Die innere Stimme ist der Kompass der Seele.
– Andreas Tenzer
„Ernsthaft Lucita, du übertreibst maßlos“, grummelte Melena und festigte ihren Griff um das Steuer, sodass ihre Knöchel weit hervor ragten. „’Mir wird vorne schlecht!’ Ich bitte dich, vorne ist es auch nicht anders als hinten. Außerdem komme ich mir verdammt blöd vor, wenn ich mich mit jemandem unterhalte, den ich gar nicht sehen kann.“ Lucita, eine zierliche junge Frau, mit langen braunen Haaren, hatte sich in den Rücksitz des alten Ford gekuschelt und schenkte ihrer Schwester herzlich wenig Beachtung. „Dafür hast du eine Heidenangst vor Spinnen und die tun dir nun mal wirklich nichts“, entgegnete sie schließlich. Es stimmte, dass Lucita auf dem Vordersitz eines Autos schlecht wurde und sie deswegen immer hinten saß, egal ob es den anderen passte, oder nicht. Aus diesem Grund ließ sie ihren Gedanken auch lieber freien Lauf, als Melenas lautem Gefluche zuzuhören. „Hättest du dich dann nicht wenigstens hinter den Beifahrersitz setzten können, anstatt dich hinter mich zu setzten?“, fragte sie in einem erstaunlich beherrschten Ton, während sie den Gang wechselte. „Hätte ich nicht“, erwiderte Lucita belanglos. „Denn dann hätte ich ums Auto laufen müssen und das wäre unnötiger Energieverbrauch.“ „Was du nicht sagst“, zische Melena durch zusammen gepressten Zähnen. „Ich meine das wirklich ernst. Schließlich haben wir heute Abend noch nichts gegessen und somit könnte ich bei mehr Anstrengung möglich schnell unterzuckern“, sagte nun Lucita mit weit aus mehr Elan, als es Melena verkraften konnte. Sie fuhr auf den Seitenstreifen, schaltete das Standlicht an, und nachdem der Motor des Wagens verstummte, drehte sie sich abrupt um. „Willst du mich eigentlich verarschen?“ Kopfschüttelnd sah Lucita Melena mit großen, grünen Augen an. „Nein, eigentlich nicht.“ Seufzend rieb sich Melena die Schläfen. „Ich geh kurz an den Kofferraum und hol uns eine Cola“, sagte sie und stieg somit aus dem Auto. Die Tür knallte viel zu laut, sodass Lucita zusammenzuckte. Das laute Quietschen von Reifen ertönte und wurde von den dicken Bäumen, die am Rand der Straße wuchsen, widergehallt. Gerade noch konnte Lucita sich umdrehen und durch die Heckscheibe das herannahende Auto sehen, als Melena laut auf zu schreien begann. Ein lauter Knall ertönte. Metall und Glas zerbarsten. Die Sitze wurden nach vorne gedrückt, das Auto bewegte sich gefährlich. Und um Lucita herum wurde alles Schwarz.
Lucita schlug die Augen auf. Mehrmals musste sie blinzeln, bevor sie wieder scharf sehen konnte. Ihren Blick war starr nach oben gerichtet, um sie herum wuchsen hohe Backsteinhäuser gen Himmel. Vor Schmerz stöhnend rappelte sie sich auf und stieß auch sofort einen grellen Schrei aus. „Verdammt, was hat dich denn gestochen?“, quiekte das weiße Stoffkaninchen und hielt sich mit den Pfoten die Ohren zu. Sein rechtes Ohr, seine linke Gesichtshälfte und der Bauch waren mit bunten Flicken übersät. Das blaue Halsband war mit einem goldenen Glöckchen versehen. Mit zitternder Hand zeigte Lucita auf das Wesen. „W-Was … w-wie k-kann das s-s-sein?“ Das Kaninchen ließ seine Pfoten sinken und legte den Kopf schief. „Wie kann was sein?“ Doch Lucita brachte als Antwort bloß einen kehligen Laut von sich und hätte sich dabei beinahe verschluckt. „Herrje, ich seh’ schon“, seufzte das Kaninchen und schüttelte seinen Kopf. „Du kommst nicht von ihr. So ein hässliches Wesen wie du ist mir bis jetzt noch nie begegnet.“ Noch immer zitternd schlang Lucita ihre Arme um ihren Körper und richtete sich langsam auf. Erst jetzt fiel ihr auf, dass ihre gesamte Kleidung mit Erde verdreckt war. Verwirrt blickte sie an ihrem Körper hinunter. „Du bist auf meinen Bau gefallen“, sagte das Kaninchen monoton. „Aber das macht nichts, ich wollte mir eh einen Neuen machen. Bloß bin ich jetzt ohne zu Hause, du schuldest mir also etwas, Boncho.“ „Boncho?“, keuchte Lucita. „So nennen wir Fremde, deren Namen und Gattung uns unbekannt ist. Wenn es dir nicht gefällt, dann sag mir einfach deinen Namen. Ich kann mir Namen gut merken, ehrlich.“ Das Stoffkaninchen zupfte sich verlegen an dem mit Flicken übersäten Ohr. Sie schloss für einen Augenblick die Augen. „Ich heiße Lucita“, sagte sie schließlich und ging vor dem kleinen Stoffkaninchen in die Hocke. „Wie ist dein Name?“ Das Stoffkaninchen machte einen sprungartigen Schritt auf sie zu, sodass die Knopfaugen direkt vor Lucitas Gesicht waren. „Glaubst du echt, dass ich so dumm bin und jemand Fremdes meinen Namen verrate?“ Noch bevor Lucita reagieren konnte, klapste das Kaninchen seine Stoffpfote in ihr Gesicht. Die vermutliche Backpfeife tat zwar nicht weh, jedoch war Lucita mehr als überrascht. Sofort richtete sie sich auf und blickte sich noch immer verdutzt in der Seitengasse um. „Das muss ein Traum sein“, wisperte sie. „Genau, ich träume. Stofftiere können nicht reden, nicht einmal normale Tiere können reden – na gut, ein Papagei vielleicht.“ Ein hohes Lachen entrann ihrer Kehle. „Ich muss einfach nur wieder aufwachen.“ Mit ihrem Blick tastete sie den Boden ab. Wenige Zentimeter neben ihrem linken Fuß lag ein dicker Steinbrocken. Ein Versuch ist es wert, dachte sie sich und nahm den Brocken in ihre Hand. „Was hast du vor?“, fragte das Kaninchen mit brennender Neugierde. „Aufwachen“, entgegnete Lucita, holte mit dem Steinbrocken aus und ließ ihn auf ihren Kopf fallen. Anstatt aufzuwachen, wie sie es sich vorgestellt hatte, durchzog ein stechender Schmerz ihren Kopf und keuchend sank sie in die Knie. „Selbst Schuld“, sagte das Kaninchen. „Wo bin ich hier?“, fragte Lucita und überhörte einfach den Kommentar des Stofftiers. „DAS kann ich dir auch nicht sagen. Unser Land hat keinen richtigen Namen.“ „Wie jetzt?“, fragte Lucita und rieb sich die Beule, die sich auf ihrem Kopf gebildet hatte. „Der König hat das Land nach seinem Namen benannt, aber da bis jetzt keiner von uns ihn jemals gesehen hat, sagt keiner seinen Namen. Jeder nennt unser Land wie er möchte und trotzdem weiß jeder, welches Land gemeint ist“, erklärte das Kaninchen schon beinahe stolz. „Wie nennst du dieses Land?“ Das Kaninchen lachte auf. „Sag ich dir nicht.“ Lucita legte den Kopf in den Nacken und breitete die Arme aus. „Warum nicht?“ „Weil jeder seinen eigenen Namen hat“, sagte das Kaninchen, packte Lucitas Hand und versuchte sie auf die Beine zu ziehen. Doch rutschte es weg und viel auf die Erde. „Komm schon, ich will dir etwas zeigen.“ Lucita stand widerwillig auf und als das Kaninchen seine Arme nach ihr ausstreckte, wie ein kleines Kind, hob sie es hoch und nahm es in die Arme. „Was willst du mir zeigen?“ „Geh einfach zum Ende der Straße und dann wirst du es selber sehen“, befahl das Kaninchen. „Warum?“, fragte Lucita und dennoch befolgte sie den Befehl und setzte sich in Bewegung. „Du erinnerst mich an etwas, was ich schon mal gesehen habe. Ich meine dein Aussehen und wer weiß, vielleicht findest du ja hier welche von deiner Art. Aber vergiss nicht, du kannst mich dann nicht einfach zurück lassen. Du hast mein trautes Heim zerstört und nun schuldest du mir etwas. Ich fände es angebracht, dass du mich einfach beschützt, bis ich ein neues zu Hause habe. Denn als Kaninchen hat man es hier einfach nicht leicht. Die Leute trampeln auf einen herum ohne es überhaupt zu merken, es ist zum verrückt werden. Nur in meinem Bau bin ich sicher vor der großen Welt.“ Lucita lauschte dem Redefluss des Kaninchens und nickte gelegentlich. Als sie am Ende der Straße ankamen, breitete sich eine große Hauptstraße vor ihnen aus. Wesen, welche Lucita zum ersten Mal in ihrem Leben sah, gingen ihren Weg; zogen an ihnen vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Tiere auf zwei Beinen und eingekleidet, betraten oder verließen Geschäfte. Andere Wesen, welche auf allen vieren liefen und deren Fell in Stacheln zu allen Himmelsrichtungen abstand, scharrten mit ihren Krallen auf dem gepflasterten Boden. „Heiliger“, entfuhr es Lucita. „Wie wird deine Gattung bezeichnet?“, fragte das Stoffkaninchen, während es die Straße absuchte. „Mensch“, antwortete Lucita geduldig. „Biege rechts ab und dann geh’ einfach die Straße entlang. Wenn dich die Leute wegen deiner Hässlichkeit komisch angucken, dann ignorier es einfach“, sagte das Kaninchen. „Aber rede nicht mit ihnen, sonst werden sie sauer.“ Etwas verletzt, weil das sie als Kaninchen sie hässlich bezeichnet hatte, ging sie Straße entlang. Tatsächlich wurde sie von vielen der Tiere angesehen. Die einen waren neugierig, die anderen angewidert. Binnen Minuten hatten sie einen großen Platz erreicht, auf welchem sich unzählige dieser Tiere tummelten und die schwarzen Wesen den Boden nach Essensresten absuchten. „Hier müsste es sein“, trällerte das Kaninchen und zappelte ungeduldig in den Armen Lucitas herum. Die weißen Ohren gespannt aufgerichtet und den Kopf nach vorne geschoben versuchte es die Mitte der Menge zu erhaschen. „Was ist denn hier?“, fragte Lucita. Mittlerweile fühlte sie sich mehr als unwohl in ihrer Haut. Denn noch immer wurde sie von den Tieren angestarrt; andere begannen hinter ihrem Rücken zu tuscheln. „Die Parade“, sagte das Kaninchen, als hätte es Lucita wissen müssen. Doch besann es sich und fuhr fort: „Der König macht jedes Mal, wenn die Sonne sich von ihrem höchsten Punkt entfernt, eine Parade mit seinen Kriegern. Es ist keine schöne Parade, aber irgendetwas an dir erinnert mich daran.“ „Vermutlich weil ich hässlich bin?“, fragte Lucita mit einem sarkastischen Unterton. „Habe ich auch erst gedacht, aber es muss etwas anderes sein“, erwiderte das Kaninchen nachdenklich. Musik ertönte, doch war sie noch sehr leise. „Es geht los!“ Die Menge wurde dichter und gemeinsam mit den Kaninchen im Arm konnte Lucita sich bis nach ganz vorne kämpfen. Noch weit von ihnen entfernt kamen Wesen, welche auch Lucita bekannt vorkamen. Es dauerte eine Zeit, bis diese Dinger auch Lucita erreicht hatten und sofort wusste sie, warum sie ihr bekannt vorkamen. „Marionetten“, sagte sie verblüfft. Diese Marionetten waren gute drei Meter hoch und ihre Gesichter waren zu einem breiten, hässlichen Grinsen verzerrt. Die hölzernen Arme hingen schlaff an ihren Körper herunter. Sie trugen die Uniform, die einem englischen Gardisten ähnelten. Die menschlich aussehenden Augen wanderten durch die Reihen der Zuschauer. „Jetzt weiß ich, woran du mich erinnerst“, rief das Kaninchen begeistert und warf dabei die Arme in die Luft. Lucita zog sich zurück und quetschte sich wieder durch die Menge. Als sie das Ende erreicht hatten, rief das Kaninchen: „Die sehen dir doch verdammt ähnlich. Natürlich, du guckst weniger gruselig, aber die Ähnlichkeit kann man nicht leugnen.“ Doch Lucita hörte dem Stoffkaninchen gar nicht richtig zu. Gedanken versunken ging sie die Straße weiter und bog, ohne es wirklich gemerkt zu haben, in eine Seitenstraße ab. Sie war verlassen und da nun keine Blicke mehr auf ihr ruhten, fühlte sie sich unglaublich erleichtert. Sie setzte das Kaninchen auf einem Fenstersims ab und sah es prüfend an. „Welchen Zweck erfüllen die Marionetten?“ „Mario … was?“, fragte das Kaninchen und seine Ohren hingen leblos an ihm herunter. „Marionetten, die Dinger, die bei der Parade marschiert sind“, erklärte Lucita verärgert. „Ach, du meinst die Schlafsender. Das sind die Krieger des Königs. Sie sorgen dafür, dass es keine Rebellenaufstände gibt und dass jede Regel befolgt wird. Die, die sich nicht daran halten, werden von den Schlafsendern in einen ewigen Schlaf versetzt.“ „Du meinst, sie werden getötet?“ Das Kaninchen sah Lucita bedrückt an, schüttelte dann aber den Kopf. „Wir sagen dazu ewiger Schlaf und du tust gut daran, es auch so zu nennen. Der Tod macht allen Angst und vielen geht es besser, wenn wir allein das Wort meiden.“ Nervös spielte es mit einer Naht, die über seinen Bauch ging. „Die Schlafsender sind brutal und sie kämpfen mit unfairen Mitteln. Wenn sie sich ein Opfer auserkoren haben, dann verfolgen sie es bis zum bitteren Ende. Nur während der Parade sind sie friedlich.“ „Willst du mir vielleicht jetzt deinen Namen verraten?“, fragte Lucita. Verwirrt von dem abrupten Themenwechsel sah das Stoffkaninchen Lucita erst einmal nur schweigend an, senkte dann aber einen Kopf. „Ich heiße Ochite.“ „Ochite“, wiederholte Lucita und versuchte sich den Namen einzuprägen. „Hör zu, ich gehöre nicht in diese Welt. Keine Ahnung wie ich hier her gelangt bin, aber ich muss wieder nach Hause. Meine Schwester und ich hatten einen Autounfall und ich muss wissen, wie es ihr geht. Gut, sie war nicht im Auto, aber vielleicht hat sie ja auch etwas abbekommen. Du lebst hier, also kennst du dich wahrscheinlich aus. Es muss einen Weg geben, wie ich wieder in meine Welt kommen kann. Du sagtest, dass ich dich beschützen soll und das kann ich nur, wenn du mich begleitest, also hast du keine andere Wahl.“ Sie beendete ihren Redefluss und sah Ochite gespannt an. Doch diese antwortete neugierig: „Was ist ein Auto?“ Mit der flachen Hand schlug sich Lucita gegen die Stirn. „Das ist ein Fahrzeug, womit wir Menschen uns von A nach B bewegen. Aber das tut jetzt nichts zur Sache. Weißt du, wie ich in meine Welt gelangen kann?“ „Ich nicht“, sagte das Kaninchen. „Aber ich kenne jemanden, der das weiß.“ „Bring mich zu dieser Person“, befahl Lucita. Ochite verzog ihr Gesicht, streckte dann aber wieder die Pfoten aus, damit Lucita sie tragen konnte. „Also, er ist etwas seltsam, wunder dich nicht.“ „Glaub mir, so schnell überrascht mich jetzt nichts mehr.“
Damit hatte sie sich wirklich getäuscht. Denn Ochite führte sie durch Straßen, deren Rand mit unheimlich kleinen und unheimlich großen Häusern voll gestellt waren. Zwar war Lucita neugierig, was für Wesen dort wohl leben würden, doch Ochite riet ihr ab, ihre Neugierde nachzugehen. Das Kaninchen führte sie über mehrere Plätze und durch viele Seitenstraßen. Einmal verliefen sie sich und fanden sich in einer dunklen Gasse wieder. Nach gefühlten Stunden bogen sie in eine weitere schmale Straße ein und Ochite flüsterte: „Wir sind da.“ „Warum flüsterst du?“, fragte Lucita verwundert. Sie mochte das Kaninchen gut leiden, auch wenn es etwas seltsam war. „Lass mich einfach runter“, raunte das Kaninchen und Lucita setzte es vorsichtig ab. Sofort rannte es davon, kam aber noch einmal zurück. „Du bleibst hier!“ Mit diesen Worten verschwand es wieder. Lucita verdrehte ihre Augen und lehnte sich gegen eine kalte Mauer, die doppelt so hoch war, wie sie groß war. Die Sonne versteckte sich nun schon hinter den Dächern der besonders großen Häuser. Binnen Minuten kam Ochite wieder, im Schlepptau hatte sie einen Fuchs. Er lief wie die anderen Tiere auf zwei Beinen. Sein rotbraunes Fell schimmerte in der Abendsonne und seinen Oberkörper hatte er mit einer Lederjacke versteckt. „Das ist Lucita“, sagte Ochite und zeigte auf das braunhaarige Mädchen. „Es freut mich dich kennen zu lernen“, sagte der Fuchs mit seiner tiefen Stimme und nickte ihr höfflich zu. Lucita erwiderte das Nicken und beinahe kam es ihr so vor, als würde sie mit einem Menschen reden. „Mein Name ist Astis von Mohamu.“ „Die Mohamus waren früher eine reiche Familie“, erklärte Ochite. „Aber der König verboten ihnen ihren Laden weiter zu führen und jetzt verkauft Astis seine Ware in den Straßen – illegal versteht sich.“ „Es freut mich ebenfalls, Astis“, erwiderte Lucita und lächelt den Fuchs an. „Sie können mir also helfen, meinen Weg nach Hause zu finden?“ „So etwas in der Art“, sagt der Fuchs und fuhr sich mit seiner Pfote über das Fell zwischen seinen schwarzen Ohren. „Ich kann dir helfen den Weg zu finden, aber nicht das Ziel.“ Lucita öffnete den Mund um etwas zu sagen, klappte ihn aber wieder zu. „Ich sehe schon, du verstehst nicht was ich meine“, lachte der Fuchs. „Sie ist eben eine Andernweltlerin“, grinste Ochite. „Weißt du was meine Familie verkauft hat, bevor der König unseren Laden schließen ließ?“ „Woher sollte ich das wissen?“, frage Lucita. „Kompasse“, rief das Kaninchen und sprang dabei fröhlich in die Luft. Nun lachte Lucita auf, was die beiden Tiere verstummen ließ. „Aber Kompasse zeigen doch immer nach Norden, wie sollen sie mich dann nach Hause führen?“ „Nicht die der Mohamu“, erwiderte Astis. „Wir bauen besondere Kompasse, die nicht nach Norden zeigen. Zum Beispiel diese hier.“ Er holte einen grünen Kompass aus seiner Jackentasche. „Dieser bringt dich zu der Person, die dir am wichtigsten ist. Oder dieser hier.“ Nun holte er einen silbernen aus der anderen Jackentasche. „Dieser führt dich zu dem Ort an dem dein Seelenpartner wartet.“ „Und das funktioniert?“, fragte Lucita skeptisch und musterte die Kompasse. „Bis jetzt hat sich keiner unserer Kunden beschwert. Zu deinem Glück habe ich einen Kompass, der dir helfen könnte. Er wurde für Reisende angefertigt, die von ihrem Weg abgekommen sind. Er führt sie zu dem Ziel, nachdem sie sich sehnen.“ Astis zog einen Kompass aus der Innentasche seiner Jacke. Er war dunkelbraun, alt und erinnerte Lucita an einen alten Piratenfilm. Sie nahm ihn in die Hand und klappte den Deckel hoch. Die rote Nadel zuckte und drehte sich sofort nach Westen. Ochite war an Lucitas Rücken hochgeklettert und schaute über ihrer Schulter auf den Kompass. „Interessant. Er zeigt in die Richtung von Chin-Chins Gärten.“ „Wer ist Chin-Chin?“, fragte Lucita. „Er war zu seiner Zeit der König unseres Landes. Nach seinem Tod trat sein Sohn die Thronfolge an und unser Land wurde fortan unterdrückt“, sagte Astis. „Die Schlafsender gab es zu Chin-Chins Zeit noch nicht.“ „Astis, begleitest du uns?“, fragte Ochite und ihr Bommelschwänzchen begann zu wedeln. „Warum sollte ich?“ Verdutzt blickte er das Kaninchen an. „Weil du während unserer Reise neue Kunden gewinnen könntest.“ „Punkt für das Kaninchen“, erwiderte er und gab ein helles Lachen von sich. „Wartet hier, ich geh noch eben ein paar Kompasse holen. Schließlich muss ich gegen alles gewappnet sein.“ Mit diesen Worten verschwand er, tauchte wenig später jedoch wieder auf. Belanden mit einem Rucksack, der bis oben hin gefüllt war. Auf Lucitas fragenden Blick hin antwortete er: „Die Reisenden brauchen alles Mögliche und ich muss ja so viel wie möglich verkaufen. Deinen leihe ich dir übrigens nur, also denke nicht, dass du einen besonderen Status genießt.“ „Werde ich nicht, keine Sorge“, antwortete Lucita und sah wieder auf die rote Nadel des Kompasses. „Sind auch im Westen diese Schlafsender?“ Ochite, die es sich auf Lucitas Schulter bequem machte, antwortete: „Doch natürlich. Dort sind sie sogar noch am schlimmsten.“ Gemeinsam gingen sie los, Richtung Westen. „Wohnt dort nicht auch irgendwo der Herzog?“, fragte Astis voller Hoffnung. „Das schon“, antwortete Ochite. „Aber wann verlässt der schon sein Anwesen? Dafür ist er viel zu sehr mit seinen drei Frauen und den sechsundzwanzig Dienern beschäftigt.“ Seufzend nickte Astis und übte sich in Schweigen. Lucita genoss die Ruhe und folgte konzentriert den Weg, den ihr der Kompass wies. Auf ihre Umgebung achtete sie wenig, ebenso wenig auf das Gespräch, welches Ochite wieder mit Astis angesetzt hatte. Auf einmal schlug die Nadel abrupt nach Norden und Lucita bog scharf ab, sodass Ochite beinahe von ihrer Schulter rutschte. „Warum änderst du die Richtung?“, schrie sie und klammerte sich um Lucitas Hals. „Wegen dem Kompass“, antwortete diese und wedelte mit dem Holzkästchen vor den Knopfaugen des Kaninchens herum. Dieses gab eine Art murren von sich und rückte sich wieder in der Beuge von Lucitas Schulter zurecht. „Wir haben den Garten erreicht“, reif Astis aus und deutete mit dem Kopf auf eine Mauer, dessen Gestein mit goldenen Schlieren überzogen war. Die Spitzen von Bäumen und von hoch gewachsenen Sträuchern waren zu sehen. „Was sagt der Kompass?“ „Westen“, antwortete Lucita. „Schade, wir müssen nicht durch den Garten“, seufzte Ochite und sah sehnsüchtig zu den Mauern. „Aber wenn wir weiter nach Westen laufen, dann müssen wir in die Wälder. Lucita, dort verstecken sich die Schlafsender.“ „Wollt ihr nicht mitkommen?“, fragte sie mit hochgezogenen Augenbrauen. Sie hatte Gefallen an den beiden gefunden und würde es traurig finden, wenn die beiden wirklich gehen wollten. Doch zu ihrer Überraschung schüttelten beide ihren Kopf. „Wir begleiten dich“, sagte Astis mit geöffneter Schnauze und hochgezogenen Lefzen, was wohl ein Lächeln darstellen sollte. „Ein kleines Wesen wie du würde sich den Tod in diesem Wald holen und irgendwie muss ich ja meinen Kompass wieder bekommen.“ Kurzerhand schenkte Lucita ihm eine Umarmung. Doch dieser Wich mit einem grellen Schrei zurück und begann mit den Pfoten hektisch über das berührte Fell zu streichen. „Oh mein Gott, oh mein Gott“, wimmerte er und leckte sich über die Pfoten, um sie danach wieder über das Fell streichen zu können. „Er hat Berührungsängste“, erklärte Ochite, während Lucita vollkommen verwirrt da stand und den panischen Fuchs anstarrte. „Es wäre besser, wenn du ihn nicht mehr umarmen würdest. Wenn es ganz schlimm ist, dann beißt er sogar.“ „Also reise ich mit einem obdachlosen Stoffhasen und einem Kompass verkaufenden Fuchs, der Berührungskomplexe hat? Na das kann ja noch lustig werden“, sagte Lucita niedergeschlagen und ihr Blick wanderte wieder auf den braunen Kompass. „Vergiss nicht die Schlafsender, die dich im Wald erwarten und vielleicht töten könnten.“ Ochite wackelte ungeduldig auf ihrer Schulter herum, während sie sich an den braunen Locken festhielt. „Die werden dir, wenn sie können, die Eingeweide rausreißen.“ „Das klingt ja fast so, als würdest du darauf hin fiebern“, brummte Lucita. Doch Ochite schüttelte ihren Kopf, sodass ihre Ohren schlackerten. „Nein, ich bin nervös, weil so eine Angst habe. Die Schlafsender haben uns bei der Parade angesehen und das verheißt oft nichts Gutes. Wenn sie uns zu ihren Opfer auserkoren haben –“ „Dann sind wir tot“, beendete Lucita ihren Satz und fuhr sich mit der Hand durch ihr Haar. „Aber wir bekommen das hin. Astis, hast du keinen Kompass, der uns um die Schlafsender herum führt?“ Der Fuchs dachte einen Moment lang nach. „Nein, wir hatten zwar versucht so einen zu bauen, aber leider gelang uns das bislang noch nicht. Aber ich schwöre dir, irgendwann werden wir auch die verkaufen können und dann ist unsere Familie wieder wohlhabend.“ Lucita gab einen lang gezogenen Seufzer von sich. Natürlich wünsche sie Astis, dass seine Familie wieder den verdienten Wohlstand erlangen würde, doch ihre Gedanken kreisten einzig um die Gefahr, die im Wald lauerte. Auch wenn dies ein Traum war – da war sie sich hundertprozentig sicher – so wusste sie nicht, was mit ihrer Seele passieren würde, wenn sie hier sterben würde. Mit einer tiefen Angst vor dem Ungewissen, betrat sie den Wald, welcher direkt an der Mauer des Gartens von Chin-Chin angrenzte. Die Bäume, welche gekrümmt über ihre Köpfe empor ragten, schienen jegliches Licht zu verschlucken und somit wurde es sogleich einige Grad kälter. Lucita begann zu frösteln, doch der Fuchs und das Stoffkaninchen blieben unbeeindruckt. Ihr Blick fiel auf die Bäume, deren Blätter höchst eigenartig waren. Sie hatten etwa den Durchmesser von vierzig Zentimeter und schimmerten in einem dunklen Grün, das schon fast ins Schwarz überging. Feine Äderchen leuchteten Hellgrün. Das einzige Licht wurde von gelben Kügelchen abgegeben, welche gleichmäßig in der Luft umher tänzelten. „Was sind das für Dinger?“, fragte Lucita und deutete auf eine besonders große Kugel, mit etwa drei Zentimetern, „Das sind bloß Pickies. Echt nervige Viecher“, schnaubte der Fuchs und fegte drei von den Pickies von seiner Schulter hinunter. Lucita ließ eines davon auf ihre Hand sinken und musterte es ausgiebig. Wie Glühwürmchen waren sie bloß Insekten. Doch leuchtete nicht nur ihr Hinterteil, sondern ihr ganzer Körper. Sie hatten verhältnismäßig große Augen, in denen die schwarzen Pupillen hin und her wackelten. Zwei lange Fühler schossen aus ihren Köpfen und auch die runden Spitzen dieser Fühler leuchteten in diesem hellen Gelb. Der Pickie auf ihrer Hand grabbelte zu ihren Finger hoch und begann an den abgestorbenen Hautzellen zu knabbern. Es kitzelte ein wenig, weswegen Lucita zu kichern begann. Ochite murrte skeptisch: „Pass auf, manchmal futtern sie auch gesunde Haut und sie übertragen Krankheiten.“ Als wäre dies eine tödliche Beleidigung gewesen, erhob sich der Pickie und schwirrte beleidigt davon. „Lasst uns am Besten weiter gehen“, drängte Astis. „Sonst spüren uns noch die Schlafsender auf. Lucita, in welche Richtung müssen wir?“ Lucita sah auf ihren Kompass und deutet den Weg vor ihnen entlang. „Westen. Was werden wir dort finden?“ Astis zuckte mit seinen Schultern. „Ich weiß nicht so recht, schließlich war ich vorher noch nie im Wald. Die Mohamu sind schon immer Stadtliebhaber gewesen und haben sie seit vielen Königsleben nicht mehr verlassen.“ „Ich war nur einmal hier, weil ich dachte, dass hier wenig Stadtbewohner sind und mein Bau und ich vielleicht sicher wären, aber die Schlafsender haben mich vertrieben. Aber wenn ich mich recht erinnere“, sagte Ochite und fuhr sich mit der Pfote über das Kinn. „dann war hier in der Nähe der Platz der tausend Seelen.“ Astis schlug sich mit der Faust in die flache Hand. „Stimmt, jetzt wo du es sagst, Ochite. Beim Chin-Chin, den habe ich ja ganz vergessen. Dort haben viele Könige Erleuchtung gefunden. Dort sprechen die Toten zu einem.“ Die letzten Worte flüsterte er, denn immer mehr Pickies kamen näher, um den Worten des Fuchses zu lauschen. Sie schwirrten um seinen Kopf herum und versuchten Hautzellen aus seinem Fell zu zupfen. Astis geriet in Panik und schrie: „Sie wollen mich anfassen, Ochite, mach doch etwas!“ Ochite seufzte und sprang von Lucitas Schulter auf den Rücken des Fuchses. „Hey, Pickies, dieser Mensch hat noch mehr Futter. Auf ihrem Kopf, jaah, ich habe sie gesehen!“ Sie zeigte auf Lucita und sofort stürmten die gut dreißig Pickies auf sie zu. Sie klammerten sich an ihren Haaren fest und zupften die abgestorbenen Hautzellen heraus. „Wie cool ist das denn?“, lachte Lucita und versuchte die Pickies mit ihrem Blick erhaschen zu können. Doch da sie schließlich auf ihrem Kopf waren, konnte sie kaum etwas sehen. „Können wir nun bitte weiter gehen“, drängte Astis und auch Ochite wirkte ängstlicher als zuvor, während sie sich von den Rücken des Fuchses hangelte und wieder zu Lucita hoppelte. Diese nahm sie wieder auf den Arm und half ihr nickend auf ihre Schulter. Gemeinsam gingen sie den schmalen Pfad weiter, begleitet von den Pickies, als wollten sie ihnen, wie der Kompass, den Weg weisen. „Südwest, Norden, Westen.“ So ging es noch eine Zeit lang, bis die Bäume nicht mehr so dicht standen. Viele lagen, aus dem Boden gerissen, auf dem Pfad. Nachdem sie über einen besonders breiten Stamm geklettert waren, breitete sich vor ihnen ein großer Platz aus. Er war mit hellem Gestein gepflastert. Säulen aus dem gleichen hellen Gestein ragten gen Himmel. Mitten auf dem Platz stand ein kleiner Brunnen. Das Wasser war unnatürlich Blau, fast wie der Himmel an einem sonnigen Tag. Die Pickies reihten sich am Rande des Platzes zu einem Ring auf und tänzelten still vor sich hin. Astis und Ochite sahen sich ebenso erstaunt um wie Lucita. „Wie schön“, sagte sie und ihre grünen Augen begannen vor Begeisterung zu leuchten. „Schade dass hier keine Reisenden sind. Hier etwas verkaufen zu können wäre bestimmt eine ganz besondere Erfahrung gewesen“, sagte der Fuchs mit seinem seltsamen Grinsen, während sein Schweif zu wedeln begann. „Gut, dass Sie gekommen sind.“
„Was?“, sagte Lucita und sah sich verwirrt auf dem Platz um. „Es hat keiner etwas gesagt“, erwiderte Ochite verwundert und rutschte auf ihrer Schulter hin und her. „Ja, ich hatte das Gefühl, dass ich kommen müsste.“
„Da hat doch jemand etwas gesagt.“ Lucita sah sich wieder um, doch sie waren alleine. Die Stimme kam ihr so unglaublich bekannt vor, dass ihr Herz einen schmerzhaften Sprung machte. „Ist denn etwas mit meiner Tochter passiert?“
„Oh ja, sie zeigt nun endlich Reaktion auf ihre Umgebung.“
„Ich versteh das nicht“, rief Lucita und drehte sich um sich selbst. „Warum höre ich die Stimme meiner Mutter?“ „Ich höre nichts“, entgegnete Astis und verschränkte seine Arme. „Was für eine Veränderung?“ „Der Herzschlag verschnellt sich, Beispielweise. Genaueres weiß ich jedoch auch nicht, da müsste sie den Doktor fragen. Ich werde ihn gleich zu Ihnen schicken“.
Kurz herrschte Stille, bis die Stimme wieder ertönte. „Lucita, meine kleine Tochter. Wach doch bitte wieder auf. Wir vermissen dich alle so sehr. Selbst deine Tante ist aus Spanien angereist.“
„Mama“, wisperte Lucita und Tränen rannen über ihre Wange. „MAMA!“ „Mein armes Kind. “
Die Trauer aus der Stimme ihrer Mutter war deutlich zu heraus zu hören. „Da ist doch niemand“, sagte Ochite vorwurfsvoll. „Wieso rufst du nach deiner Mutter?“ „Lucita, du verpasst so viel im Moment. Bitte, wach doch aus dem Koma auf.“
Weinend sank Lucita auf die Knie. Tränen über Tränen rollten über ihre Wangen. „Ich tu doch was ich kann, ich tu doch was ich kann“, schluchzte sie. Mit ihren Fingernägeln hatte sie sich in ihren Knien festgekrallt. Dass Ochite und Astis verwirrt auf sie einredeten bekam sie kaum mit. Einzig die Stimme ihrer Mutter hallte in ihrem Kopf wieder. „Ich vermisse dich, mein Schatz.“
Ein lautes Krachen ertönte und sofort lösten die Pickies den Kreis und schwirrten davon. „Oh-oh“, rief Ochite und schlug sich die Pfoten vor den Mund. „Das sind die Schlafsender!“ Sie hatte recht. Drei Marionetten kämpften sich zwischen den dichten Bäumen hindurch, rissen sie aus der Erde und ließen sie einfach auf den Boden fallen. Ihr Mund klappte auf und wieder zu, während ihre großen Kulleraugen Lucita und ihre Reisegefährten fixierten. Wankend kamen sie auf den Platz und sofort verstummte die Stimme von Lucitas Mutter. „Wie besiegt man am Besten einen Schlafsender?“, fragte Lucita mit zitternder Stimme. Ihr Herz raste und ihre Augen tasteten jeden Winkel ab, auf der Suche nach einem möglichen Fluchtweg. „Wenn man eine gute Kampfausbildung genossen hatte“, antwortete Astis mit ebenso angsterfüllter Stimme. „dann hat man gute Chancen, aber wir … nun ja, wir sind wie Gras.“ „Was?“, rief Lucita und sah ihn verständnislos an. „Leichte Beute“, erklärte Astis und zuckte mit seinen Schultern. „Ist doch offensichtlich.“ Ein eiskalter Schauer lief über Lucitas Rücken, während sich die Schlafsender näherten. Der starke Geruch von gesundem Holz und ammoniakhaltiger Farbe stieg ihr in die Nase und ließ sie würgen. Da sie nun sicher war, dass dies bloß ein Traum war, bangte sie nicht um ihr Leben. Doch die kalten Klauen der Angst hatten sie fest im Griff. Was würde nun mit ihr passieren? „Lucita, nun mach doch was!“, kreischte das Stoffkaninchen und hüpfte panisch im Zick Zack umher. „Wir werden sterben. Wir sind zu Tode verurteilt!“ „Astis, hast du irgendeine Waffe dabei?“, fragte Lucita, bereit zum kämpfen. Vielleicht konnte sie nicht sterben, aber das Stoffkaninchen und der Fuchs konnten es. Auch wenn sie nicht real waren, so würde sie deren Tod nicht ertragen können. Nicht, solange sie eine minimale Chance hatte dies zu verhindern. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, als Astis mit geweiteten Augen den Kopf schüttelte. „Ich habe nur Kompasse bei mir“, sagte er und wich dabei mehrere Schritte zurück. Der erste Schlafsender streckte seine hölzerne Faust nach den dreien aus und hätte dabei fast Lucita erschlagen. Mit einem Hechtsprung konnte sie sich retten, landete jedoch unsanft auf dem weißen Gestein. Sofort setzte der Schlafsender für einen neuen Angriff an. Er machte einen wackeligen Schritt vorwärts und zertrat dabei fast Ochite. Doch hoppelte sie mit großen Sprüngen zum anderen Ende des Platzes und versuchte sich hinter einer der Säulen zu verstecken. „Habt ihr Mistkerle denn gar keine Scharm mehr?“, rief Astis währenddessen wutentbrannt. „Dies ist ein heiliger Ort, für Könige und Untertanen. Wie könnt ihr es wagen ihn bereitwillig zu zerstören?“ Seine Pfote hatte er zu einer Art Faust geballt und streckte diese kämpferisch in die Luft. Lucita zerrte an seinem Rucksack, damit er aus der Reichweite des ersten Schlafsenders treten konnte. „Provoziere sie doch nicht noch mehr“, flehte sie. „VORSICHT!“, schrie Ochite. Doch konnten die beiden nicht mehr reagieren, bevor die Hand eines weiteren Schlafsenders sie traf und quer über den Platz schleuderte. Lucitas Körper schlug gegen den Brunnen und für wenige Sekunden verlor sie ihr Bewusstsein. Vor Schmerz hustend kam sie wieder zu sich und rappelte sich schwankend auf. Die Schlafsender versuchten Ochite zu erwischen, welche im Zick Zack zwischen deren Beine hoppelte. Mit angsterfüllten Augen versuchte sie sich vor den großen Händen und den noch größeren Füßen zu retten. Astis kauerte zwischen zwei Säulen und sammelte unzählige Kompasse ein, die aus seinem Rucksack gefallen waren. Einer der Schlafsender hatte sich mit seinen Händen an den Beinen eines anderen Schlafsenders verfangen und stürzte mit einem lauten Knall zu Boden. Sein Mund klappte unkontrolliert auf und zu, während er sich am Boden wand. Das Holz an seinen Armen war zersplittert. Das Kreischen von Metall auf Metall erklang und sofort sank der zweite Schlafsender zu Boden. Gefolgt von den abgetrennten Armen. Verblüfft blieb Ochite stehen und sah mit zuckendem Bommelschwanz die Überreste der Marionette an. Eine schlanke Gestalt kam wie aus dem Nichts und landete zwischen Lucita und dem letzten Schlafsender. Es stand mit dem Rücken zu ihr, weswegen sie nicht wusste wen sie vor sich hatte. Die Gestalt trug einen purpurfarbenen Umhang und einen schwarzen Zylinder. In seiner mit Handschuhen eingekleideten Hände hielt er sein Schwert. Noch bevor Lucita sich die Gestalt weiter ansehen konnte, rannte sie auch schon wieder los und sprang in eine unglaubliche Höhe, holte mit dem Schwert aus und schlug zu. Dem Schlafsender wurde der erste Arm abgetrennt und sofort gewann er an Schlagseite. Schwankend und mit dem anderen Arm rudernd, versuchte er sein Gleichwicht zu halten. Die Gestalt schlug mit dem Schwert auf sein Bein ein und sofort stürzte der Schlafsender zu Boden, noch immer mit dem Arm rudernd. Nachdem der aufgewirbelte Staub in alle Richtungen verschwand, stand die Gestalt alleine, mit gezogenem Schwert da. Den Zylinder schob sie nach oben. „Das ist ja der Herzog“, rief Ochite und sah ihn mit weit geöffnetem Mund an. Lucita nahm ihn nun wieder in Augenschein. Unter seinem Umhang lugte ein brauner Katzenschwanz hervor. Neben dem Zylinder stachen zwei ebenso braune Katzenohren in den Himmel. Je höher er den Zylinder schob, desto besser konnte sie sein Gesicht sehen. Es war das einer Katze, mit tiefgrünen Augen. Lange, weiße Schnurhaare wuchsen aus seinen Lefzen. „Astis, mein guter Freund“, sagte er mit einer flüssigen Stimme, die an Honig erinnerte. Elegant stolzierte er über den Platz und half dem Fuchs auf die Beine, da er noch immer Kompasse am auflesen war. Dabei achtete der Herzog darauf nicht sein Fell zu berühren. „Viel zu lange trafen sich nicht mehr unsere Wege.“ Astis lachte auf und hob den letzten Kompass auf, bevor er seinen Rucksack wieder schulterte. „Ihr sagt es, Nesbitt.“ „Danke Herzog“, rief das Kaninchen und hüpfte aufgeregt um den Herzog herum, wie der Mond die Erde umkreist. „Danke, dass Ihr uns das Leben gerettet habt. Nur Ihr traut Euch, Euch mit den Schlafsendern anzulegen. Ihr seid ja so mutig.“ Der Herzog lachte auf und ließ sein Schwert in die Scheide gleiten, welche sich als Gehstock entpuppte. „In Zeiten wir unserer muss man doch den anderen helfen.“ Sein Blick fiel auf Lucita, die noch immer vor dem Brunnen kauerte. „Na wer ist das denn?“ „Das ist Lucita“, erklärte Astis sachlich. „Sie ist eine Andernweltlerin und sie sucht den Weg aus unserer Welt hinaus.“ Mit Schmerz verzogenem Gesicht richtete sich Lucita auf und ging zögernd auf die drei Bewohner dieser Welt zu. „Guten Tag“, sagte sie und biss sich daraufhin auf die Unterlippe. Herzog Nesbitt verbeugte sich höflich und musterte sie ausgiebig. „Du reist mit einem von Astis’ Kompass?“ Lucita nickte bloß als Antwort und zeigte ihm das Holzkästchen. Er nahm es in seine Hand, die, wie Lucita beim näher hinsehen erkannte, eigentlich eine Pfote war. „Interessant. Astis, was ist die Aufgabe dieses Meisterwerks?“ „Er führt einem zu dem Ziel, nach welchem man sich am meisten sehnt“, erklärte der Fuchs. „Verstehe“, sagte der Herzog und gab Lucita den Kompass zurück. „Wenn du in deine Welt zurück willst, dann musst du bestimmt zu den Eulenbögen.“ Ochite hörte auf um ihn herum zu hüpfen und begann ihn anzustarren. „Die Eulenbögen?“ Astis räusperte sich und erklärte: „Diese Bögen sollen, so laut den Wächtern der Tempel, Wesen in eine fremde Welt führen können. Es gibt da nur einen Harken, sie müssen würdig für diese Reise sein. Ansonsten werden ihre Körper von den Geistern der Zeit verstümmelt. Lucita, in welche Richtung zeigt dein Kompass?“ „Nach Süden.“ „Dort befinden sich die Bögen“, sagte er Herzog und stützte sich auf seinen Gehstock. Lucitas Blick huschte zwischen dem Herzog und Astis hin und her. „Das heißt, entweder gelang ich in meine Welt zurück, oder ich kratzte ab?“ „Richtig“, sagte der Herzog. „Einen anderen Weg scheint es wohl nicht zu geben“, warf Ochite ein und kletterte wieder auf Lucitas Schulter. „Der Kompass ist wohl auch der Meinung, dass du dort hin musst. Aber es sieht so aus, dass er dich für würdig hält.“ „Ich werde euch zu den Engelsbogen führen. Der Wald ist tückisch und da ich förmlich hier lebe, kenne ich mich gut aus“, sagte der Herzog und schenkte Lucita ein aufmunterndes Lächeln. „Was werden Eure Frauen davon halten, wenn Ihr Euch nicht in Eurem Anwesen aufhaltet?“ Der Herzog begann zu lachen: „Sie werden froh sein auch mal ihre Ruhe zu haben.“ Nun zu viert verließe sie den Platz. Lucita mit einem wehmütigen Gefühl, da sie gerne noch Mal die Stimme ihrer Mutter gehört hätte. Immer wieder erkundigten sich der Herzog oder Astis nach dem Kompass und jedes Mal zeigte er in die Richtung, in der der Eulenbogen lag. Ochite hatte angefangen ein Reiselied zu singen, in welches der Herzog fröhlich mit einstimmte. Pickies gesellten sich vereinzelt zu ihnen und erhellten mit ihrem Licht die dunklen Stellen des Waldes. Nach gefühlten Stunden lichteten sich die Bäume und die Pickies zogen sich wieder tänzelnd in die Tiefen des Waldes zurück. Der Schotter wechselte zu einem gepflasterten Weg und der vertraute Geruch von Feuer streichelte Lucitas Nasenflügel, welche sie genüsslich aufblähte. Die Sonne war hinter dem Horizont verschwunden und der Himmel färbte sich in ein tiefes Azurblau. Die Mondsichel leuchtete hell und wirkte unnatürlich groß. Nachdem sie den Wald verlassen hatten, ragten nur noch vereinzelt Bäume neben dem Weg gen Himmel. An ihren dicksten Ästen hingen Laternen, welche sich, wie Ochite erklärte, bei Einbruch der Dunkelheit selbst entzündeten. Lucita war mehr als fasziniert. Ihr Herz machte einen schmerzhaften Sprung, als am Horizont ein großer, weißer Bogen auftauchte. Je näher sie kamen, desto besser konnte man die vereinzelten Verziehrungen und Statuen sehen, die diesem Ort eine gewisse Magie verliehen. Zwei Eulen – wie alle anderen Tiere standen sie aufrecht da –, mit jeweils einem Buch in den Flügeln und schlaffen Umhängen, standen wie Wächter wenige Meter vor dem Bogen. Dass helle Marmor schimmerte, sobald ein vereinzelter Pickie an ihm vorbei schwirrte. „Wir sind da“, sagte Herzog Nesbitt mit einem freundlichen Lächeln zu Lucita. Dieses hatte ihren Griff um den Kompass krampfhaft verstärkt, dessen Nadel starr auf den Bogen zeigte. Am Eulenbogen wuchsen Kletterpflanzen empor, weswegen dass weiße Marmor an manchen Stellen kaum noch zu sehen war. Bloß der höchste Punkt des Torbogens, wo eine kleine Statue einer weiteren Eule saß, war nicht von der Pflanze befallen. „Du musst einfach durch den Bogen gehen und dann bist du auch schon in deiner Welt“, erklärte Astis. Der Herzog hob Ochite von Lucitas Schulter, doch sträubte sich diese zunächst. Versuchte eine von Lucitas braunen Haarsträhnen zu packen. „Ich will nicht dass du gehst, schließlich habe ich noch immer kein zu Hause“, klagte das Stoffkaninchen. Der Herzog leckte sich mit seiner rauen Zunge über die Lefzen und musterte Ochite. „Du bist ohne Bleibe?“, fragte er, woraufhin Ochite unterwürfig nickte. „In meinen Länderreihen solltest du genug Platz für einen Bau haben und in den Feldern meines Anwesens kannst du dir Futter suchen. Ergo, warum lebst du nicht bei mir?“ Lucita begann frohgestimmt zu lächeln. „Siehst du, jetzt hast du ein zu Hause gefunden. Meine Schuld ist somit beglichen.“ Nun stand ihrer Abreise aus dieser bizarren Welt nichts mehr im Wege. Doch überkamen sie auf einmal Zweifel. War dies wirklich der Weg aus dem Koma heraus? Oder würde sie in einem neuen Traum landen? Ihr Herz schlug wie wild, als wolle es ihre Rippen zerbarsten. Ihre Kehle fühlte sich augenblicklich staubtrocken an und der Schweiß stand auf ihrer Stirn. „Ich kann das nicht“, keuchte sie schließlich und wich einen Schritt zurück. Der Herzog legte seine Hand auf ihre Schulter und lächelte sie aufmunternd an. „Du schaffst das. Denk dran, du willst in deine Welt zurück und das ist der einzige Weg.“ „Zumindest laut dem Kompass“, warf Lucita sofort ein. „Die Kompasse lügen nicht und verheimlichen auch nichts“, sagte Astis trotzig, als hätte sie ihn gerade beleidigt. Lucita sog die Luft scharf ein, bevor sie zögernd zum Eulenbogen trat. Ihr Herzschlag dröhnte in ihren Ohren und ihr Kopf schien leer zu sein. „Warte“, rief Astis und Lucita wirbelte hoffnungsvoll herum. „Du hast noch meinen Kompass.“ Etwas enttäuschte reichte sie ihm das Holzkästchen und warf Ochite einen kurzen Blick zu. Diese schaute auf ihre Hinterpfoten, welche mit ihren Spitzen leise auf dem Boden tippten. Langsam hob sie ihren Blick an. „Schade, dass du jetzt gehe musst, ich habe dich irgendwie lieb gewonnen und so hässlich bist du eigentlich gar nicht. Ich mein, wenn man dich länger Betrachtet “, sagte sie schließlich mit trauriger Stimme. Lucita ging vor ihr auf die Knie und hauchte dem Kaninchen einen sanften Kuss zwischen den Ohren. „Ich werde dich auch vermissen“, sagte sie und richtete sich wieder auf. Der Herzog hatte zwei Schritte auf sie zu gemacht und lächelte sie schon fast väterlich an. „Ich wünsche dir eine gute Reise, Lucita. Es war uns eine Freude, dich auf deiner Reise begleiten zu können.“ Leicht verneigte er sich, bevor er wieder zurück trat. Lucita verneigte sich ebenfalls. „Auf Wiedersehen“, sagte sie und hob ihre Mundwinkel zu einem eher Mitleid erregenden Lächeln an. „Ich geh dann jetzt.“ Ihre Stimme bebte mittlerweile. Auch wenn sie bloß wenig Zeit mit den dreien verbracht hatte, so hatten sie ihr in vieler Hinsicht das Leben gerettet und ihr Herz gewonnen. „Ich hoffe, dass die Reise in unsere Welt dir geholfen hat, zu dir selbst zu finden“, sagte Astis und verabschiedete mit seinem seltsamen Lächeln und einem höflichen Kopfnicken. Lucitas Mundwinkel zuckten und ein leises Auflachen entfuhr ihr. „Ja, so könnte man das auch nennen“, sagte sie und lächelte den Fuchs an. „Es freut mich, dass ich euch alle kennen lernen durfte. Ihr seid einfach wundervoll und danke, danke dass ihr mir geholfen habt meinen Weg zu finden. Meinen Weg durch das Irgendwo.“ Mit langsamen Schritten ging sie auf den Eulenbogen zu. „Komm uns irgendwann mal wieder besuchen“, sagte nun der Herzog. „Ich werde es versuchen“, erwiderte Lucita, welche nun unmittelbar vor dem Bogen stand. Die Landschaft, die sich hinter ihm erstreckte, begann zu verschwimmen. „Auf Wiedersehen“, sagte sie noch einmal und durchschritt dann das Tor. Alles um sie herum verblasste und wurde zu einem tiefen Schwarz. Doch bevor sie einen klaren Gedanken fassen konnte, erhellte sich alles um sie herum wieder. Ihr Körper fühlte sich auf einmal unglaublich schwer an, als würde etwas auf ihr liegen. Um sie herum war zwar noch alles unscharf und dennoch konnte sie aus dem Augenwinkel heraus rechts von sich ein Fenster identifizieren. Mehrmals musste sie blinzeln bis alles um sie herum an Schärfe gewonnen hatte. Das breite Gesicht mit der olivfarbenden Haut ihrer Mutter kam in ihr Blickfeld. Lucitas Herz machte einen freudigen Sprung und ihre Mundwinkel zuckten nach oben. Hinter ihrer Mutter saß Melena. Ihr zuvor langes Haar war nun zu einem Pixie geschnitten und sie sah älter aus, als Lucita sie in Erinnerung hatte. „Hallo, mein Schatz“, sagte ihre Mutter und strich ihr mit ihren langen Fingern übers Haar. Vereinzelte Tränen liefen über ihre Wange. „Endlich bist du wieder aufgewacht.“
Tag der Veröffentlichung: 19.08.2012
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