Sie sammelte Unmengen von Wissen über seine geheimen Verstecke und Lieferanten an und kannte den größten Teil seiner Einnahmen.

Carina wusste, dass ihre Arbeit alles andere als legal war und begann nach einem Ausweg zu suchen. Dabei lernte sie Vince Darcy in einem Café kennen. Sie freundeten sich recht schnell an und Carina sah dies als einzige Chance, um aus der dunklen Szene des Jenseits entfliehen zu können. Kurzerhand verschwand sie von der Bildfläche und tauchte Tage später bei Flin auf, um ihren Umzug nach Distrikt H vorbereiten zu können. Solange sie sich ans Gesetz hielt, würde das System ihr Verhalten nicht als auffällig erachten und somit hatte sie zumindest davon ihre Ruhe.

Das Zusammenleben mit Vince Darcy gestaltete sich als äußerst schwierig, da er nicht einmal ein Schlafzimmer besaß und sie somit auf Futons im Wohnzimmer schlafen mussten – für Carina jedes Mal eine höchst unangenehme Angelegenheit. Sie genoss die Nächte, wenn Vince seine Ringkämpfe hatte und sie alleine sein konnte. Ab und an zog sie sich auch in einem Hostel zurück, wo sie sich ein billiges Zimmer gemietet hatte. Die ersten Wochen glaubte sie tatsächlich, dass sie Sergei Orlow entkommen war. Doch dann tauchte sein Laufbursche, sein Schatten auf. Jock hatte sie ausfindig gemacht und verfolgte sie durch den gesamten Distrikt H. Carina tauchte wieder unter und lebte fortan im Untergrund, bis sie auf ihren Onkel traf.

Dieser war im Jahr 1986 in Folge eines Herzinfarktes verstorben und hatte sich hier im Jenseits sein eigenes Imperium mit dem Handel von Mineralien und Edelmetallen aufgebaut. Er besaß seine eigenen Mienen in Distrikt B und O, wo Unmengen von Opalen und Goldstaub entdeckt wurden. Selbst an den Sandstränden von Distrikt L hatte er Goldnuggets entdeckt. Er nahm Carina schlussendlich bei sich auf, was ihre Verfolger dennoch nicht abhielt weiterhin auf sie Jagd zu machen.

Man hatte Vince Darcy ausfindig gemacht, ihn versucht zum Reden zu bringen und ihn ihretwegen letzten Endes ermordet, so ging Carina zumindest davon aus,

Noah hatte ihrer Geschichte aufmerksam zugehört und seine Arme immer enger um sie geschlossen. Nun wunderte es ihn kaum noch, dass sich seine Suche so schwierig gestaltet hatte. Sie hatte es ihm wirklich nicht leicht gemacht.

„Ich bin wirklich am Arsch“, sagte sie.

„Das bist du“, bestätigte Noah. Er küsste zärtlich ihren Hals. „Und es wird vermutlich ewig dauern, bis wir das wieder gerade gebogen haben.“

Sie gab ein leises Stöhnen von sich und gab sich ganz seinen Liebkosungen hin. „Wir?“, seufzte sie.

Noah zog sie noch enger an sich. „Ja, wir.“ Er übersäte ihren Hals und ihren Nacken mit kurzen, zärtlichen Küssen, bevor er anfing an ihrem Ohrläppchen zu knabbern. Sein Körper verzehrte sich nach ihr, doch er war sich nicht sicher, ob Carina es genauso erging. Zwar genoss sie seine Berührungen, aber das hatte nicht viel zu bedeuten. Zu ihren Lebzeiten hatte Noah des Öfteren ihr Verhalten falsch gedeutet und war besonders zu der Anfangszeit ihrer Beziehung schnell zu aufdringlich gewesen.

Langsam fuhr er mit seiner Hand über ihren Bauch und schob sie zaghaft weiter nach unten zu ihren Oberschenkeln. Carina wehrte sich nicht dagegen, ganz im Gegenteil. Sie wölbte sich seinen Händen entgegen und seufzte genüsslich.

Noah fühlte sich nun in seinem Handeln bestätigt und während er an der feinen Haut an ihrer Halsbeuge zu knabbern begann, streichelte er sie an der Innenseite ihrer Schenkel. Er spürte wie sein Glied in seinen Shorts steif wurde.

Mit den Fingernägeln krallte sie sich in seine Beine und suchte mit ihren Lippen sein Ohr, um daran zu knabbern. Dabei spreizte sie einladend ihre Beine.

Noahs Lippen umspielte ein verschmitztes Grinsen, während er seine Hand unter ihren Slip schob und sie zwischen den Schenkeln zu streicheln und zu erforschen begann. Mit der anderen Hand drückte er sie näher an sich. Sie sollte sein Glied in ihrem Rücken spüren, damit sie wusste, dass er nichts anderes als sie wollte.

Sie zwickte ihm mit den Zähnen in die Wange, nur um gleich darauf über die Stelle zu lecken. Sie gab ein wohliges Seufzen von sich und raunte seinen Namen. Unerträglich langsam schob sie ihre Hand in seine Shorts und befühlte sein steifes Glied und die anschwellenden Hoden. Ganz sanft fuhr sie mit den Fingern bis zur Eichel und in kreisenden Bewegungen runter zum Schaft. Er liebte es wenn sie das tat, was er ihr mit einem erregten Stöhnen zeigte.

„Noah“, stöhnte sie in sein Ohr. „Lass es uns richtig machen. Ich … ich will dich ansehen.“

Wenn auch widerwillig nahm Noah seine Hände von ihr und rutschte weiter in die Mitte seines Bettes. Carina folgte ihm, mit funkelnden, braunen Augen. Sie streifte sich den Slip ab und griff augenblicklich nach dem Bund seiner Shorts. Sie ist hungrig, dachte Noah amüsiert und ließ sie gewähren.

Sie entledigte den letzten Rest Stoff, der seinen Körper einhüllte. Begierig leckte sie sich über die Lippen und pirschte sich an ihn an. Noah schlang einen Arm um sie und zog sie auf seinen Schoß. Er wollte ihre Hitze spüren, während er sie liebte.

Er küsste ihre wohlgeformten Brüste und knetete ihren Hintern, während sie sich an ihn drückte und mit den Händen durch sein ohnehin schon zerzaustes Haar strich. „Ich liebe dich“, seufzte er und saugte daraufhin an ihrer Brustwarze.

Langsam senkte sie ihr Becken und die Spitze seines Penis streifte ihre Feuchte. Sie nahm sein Glied in die Hand und führte es sich vorsichtig ein. Als er in ihrer Enge war, verharrten sie für einen Moment, während sie mit ihrer Stirn an seiner Wange lehnte. „Noah“, wisperte sie.

„Carina“, antwortete er, mit einer vom Verlangen kratzig werdenden Stimme.

Sie hob ihren Blick an und sah ihm tief in die Augen. Die eine Hand ruhte noch immer am Schaft seines Gliedes, doch die andere umfasste nun seine rechte Gesichtshälfte. „Du gehörst mir“, flüsterte sie und noch bevor er antworten konnte, drückte sie ihren Lippen auf seine.

Sie bewegten sich in einem gleichmäßigen Rhythmus, während ihre verschwitzten Körper sich aneinander rieben und gegenseitig Richtung Ekstase trieben.

 

 

Es war bereits Mittag, als sich Noah und Carina aus dem Bett quälten. Sie hatten sich eng umschlungen Geschichten aus ihrer gemeinsamen Vergangenheit erzählt, nachdem sie sich geliebt hatten. Doch Noah würde bald seine Schicht mit Gwynne antreten müssen.

Nachdem sie gemeinsam etwas gegessen hatten, hatte Carina sich im Badezimmer zurückgezogen, um ausgiebig zu duschen. Noah schaltete währenddessen die Mailbox seines Telefons an.

„Sie haben eine entgangene Nachricht“, klärte ihn die verzerrte Stimme auf.

„Noah, hier ist Gwynne. Frag nicht wie ich es geschafft habe, aber du hast den Rest der Woche frei. Schulterverletzung, Rücken verrenkt … so ein Zeug. Deine gestrige Abwesenheit ließ sich nicht anders erklären. Aber man konnte ja von überall dein lebensgefährliches Manöver auf den Schwebetransportern sehen. In diesem Sinne auch liebe Grüße von Mr. Brown und – Noah, das ist mein voller Ernst – bitte mach das nie wieder. Ich komme heute noch mal bei dir vorbei, vor der Schicht. Pass auf dich und deine Kleine auf. Bye.“ Ein Piepen und die Mailbox schaltete sich aus.

Noah nickte zufrieden und ließ sich auf die Couch nieder. Er hatte also tatsächlich für eine Verletzung frei bekommen, die im Grunde nur aus einem blauen Fleck und einer leichten Prellung bestand. Was für ein Glück er doch hatte.

 

 

Es war kurz nach vier Uhr Abends, als Gwynne  an seiner Haustür klopfte und in seine Wohnung schlüpfte, nachdem er ihr geöffnet hatte. Sie wirkte ausgezerrt und müde. „Cheerio“, trällerte sie und wank Noah und Carina zu, bevor sie sich einfach auf die Ledercouch fallen ließ.

„Guten Tag“, begrüßte Carina sie höflich. Auch sie setzte sich auf die Couch. „Ich wollte mich bei Ihnen bedanken. Sie haben mir und auch Noah sehr geholfen. Danke.“

Gwynne wank ab. „Nicht der Rede wert. Noah hätte sich sonst noch wie ein Lemming in den Abgrund gestürzt, wenn ich euch nicht zusammen gelassen hätte.“ Sie grinste ihren Partner an, der das allerdings gar nicht lustig fand. „Außerdem gönne ich euch eure Zweisamkeit.“

„Danke“, sagte Carina mit einem schüchternen Lächeln.

Noah setzte sich auf die Armlehne der Ledercouch und musterte Gwynne skeptisch. Sie war doch nicht gekommen, nur um über ihn herzuziehen. Schließlich hatte sie ihn offiziell für schwer verletzt erklärt. „Also, Gwynne, was gibt’s?“

„Zwei Dinge“, sagte sie und streckte ihm ihre ausgestreckten Zeige- und Mittelfinger entgegen. „Erstens! Wenn du dich entscheiden solltest doch deinen Dienst anzutreten, tu bitte wenigstens so, als wärst du schwer verletzt. Kauf dir eine schiene für deinen Arm oder Pinsel dir eine Fleischwunde drauf – ist mir vollkommen gleich. Zweitens! Carina, richtig? Ich bin stolzer Officer im Dienste des Jenseits und daher muss ich Sie fragen, was Sie in der Bank hast mitgehen lassen. Geld ist es nicht, das steht fest.“

Noah presste seine Lippen aufeinander und musterte seine Freundin. Daran hatte er gar nicht mehr gedacht, zu sehr war er damit beschäftigt die verlorene Zeit mit ihr wieder wett zu machen. Neugierig legte er seinen Kopf schräg.

Carina begann am Saum ihres olivgrünen Tanktops zu zupfen und senkte ihren Blick. Hatte sie etwa geglaubt, damit ohne weitere Fragen durchzukommen? Wenn es an Noah gelegen hätte, vermutlich ja, aber Gwynne war anders gestrickt. Sie nahm ihre Arbeit wesendlich ernster.

„Ich habe etwas aus einem Schließfach genommen, was nicht mir gehört. Nicht offiziell. Aber“, setzte sie an und blickte Noah mit ihren großen, braunen Augen an. „es hat auch nicht dem Besitzer des Schließfaches gehört. Es ist ein Teil des Systems das entwendet. Der Besitzer des Schließfaches wollte das System damit neu erfinden, um die absolute Macht im Jenseits zu haben, was ihm in Diesseits nicht gelungen war.“

„Wer ist der Besitzer des Schließfaches?“ Gwynne legte ihren Arm auf die Rückenlehne der Couch und musterte Carina argwöhnisch.

Carina atmete tief durch und senkte wieder ihren Blick. „Sergei Orlow.“

Gwynnes Augen weiteren sich und die Kinnlade klappte ihr runter. Noah konnte ihr das nicht verdenken. „Ser … Sergei Orlow?“, brachte sie hervor.

Carina nickte. „Ja.“ Mit kurzen Worten klärte sie Gwynne über ihre Verbindung mit dem Mafiosi auf und über ihre Flucht durch das Jenseits, die sie letzten Endes in die Arme von Noah getrieben hatte.

Gwynnes Gesichtszüge wurden härter. „Würden Sie mir den Gegenstand bitte zeigen?“

Carina erhob sich von der Ledercouch und verschwand im Schlafzimmer, wo sie wenige Sekunden später mit ihrer schwarzen Jacke zurückkam. Aus einer versteckten Innentasche zog sie ein kleines Lackkästchen heraus und reichte es Gwynne.

Noah stand auf und setzte sich auf die andere Armlehne der Couch, um eine bessere Sicht auf den Inhalt werden zu können. Vorsichtig öffnete Gwynne den Verschluss und schob den Deckel auf Seite. In rotes Samt gehüllt, lag da ein kleiner Chip, bloß so groß wie die Fingerkuppe von Noahs kleinem Finger. Der Chip war Silber und wurde von grünen Drähten umschlossen, die so breit wie ein menschliches Haar waren. In Noah kam der Impuls auf, den Chip zu berühren, doch er rührte sich nicht.

„Was genau befindet sich darauf?“, fragte Gwynne. Mit strengem Blick musterte sie den Chip.

„Wie gesagt, es ist ein Teil des Systems. Sergeis Techniker haben den Teil so umfunktioniert, dass es das System komplett überschreiben würde, würde man den Chip wieder einfügen. Die Ordnung und das Gleichgewicht im System würden verschwinden und den Drogenhandel einfacher und erschwinglicher machen.“ Carina ließ sich wieder auf die Couch nieder und spielte mit ihrer Jacke herum. „Es ist sehr gefährlich. Ich dachte mir, wenn ich es ihm stehle, dann kann er es nicht einsetzen und das System wäre vor ihm sicher.“

Gwynne blickte auf. „Das ist aber nicht der einzige Grund, warum Sie es gestohlen haben, nicht wahr?“

Noah öffnete seine Mund um Einsprüche gegen ihre Frage zu erheben, doch war Carina schneller als er: „Nein, es ist nicht der einzige.“ Mit traurigem Blick sah sie zu Noah. „Sergei wird mich irgendwann erwischen und töten. In meinem Kopf ist zu wertvolles Wissen, als das er mich einfach so davonkommen lassen kann. Ich dachte mir, wenn ich schon sterben muss, dann sollte ich vorher etwas Gutes getan haben und mit meinem Wissen Menschen geholfen haben. Das ist der eigentliche Grund, warum ich es getan habe. Dass ich dabei Noah über dem Weg laufe, damit hatte ich nie gerechnet und jetzt, jetzt wünschte ich mir, das alles anders gelaufen wäre.“ Sie lächelte ihn verbittert an. „Ich hätte den Chip nicht stehlen sollen. Damit habe ich nur mein Todesurteil unterschrieben.“

 Noahs Kehle schnürte sich zusammen. Er setzte sich neben Carina auf die Couch und legte schützend seinen Arm um ihre Schulter, damit sie sich an ihn anlehnen konnte. „Wir werden das schon gerade biegen. Die werden dich mir nicht mehr wegnehmen.“

Gwynne schnalzte mit der Zunge. „Ich werde den Chip mitnehmen und Mr. Brown vorlegen. Er wird Sie beschützen können.“

„Nein!“, rief Carina und riss Gwynne mit einer schnellen Bewegung das Lackkästchen aus den Händen. „Die hälfte der Polizei gehört doch Sergei. Wenn Sie den Chip zurückbekommen und Sie und Noah umbringen lassen.“ Sie drückte das Kästchen fest an ihre Brust. „Das darf nicht passieren.“

Noah zog seine Augenbrauen in die Höhe. „Auch Mr. Brown ist einer von ihnen?“

„Kein Wunder, dass er uns auf Sergei Orlow angesetzt hat. Mit einem Partner, der noch Grün hinter den Ohren ist, hätte ich ihn niemals stellen können“, brummte Gwynne und verschränkte die Arme unter ihrer Brust. „Dieser Hund.“

„Alistair Brown war nicht gekauft, als ich für Sergei gearbeitet habe. Aber seine Vorgesetzten. Ohne diese passiert nichts bei der Polizei und auch an sie wird der Chip gegeben.“

„Wo hat Sergei Orlow nicht seine schmierigen Finger mit im Spiel?“, fragte Noah. Die einstige Unsympathie, die er für den Drogenmafiosi empfunden hatte, war mittlerweile blindem Hass gewichen.

Carina zuckte ihre Schultern. „Ich weiß es nicht. Damals war es die Neuverstorbenenbetreuung, aber auch das sollte sich mittlerweile geändert haben. Zumindest gehe ich davon aus.“

Noah dachte augenblicklich an Feena und Flin. Sie beide waren so unschuldige und reine Menschen, die ihm ohne zu zögern geholfen hatten – ganz auf ihre eigene Art und Weise. Dass man sie nun in einen Drogenkrieg mit hinein zog, war für ihn ein schrecklicher Gedanke. Besonders da Flin so sehnsüchtig auf seine Familie wartete.

„Wir müssen doch etwas tun können?“, stieß Noah hervor. Er würde Carina, Flin und Feena retten und Sergei Orlow für das bezahlen lassen, was er getan hatte.

Gwynne sprang auf und strich sich ihre Uniform glatt. „Ich werde einen Weg finden. Nach meiner Schicht.“ Auf Noahs skeptischen Blick hin fügte sie hinzu: „Solang wir beide weiter arbeiten, ist die Polizei nicht vollkommen an Sergei Orlow verloren. Wir werden einen Weg finden.“ Sie verabschiedete sich bei ihm und Carina und verschwand aus seiner Wohnung.

Am liebsten wäre Noah mit ihr mitgegangen und hätte mit ihr zusammen nach Sergei gesucht, doch er war ja krankgeschrieben. Mit einem Seufzer sank er tief in die Couch hinein und schloss für einen Moment die Augen.

„Ich sagte ja, dass ich am Arsch bin“, sagte Carina schließlich.

„Du irrst dich. Wir sind alle am Arsch.“ 

Teil 2

Kapitel 14

Noah

 

 

Den restlichen Mittag über hatten Noah und Carina sich auf der Couch zusammen gerollt und Fernsehen geguckt, sich Abendessen von einem griechischem Restaurant liefern lassen und gemeinsam über die alten Zeiten geredet. Dass Carina besonders ihren jüngeren Bruder Tyler vermisste, verwunderte Noah nicht. Sie beide hatten immer ein inniges Verhältnis gehabt, anders als Noah es mit seinen älteren Schwestern gehabt hatte. Noah hatte nur selten an Amy und Lily gedacht und noch seltener an seine Eltern.

Carina hingegen hatte viel an ihre Familie und auch an ihre Freunde gedacht, die sie in der Welt der Lebenden zurück gelassen hatte. Besonders ihren besten Freund Dean, den sie noch von der Middle School kannte, vermisste sie sehr. Dean war immer für Carina da gewesen, als Noah noch nicht an ihrer Seite war und hatte mit Freuden für ihn Platz gemacht. Noah konnte Dean gut leiden, er war ein guter Kerl.

„Während du in New York warst, sind Dean und ich einmal mit den Schlittenhunden von seinem Onkel Richtung Norden gefahren, nur für zwei Tage. Wir haben in einem kleinen Zelt campiert und Eier mit Speck über dem offenen Feuer gebraten. Es war verrückt.“ Noah lachte.

Carina gab zu, dass sie das vermisst hätte, wenn sie doch tatsächlich für die New York Times nach New York gezogen wäre. Mit den Hunden und einem voll beladenen Schlitten durch die Wildnis Kanadas zu fahren war unbeschreiblich und für Carina mitunter das Beste, was es auf der Welt gab – neben Noah, Dean und Football.

„Hier gibt es sogar Footballmannschaften, die im Stadion in Distrikt A gelegentlich gegeneinander antraten“, schwärmte sie. „Sie nennen sich die Tornado-Fs und die District-I-Hyenas. Sie haben eine riesige Hyäne als Maskottchen, die wohl vor Beginn eines Spiels immer einen ulkigen Tanz aufführt.“ Sie seufzte verträumt. „Wie gerne ich mir doch mal eines ihrer Spiele ansehen würde.“

„Als Hyäne verkleidet?“, grinste er und ahmte die hässliche Lache der Hyänen nach, die er im Disneyfilm König der Löwen gesehen hatte.

Carina schlug im lachend auf die Brust. „Lass das.“

Sie hatten einen wunderschönen Abend zusammen, den Noah nicht besser hätte gestalten können. Eng umschlungen saßen sie da und genossen die Anwesenheit des anderen. Es war fast wie früher, aber leider nur fast.

Carina rekelt sich schließlich. „Wir sollten gleich schlafen gehen“, sagte sie und gähnte genüsslich. „Heute war ein anstrengender Tag.“

Noah warf einen Blick auf die Plastikschälchen, wo noch Essensreste drin lagen. „Oh ja, sehr anstrengend“, witzelte er und drückte sie nur noch fester an sich, bevor er ihr einen Kuss auf die Schläfe drückte.

Mit müden Gliedern befreite sich Carina aus seinem Griff und erhob sich von der Couch. Sie streckte ihm ihre Hände entgegen, um ihn auf die Füße zu ziehen. „Na komm“, sagte sie unter einem sanften Lächeln.

Er fühlte sich wie ein alter Mann, als er auf die Füße gezogen wurde und erst seinen Rücken durchstrecken musste, um gerade stehen zu können. Sein Körper hatte die Verfolgungsjagd doch nicht vollkommen kalt gelassen. Er ließ seine Wirbel knacken, bevor er seine Arme um Carinas Taille legte und sie eng an sich zog. Sanft hauchte er ihr einen Kuss auf die schmalen Lippen. Sie roch nach seiner Bodyloation.

„Lass uns ins Bett gehen“, quengelte Carina, während sie ihn langsam Richtung Schlafzimmer zog. Wieder gähnte sie. „Ich bin wirklich müde.“

Noah blieb keine Zeit zu antworten. Das Glas im Fenster barste und Scherben schmetterten auf den Boden. Etwas pfiff an seinem Ohr vorbei und verschwand in der Wand. Irritiert blieb er stehen und blickte auf das Meer aus Scherben. „Was zum?“, setzte er an. Doch da pfiff wieder etwas an ihnen vorbei und noch bevor er verstand, was gerade passierte, spürte er, wie Carina ihn auf den Boden zog.

„Die schießen auf uns!“, kreischte sie.

Ein Kugelhagel ergoss sich über sie, zertrümmerte Haustür und Fenster und zerfetzte Möbel und Wände. Carina rollte sich zusammen und schützte ihren Kopf mit den Armen, doch die erste Kugel streifte ihren Arm. Sie schrie auf. Noah packte sie an der Hand und zerrte sie zu der Ledercouch. Er ward die Ledercouch um, sodass sie sich dahinter verstecken konnten. Er begutachtete ihren verletzten Arm. Zum Glück war es nur eine Fleischwunde, aber auch die mussten sie schnell verarzten lassen.

„Ich glaube sie haben dich gefunden“, stieß Noah hervor und überlegte fieberhaft, wie er unbeschadet zu seinem Tresor gelangen sollte, wo er seine Waffen versteckt hatte. Er müsste den Raum durchqueren, das war unmöglich. „Wo hast du deinen Colt?“

Carina deutete auf das Schlafzimmer. „Auf dem Nachttisch.“

„Scheiße“, rief er. Es blieb ihm nichts anders übrig, er musste an seinen Tresor. Er wandte sich Carina zu und hielt sie fest an ihren Schultern. „Du bleibst in Deckung, verstanden? Sie dürfen dich nicht erwischen.“ Er drückte ihr einen Kuss auf die Stirn  und machte sich bereit. Er hatte nur einen Versuch und den würde er nutzen.

Binnen Sekunden erstarb der Kugelhagel. Das Magazin des Schützen war leer. Noah hechtete los. Er erreichte den Tresor, gab mit zitternden Händen den Code ein und warf die Tür auf. Der Kugelhagel setzte wieder ein. Eine Kugel streifte Noahs Schulterblatt. Er  griff nach seiner Glock, einem Sturmgewehr und mehreren Schachteln mit Magazinen. Anschließend war er sich auf den Boden und robbte zu Carina zurück. Ihr reichte er sein Sturmgewehr – denn damit hatte er am wenigsten Übung. Mit der Glock war er treffsicher und sobald er einen Blick auf den Schützen erhaschen konnte, würde er ihn auch treffen.

„Wir müssen Gwynne bescheid sagen!“, rief Carina und entsicherte das Gewehr.

Noah machte eine wegwerfende Handbewegung. „Die bekommt das hier schon schnell genug mit.“ Auch er entsicherte seine Waffe und gab den ersten Warnschuss ab.

„Den Schatten nach zu Urteilen müssen sie gegenüber des Hauses stehen, auf  der anderen Straßenseite“, sagte Carina und zielte auf das Loch, wo einst ein Fenster gewesen war. „Ich habe eine Idee.“

„Was für eine Idee?“, rief Noah und gab den nächsten Schuss ab, durch das Fenster hindurch. Nichts veränderte sich. Er hatte niemanden getroffen.

„Du robbst dich unter das Fenster und ich gebe Schüsse ab, sobald sich eine Gelegenheit bietet, erwiderst du das Feuer. Von dort aus wirst du eine bessere Sicht haben und diese Schweinehunde treffen.“

Da ihr Möglichkeitsspektrum äußerst gering war, nickte Noah und begann mit der Glock in der Hand und einer Schachtel Magazinen vor sich her schiebend auf das Fenster zuzurobben. Er hasste die Menschen, die das Feuer eröffnet hatten. Er hasste sie aus tiefster Seele.

Carina legte das Gewehr an und schoss. Sie schoss und schoss und schoss. Noah glaubte, dass ihr Gegner sein Tempo verlangsamte und weniger Kugeln durch seine Wohnung flogen. Er drehte sich um, zielte aus dem Fenster heraus und schoss selbst. Er schoss sein gesamtes Magazin leer und duckte sich schließlich wieder. Hatte er getroffen? Er hielt den Atem an und wartete.

Eine Sekunde. Nichts passierte. Zweite Sekunde. Nichts passierte. Dritte Sekunde. Nichts passierte. Keine Kugeln mehr.

„Du hast ihn getroffen!“, rief Carina und krabbelte zu ihm unter das Fenster. Sie erhob sich und zielte auf die Straße. Wieder schoss sie.

„Wieso hast du geschossen?“, fragte Noah.

Carina ging auf die Knie und musterte ihre Fleischwunde. „Du hast ihn nur getroffen und nicht erschossen.“

Noah traute seinen Ohren nicht. Hatte sie gerade mutwillig einen Menschen getötet? „Was?!“, stieß er hervor und richtete sich abrupt auf. Auf der anderen Straßenseite lagen zwei Männer, das Blut quoll unter ihren leblosen Leichnamen hervor. Vor ihnen stand ein Gerüst, auf dem eine Kalaschnikow geschnallt war.

„Sie gehörten zu Sergei. Wenn wir sie nicht töten, töten sie uns“, entgegnete Carina. Sie lud ihr Gewehr nach und richtete sich ebenfalls auf. „Ich sagte doch schon, dass ich am Arsch bin.“

Noah spannte seinen Kiefer an. In der tat, das hatte sie gesagt und verdammt noch mal, sie hatte so was von Recht gehabt. „Pack das Kästchen ein und hol deinen Colt. Wir verschwinden von hier“, raunte er ihr zu. Er schnappte sich sein Halfter vom Kleiderständer und schnallte es sich um, bevor er eine schusssichere Weste ohne dem Emblem der Polizei überzog.

Carina gehorchte und verschwand im Schlafzimmer. Als sie zurückkam, den Colt im Gürtel ihrer Jeans gesteckt und das blonde Haar zu einem strengen Zopf gebunden, führte er sie in die Küche und durch die Hintertür in einen Innenhof. Der Innenhof war von hohen Hauswänden umringt. Durch einem kleinen Tor aus Gusseisen gelangten sie auf die Straße. Gemeinsam rannten sie los.

„Wo sollen wir eigentlich hin?“, rief Noah. Ihre Flucht hatte er nicht vollkommen durchdacht.

Carina deutete auf die angrenzte Lafleur Street, die direkt nach Distrikt E führte. „Wir gehen zu meinem Onkel. Der wird wissen was zutun ist.“

 

 

Nach einer halben Stunde hatten sie das riesige Geschäftsgebäude erreicht. Harcourt Corporation las Noah auf einer riesigen Anzeigetafel über dem pompösen Eingang. Carina hatte zwar erwähnt, dass ihr Onkel mit seiner Firma gut Geld verdiente, doch hatte Noah das ein wenig unterschätzt.

Vom Schweiß durchnässt und mit geladenen Waffen in den Händen rannten sie in das Gebäude. Noah ging davon aus, dass man sie nicht einmal in die Nähe ihres Onkels lassen würde, schließlich waren sie bewaffnet. Doch zu seiner Überraschung wank man Carina und ihn einfach durch.

Sie betraten den Aufzug und nachdem sich die Türen geschlossen hatten, ließ sich Noah gegen die Wand sinken und atmete tief durch. Das Adrenalin pumpte noch durch seinen Körper und ließ seinen Kopf ganz wirr werden. Man hatte auf sie geschossen. Man hatte versucht sie zu töten. Quatsch, sie waren schon längst tot! Man hatte versucht sie vollkommen auszulöschen.

Im achten Stock hielt der Fahrstuhl und sie beide betraten ein mit rotem Teppich ausgelegtes Foyer. Die Wände waren mit Holz bekleidet und alte Gemälde und Figuren beschmückt. Von der Decke hingen eiserne Kronleuchter, die den gesamten Raum in ein warmes Licht tauchten.

Carina führte ihn durch einen Flur, der voll mit ausgestopften Tieren war. Noah war schleierhaft, wo ihr Onkel die Tiere her hatte. Denn die meisten gab es gar nicht im Jenseits – zumindest nicht in diesem, wie er vermutete.

Sie blieben vor einer breiten Tür aus dunklem Holz stehen. Neben ihr stand ein hoch gewachsener Mann, mit schwarzem Haar, das vornehm zurück gegelt war. Er trug einen Anzug und weiße Handschuhe. Noah vermutete, dass er eine Form Butler war.

„Miss Harcourt“, begrüßte er Carina.

„Andrey“, sagte sie. „Andrey, ist mein Onkel da?“

„Ja, Miss.“

Carina öffnete die Tür und betrat den Raum vor ihnen.

„Danke, Andrey“, sagte Noah höflich und verabschiedete sich mit einem nicken.

„Für Sie Mr. Swandjaya“, warf Andrey ein.

Noah wandte sich irritiert um, doch da schloss der Butler schon die Tür. Er wollte Carina etwas ins Ohr raunen, als sein Blick dem eines dickbäuchigen Mannes traf. Dieser saß in einem roten Ohrensessel, eine qualmende Zigarre in der Hand, vor einem Kamin. Er hatte dunkelgraues, volles Haar und einen vollen Bart. Seine kleinen Augen lagen tief in den Höhlen und ließen das Gesicht noch wulstiger aussehen, als es ohnehin schon war.

„Onkel Eoghan“, begrüßte Carina ihn. Sie drückte Noah ihre Waffe in die Hand und ging auf ihn zu, um einen Kuss auf die Stirn zu geben.

„Carinchen“, antwortete dieser, rührte sich aber nicht. Sein Blick galt immer noch Noah, der unschlüssig da stand. „Sag doch, Kindchen, wen hast du mir da mitgebracht?“

Voller Stolz baute Carina sich neben ihm Onkel auf. „Das ist Noah Seaton.“ Da ihr Onkel nicht antwortete, fuhr sie fort: „Ich habe dir doch von ihm erzählt. Er ist mein Freund, aus Ottawa. Ich habe ihn im ersten Semester an der University Ottawa kennen gelernt.“ Ihr Onkel reagierte immer noch nicht. „Ich habe dir wirklich von ihm erzählt.“

Eoghan Harcourt zog als Antwort an einer Zigarre und deutete schließlich auf einen zweiten Sessel, der ihm gegenüber stand. Carina sah Noah erwartungsvoll an. Dieser setzte sich in Bewegung, legte die Waffen vorsichtig auf den Teppich ab und setzte sich in den Sessel. Carina kam mit geschmeidigen Schritten auf ihn zu und ließ sich auf seinem Schoß nieder.

„Du bist also der Bursche, der meiner Nichte das Herz gestohlen hat“, brummte Eoghan. „Was machst du hier im Jenseits?“

Noah atmete tief durch. „Ich ging über die Straße, weil ich Carinas Eltern besuchen wollte, um mit ihnen gemeinsam zu trauern. Dabei erfasste mich ein LKW.“

Kurz herrschte Schweigen zwischen ihnen, bis Eoghan herzhaft zu lachen begann, sodass ihm fast die Zigarre aus der Hand fiel. „Das ist ja köstlich“, gluckste er und rieb sich den dicken Bauch. „Die meisten erzählen mir immer umfangreiche und abenteuerliche Geschichte, Carina eingeschlossen. Aber deine Geschichte ist von Schlichtheit kaum überbieten. Wollen Sie sie nicht ausschmücken? Nein?“ Er lachte noch mal auf. „Wirklich sehr amüsant.“

„Onkel, wir brauchen deine Hilfe“, wechselte Carina das Thema. Sie war vollkommen ernst geworden und Noah spürte, wie sie angespannt sie war.

„Das habe ich mir schon gedacht, als ihr mit den Waffen in mein Büro kamt. Ich habe von dem gestrigen Bankraub gehört, gute Arbeit. Ich sagte ja, dass du es schaffst und deine Beute scheint ja einen zusätzlichen Bonus erhalten zu haben.“ Dabei bedachte er Noah mit einem amüsierten Blick. „Hast du die Schatulle?“

„Ja, aber man hat uns entdeckt.“ Sie deutete auf die Wunde an ihrem Arm. „Sie haben uns in Noahs Wohnung beschossen.“

Eoghan nickte und zog an seiner Zigarre. „Aber ihr habt es überlebt.“

„Ja.“

Er blies den Qualm durch die Nasenlöcher. „Und eure Antagonisten?“

„Beide tot.“

Er nickte und musterte mit nachdenklichem Blick das Gewehr zu ihren Füßen. Er schnippte die Zigarre in einen Aschenbecher aus Glas, der auf einem kleinen Beistelltisch neben seinem Sessel stand. „Ich werde euch Geld und Waffen zur Verfügung stellen können und ihr könnt bei mir wohnen. Aber mit mehr werde ich euch nicht dienen können.“

„Mehr können wir von Ihnen auch nicht verlangen“, antwortete Noah. „Vielen Dank.“

Eoghan nickte, schien aber nicht vollends zufrieden zu sein. Er wandte sich a Noah: „Als was arbeiteten Sie hier?“

„Ich bin Officer bei der Polizei und für Distrikt D zuständig“, antwortete Noah. „Das ist nur leider nicht sonderlich hilfreich. Carina erzählte, dass –“

„Das Serge Orlow mittlerweile auch die Polizei für sich gewonnen hat, ja“, beendete Eoghan seinen Satz. „Es ist eine Schande, was der Ruski mit unserem Jenseits anstellt. Glaub mir, als ich hier ankam, da war es hier deutlich schöner und angenehmer zu leben. Orlow mag zwar schon hier gewesen sein, aber er war nur ein kleiner Fisch in einem riesigen Meer. Der Hund hat sich hochgearbeitet und untergräbt jegliche Autorität, die ihm im Weg stehen könnte.“

„Er macht auch Ihr Geschäft kaputt?“

Eoghan wachte auf. „Nein, das nun wirklich nicht. Aber er hat es gewagt meine Familie anzugreifen und das kann und werde ich nicht tolerieren.“ Er schlug sich mit der Faust auf das Knie. „Gott verdammt, wenn ihr diesen Wodkasäufer umbringt, werde ich euch mit Opalen und Goldnuggets aufwiegen lassen.“

„Dann wird für Carina aber nicht allzu viel dabei raus springen“, witzelte Noah und Eoghan begann herzhaft zu lachen. Carina schnalzte mit der Zunge und schlug ihm gegen die Brust, musste aber schließlich auch grinsen.

 

 

Sie hatten von Eoghan ein großes Zimmer gestellt bekommen. Das der tüchtige Geschäftsmann auch in seinem Bürogebäude wohnte, hatte Noah zu Anfang irritiert. Doch er hatte sein Apartment mit so viel Liebe eingerichtet, dass man mit gutem Gewissen darüber hinwegsehen konnte.

Die Wände waren dick genug, dass sie die Arbeiten aus den ersten Stockwerken nicht hörten und bloß von dem Zimmermädchen geweckt wurden, das zum putzen herein kam. Sie hatte sich erschrocken, als Carina und Noah sich im Bett geregt hatten und war kreidebleich aus dem Zimmer gestolpert.

Carina kicherte leise und kuschelte sich schließlich an Noah, der sie eng in seine Arme schloss. „Wir müssen aufstehen“, sagte sie verschlafen, rührte sich jedoch nicht.

„Müssen wir nicht“, antwortete Noah.

„Doch, wir müssen den Chip in Sicherheit bringen und wir müssen Gwynne anrufen.“ Langsam rollte sie sich auf Seite und starrte an die Decke. „Wir müssen wirklich aufstehen.“

Noah zog die Decke über seinen Kopf und rollte sich zusammen. Er war noch viel zu müde und das Bett war so unsagbar weich. „Fünf Minuten noch.“

Er hörte wie Carina aufstand und durch das Zimmer tapste. Ihre Schritte versiegten und wenige Sekunden später hörte er, wie sie das Wasser in der Dusche aufdrehte.

„Oh, Noah!“, trällerte sie viel zu hoch, sodass ihre Stimme schief wurde. „Hier ist eine nackte Frau in einer Dusche, die dich sehr vermisst.“ Die Vokale des letzten Wortes zog sie extra lang.

Noah schlug die Augen auf und krabbelte aus dem Bett heraus. Wie ein kleiner Junge stolperte er durch den Raum und betrat das gleiche Badezimmer, mit der Messingbadewanne und der offenen Dusche. Da stand sie, splitternackt und das Gesicht dem warmen Wasserstrahl entgegen gestreckt. Perlen aus Wasser rollten an ihrer elfenbeinfarbenen Haut herunter.

Noah entledigte sich einer Shorts und schlich wie ein Tier auf sie zu. Er schlang seine Arme um ihren Körper, während der Wasserstrahl nun auch seinen Körper mit warmen Wasser benetzte. Er drückte Carina sanft gegen die Steinwand und begann ihren Körper mit Küssen zu übersähen. Das braune Haar fiel ihm ins Gesicht und klebte an seiner Stirn, während er sich immer weiter an sie drängte.

Sie gab ein wohliges Stöhnen von sich und schloss ihre Finger um sein steifes Glied.

Nachdem sie sich in der Dusche geliebt hatten und daraufhin gegenseitig mit weichen Schwämmen geschrubbt hatten, nur um anschließend sich wieder auf dem Boden des Bades zu lieben, hatten sie sich umgezogen und auf den Weg zu Eoghans Büro gemacht, das drei Stockwerke tiefer lag als das Schlafzimmer.

Eoghan Harcourt hatte sich an seinen Schreibtisch aus Buche gesetzt und war etwas in seinem Computer am eintippen, als Carina und Noah in sein Büro traten. Er hob kurz seinen Blick an und wünschte ihnen einen guten Morgen, bevor er wieder auf den Computer blickte. Mit den Wurstfingern tippte er vorsichtig auf der Tastatur. „Setzt euch doch, ich bin gleich fertig“, sagte er.

Carina und Noah setzten sich auf die Sessel und grinsten sich dabei schelmisch an.

Andrey Swandjaya kam in das Büro, einen Servierwagen vor sich her schiebend und stellte ihn neben Carina ab. „Sie müssen mit Sicherheit hungrig sein“, antwortete er und reichte ihr ein Tablett, auf welchem sich ein Silberteller mit Toast und Rührei und ein Glas mit Tee befand. Noah kam das gleiche, allerdings ohne Worte. „Außerdem lässt Miss Pia Wache ausrichten, dass sie Ihre Störung nicht beabsichtigt hat. Es tut ihr aufrichtig leid.“

„Ist schon gut“, wank Carina ab und biss in das Toast.

Noah nickte Mr. Swandjaya zu und aß sein Frühstück in wenigen Happen auf. Dass er solch einen Hunger gehabt hatte, war ihm zuvor gar nicht bewusst gewesen. Er stellte das Tablett auf den Serviertisch. Nachdem auch Carina aufgegessen hatte, fuhr Mr. Swandjava den Serviertisch heraus, schloss die Tür hinter sich und verschwand.

Nun erhob sich auch Eoghan von seinem Schreibtisch. Er rollte seinen Stuhl zu den Sesseln herüber und nahm stellte ihn zwischen den beiden. Anschließend ging er zu einem kleinen Holzschränkchen und nahm eine Karaffe aus Glas davon herunter, um sich etwas Gin in ein Glas zu füllen. „Folgendes“, begann er und ließ sich auf den Stuhl nieder. „Ich habe mich mit ein paar befreundeten Fabrikanten in Verbindung gesetzt. Ihre Fabrik gehört ebenfalls Sergei Orlow, allerdings konnten sie mir sagen, dass dieser schon seit mehreren Monaten nicht mehr vorbei geschaut hat. Ja, nicht einmal einen seiner Hunde hat er dort hin geschickt. Ihr werdet also dort hin fahren. Dort wird man euch mit Waffen und Geld ausrüsten und anschließend werdet ihr –“

Noah hatte die Stirn gerunzelt. „Entschuldigung, Sir. Aber welche Zweck soll das dienen?“ Sein Magen begann sich zu verkrampfen. „Wir sollen den Chip doch in Sicherheit bringen.“

„In einer Fabrik von Sergei wäre er nicht sonderlich sicher“, pflichtete Carina ihm zu.

„Wenn man mich unterbricht, dann kann man das auch nicht verstehen“, warf Eoghan ein. „Jedenfalls, dort werdet ihr besagten Freund von mir treffen. Er wird euch zu Monsieur Brescou führen, der mittlerweile zu den Leitern des Systems gehört. Meines Wissens nach ist Brescou noch nicht von Sergei gekauft worden. Er wird den Chip entgegen nehmen und ihn unschädlich machen, ohne dass weitere Personen daran Schaden nehmen werden, euch eingeschlossen.“

Carina rieb sich das Kinn. „Ich habe noch nie von Brescou gehört. Soweit ich weiß, sind Phoebe Chesterfield, Shota Ushida und Mohammed ad-Din die führenden Leiter des Systems und die einzigen Menschen, die befähigt sind, große Veränderungen vorzunehmen. Außerdem sind sie die einzigen, die eine absolute Sicherheitsfreigabe haben. Manche erzählen sogar, dass die drei die Begründer von der Form des Jenseits sind – aber das halte ich für ein Gerücht.“

„Sie sind jedenfalls mitunter die, die am längsten hier sind“, bestätigte Eoghan. „Aber Monsieur Brescou arbeitet in der gleichen Abteilung, hat die gleichen Aufgaben und gleichen Sicherheitsfreigaben und nur weniger bekannt. Sobald ihr den Chip an ihm weiter gegeben habt und du, Carinchen, ihm alle Informationen gibst, die in deinem Kopf vorhanden sind, ist Sergei Orlow Geschichte.“

„Was wird man mit ihm machen?“, fragte Noah.

„Man wird das tun, was man bisher noch nie mit einer Seele im Jenseits getan hat. Man wird ihm aus dem System löschen.“ 

Kapitel 15

 Gwynne

 

 

Sie lag da, alle viere von sich gestreckt, auf ihrem Bett und starrte die Decke an. Seit sie Noah in seiner Wohnung besucht hatte, hatte sie nichts mehr von ihm gehört. Sie war sich nicht sicher, ob sie das als gutes oder schlechtes Zeichen bewerten sollte. Seine Freundin hatte Kontakt zu den gefährlichsten Menschen im Jenseits gehabt und das würde auch Noah in geraumer Zeit zu spüren bekommen. Vermutlich sogar früher als er annimmt, so glaubte Gwynne. Sie hatte ihren Vorgesetzten und die Menschen von Distrikt D überzeugen können, dass Noah sich ernsthaft verletzt hatte. Doch würden sie ihm auf der Straße begegnen und die gleichen leuchtenden Augen sehen, wie sie es am Vortag getan hatte, würde ihre Lüge auffliegen und sie den Job kosten. Für Gwynne war das ein unerträglicher Gedanke, denn sie hatte schließlich nichts anderes. Sie fuhr sich mit der Hand über den Bauch. Dort hätte jetzt ein Kind drin sein können, hätte Michael damals nicht die Beherrschung verloren und sie im Affekt getötet. Sie hätten zusammen glücklich werden können. Gwynne schob diese Gedanken auf Seite. Eigentlich wollte sie Michael nur noch vergessen. Er hatte ihr nicht gut getan, überhaupt nicht.

Ihre Kommunikationskonsole surrte. Gwynne nahm das graue Kästchen in ihre Hand und drückte auf den Lautsprecher. „Hier Officer Gwynne Bancroft“, sagte sie mit gepresster Stimme. Sie hatte keine Lust alleine zu einem Einsatz zu fahren. Der braunhaarige Frischling war ihr ans Herz gewachsen.

„Gwynne, hier ist Noah.“

Abrupt richtete Gwynne sich auf. „Noah?“

„Ja. Gwynne, ich habe da ein kleines Problem.“ Sie hatte es doch gewusst. Die Vergangenheit seiner Freundin würde nun auch sein Leben bedrohen.

„Was ist passiert?“ Ihre Stimme bebte und sie machte sich bereit, direkt aufzuspringen und zu Noah zu eilen.

„Du weißt es nicht?“, fragte er voller Erstaunen und Gwynne konnte sich vorstellen, wie er überrascht seine Augenbrauen anhob.

Irritiert schüttelte sie den Kopf, besann sich aber, dass Noah das gar nicht sehen konnte und sagte: „Nein, ich bin direkt nach meiner Schicht nach Hause gegangen. Was ist passiert?“

Noah atmete hörbar tief durch und begann zu erzählen: „Wir wurden kurz gestern Abend von zwei Schergen von Sergei Orlow angegriffen. Sie schossen blindlings in meine Wohnung. Carina und ich konnten sie zwar erledigen und entkommen, aber vermutlich sind  uns die nächsten schon auf den Fersen. Wir brauchen deine Hilfe.“

Gwynne sprang von ihrem Bett auf und suchte sich Kleidung zusammen. „Wo seid ihr gerade?“

„Das kann ich dir nicht sagen. Unsichere Verbindung und so, du verstehst mich. Aber wir sind in Sicherheit, vorerst.“

Gwynne wollte ihn nach dem Chip fragen, doch Noah hatte Recht, die Leitung war nicht sicher genug. Sie zog sich eine Jeans an und streifte sich einen Pullover über. „Dann sag mir wie ich euch helfen kann.“

„Du musst du Mr. Brown gehen und ihn davon überzeugen, dass er mehr Einsatzkräfte nach Distrikt D schickt. Du warst ja schon für meine Beurlaubung so kreativ, da sollte dir auch da was einfallen. Wir zählen auf dich.“ Mit diesen Worten unterbrach er die Verbindung. Knack.

Gwynne stand da und starrte auf ihre Kommunikationskonsole. Was hatten Noah und Carina jetzt nur vor?

 

Kapitel 16

Carina

 

 

Sie nahm sich die Winchester, die ihr Onkel ihr ausgeliehen hatte und schulterte den schwarzen Rucksack. Das Gewehr lag gut in der Hand, besser als das von Noah und es war erheblich leichter. Onkel Eoghan hatte auch Noah eine neue Waffe geben wollen, damit sie den Weg bis zu der Fabrik ungeschadet überstehen würden. Doch Noah hatte abgelehnt. Er behauptete, dass er mit seiner Glock am besten klar kommen würde, schließlich hätte er die gleiche Marke auch bei seiner Ausbildung benutzt.

„Dann lass mich dir wenigstens genug Magazin geben“, hatte Eoghan bestanden und Noah willigte ein. Zur Sicherheit hatte Carina aber trotzdem eine Walther SS-Pistole mit in ihren Rucksack gepackt. Man konnte nie wissen. Zusätzlich hatte sie noch Essen und Trinken eingepackt, sowie eine Karte, gefälschte Ausweise und genug Munition, um ganz China umzulegen. Den Chip verstaute sie in einer eingenähten Tasche in der Innenseite ihres Hosenbeins. Dort würde man ihn ihr zumindest nicht stehlen können.

„Wir sollten jetzt los“, sagte Noah, derweil er an ihrem blonden Zopf spielte. Er hatte es zu ihren Lebzeiten so oft getan. Immerzu spielte er mit ihren weichen Haaren, drehte sie um seinen Finger, zupfte vorsichtig daran oder verknotete sie vollkommen.

Carina nickte und nachdem sie sich bei ihrem Onkel verabschiedet hatten, verließen sie das große Gebäude von Harcourt Corporation. Es war bereits Abend und die Straßen leerten sich nach und nach. Nichts desto trotz hatte Carina ein ungutes Gefühl in der Magengegend und abermals warf sie einen Blick über ihre Schulter. Sie Monate auf der Flucht hatten bei ihr einen gesunden Verfolgungswahn aufkommen lassen, den sie trotz Noah an ihrer Seite nicht einfach abschütteln konnte wie frisch gefallenen Schnee.

„Wenn wir uns ranhalten, könnten wir in vier Stunden in Distrikt A sein“, sagte Noah. Sie hatten sich geeinigt die Bahn zu meiden und auf Taxen und Fußwege zurück zu greifen, um somit Distrikt D vollkommen zu umrunden.

Carina antwortete nicht. Sie war zu sehr damit beschäftigt ihre Umgebung im Blick zu halten und die vorbeiziehenden Menschen zu beobachten. Keiner von ihnen kam ihr bekannt vor. Aber da Gefühl verfolgt zu werden schwand nicht. Sie festigte ihren Griff um die Winchester und schloss zu Noah auf, der einige Schritte vor ihr lief. „Wir sollten uns peu à peu nach Distrikt A fortbewegen. Sergei hat seine Leute überall und sobald uns auch nur einer gesehen hat, können wir einpacken.“

Noah nickte, wenn auch mit skeptischem Blick. „Was schlägst du vor?“

„Kennst du jemanden, der in Distrikt A lebt?“

Noah dachte einen Moment lang nach, bevor er antwortete: „Also mir kommt da direkt Feena in den Sinn.“ Carinas Magen verkrampfte sich. Wer war Feena? „Ich bin mir  nicht sicher, aber ich meine auf der Polizeischule gehört zu haben, dass die Betreuer der Neuverstorbenen allesamt in Distrikt A wohnen. Manche in einer extra angelegten Wohnanlage und andere in eigenen Wohnungen, wie Flin Beispielweise. Stimmt, Flin wäre auch noch eine Option.“ Er lächelte sie schief an. „Dein Betreuer Flin Armitage oder meine Betreuerin Feena Empson, du darfst aussuchen.“

Carina war erleichtert, Feena war nur seine Betreuerin. „Ich kenne von den beiden nur Flin, daher würde ich zu ihm tendieren. Aber wenn du sagst, dass Feena besser geeignet ist, dann lass uns zu ihr gehen.“

Noah dachte tatsächlich darüber nach. Carina kannte seine Betreuerin nicht, aber sie vermutete, dass sie und Noah mal aneinander geraten sind. „Flin hat bessere Sicherheitsfreigaben, aber er sollte aus der Sache best möglichst raus gehalten werden. Schließlich wartet er so sehnsüchtig auf seine Frau und sein Kind. Feena kann ich auch helfen, mit geringerer Sicherheitsfreigabe und eben auf ihre ganz eigene, verschrobene Art.“

„Also gehen wir zu deiner Betreuerin“, schlussfolgerte Carina.

Noah nickte als Antwort und gemeinsam verschwanden sie im Schatten einer schmalen Gasse, bevor sie in die Yukon Street abbogen. Es war eine schmale Einbahnstraße, die sich an den Rückwänden von Wohnhäusern entlang schlängelte. Keine Menschenseele war zu sehen und mit schnellen Schritten gingen sie Richtung Westen, um auf die Finja Avenue abzubiegen. Sie drückten sich in die Schatten der Hauswände und versuchten so wenig Aufmerksamkeit wie möglich auf sich zu lenken.

Die meiste Zeit über schwiegen sie ausschließlich und lauschten ihrer Umgebung. Carina schlug der Herz bis zum Hals, denn das Gefühl, dass sie jemand verfolgte, wollte und wollte nicht verschwinden. Viel eher wurde es intensiver, je weiter sie kamen. Als sie am Rande von Distrikt E angelangt waren, hielt sie es nicht mehr aus: „Noah, lass uns bitte ein Taxi nehmen oder doch mit der Bahn fahren. Wir müssen unbedingt schneller vorankommen.“

Noah bedachte sie mit einem langen Blick, hauchte ihr als Antwort einen Kuss auf den Scheitel und führte sie zu einer Treppe, um auf den zwei Stockwerken höheren Bahnhof zu gelangen. „In diesem Teil des Distrikts werden wir kein einziges Taxi finden. Die Parkplätze sind fünf Kilometer von hier entfernt. Wenn du nicht mehr laufen willst, bleibt uns keine andere Wahl.“

Sie drängten sich gemeinsam mit einer Gruppe von Kindern unter das Vordach und warteten auf die nächste Bahn, die Richtung Distrikt A fahren würde. Es gab nur eine Linie, die nicht durch Distrikt D fahren würde und laut dem Fahrplan, mussten sie ganze zwanzig Minuten warten. Für Carina war das die Tortur des Grauens. Hinter jedem Rascheln und Stimmfetzen sah sie einen potentiellen Verfolger und zuckte jedes Mal zusammen. Noah legte seinen Arm um sie und drückte sie an sich, doch auch das beruhigte sie kaum.

Nachdem der Zug endlich in den Bahnhof gefahren war und sie eingestiegen waren, entspannte sie sich ein wenig. Nur sie beide und die Kinder waren in diesen Wagon eingestiegen und auch so waren kaum Menschen da. Carina hatte sich schnell einen Überblick über die Gesichter geschaffen und da sie keines davon erkannte, ließ sie sich mit einem lang gezogenen Seufzer auf der Sitzbank neben Noah nieder. Er nahm ihre Hand in seine und drückte sie sanft.

„Wir schaffen das“, hatte er ihr zugeflüstert.

Carina wagte es nicht zu zweifeln. Sie mussten es schaffen, ansonsten war sie verloren und würde Noah mit in den schwarzen Abgrund ziehen, den Sergei persönlich für sie schaufelt. Sie schenkte  Noah ein zaghaftes Lächeln, was sogleich erstarb. Das Gefühl verfolgt zu werden war noch immer da. Wieso um alles in der Welt war es noch da? Sie waren doch so gut wie alleine in diesem Wagon. Sie kannte niemanden in diesem Wagon. Wieso also verschwand das Gefühl nicht? Wieso?

Sie verkrampfte sich und krallte ihre Fingernägel unbeabsichtigt feste in Noahs Hand. Dieser küsste sie sanft an der Schläfe. Wie konnte er so gut zu ihr sein, wenn sie doch so schlecht war? Wie konnte sie nur so einen wundervollen Menschen wie Noah  verdienen? Er hatte alles daran gesetzt sie wieder zu finden, nachdem der Tod sie auseinander gerissen hatte und sie hatte alles daran getan um zu verschwinden. Sie war so grausam gewesen.

Es dauerte eine halbe Stunde, bis sie Distrikt C erreichten und an der ersten Haltestation anhielten. Carina begutachtete mit Adleraugen die zusteigenden Menschen. Doch es waren nur zwei Männer mit krummen Rücken, die sich stöhnend auf eine Sitzbank quetschten. Die Kinder stiegen aus, ebenso wie ein junges asiatisches Paar, das am anderen Ende des Wagons gesessen hatte. Jetzt waren sie so gut wie alleine.

Langsam begann sie sich zu entspannen. Vielleicht schafften sie es ja doch ohne Zwischenfälle nach Distrikt A und zu Monsieur Brescou. Sie lehnte sich gegen Noah, der seinen Kopf auf ihren legte, und für einen kurzen Moment schloss sie ihre Augen. Hoffnung keimte in ihr auf und gab ihr das Gefühl von innerem Frieden.

„Wenn wir über den alten Sportplatz in Distrikt C gefahren sind, müssen wir nur noch über Distrikt B. Da gibt es keine Haltestellen, also ist es bald geschafft. Nicht mehr lange“, flüsterte Noah.

Es war also bald geschafft. Carina war erleichtert und drückte sich etwas enger an Noah.

Einer der gebeugten Männer rutschte von der Sitzbank herunter und stand auf. Er regte und streckte sich und urplötzlich stand er kerzengerade. Er war auf einmal so unglaublich groß und obwohl Carina ihn nur von hinten sehen konnte, kam ihm seine Statur bekannt vor. Der Mann schälte sich aus seinem langen, mausgrauen Trenchcoat und warf diesen unachtsam zu Boden. Nun setzte sich auch der zweite Mann in Bewegung. In gebeugter Haltung schlenderte er zum anderen Endes des Wagons und ließ sich wieder auf  die Sitzbank nieder. Carina beobachtete das Schauspiel mit mulmigem Gefühl. Reflexartig festigte sie ihren Griff um die Winchester, bereit zum schießen.

„Noah“, wisperte sie und augenblicklich schnellte sein Kopf in die Höhe. War er etwas eingeschlafen? „Noah, mir kommt der Mann suspekt vor.“

Der Mann trat den Trenchcoat unter die Sitzbank und zog an den grauen Haaren. Er zog und zog, bis die gesamte Haarpracht zu Boden fiel und eine Glatze zum Vorschein kam. Erst die Tattoos auf seiner rechten Schädelhälfte ließen bei Carina den Groschen fallen. Gott vergibt nicht in chinesischen Schriftzeichen. Es war Jock.

Jock war die rechte Hand von Sergei Orlow und ein blutrünstiger Schweinehund, dem es Freude bereitete andere Menschen zu quälen. Seine letzte Frau hatte er vergewaltigt und anschließend mit einem Strick um den Hals aus dem Fenster geworfen, damit sie qualvoll erstickte. Carina hatte von Anfang an eine Heidenangst vor ihm gehabt.

Mit einem Mal entsicherte sie ihre Winchester.

Bei diesem Geräusch wandte sich Jock um. Seine hässliche Fratze mit den vielen Narben und die linke Schulter, die etwas herunter hing, erinnerten sie an ein Monster, von einem wahnsinnigen Wissenschaftler erschaffen.

„Hallo, kleines Blondchen“, begrüßte Jock sie und tänzelte dabei freudig auf der Stelle. „Da haben wir dich ja endlich gefunden, nach so langer Zeit.“ Er kicherte. „Du musst uns doch genauso vermisst haben wie wir dich.“

„Ich glaube weniger“, antwortete Noah mit verbissenem Gesichtsausdruck. Er zückte seine Glock, entsicherte sie in derselben Bewegung und Schoss. Die Kugel verfehlte Jock nur knapp und blieb in einem der Sitze hängen.

Jock schnalzte mit der Zunge. „Na so was. Dein Freund ist aber nicht sehr nett, Blondchen.“

Carina und Noah richteten sich von ihrem Platz auf und Noah stellte sich schützend vor sie. Dass Jock selbst keine Waffe zog irritierte sie. War er doch sonst immer bis unter die Zähne bewaffnet und darauf aus, mit seinen Spielzeugen zu prahlen. Etwas ging hier vor, doch Carina durchblickte es nicht.

„Blondchen, du hast da eine Kleinigkeit, die uns gehört und wir hätten sie wirklic sehr gerne wieder zurück.“ Er tänzelte ein paar Meter von ihnen weg. „Wenn du sie mir ohne irgendwelche Bübereien gibst, dann stirbst du nicht sooo qualvoll. Sondern einfach ganz schnell.“ Er schnippte mit seinen Fingern. „Peng.“

„Du fasst sie nicht an“, stieß Noah hervor und eröffnete gegen Jock das Feuer. Jock duckte sich hinter einer Sitzreihe. Fenster barsten und der eisige Wind peitschte ihnen um die Ohren, zerrte an ihren Kleidern.

„Ich glaube nicht, dass du mich daran hindern könntest“, rief Jock gegen den lauten Fahrtwind. „Bist du doch nur ein armer Polizist aus Distrikt C, der sein ganzes Leben im Jenseits einer Frau widmet, die so gut wie verschwunden ist. Für immer.“ Er lachte. Er lachte so hell und langatmig, dass man ihn gut und gerne als geisteskrank bezeichnen konnte.

Nun zückte Jock seine Waffe, eine kleine Pistole, die in seinem Gürtel gesteckt hatte. Doch noch bevor er schießen konnte, hatte Carina auf den Abzug gedrückt. Sie traf Jock an der Schulter und er wurde zurück geschleudert. Sofort lud sie das Gewehr nach und hielt den Lauf auf Sergeis Laufburschen gerichtet.

Gegen ihre Erwartungen lachte Jock auf. Es glich dem Heulen eines verletzten Tieres, das nach seiner Familie rief. Doch Jock hatte definitiv anderes im Sinn. Wieder ging er mehrere Schritte zurück, das Gesicht zu einem hässlichen Grinsen verzogen.

Der Mann hinter ihm, der ebenfalls in den Zug gestiegen war, hob seine Hand. Carina erkannte ein kleines, schwarzes Kästen mit einem Schalter auf der rechten Seite.

Noah schien es auch gesehen zu haben, schaltete aber schneller als sie. Er wirbelte herum, brüllte ihr entgegen, dass sie in Deckung gehen soll und zerrte sie von der Stelle. Bloß eine Sekunde später explodierte der Wagon, wo die beiden Handlanger Sergeis vor wenigen Minuten noch gesessen hatten.

Carina und Noah wurden gegen die Wand des Wagons geschleudert. Es war nur eine kleine Explosion gewesen, doch hatte sie den Wagon in zwei Hälften geteilt. Während der Teil, in dem Jock und der andere Mann waren, an Geschwindigkeit verlor, fuhren Noah und Carina weiter.

Sie zog sich an einer Stange hoch und klammerte sich fest. Der Wind zerrte an ihrem gesamten Körper und wollte sie aus dem Wagon schleudern. Noah, der offensichtlich bewusstlos war, rollte Richtung Schlund, wo einst der Rest des Wagons war. Carina umklammerte die Stange mit den Beinen und packte Noah am Halfter seiner Pistole. Mit aller Kraft zerrte sie an seinem Körper, bis er neben ihr lag. Sie schlang einen ihrer Arme um ihn und mit dem anderen hielt sie sich an der Stange fest. Den Blick dabei starr auf die Schienen vor sich gerichtet.

 

 

Noah war wenige Sekunden später wieder zu sich gekommen, hatte aber starke Kopfschmerzen. Der Zug hielt kurz nachdem sie die Grenze zu Distrikt A passiert hatten. Sofort waren Noah und Carina von dem Zug geklettert und hatten sich aus dem Staub gemacht. Sobald die Polizei eingetroffen wäre, hätte man sie verhaftet und Sergei hätte sie ausfindig machen können. Solch einen Triumph wollten sie ihm jedoch nicht gönnen.

Sie rannten über die Deston Street und auf die Kings-Five-Avenue. Mittlerweile war es Nacht – auch wenn sich am Himmel nichts verändert hatte – und die Menschen waren vollends in ihre Häuser zurückgekehrt. Nur selten fuhr ein Auto oder ein Schwebetransporter an ihnen vorbei.

Noah gab zu, dass er Feenas Adresse nicht kannte, aber eine ungefähre Vorstellung hatte, wo sie wohnen müsste. Da Carina noch zu aufgekratzt von ihrer Begegnung mit Jock war, sagte sie dazu nichts und folgte ihm einfach.

Sie erreichten eine riesige Wohnanlage, die einer Kleinstadt glich. Dreistöckige Wohnblöcke aus weißen Kalksteinen waren aneinander gereiht aufgebaut und ergaben zusammen ein geschlossenes Quadrat. Im riesigen Innenhof des Komplexes, wo mindestens drei Fußballfelder gepasst hätten, waren Parkanlagen und kleine Seen angebracht, um den hart arbeitenden Betreuern auch Momente der Ruhe spenden zu können.

Noah zückte seine Kommunikationskonsole und wählte die Nummer drei. Er wartete einen Moment und murmelte schließlich. „Noah hier. Deine Hausnummer. … Weil ich deine Hausnummer brauche. … Weil ich dich besuchen möchte. … Weil ich deine Hilfe brauche. … Nein, es kann nicht bis morgen warten. … Weil – weil wir bis dahin tot sein könnten. … Ja, tot. … Nein, ich meine das ernst. … Ja. Also, deine Hausnummer? … Danke.“ Er steckte seine Kommunikationskonsole weg und sah zu Carina. „Hausnummer fünfundsiebzig. Wo sind wir denn?“

Carina deutete auf eines der Haustüren. „Da steht dreiundzwanzig.“ Sie hatten noch einen langen Weg vor sich, dachte sie niedergeschlagen. 

Kapitel 17

Noah

 

 

Fieberhaft rannten sie die lange, weiße Hausreihe entlang und suchten nach der richtigen Hausnummer. Bei jedem Schritt pochte sein Kopf und auch die Prellung an seiner Schulter begann sich wieder zu melden. Doch das war es ihm wert. Er hatte Carina beschützen können und gemeinsam waren sie dem bizarren Mann mit dem Narbengesicht und der hängenden Schulter entkommen.

Er hatte Carina Blondchen genannt, was Noah gewaltig  gegen den Strich ging. Dieser Kosename klang so abwertend, was Carina nicht verdient hatte.

Noah warf einen Blick auf die nächste Hausnummer. Neunundfünfzig.

Alle Häuser sahen exakt gleich aus, was zur Sorge trug, dass ihm schon bald der Kopf schwirrte. Nachdem sie bei Monsieur Broncou gewesen waren, würde Noah sich bei einem Arzt untersuchen lassen. Möglicherweise hatte er eine Gehirnerschütterung, trotz wegfallender Müdigkeit.

Es war Carina, die voller Freude: „Fünfundsiebzig!“, rief. Sie sprang in die Luft und spurtete auf das Haus zu. Feenas Wohnung lag im ersten Stock und somit rannten sie die Treppe hinauf. An der Haustür wurden sie schon von Feena erwartet.

Das kleine Mädchen hatte sich die roten Haare hochgesteckt und trug einen lilafarbenen Satinschlafanzug. Sie hatte ihre Brille aufgesetzt und blinzelte Noah finster an. „Wehe es ist nichts wichtiges“, raunte sie und verschwand in ihrer Wohnung. Noah und Carina folgten ihr einfach.

Es war eine kleine Wohnung, wie Noah sie von seinen Studienkollegen gekannt hatte. Bloß ein Schlafzimmer und ein Badezimmer, Küche und Wohnbereich waren in einem. Für Feena würde der Platz reichen, dachte er. Dass dies die Wohnung einer fünfzehnjährigen war, war kaum zu übersehen. Überall lagen Stofftiere als Dekoration herum und ein eingerahmtes Bild von einem grünhaarigen Sänger hing über ihrem Sofa.

„Fühlt euch wie zu Hause“, murmelte Feena. Sie ließ sich auf den Boden neben dem Sofa nieder und schlang ihre Arme um einen Stofffrosch, der beinahe so groß wie sie selbst war.

Noah und Carina setzten sich auf ihr Sofa, die Winchester auf ihrem Schoß liegend. „Danke, dass du uns aufgenommen hast“, sagte Noah. „Das ist meine Freundin Carina Harcourt.“

„Ich weiß. Ich kenne ihr Bild aus ihren Akten, die ich für dich durchsuchen sollte.“ Sie schenkte Carina ein förmliches Lächeln. „Freut mich dich kennen zu lernen, ich heiße Feena Empson.“ Sie musterte anschließend Noah, der sich erschöpft zurück lehnte und erst einmal verschnaufte. „Also, ihr werdet morgen früh sterben?“

„Das ist nicht ganz richtig“, erklärte Carina. „Wenn wir nicht schnellst möglichst zum Zentrum des Systems, besser gesagt zu Monsieur Broncou gelangen, dann würden wir sterben. Aber wir müssen uns ausruhen und zu Kräften kommen. Du bist die einzige hier in Distrikt A, die uns da helfen kann.“

Feena hob die roten Augenbrauen an und schürzte die Lippen. „Was habt ihr angestellt?“ Jede Förmlichkeit schien von ihr gewichen zu sein und mit neugierigem Blick musterte sie ihre beiden Gäste, während sie ihren Kopf und den Monsterfrosch legte.

„Ich habe etwas gestohlen, was unbedingt zu Monsieur Boncou gelangen muss. Ansonsten kann es passieren, dass das System verändert wird und das Gleichgewicht unterbrochen wird.“ Das Carina nicht mit direkten Worten den Chip erwähnte verwunderte Noah. Glaubte sie etwa, dass man Feena nicht trauen konnte? Noah hatte dies gedacht, als Feena ihn zum Psychiater geschickt hatte, aber sie  hatte sich dennoch als wahre Freundin erwiesen.

„Sagt dir der Name Sergei Orlow etwas?“, fragte Noah.

Feena nickte. „Er kommt gelegentlich im Haus der Sterbenden vorbei und fängt die Neuverstorbenen ab, um sie direkt für seine Firmen anzuwerben. Ich hielt das von Anfang an für nicht gut, aber meine Vorgesetzten lassen es einfach geschehen. Mittlerweile sind zwölf der Menschen, die ich betreuen sollte, in seinem Drogenkrieg verstorben. Ich habe meine Vorgesetzten darauf angesprochen, mehrmals, aber man will nichts unternehmen. Es fehlen die nötigen Beweise.“

„Wir haben den nötigen Beweis. Deswegen müssen wir zu Monsieur Boncou.“

„Wenn ihr bis morgen früh warten könnt, kann euch ein Kollege mitnehmen. Sein Name ist Ben Spelling. Er hat ein eigenes Auto und schuldet mir so oder so noch etwas. Ich würde euch ja gerne fahren.“ Niedergeschlagen guckte sie auf den Boden. „Aber ich bin erst fünfzehn und die Vorschriften verbieten es mir meinen Führerschein zu machen, obwohl ich schon seit neun Jahren hier bin.“

„Du kannst uns gerne begleiten“, schlug Carina mit einem warmen Lächeln auf den Lippen vor. „Dann können wir Monsieur vielleicht auch anschließend auf eine Änderung der Vorschriften ansprechen.“

Feenas Augen hellten sich auf und sie nickte eifrig. „Ja, das können wir machen.“

 

Noah und Carina hatten auf Futons in Feenas Wohnzimmer geschlafen. Sie wurden für von der jungen Rothaarigen geweckt, die ihnen abgepackte Sandwichs in die Hände drückte und eine Flasche mit Mineralwasser. Nachdem sie gefrühstückt hatten, packten sie ihre Sachen und warteten vor Feenas Wohnung auf Ben. Feena erklärte, dass Ben sie jeden morgen mit zur Arbeit nahm, da sie die gleichen Schichten hatten.

Als Ben mit seine weißen Wagen vorfuhr und die beiden neuen Gäste bemerkte, rutschte er in seinem Sitz unruhig hin und her. „Wollt ihr auch zum Haus der Sterbenden?“, schnarrte er.

„Fahr uns bitte zum Zentrum“, sagte Feena mit knappen Worten, während sie mit Carina zusammen auf den Rücksitz rutschte. Noah setzte sich auf den Beifahrersitz und stellte sich Ben kurz vor.

Ben redete nicht viel und schien während der Fahrt ganz in seiner eigenen Welt zu sein. Schweigend lauschte er der Musik aus dem Radio und tippte im Takt mit den Fingern auf dem Lenkrad.

Noah beobachtete die vorbei ziehenden Häuser und Menschen. Für sie alle war es ein ganz normaler Tag, ohne Veränderungen. Anders als für Noah. Für ihn hatte sich alles auf einem Schlag geändert und nun fürchtete er nicht nur um sein Leben, sondern auch um das von Carina. Das Leben, was ihm am teuersten war.

Sie fuhren über die dicht befahrene Cloister Street, wo sich der Berufsverkehr tummelte. Autos hupten und Menschen fluchten, weil sie zu spät zur Arbeit kamen. Ben versank immer weiter in seinem Sitz, während es nur schleppend voran ging.

Es dauerte ganze zwanzig Minuten, bis sie von der Cloister Street kamen und in die Water Street abbogen. Auch hier war guter betrieb, der allerdings deutlich schneller vorankam. „Feena, was musst du denn im Zentrum machen?“ Dass Ben diese Frage erst nach einer knappen halben Stunde stellte, überraschte Noah.

„Ich habe eine Unterredung mit einem meiner Klienten und diese beiden Personen, wovon der Mr. Seaton ebenfalls einer meiner Klienten ist, werden mich begleiten. Es ist einer dieser Fälle, wo man ungern alleine mit seinem Klienten alleine ist. Du kennst das ja“, sagte sie bloß und zuckte mit den Schultern. Ben schien es ihr zu glauben, denn er nickte bloß und fuhr schweigend weiter.

Nach ein paar Minuten fuhr Ben rechts ran und hielt vor einem riesigen Platz, der mit weißen Pflastersteinen ausgelegt war. „Von hier aus müsst ihr laufen. Ansonsten komme ich nicht mehr hier weg“, sagte er nur. Zum Abschied nickte er den dreien zu und ordnete sich mit seinem Wagen auch schon wieder in die Masse von Autos ein.

Noah atmete tief durch. Sie hatten es fast geschafft. Bald würde es vorbei sein.

Feena deutete auf ein hohes, graues Gebäude, deren Spitze sich in der Dunkelheit des Himmels verlor. „Das ist es. Das Zentrum unseres Jenseits.“ Es war ein riesiges Gebäude, mit spitz zugehenden Wolkenkratzern an den Zeit und mit einer Kuppel aus geschwärztem Glas in der Mitte. Es erinnerte Noah ein wenig an das Tadsch Mahal, nur dass es noch größer und beeindruckender war.

Carina lief los, ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Sie hatte die Winchester bei Feena zu Hause gelassen. Denn mit dem Gewehr im Gepäck würde man sie unter keinen Umständen in das Gebäude lassen, so laut Feena.

Sie hatten gerade die Hälfte des Platzes hinter sich gebracht, als ein lauter Knall ertönte. Eine Kugel pfiff an Noah vorbei und verankerte sich im Gestein. Er wirbelte herum und da sah er ihn. Sein Gesicht würde er überall wieder erkennen, auch wenn er es bislang nur auf Fotos in seinen Akten gesehen hatte. Der Mafiosi Sergei Orlow.

„Rennt in das Zentrum, ich halte ihn auf“, brüllte Noah und zog seine Glock. Mit neu aufgefülltem Magazin eröffnete er das Feuer. Doch Sergei Orlow war nicht alleine. Neben ihm stand Jock und noch ein weiterer Mann, der vollkommen in Schwarz gehüllt war. Noah wich den Kugeln der Mafiosi aus und schoss zurück. Jock traf er am Bein und den anderen Bann in der Brust. Bloß Sergei Orlow erwies sich als widerspenstiges Ziel. Mit großen Schritten wich Noah immer weiter zurück, bis er die Türen des Zentrums in seinem Rücken spürte. Noch einmal schoss er und schlüpfte schließlich hinein.

Carina tauchte neben ihm auf und drückte ihm neue Monition in die Hand. Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange und entsicherte schließlich eine Pistole. Noah war erstaunt. Wo hatte sie die Waffe denn nun wieder aufgetrieben?

Gemeinsam eröffneten sie das Feuer gegen Sergei Orlow.

 

Kapitel 18

Feena

 

 

Mit eiligen Schritten rannte sie durch die Halle des Zentrums. Sie spürte die Blicke auf sich und wie hörte wie  Noah sich wacker gegen Sergei Orlow wehrte. Carina hatte der kleinen Irin aufgetragen, dass sie Monsieur Broncou ausfindig machen soll. Sie müssen ihm den Beweis gegen den russischen Mafiaboss geben, ansonsten wäre alles umsonst gewesen. Feena war sich sicher, dass Carina und Noah ihr nicht alles erzählt hatte, aber das störte sie wenig. Sie musste nicht alles wissen. Denn Wissen war zumeist sehr gefährlich. Die Schießerei in ihrem Nacken bewies, dass besonders Carinas Wissen sehr gefährlich sei musste. Darauf konnte Feena gut und gerne verzichten.

Sie drängte sich an der Schlange vor dem Informationsschalter vorbei. Die wütenden Aufrufe und Proteste ignorierte sie dabei gänzlich. „Ich muss unbedingt mit Monsieur Broncou sprechen. Es ist wirklich, wirklich dingend“, bettelte sie die dickliche Informationsdame an, die definitiv zu viel Make-Up aufgetragen hatte.

„Haben Sie einen Termin bei Monsieur Broncou?“, fragte die Dame.

„Nein, ich habe keinen Termin bei ihm.“ Feenas Stimme ging zu einem kläglichen Flehen um, was aber ignoriert blieb.

„Dann vereinbaren Sie bitte einen Termin mit Monsieur und kommen Sie dann wieder. Der Nächste bitte.“

Nun hörte Feena, wie auch Carina zu schießen begann. „Hören Sie“, giftete sie und schleuderte ihren Ausweis auf den Tresen. „Mein Name ist Feena Empson, ich bin Betreuerin der Neuverstorbenen und genieße die Sicherheitsfreigabe Stufe zwei. Wenn ich jetzt nicht sofort mit Monsieur Broncou sprechen darf, dann reiße ich Ihnen diese hässlichen falschen Wimpern von den Augen und führe sie Ihnen oral wieder ein, bis sie daran ersticken.“

Die Informationsdame beäugte ausgiebig Feenas Ausweis. „Also so werden Sie ihn mit Sicherheit nicht sprechen dürfen, Miss Empson.“

Feena raufte sich die Haare und Schrie voller Frust und Wut auf.

19

 

Noah

 

 

Immer und immer wieder drückte er auf den Abzug und immer und immer wieder traf er daneben. Mittlerweile hatten sich mehr Anhänger um Sergei gescharrten und das Feuer gegen Carina und ihn eröffnet. Lange würden sie dem nicht mehr standhalten.

Die Menschen hinter ihnen waren schreiend in Deckung gegangen und selbst die Wachmänner duckten sich hinter einem großen Kübel mit einer Zimmerpalme. Keiner kam auch nur auf die Idee, Carina und Noah zu helfen. Doch Noah befürchtete, dass einer die Polizei rufen würde. Die Polizei, die mittlerweile von Sergei Orlow gekauft war und ihr Ende bedeuten würde.

„Wenn ich jetzt nur mein Gewehr dabei gehabt hätte“, fluchte Carina.

„Wenn wir nur mal zu der Fabrik des Freundes deines Onkels gegangen wären“, antwortete Noah und schoss wieder. „Dann hätten wir eventuell bessere Waffen.“

„Oder schlechtere, wenn sie uns an der Nase herum geführt hätten“, erwiderte sie.

„Oder schlechtere“, pflichtete er ihr bei. Es war eine kluge Entscheidung gewesen, dass sie direkt nach Distrikt A gegangen waren. Ansonsten hätte Sergei sie viel eher eingeholt und sie hätten es nie so weit geschafft. Nun lag es an Feena, dass Monsieur Broncou den Chip erhielt.

Sergei und seine Männer hörten auf zu schießen und auch Carina und Noah gönnten sich eine Pause. „Carina, komm schon raus“, rief eine weiche Stimme mit starkem, russischem Akzent, die wie Honig dahin glitt „Wir können das auch ganz diplomatisch regeln. Dann wird auch niemand weiteres verletzt, ich verspreche es dir.“

„Einen Scheiß werde ich tun“, raunte Carina, wechselte im gleichen Atemzug das Magazin ihrer Postile und zielte.

„STOP!“, hörte sie eine Stimme hinter sich. Carina zuckte merklich zusammen und auch Noah hatte sich erschreckt. Er wirbelte herum und sah Feena, wie sie mit rot angelaufenem Gesicht neben einem braunhaarigen Mann stand. Er hatte einen Schnurrbart und schmalen Augenbrauen, die die blauen Augen hervorbrachten. „Hört sofort auf zu schießen!“

Noah und Carina taten wie befohlen und senkten ihre Waffen. Die Passanten nutzen die Gunst der Stunde und rannten in alle Himmelsrichtungen davon, die einen lauter und die  anderen leiser schreiend.

„Wir sind eure Namen?“, fragte Monsieur Broncou.

„Ich bin Noah Seaton und das ist Carina Harcourt“, stellte Noah sie beide vor. Langsam erhob er sich aus seiner Deckung, ließ die Waffe jedoch nicht im Halfter verschwinden oder sicherte sie gar. Zwar mochte Broncou vertrauensvoll sein, aber vor den Türen des Zentrums stand noch immer Orlow Sergei.

Eine Reihe aus in weiß gekleideten Menschen erschien. Sie alle hatten langes Haar, das nach hinten gekämmt und prachtvoll zusammengebunden war. „Das sind meine Soldaten“, erklärte Broncou. „Sie werden sich um den Antagonisten des Systems kümmern. Ihr folgt mir bitte.“ Mit diesen Worten wandte er sich um und ging an seinen Wächtern vorbei, die im Gleichschritt durch die Eingangshalle marschierten.

Carina richtete sich nun ebenfalls auf und sicherte ihre Waffe.

Gemeinsam gingen sie einen hellen Gang entlang, mit hohen Decken und grellem Licht, dessen Ursprung Noah nicht ausfindig machen konnte.

Carina erklärte dem Wächter des Systems, so hatte er sich selbst betitelt, wie sie mit Sergei Orlow in Kontakt kam, was sie währenddessen bei ihm erlebte und von ihrer Flucht. Sie erwähnte den Chip und erklärte das Vorhaben des Mafiosi.

Broncou führte sie in sein Büro, das mit hellblauen Teppichboden, drei weißen Wänden und einer vollkommenen Fensterwand unglaublich hell war, bedachte man die Dunkelheit außerhalb. „Das ist eine sehr lange und traurige Geschichte, die du mir da erzählst und ich spreche dir meine Glückwünsche aus, dass du Menschen gefunden hast, die dir bei deiner Aufgabe so selbstlos geholfen haben.“ Bei diesen Worten bedachte er Feena und Noah eines kurzen Blickes. „Dein Anliegen ist von bedeutender Wichtigkeit und ich werde mich umgehend darum kümmern. Bitte, zeige mir den Chip, der unser geliebtes System hätte vernichten können.“

Carina zog ein Taschenmesser aus ihrem Rucksack und schnitt sich das Hosenbein auf. Aus der Tasche an der Innenseite ihrer Jeans zog sie den kleinen Chip und legte ihn vorsichtig auf den weißen Lackschreibtisch des Franzosen. Dieser nahm den Chip in die Hand und musterte ihn ausgiebig.

„Ja, solche kleinen Computerchips verwenden wir, um Veränderungen an unserem System vorzunehmen. Was, wenn ihr erlaubt es so zu formulieren, immer eine spannende Angelegenheit darstellt.“

„Was werden Sie mit dem Chip machen?“, fragte Noah. Obwohl sie ihr Ziel erreicht hatten, war sein Körper noch immer vollkommen angespannt.

„Wir werden den Chip zerstören. Wenn ihr möchtet, könnt ihr mich dabei begleiten. Nach eurer Reise habt ich es euch verdient bis zum Ende auch bei der Rettung mitzuwirken.“

„Wir danken Ihnen“, antwortete Carina.

 

 

Sie betraten einen runden Raum. Er war vollkommen leer, bis auf das Hologramm des Jenseits, das in der Mitte des Raums hell leuchtete. Es sah aus wie eine Platte, in dem verschiedene Bereiche mit silbernen Linien getrennt wurden. Noah erkannte den Verschlund und die Noir, die gemächlich durch mehrere Bereiche floss.

Monsieur Broncou führte sie zu dem Hologramm und betätigte einen kleinen Knopf auf dem Boden mit seinem Fuß. Ein surren erklang und Computer fuhren aus dem Boden nach oben. Noah blickte sich staunend um und bemerkte erst darauf, dass Carina seine Hand genommen hatte. Er verschränkte seine Finger mit ihren und drückte sie sanft.

„Ich glaube, dass es am klügste wäre, wenn wir zu aller erst den Chip zerstören und uns anschließend um den Antagonisten des Systems kümmern, meinen Sie nicht auch?“

Feena und Carina nickten, Noah rührte sich nicht.

Broncou legte den Chip auf ein schwarzes Feld vor einem der Computer und trat einige Schritte zurück. Zwei Magnete wurden ausgefahren, ein leises Surren ertönte und plötzlich zersprang der Chip in unzählige Einzelteile. Er und sein Inhalt wurden zerstört und die Arbeit von Sergei Orlow zu Nichte gemacht.

Genugtuung breitete sich in Noah aus und Stolz, dass er zu diesem glücklichen Ende beigetragen hatte.

„Werden Sie Sergei Orlow wirklich aus dem System löschen?“, fragte Feena. Sie schien auch schon von diesen Methoden gehört zu haben und wirkte sichtlich beunruhigt.

„Er wird seine Strafe bekommen“, antwortete Broncou. „Wenn Sie Interesse haben, dann können Sie sich das gerne ansehen. Es ist schließlich Ihr verdienst, dass wir den Mann schnappen konnten, der unser System schon viel zu lange auf den Kopf stellt. Möchten Sie allerdings nicht dabei sein, dann möchte ich Sie nun zum Ausgang geleiten.“

„Ich möchte es sehen“, stieß Carina hervor. Noah spürte wie sie zitterte.

Broncou nickte. „Gut, dann folgen Sie mir bitte.“

Wieder gingen sie die hellen Gänge entlang und erreichten kurz darauf einen dunklen Raum. Vor ihnen war eine kleine Zelle, in welcher sich Sergei Orlow bereits befand. Er trug ein metallisches Halsband und Fesseln an Händen und Füßen.

Eine Frau mit dunkelbraunen Haaren und mandelförmigen Augen kam auf sie zu. „Das ist Phoebe Chesterfield“, stellte Broncou sie vor. „Sie ist ebenfalls eine Wächterin des Systems und Expertin im extrahieren von Formeln aus dem System. Sie wird die Strafe an Mr. Serger Orlow offiziell durchführen.“

Noah, Carina und Feena schüttelten der bildschönen Wächterin die Hand und sahen zu, wie mehrere Computer hochgefahren wurden.

Serge Orlow blickte sie mit wilden und zugleich Mitleid erregenden Augen an. „Carina“, begann er. Carina zuckte zusammen. „Das wirst du mir büßen. Warte es nur ab, das wirst du bereuen. Meine Anhänger werden dich finden und sie werden sich für mich rächen. Du wirst keine Nacht mehr ruhig schlafen könne, das verspreche ich dir und deinen beiden Freunden wird es ebenso ergehen. Ihr werdet genauso wie ich ausgelöscht werden. Oh ja, ihr werdet schon sehen.“

Carina antwortete nicht, sie drückte sich nur näher an Noah heran. Er legte seinen Arm um sie und küsste sie auf den Scheitel. Sein Blick fiel auf Feena, doch sie zeigte keinerlei Regungen. Wie versteinert blickte sie auf den Mann, der vielen ihrer Klienten das Leben genommen hatte. Das Leben, was sie ihnen versprochen hatte.

Phoebe Chesterfield betätigte einen Schalter und Glühstäbe neben Orlows Zelle begannen zu leuchten. „Die Gleichung wird aus dem System gefischt“, begann sie. Das Surren der Computer wurde Lauter und übertönte fast ihre Stimme. „Sie wird extrahiert und gelöscht.“ Sie drückte auf einen Knopf.

Auf einmal begann Sergeis Körper zu leuchten, er bäumte sich auf und warf sich in seiner Zelle hin und her. Er schrie aus Leibeskräften, während sein Körper blau leuchtete und von weißen Rissen übersäht war. Langsam bröckelten die ersten Fetzen von ihm ab und zersprangen, bis sein gesamter Körper zusammenbrach und sich auflöste.

„Löschung erfolgreich abgeschlossen. Gleichung ist vollkommen aus dem System verschwunden“, sagte Phoebe Chesterfield und fuhr die Computer wieder herunter.

Epilog

Jock wurde wenige Tage später aus dem System gelöscht, ebenso wie dreißig weitere Menschen, die an dem Putsch beteiligt waren. Er kehrte nach und nach wieder Ruhe im Jenseits ein und nachdem sich die Medien über die Geschichte ausgelassen hatten und die Polizei nun mehr und mehr in ihrer Bestechlichkeit verurteilten, geriet all das Geschehene auch schon wieder in Vergessenheit.

Gwynne war empört gewesen, als sie von Carinas und Noahs Einsatz für das System gehört hatte. Sie wäre wirklich gerne eingeweiht worden, um mehr helfen zu können, als nur die bestochene Polizei von den beiden fernzuhalten. Trotzdem hatte man ihr einen Orden verliehen und ihr eine Beförderung angeboten. Doch Gwynne hatte abgelehnt und sich nun als Soldatin im Zentrum beworben.

 

„Wo führst du mich hin?“, lachte Noah. Carina hatte ihm die Augen verbunden, nachdem sie vom Rande des Distrikts A in Distrikt B hinein gestapft waren. Der bewaldete Distrikt, in welchem nur wenige Menschen lebten, war wunderschön und voll mit Düften, die Noah an seine Lebzeiten erinnerten und die er schon fast vergessen hatte. „Sag schon“, drängte er.

„Ich sagte doch schon, dass es eine Überraschung ist. Also halte deinen Schnabel und folge mir einfach.“ Sie führte ihn einen schmalen Trampelpfad entlang. Eine Taschenlampe zeigte ihr den Weg, denn anders als in den anderen Distrikten, gab es hier kein künstliches Licht.

Nach langen Minuten waren sie angekommen. Noah konnte nur an seinen Händen spüren, wie dichtes Gras um ihn wucherte. Sie verließen den Pfad und gingen über eine Art Feld oder Wiese – er konnte  es nicht genau bestimmen.

„Darf ich die Augenbinde jetzt abnehmen?“, fragte er mit einem schiefen Grinsen auf den Lippen.

„Sofort“, lachte Carina und packte ihn an den Schultern, um ihn richtig zu positionieren. „Na gut, jetzt darfst du sie abnehmen.“

Noah zog sich die Augenbinde von den Augen und blickte in ein Meer aus leuchtenden Blüten. Sie wuchsen an dunklen Stängeln mit kleinen Blättern und zeigten wie Trompeten in den Himmel. Noah verschlug es die Sprache. Mit den Fingern fuhr er über die weichen Blüten. Ihr Licht erhellte die gesamte Lichtung und gab Sicht auf eine kleine Blockhütte. „Wunderschön“, seufzte Noah. Er nahm Carina in die Arme und drückte sie fest an sich.

„Nicht wahr? Ich habe diesen Ort vor Monaten entdeckt. Man nennt diese Blumen Jonkai-Blumen, was soviel wie Glühwürmchen-Blumen heißt und du siehst ja, sie sind überall.“ Sie lächelte ihn glücklich an.

Tatsächlich, Glühwürmchen schwebten um die leuchtenden Blüten, wirbelten sie auf und tänzelten schließlich um Noah und Carina herum. Es war ein magischer Ort, der perfekter nicht hätte  sein können.

„Ich liebe es hier zu sein und ich wollte diesen Ort unbedingt mit dir teilen. Weil ich dich liebe“, sagte Carina verträumt und berührte mit ihren Fingern eine der Blüten. Sie fühlte sich mit ihrem Glück und Noah an der Seite vollkommen und wünschte, dass die Zeit anhalten würde, damit sie für immer und ewig einfach hier sein konnten. Ohne das Verpflichtungen nach ihnen verlangten.

„Dann bin ich ja erleichtert“, hauchte Noah und löste sich langsam von Carina. Diese blickte ihn nur verwundert an, konnte sie nicht ahnen, was er jetzt vorhatte.

Er fingerte etwas kleines aus seiner Hosentasche und nahm schließlich ihre Hand. „Carina, ich liebe dich mehr als alles andere auf der Welt. Für dich würde ich alles tun und wenn ich es könnte, dann sogar sterben – aber seien wir ehrlich, der Zug ist abgefahren.“ Sie kicherte auf. „Du bist mein ein und alles, meine Luft zum Atmen, mein Sonnenlicht und mein Herz. Ohne dich könnte ich nicht leben. Denn mein Leben wäre sonst leer und ohne Sinn. Deswegen“, sagte er und ging vor ihr auf die Knie.

Jetzt ahnte Carina worauf er hinaus wollte und schlug die freie Hand vor ihr Gesicht. Tränen der Glückseligkeit sammelten sich an ihrem Wimpernkranz.

„frage ich dich, Carina Harcourt, willst du mich heiraten?“ Ein silberner Ring blitzte auf, der einen Feueropal umfasste. Im sanften Licht der Blüten schimmerte der Opal in satten Farben, wie der Sonnenuntergang.

Carina zog Noah auf die Füße und schlang ihre Arme um seinen Hals. „Ja!“, rief sie und übersäte sein Gesicht mit kurzen, sanften Küssen. „Ja, ich will!“

 

Die Distrikte

Distrikt A            Zentrum des Jenseits – Haus der Sterbenden, Polizeipräsidium, Wohnort für Angestellte dieser Einrichtungen

 

Distrikt B            Fauna – Wälder, Felder, Flüsse etc. (kaum bewohnt)

 

Distrikt C            Wohndistrikt – Wohnungen für Neulinge, Bars (Unterkünfte für Mafia)

 

Distrikt D            Verkaufszentrum – Abgrund wird zur Lieferung genutzt + der rote Wald

 

Distrikt E            Fabriken – Verpackungsfabriken, Nahungsverarbeitung etc.

 

Distrikt F            Fabriken – Herstellung von Autos und Flugtransporter, Sanktusplatz

 

Distrikt G            geistliche Distrikt – Kirchen, Tempel, Schreine etc., Mauer der Zunft

 

Distrikt H            Zentrum der Künste – Museen, Ateliers, Galerien, Theaters etc.

 

Distrikt I              Universitäten – verschiedene Fakultäten und Campus

 

Distrikt J             Wissenschaft – Forschungseinrichtungen

 

Distrikt K            Verkaufsdistrikt – hohe Einkaufsanlagen unter gläsernen Kuppeln

 

Distrikt L             Insel – umgeben von grünem Wasser, auf der Insel: Nymphenschloss

 

Distrikt M           Wasserdistrikt – auf Stegen gebauter Distrikt, für Fischhandel zuständig

 

Distrikt N            Wohndistrikt – Asiaviertel + Altstadt (klassisches Viertel mit Jahrmarkt)

 

Distrikt O           Kraftwerke – grüne Energie

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 28.06.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Dieses Buch widme ich meiner lieben Freundin, Carina Schullenberg. Nun hast du endlich ein Buch, wo auch mal jemand deinen Namen trägt.

Nächste Seite
Seite 1 /