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Das Kreischen von Metall auf Metall durchzog die gesamte Bahnhofshalle. Unzählige Menschen drückten sich aneinander vorbei und sprangen durch die schmalen Türen der Schwebebahnen. Die helle Stimme einer Frau erhallte und kündigte die als nächstes einfahrende Bahn an.
„Okay“, seufzte Linya und lies ihren Blick abermals nervös durch die Halle schweifen, bevor sie wieder zu David sah. „Das ist ein Zug.“
„Weiß ich“, antwortete dieser achselzuckend. Er war genauso nervös wie sie, wusste seine innere Unruhe jedoch zu überspielen. Auch wenn dies Linya bloß noch nervöser machte.
„Du hast alles dabei?“, fragte sie ihn.
„Ja und verdammt noch mal, du bist nicht meine Mutter“, sagte er und drückte seine Hand auf ihre schilfgrüne Ballonmütze, sodass diese in ihr Gesicht rutschte. „Willst du mich so dringend loswerden?“
Wütend schlug sie seine Hand weg und rückte ihre Mütze wieder zurecht. „Nein, ich will dass du etwas vergessen hast und dann wieder kommst“, entgegnete sie und sah ihn mit ihren großen, dunklen Augen an. Die Wut war verraucht und die Trauer überwog.
David lachte auf und schlag seine Arme um sie, um sie fest an sich zu drücken. „Ich werde wieder zurückkommen, mach dir keine Sorgen.“
Linya hatte ihr Gesicht an seine Brust gelegt und starrte ins Leere. „Drei Jahre ist eine lange Zeit“, begann sie. „Was soll ich solange ohne dich machen?“
„Das gleiche was du vorher getan hast“, erwiderte David und musterte die Schwebebahn, die neben ihm in den Bahnhof einfuhr. Langsam löste er sich von Linya und seine Hand zuckte zu seinem schweren Koffer. Auch Linya löste sich von ihm und trat einen Schritt zurück. Tränen hatten sich in ihren Augen gesammelt.
„Versprich mir, dass du mich anrufst, wenn du in Petersburg angekommen bist“, sagte sie mit erstaunlich beherrschter Stimme.
David streckte ihr seine Faust entgegen, bloß der kleine Finger lugte nach oben. „Versprochen.“
Linya verharkte ihren Finger mit dem seinen und quälte sich zu einem breiten Lächeln durch. „Gut.“
„Das einsteigen in den Zug A5D9 ist nun gestattet“, erklang eine monotone Männerstimme durch kleine Lautsprecher in der Bahnhofshalle.
Linyas Blick wanderte hektisch zwischen David und der Schwebebahn hin und her. Ihr Herz begann zu rasen. Der Abschied stand unmittelbar bevor. Mit ihren Fingerspitzen streifte sie die große Hand Davids. „Bitte geh nicht“, wisperte sie. Doch ging dies dank des hohen Geräuschpegels des Bahnhofs unter und David hauchte ihr zum Abschied einen schlichten Kuss auf die Stirn.
„Ich werde dich anrufen“, sagte er daher und stieg auch schon in die geöffnete Tür der Bahn ein. Er winkte ihr zu, nachdem sich die Tür geschlossen hatte und grinste sie hinter dem dicken Glas schief an. Linya winkte zurück.
Langsam setzte die Bahn sich in Bewegung und fuhr surrend aus dem Bahnhof heraus. Die ersten Meter rannte Linya noch mit, um David länger sehen zu können. Doch als der Bahnsteig zu Ende war, blieb sie stehen und winkte mit aller Kraft, bis der Zug hinter einer Hochhäuserreihe verschwand.


Vier Jahre später:
Das Kind kreischte aus Leibeskräften und schlug mit Händen und Füßen um sich. Das blonde Haar hing ihm wild im Gesicht und ließ ihn beinahe wahnsinnig aussehen. Ein bulliger Soldat warf es unsanft auf die Ladefläche seines Autos. Die Mutter wurde von zwei weiteren Soldaten zurück gehalten und in ihr heruntergekommenes Haus gedrängt.
Ein Schuss ertönte und einer der Soldaten sank keuchend zu Boden. Sofort zückten die anderen beiden ihre Waffen und ließen den Lauf ziellos durch die Gegend schweifen. Wieder ertönte ein Schuss und die Beine des nächsten Soldaten knicken weg.
Auf der anderen Straßenseite, viele Meter von ihnen entfernt, stand eine junge Frau. Die Waffe fest in ihren Händen.
Der Soldat nahm ein kleines Fernsprechgerät und rief mit bebender Stimme: „Zwei sind getroffen, nehme Verfolgung zum Täter auf. Erbitte Verstärkung.“ Mit diesen Worten rannte er los, die Schützin jedoch auch.
Sie quetschte sich an Passanten vorbei und sprang über heimatlose Hunde. Binnen Sekunden hatte sie ihr Schwebequad erreicht und sich elegant auf den gepolsterten Sitz geschwungen. Eine Pistolenkugel flog nahe an ihrem Ohr vorbei. Der Soldat hatte das Feuer auf sie eröffnet, ohne auf die unschuldigen Passanten zu achten.
Sie startet den Motor und sofort schwang sich das Schwebequad in die Lüfte. Die kleinen Monitore zwischen den Griffen des Lenkrads surrten und ließen das Quad am eingegrenzten Flugbereich andocken.
Während ihr Quad immer höher stieg und die unterschiedlichen Geschwindigkeitszonen durchquerte, zog sie eine schmale Fliegerbrille aus ihrer Hosentasche und setzte sie sich auf. Als sie an der vierten Geschwindigkeitszone ankam, trat sie aufs Gaspedal und das Quad rauschte davon.
Der Wind peitschte in ihr Gesicht und Insekten klebten an ihren Wangen. Innerhalb einer Sekunde konnte sie den Soldaten nicht mehr sehen und wog sich in Sicherheit. Doch die hellen Quads der Soldaten des Sondereinsatzteams erschienen in ihrem Augenwinkel.
„Verdammt“, fluchte sie und riss am Lenkrad, sodass sie in eine schmale Gasse abbog. Dicht gefolgt von den Soldaten fuhr sie die Gasse entlang und bog auch sogleich in den Broadway ein. Was früher das leuchtende Theaterviertel New Yorks war, gehört nun zum bekanntesten Rotlichtviertel der Welt. Musicals wurden in Teehäuser oder Bordelle umgebaut. Touristen hat man seit siebzig Jahren nicht mehr gesehen.
Sie beschleunigte ihr Quad weiter und stieg immer höher, um im vorgesehenen Geschwindigkeitsbereich zu bleiben. Auch die Soldaten beschleunigten und kamen bedrohlich nahe. Einer von ihnen zückte eine Pistole und zielte.
In diesem Moment riss sie wieder am Lenkrad und durchbrach die Geschwindigkeitszonen gefährlich schnell. Grinsend erinnerte sie sich daran, wie ihre beste Freundin Phylicia ihr erklärt hatte, dass sie das Quad so getunt hat, sodass sie auch außerhalb der Geschwindigkeitszonen fahren konnte.
Knapp über den Köpfen der Menschen zog sie am Lenkrad und stieg wieder etwas in die Höhe. Die verwirrten Blicke der Soldaten in ihrem Rücken spürend fuhr sie weiter die Straße entlang. Eine Pistolenkugel flog pfeifend an ihrem Ohr vorbei und blieb in einer Reklametafel stecken. Sie verzog ihr Gesicht zu einer Grimasse und bog in ein verwahrlostes Viertel ab, in welchem sich die Junkies und armen Prostituierten zurückgezogen hatten. Die eingeschlagen Fensterscheiben und mit Graffiti beschmierten Wände wirkten alles andere als einladend.
Sie hörte wie sich die Soldaten gegenseitig Kommandos zuriefen. Dumm, wie sie waren.
Ihr Quad hielt sie neben einem glaslosen Fensterrahmen an, ehe sie in das alte Gebäude hinein stieg und sich die Brille schließlich wieder abnahm. Neben dem Rahmen lag eine Strohpuppe die sie am Vortag provisorisch dort hingelegt hatte. Sie setzte ihr die Fliegerbrille auf, schnürte die Arme am Lenkrad fest und schaltete den Autopiloten ein. Das Quad fuhr brummend davon.
„Linya Brown, du bist echt klasse“, sagte sie breit grinsend zu sich selbst und stolzierte die alte Treppe hinunter.
Eine metallene Tür knallte zu und ließ sie zusammen zucken. Sie vermutete einen der Drogendealer, der sich zügig aus dem Staub machen wollte, doch dann hörte sie das klicken einer entsicherten Waffe und die dumpfen Aufschläge der Stiefel, die zur Ausrüstung der Soldaten gehörten.
„Linya Brown, du hast es vermasselt“, murmelte sie und verdrehte ihre Augen. Natürlich würden sie die Attrappe sofort durchschauen und einen Suchtrupp losschicken. Doch hatte sie mal wieder ihre Schnelligkeit unterschätzt.
Katzengleich glitt sie die Treppe herunter und schlich durch einen verwüsteten Raum, der vor der ersten Säuberung vermutlich mal ein Schlafzimmer gewesen war. Zu Linyas Glück hatte auch hier das Fenster keine Scheibe mehr und sie konnte mühelos hindurch schlüpfen. Sie war nun in einer schmalen Gasse, welche eine lange Häuserreihe entlang führte. Von der einen Seite erklangen wieder die schweren Schritte der Soldaten, weswegen sie in die entgegensetzte Richtung rannte.
„Gesichert“, hörte sie eine tiefe Männerstimme rufen.
„Gesichert“, eine weitere Männerstimme.
Binnen Sekunden konnte sie das Ende der Gasse sehen und setzte zum Endspurt an. Doch wurde sie von starken Armen umschlungen und in eines der leeren Häuser gezerrt. Wegen der näher kommenden Soldaten wagte sie nicht zu schreien, trat jedoch wie wild um sich.
Die unbekannte Person packte sie an den Oberarmen und drückte sie gegen eine Wand, sodass der Putz zu bröckeln begann. Linya sah in das vermummte Gesicht eines Soldaten und bekam es sofort mit der Angst zutun.
Langsam ließ er eine Hand von ihr ab und streifte sich den Helm ab. Blondes Haar kam zum Vorschein und die strahlend grünen Augen, die Linyas Herz schmerzhaft schneller schlagen ließen.
„David“, keuchte sie und drückte sich automatisch gegen die Wand. Zögernd ließ er nun auch ihren anderen Arm los und sofort drückte sie ihre beiden Arme gegen ihre Brust. Gern hätte sie mehr gesagt, brachte aber bloß ein klägliches Wimmern heraus. In ihren Augen sammelten sich Tränen und ihre Unterlippe begann unkontrolliert zu zittern.
„Hallo Linya“, sagte er und blickte sie voller Unschuld an. „Lange nicht mehr gesehen.“
Eine Welle von Gefühlen brach über sie ein. Gischt, bestehend aus Wut und Sehnsucht, schlug an die Wände ihrer Seele. „Wie kannst du es wagen“, keuchte sie und versuchte den Klos, der sich in ihrem Hals gebildet hatte, herunter zu schlucken.
Sichtlich verwirrt sah David sie an, doch auch in ihm herrschte ein wirres Chaos an Gefühle.
„Wie kannst es wagen“, wiederholte sie sich und ballte ihre Hände dabei zu Fäusten. Von der Wut beherrscht begann sie auf ihn einzuschlagen. Sie schlug auf seine Brust, seine Oberarme und seinen Bauch ein. „nach so langer Zeit wieder zu kommen?“ Mittlerweile schrie sie. „Du wolltest anrufen! Du hast mir versprochen, dass du anrufst!“
Verständnis, gepaart mit Erklärungsdrang zierte sein Gesicht. Er packte Linyas Handgelenke und drückte sie gegen die Wand. Nicht sehr fest, aber stark genug, damit sie sich nicht befreien konnte. „Ich konnte dich nicht anrufen“, sagte er beherrscht.
Linya versuchte sich aus seinem Griff zu befreien, trat um sich. Doch als sie seine Worte vernahm, sah sie ihn prüfend in die Augen. „Verarschen kann ich mich auch selbst.“
David ließ ihre Handgelenke los und trat einen Schritt zurück. Dabei fuhr er sich mit der großen Hand durch sein blondes Haar; suchte fieberhaft nach den richtigen Worten. „Der Zug, in dem ich saß, wurde auf halber Strecke von den Soldaten der Landesregierung angehalten. Alle, die Jura studieren wollten, wurden mitgenommen. Die Regierung hatte Angst, dass sich diese gegen deren Regime richten und Erfolg erzielen könnten. Also wurde der Wehrdienst spezifiziert.“ Er machte eine kurze Pause und sah sie dabei einfach nur an. Jedoch zeigte sie keine Reaktion, weswegen er fort fuhr. „Dreizehn weitere Studenten und ich wurden in ein Ausbildungslager in Calgary geschickt. Nach drei Jahren Ausbildung waren wir fertig und wurden in die verschiedenen Bereiche zugeteilt. Arvid und ich wurden dem Sondereinsatztrupp für die Rebellen eingeteilt. Zu erst waren wir in Miami stationiert. Doch dann wurden wir vor sechs Wochen nach New York versetzt, da sich hier die Lage zugespitzt hat.“
„Und du bist nicht auf den Gedanken gekommen, mal nach deiner Familie, oder nach deinen Freunden – wahlweise mir – zu suchen?“, fragte sie bissig.
„Doch natürlich habe ich nach euch gesucht“, sagte er lauter, getrieben von seiner nun aufbrauenden Wut. „Ich habe meine alte Wohnung aufgesucht, das Haus deiner Eltern. Ich habe heimlich die Daten in unserem System durchforstet, um zu sehen, ob ihr vielleicht tot seid. Aber da ich auf nichts stieß, musste ich mir erst etwas Neues überlegen. Vor wenigen Minuten lief ein Bild der Überwachsungskameras durch alle Kommunikationsapparate des Sondertrupps und ich habe dich sofort erkannt. Deswegen bin ich hier, Linya. Ich wollte dich unbedingt wieder sehen, nach all den Jahren.“
Linya presste ihre Lippen fest aufeinander, um so eine weitere scharfe Bemerkung zu unterdrücken. Doch lagen so viele Worte auf ihrer Zunge, dass sie einfach etwa sagen musste: „Wir dachten du wärst tot.“ Die Trauer und unterdrückte Verzweiflung in ihrer Stimme ließ Davids Herz barsten.
„Ich hatte ebenso viel Angst um euch.“
Linya schüttelte den Kopf. „Wir hatten keine Angst, wir waren uns sicher, dass du tot wärst.“ Sie senkte ihren Blick und schlang ihre Arme um ihren Körper. „Denn anders konnten wir uns deinen abrupten Kontaktabbruch nicht erklären.“
David ging wieder auf sie zu und schlang seine Arme um sie. Sein Gesicht drückte er gegen ihren Kopf. Etwas in ihr schrie danach ihn von sich zu stoßen, doch diese Zärtlichkeit, nach der sie sich vier Jahre lang gesehnt hatte, ließ sie nicht von seiner Seite weichen. Stattdessen erwiderte sie seine Umarmung und drückte ihr Gesicht gegen seine Uniform. Vereinzelte Tränen lösten sich und kullerten ihre Wangen herunter.
„Ich wollte dich niemals so lange alleine lassen“, flüsterte er an ihr Ohr und drückte sie noch fester an sich. „Ich wollte eher zu dir zurückgekommen sein. Ich wollte für dich da gewesen sein. Ich wollte dir in den Jahren ein Freund sein. Ich wollte dir –“, weiter kam er nicht. Denn Linya hatte sich von ihm gelöst und ihre Lippen auf die seine gelegt. Zunächst war er überrascht, erwiderte den Kuss jedoch.
Kurz löste sie ihre Lippen von seinen und hauchte: „Das weiß ich doch alles.“ Doch gab sie ihm keine Gelegenheit zu antworten und begann ihn wieder zu küssen.
Er hob sie hoch, sodass sie ihre Beine um seine Hüfte schlingen konnte und drückte sie sanft gegen die Wand. Immer fordernder begann er sie zu küssen. Wie lange er sich doch nach ihr gesehnt hatte.
Auch Linya erging es nicht anders. Sie hatte ihre Arme um seinen Hals gelegt und sich fest an ihn gedrückt. Auf einmal war der Krieg zwischen Welt und Rebellen vergessen und nur noch er kreiste in ihrem Kopf herum. Sein männlicher Geruch. Seine Muskeln, die sich an ihren elektrisierten Körper drückten. Seine Bartstoppeln, die sie früher hasste und nun einfach nur noch attraktiv fand.
Langsam lösten sie ihre Lippen voneinander und er legte seine Stirn an ihre. „Ich werde dich nie wieder verlassen, das schwöre ich dir“, sagte David. Um seine Mundwinkel herum zuckte es und er begann sie breit anzugrinsen.
Auch sie musste unweigerlich anfangen zu grinsen und hauchte ihm einen sanften Kuss auf die Nase. „Solltest du auch nicht. Ansonsten mach ich dir die Hölle heiß.“ Mit der Hand strich sie über sein Gesicht und die kratzigen Bartstoppeln. „Ich habe dich vermisst, David.“
David begann ihr Gesicht mit Küssen zu übersähen und erwiderte: „Ich dich auch, mein Engel.“
Linya wollte etwas erwidern, als der Kommunikationsapparat an Davids linker Brust zu surren begann und die Stimme eines Mannes erklang: „Mathewson, bitte melden. Attentat auf fünf Soldaten in der Water Street . Sofortige Unterstützung erforderlich. Mathewson, ich wiederhole: Attentat auf fünf Soldaten in der Water Street. Sofortige Unterstützung erforderlich.“
David war in seiner Bewegung verharrt und gab und sein genervtes Stöhnen von sich. „Na ganz toll“, knurrte er und ließ Linya wieder auf den Boden, wo sie sich zu aller erst ihre Kleidung zurecht rückte. Dann suchte ihr Blick den seinen.
„Musst du wirklich gehen?“, fragte sie mit klopfendem Herzen.
David sah sie einen Augenblick schweigend an und strich ihr schließlich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Ich muss, aber ich werde wiederkommen.“
Linya verzog ihr Gesicht zu einer Grimasse. „Willst du wirklich hier hinkommen?“ Sie ließ ihren Blick demonstrativ durch den Raum schweifen. „Können wir uns nicht woanders treffen?“
David lachte leise auf und nahm ihre Hände in die seine. Er führte sie zu seinem Mund und begann jeden einzelnen Finger zu küssen. „In einem Hotel an der Madison Avenue habe ich ein Zimmer reserviert, falls ich mal einen freien Nachmittag habe und Zeit für mich brauche. Dort sollten wir uns ungestört treffen können.“
„Wann?“ Ihr Herzschlag verschnellerte sich.
„Morgen um zwanzig Uhr. Sag einfach an der Rezeption, dass du von David Mathewson eingeladen wurdest und sie werden dich, ohne irgendetwas zu hinterfragen, zu meinem Zimmer bringen.“
„Werde ich machen“, sagte sie nickend. Mit den Fingerkuppen fuhr sie über seine Uniform. „Ich werde da sein.“
Er nahm ihr Gesicht in seine Hände und begann sie zärtlich zu küssen. „Ich freu mich drauf.“
Sie hatte sich an seine Uniform festgekrallt und erwiderte seinen Kuss etwas drängender. Als sie seine Worte vernahm, musste sie kichern.
Zögernd löste er seine Arme von ihr und musste seine gesamte Willenskraft aufbringen, um auch seine Lippen von den ihren zu nehmen. „Ich liebe dich“, sagte er und strich ihr über die Wange, bevor er sich seinen Helm wieder aufsetzte und aus dem heruntergekommenen Gebäude verschwand.
Wie lange Linya einfach nur da gestanden hatte und auf die Stelle gestarrt hatte, wo sie beide sich zuvor umschlungen hatten, wusste sie nicht. Doch das Surren ihres Kommunikationsapparates riss sie aus ihren Gedanken. „Ja?“, meldete sie sich.
„Wo steckst du?“, keifte Alieh.
„Keine Ahnung“, gestand Linya und fuhr sich mit der Hand durch ihr pechschwarzes Haar.
„Du hättest vor vier Stunden und dreißig Minuten zurück sein sollen. Dein Bild wird gerade durch die Datenbank gejagt. Sei froh, dass Owen sich schon in das System gehakt hat. Wir wären am Arsch, wenn du erwischt wirst. Verdammte Scheiße, was hast du getrieben?“
„Zwei Soldaten getötet, hatte etwa zwei Verfolgungsjagden – übrigens: Phylicias Maschine hat herrlich funktioniert – und ich habe einen alten Freund wieder getroffen“, erzählte sie und lehnte sich dabei schmunzelnd an die Wand.
„Einen guten Freund?“ Ihrer Stimme nach zu urteilen war sie nicht sehr erfreut über Linyas ereignisreichen Tag und sie rechnete damit, dass es Überstunden und Sondereinsätze hageln würde.
„David Mathewson, ich hatte dir von ihm erzählt.“
„Klar, dieser Spaten von Jurastudent, der sich nicht gemeldet hat. Alte Geschichte.“ Nun wurde sie anscheinend doch neugierig, denn sie fuhr zu Linyas Überraschung fort: „Vermutlich hätte ich an deiner Stelle nicht anders gehandelt. Erwähne dein Zusammentreffen mit ihm jedoch bitte nicht in deinem Bericht. Also, erzähl, was ist passiert?“
„Nicht viel. Er hat mich vor den Soldaten gerettet, wir haben uns unterhalten, uns geküsst und dann musste er zu einem Einsatz.“
„Einen Einsatz?“ Man konnte förmlich aus Aliehs Stimme heraus hören, wie sie die Augenbrauen anhob.
„Er wurde zum Wehrdienst gezwungen und ist Mitglied im Sondereinsatztrupp gegen die Rebellen. Deswegen hatte er mich auch gefunden.“
„Herrje, Mädchen, bist du jetzt von allen guten Geistern verlassen?“
Da Linya nicht antwortete, fuhr sie fort. „Er ist Soldat und wurde dazu ausgebildet Menschen wie dich zu töten. Vermutlich soll er auch genau dich töten. Benutze sein Hirn und denk doch mal nach. Vielleicht nutzt er dich ja auch nur aus? Um an Informationen zu kommen. Um heraus zu finden, wo unser Hauptquartier ist. Es tut mir leid, aber ich muss an das Wohl uns aller denken und dir verbieten, ihn weiter zu treffen.“
„Du bist nicht meine Mutter“, fauchte Linya. Die Wahrheit in Aliehs Worten tat weh und Linya wollte es sich einfach nicht eingestehen, dass ihre Chefin vermutlich recht hatte.
„Nein, aber deine Chefin und wenn du nicht tust, was ich dir sagen, dann landest du auf der Straße und kannst dich auf dem Broadway verkaufen, wie es die anderen Weiber gemacht haben. Dein Leben wir zu Ende sein, bevor es richtig angefangen hat.“
„Dazu hast du kein Recht!“ Linya hatte ihren Kiefer angespannt und eine brodelnde Wut stieg in ihr auf.
„Das denkst du. Beweg deinen hübschen, koreanischen Arsch hier her und wir sehen weiter.“
„Wie du willst“, knurrte Linya.

Nachdem Linya im Hauptquartier der Rebellen New Yorks ankam und fertig geduscht und umgezogen vor dem Versammlungsraum der Rebellenführer stand, ging sie die letzten Ereignisse des Tages noch einmal durch.
David war wieder da und seine Gefühle hatten sich in den Jahren nicht verändert, aber nun stand etwas zwischen ihnen und das konnte sie nicht ignorieren. Der Kampf um die Würde jedes einzelnen Menschen auf dieser Gott verdammten Welt.
Sie gab einen tiefen Seufzer von sich und betrat schließlich den hellen Raum. Sofort fielen alle Blicke auf sie. Natürlich, Alieh hatte alle über Linyas heutiges Erlebnis eingeweiht.
Schweigend ging sie zu ihrem Platz und ließ sich auf den Stuhl nieder. „Gibt es was Neues?“
„Wir Planen eine Zerstörung eines Lagers der Soldaten“, erklärte eine blonde Frau. Greth Norris, die Frau, welche den Bodyguard des Präsidenten ausschalten konnte. Doch leider blieb der Präsident selbst unversehrt.
„Welches Lager?“, fragte Mel Harden. Sein etwas zu langes schwarzes Haar hatte er zu einem Zopf gebunden.
„Das im früheren Little Flower Playground“, erklärte Greth. „Dort werden einzig die Soldaten des Sondereinsatztrupps beherbergt. Ich war gestern mit Beatrice dort. Die Mauern sind nicht sehr hoch und auch die Wachtürme sollten kein Problem sein. Die Bäume im Lager bieten gute Deckung und sollten uns das anschleichen erleichtern.“
„Wie viele Leute benötigt ihr?“, fragte Alieh.
„Alle.“

Die Nacht war angebrochen und die leuchtende Stadt nahm den Blick auf die Sterne. Linya wäre am liebsten auf dem Absatz umgekehrt und nach Hause gegangen. Doch der Befehl ihrer Chefin war eindeutig. Sie musste kämpfen und so viele Soldaten wie möglich töten.
„Es ist Punkt dreiundzwanzig Uhr“, sagte Greth und sah in die vielen Gesichter der Rebellen. „Nun ist es an der Zeit Gerechtigkeit sprechen zu lassen und für die Menschen zu kämpfen, die seit zwölf Jahren von der Welt unterdrückt werden.“
Alle wollten jubeln, mussten sich aber so leise wie möglich verhalten. Sie waren bloß zwei Blocks von dem Lager entfernt. Die Luft war elektrisiert. Keiner konnte es erwarten, Rache für entführte oder getötete Familienmitglieder gelten zu lassen.
Greth entsicherte ihre Waffe – so wie viele andere in diesem Moment – und rief: „Los geht’s!“
Langsam aber bestimmt liefen sie gemeinsam die vielen Häuserwände entlang und pirschten sich wie Katzen an das Lager heran. Zuerst schossen Owen und Mel auf die Wachen an den Türmen. Dank der Schalldämpfer war nichts zu hören. Nur das Keuchen der sterbenden Männer.
Mit einem gezielten Schuss auf das Schloss des Sicherheitstores verschafften sie sich Eintritt.
„Wer ist da?“, rief ein schlaksiger Mann mit rotem Haar und richtete sein Maschinengewehr auf einen der Rebellen. „Wer sind Sie?“
Niemand antwortete. Greth tötete den Mann mit einem gezielten Kopfschuss.
Das blieb jedoch nicht unbemerkt. Ein weiterer Mann hatte dies Geschehen beobachtet und ließ den heulenden Alarm ertönen.
„Ihr kennt den Plan!“, rief Greth nun ohne Rücksicht und marschierte schnurstracks in das Lager hinein. Sofort eröffneten Soldaten das Feuer auf sie.
Linya zog ihre Waffe und schoss zurück. Sie folgte den anderen Rebellen in die Mitte des Lagers, wo sich viele Soldaten versammelt hatten. Ebenso der Befehlshabende Offizier. Einer seiner Soldaten rannte auf die Rebellen zu. Linya verpasste ihm mit der Faust einen Schlag ins Gesicht und da er keine Uniform trug – vermutlich wurde er im Schlaf überrascht – schlug sie noch in seinen Solarplexus. Keuchend ging er zu Boden und Linya schoss ihm zuletzt in den Rücken.
Der Kampf begann und die Seiten prallen aufeinander. Wie viele sie in diesem wilden Gefecht wirklich tötete wollte und konnte sie nicht wissen. Das Adrenalin schoss durch ihre Adern und Venen und beflügelte ihre Sinne.
Greth trat neben sie und erschoss einen weiteren Soldaten. „Wir liegen klar im Vorteil. Nalini und Seth haben ihre Waffenvorräte gefunden. Einen Teil haben wir zerstört, den anderen schon fortgeschafft. Sie sitzen in der Falle.“
Linya rang sich zu einem verschlagenen Lächeln durch. „Perfekt. Dann haben wir ja nun freie Bahn.“ Etwas in ihr wand sich um hundertachtzig Grad. Sie wollte nicht mehr kämpfen. Ihren Schwur, bis zu ihrem Tode gegen das Regime zu kämpfen, war für sie nicht mehr von belangen. Denn der Mensch, der ihr auf dieser Welt am meisten am Herzen lag, war nicht dazu fähig an ihrer Seite zu kämpfen.
Als hätte Greth ihre Unsicherheit gerochen, klopfte sie ihr aufmunternd auf die Schulter. „Wir haben es ja bald geschafft.“
Linya antwortete nicht, sondern verpasste einem heran laufenden Soldaten einen Kinnhaken. Dieser geriet ins straucheln, konnte sich jedoch wieder fangen und stürzte sich sogleich auf sie. Sie versuchte auszuweichen, doch sie war zu langsam. Er riss sie auf den Boden und sie begann sich zu wälzen. Er zog an ihren Haaren und sie versuchte ihm an seinen Hals zu fassen. Doch er war stärker und hatte nun seine Hände um ihren Hals gelegt. Sie versuchte ihm die Unterarme aufzukratzen, aber er ließ nicht locker. Auf einmal zuckte er zusammen und begann langsam auf sie zu sinken. Doch bevor sie sein volles Gewicht spüren konnte, zuckte er noch mal und wurde direkt neben sie geschleudert.
Sofort rappelte sie sich auf. Zwei Schusswunden zierten seinen Körper. Eine im Kopf und eine andere in seiner Brust.
Linya sah zu erst zu Alieh, welche sie nur mit großen, bernsteinfarbenen Augen ansah. Der Lauf ihrer Waffe war auf den Soldaten gerichtet. Doch hinter ihr stand noch eine Person, welche ebenfalls mit der Pistole auf den Mann zielte. Es war ein Soldat. Als Linya sein Gesicht erkannte, blieb ihr die Luft weg und jegliches Blut wich aus ihrem Gesicht.
Er kam auf sie zu, packte sie am Handgelenk und wollte sie davon ziehen, als der Lauf von Aliehs Waffe seine Schulter berührte.
„NEIN!“, kreischte Linya und schlug der Anführerin der New Yorker Rebellen die Waffe aus der Hand. Sofort danach war sie sich der schwere ihres Handelns bewusst und Tränen sammelten sich in ihren Augen.
Alieh musterte sie wütend. „Was soll der Scheiß?“
„Du kannst David nicht erschießen“, sprudelte es aus ihr heraus, ehe sie über ihre Worte nachgedacht hatte.
David riss die Augen auf. Er wusste, genauso wie Linya es wissen sollte, dass ihre Beziehung geheim gehalten werden musste. Doch sie hatte es verbockt und das gründlich.
„Heb meine Waffe auf“, sagte Alieh. Linya tat was sie sagte und hob die Waffe auf.
„Erschieß ihn.“
Nun liefen die Tränen über Linyas Gesicht und sie begann am ganzen Leib zu zittern. „Bitte, tu mir das nicht an“, flehte sie.
„Waffe runter“, rief ein Mann hinter Linya. Sie fuhr herum und sah in das Gesicht eines Inders, welcher etwa ihr Alter haben müsste.
„Arvid“, zischte David und versuchte sich zwischen ihm und Linya zu drängen. „Runter mit dem scheiß Ding.“ Damit hatte er das Maschinengewehr gemeint, welches Arvid in seinen dürren Händen hielt.
„Sie soll die Waffe auf den Boden legen“, rief der Inder jedoch und zielte weiterhin abwechselnd auf Linya und Alieh.
Linya wollte die Waffe gerade auf den Boden legen, als Alieh eine weitere aus ihrem Gürtel zog und auf David zielte. „Tu es, Linya, oder ich mach es und wenn du diesen Höllentrip überlebst, dann sorge ich persönlich dafür, dass du nicht mal einem Bordell eine Festanstellung mehr bekommst. Verräter gehören nicht in eine Welt wie die unsere und das weißt du.“
„Du wirst alles verlieren. Nicht nur ihn, der ohne hin schon verloren ist, sondern auch der mickrige Rest deiner Familie“, fuhr Alieh fort. Solch grausame Worte hatte sie bislang noch nie aussprechen müssen. Doch die Angst, dass ihr Plan für eine bessere Welt nicht aufgehen konnte. Sie hatte Angst, dass sie ihre beste Rebellin und gute Freundin an jemanden verlor, welcher vermutlich für den Tod ihres eigenen Kindes verantwortlich war.
Langsam hob Linya die Waffe an, zum Entsetzten von David. Doch er verstand, in welcher Lage sie befand und verspürte einen ungezähmten Hass auf diese Brünette, welche seiner geliebten Linya zu zwingen versuchte.
„Mr. Mathewson!“, rief einer der Soldaten. „Wehren Sie sich, oder ich mache es für Sie!“ Er wollte gerade seine Waffe auf Alieh richten, als er von Owens Armbrust erwischt wurde.
Nun richtete Arvid seine Waffe auf seinen besten Freund. „Du hast gehört was er gesagt hat“, wimmerte er.
David zog seine Waffe und richtete diese auf Linya. Sie war nicht entsichert.
Linya war geschockt, dass er wirklich mit der Waffe auf sie zielte und legte nun den Lauf ihrer Waffe an sein Kinn an. Immer mehr Tränen rollten über ihre Wangen.
Er legte die Waffe an ihre Schläfe an.
„Entsichere sie, du Pfeife!“, rief Arvid.
Innerlich fluchte David und entsicherte seine Waffe, nur um sie noch fester an Linyas Schläfe zu drücken.
„Es tut mir so leid“, wimmerte sie.
David drückte seine Stirn gegen ihre, wie sie es in dem heruntergekommenen Haus getan hatten und begann sie aufmunternd anzulächeln. „Tja, ich schätze, dass keiner von uns mit solch einem Ende gerechnet hatte.“
„Linya“, mahnte Alieh.
„Oh Gott“, keuchte diese verzweifelt und wäre am liebsten weinend zusammen gebrochen.
„Wenn wir sterben“, begann David und versuchte sie somit zu beruhigen. „Dann sterben wir jetzt immerhin gemeinsam. Dann muss sich keiner mehr fragen, was aus dem anderen geworden ist. Wir haben die absolute Gewissheit.“ Obwohl er selbst den Tränen nahe war und sein Herz wie wild schlug, schaffte er es, diese Worte vollkommen gelassen und einfühlsam zu sagen.
„Für eine bessere Welt“, sagte sie, eher an Alieh als an David gerichtet.
„Für eine Welt, in der Menschen wie wir irgendwann gemeinsam Leben können“, fügte er hinzu.
Dann drückten sie beide ab.
Beide Körper sanken leblos zu Boden. Die Gesichter beinahe unkenntlich gemacht, von einer Blutlache getragen. Der Boden trank von der roten Flüssigkeit, bis er dem überdrüssig war und ließ das Bild zwei Menschen zurück, welche feststellen mussten, dass das Leben schwächer ist als der Tod und welche feststellen werden, dass der Tod schwächer ist als die Liebe.

Impressum

Lektorat: Mein Vater
Tag der Veröffentlichung: 15.09.2012

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