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Unsere Geschichte trug sich in einer kalten Frühlingsnacht zu. Eine schwarze Wolke hüllte das neutrale Tal des Kaiserreichs ein und der Regen durchdrang bloß nach und nach die vertrockneten Erdplatten. Da die Menschen sich bei solch einem Wetter in ihre Häuser zurückzogen und um die warmen Feuerstellen scharten, bemerkte keiner, wie eine fremde Gestalt durch die Straßen ihres Dorfes schlich. Manch einer glaubte, das leise Läuten von Glöckchen vernommen zu haben, andere wiederum wollten schwere Schritte, wie die eines Riesen gehört haben. Wessen Ohren sich nun am wenigsten getäuscht hatten konnte nie bestätigt werden. Erst am nächsten Tag, als der Regen überraschend aufgehört und die Sonne sich einen Weg durch die Wolkenmassen gebahnt hatte, wurde es gefunden. Das Kleine, was der Besucher zurückgelassen hatte, hatte eine seltsame Narbe am linken Bein. Ihre Wade umfasste ein roter Drache mit geöffnetem Maul, spitzen Zacken auf dem Rücken und Schnurhaaren, die fast bis zu ihrem Knie gingen. Der Tempelwächter nannte es das Kind des Huǒyàn.

 

„Herzchen, du siehst wirklich wunderschön aus“, quiekte Xiaoquin und biss sich vor Freude auf die Unterlippe. Mit der Bürste aus Knochen in der einen Hand und unzähligen Bändern in der anderen zwinkerte sie Sulin zu. Diese strich sich eine ihrer weißen Haarsträhnen aus dem Gesicht und betrachtete sich skeptisch. Aber auch sie musste einsehen, dass sie in der Seidenrobe nicht mehr diesen verkommenen Eindruck hinterließ, wie es sonst der Fall war.

„Ihr hättet dies nicht tun müssen“, sagte sie, während sie sich von dem Stuhl erhob. Sie wandte sich Xiaoquin zu und verbeugte sich so tief, wie es ihr nur möglich war.

Heute war ein ganz besonderer Feiertag und die Zeremonie am Tempel stand kurz bevor. Die Dorfbewohner kleideten sich in wertvolle Seidenroben, die Haare der Frauen wurden kreativ hochgesteckt und ihre Gesichter mit Farbe und Ochsenblut bemalt. Die Männer trugen ihre Haare offen, wie es selten der Fall war, und nur für diesen Tag ließ man die Feldarbeit ruhen.

Obwohl der Kaiser die Huldigung des Drachengottes Huǒyàn verboten hatte und jegliche Niederschriften des zu früheren Zeiten hoch angesehenen Gottes vernichtet hatte, so hielt dieses Dorf weiterhin an seinem Gott fest. Er war säte Hoffnung und aus dieser keimte die Lebenslust, welche der Krieg den Menschen zu entreißen versuchte. Denn Rebellen kämpften um den Tod des Kaisers, welcher sich mit all seinen Soldaten dagegen zu wehren versuchte.

Xiaoquin berührte Sulin an der Schulter und schob diese in die Höhe, bis das Mädchen wieder gerade vor ihr stand. Ein Lächeln umspielte die roten Lippen der Frau des Tempelwärters. „Es ist genau das, was ich für dich tun muss“, sagte sie und reichte Sulin den Holzstab.

Gemeinsam verließen sie das Ankleidezimmer und verließen in Begleitung der Hausherrin das Haus. Die Straße war vertrocknet und die Grasbüschel an den Häusern färbten sich gelb. Seit Wochen hatte es nicht mehr geregnet und obwohl daher die Ernte dieses Jahr bedenklich schlecht ausgefallen war, so zerbrach sich an diesem Tag keiner den Kopf darüber. Die Straßen waren mit Lampions und bunten Bändern beschmückt. Manche spielten Musik und Kinder tanzten auf den Straßen. „Wànsuì huǒyàn!“, brüllten sie. Doch als sie Sulin sahen, verharrten alle in ihrer Bewegung und begannen nur noch ihr zuzujubeln.

Das Mädchen mit dem schneeweißen Haar und den strahlend grünen Augen, welche an eine Drachenhaut erinnerten, winkte den Kindern zu, musste sich sogleich jedoch wieder am den Stock festhalten, da sie schon ins Straucheln geriet.

Ihre Geschichte war wohlbekannt im Dorf und glich schon fast einer Legende. Ein krankes Kind welches in einer regnerischen Nacht ausgesetzt worden war. Mit weißem Haar und grünen Augen, die unnatürlicher nicht hätten aussehen können und einem Mal auf dem linken Bein, welches dem Abbild des Gottes Huǒyàn glich. Dass dieses Bein für sie jedoch nicht brauchbar war und sie somit bloß mit einem Stock laufen konnte, fanden die Bewohner erst Jahre später heraus. Mittlerweile war sie zu einer jungen Frau herangewachsen und der Glaube, dass sie die menschliche Gestalt ihres Gottes war, hätte stärker nicht sein können. Denn seit der Nacht, in der sie in dem Dorf lebte, starb keiner der Bewohner mehr an der schwarzen Krankheit.

Sie erreichten den kleinen Tempel, welcher aus einem kleinen Häuschen bestand und einer großen Statue, die majestätisch über das Dorf zu wachen schien. Im Stein waren die Worte „Kommt Zeit, kommt Rat“ eingemeißelt, welche das Dorf bislang immer in Ehren hielt.

Gemeinsam stiegen sie die wenigen Stufen zum Tempel hinauf und Xiaoquin führte Sulin auf einen roten Stuhl, auf welchem sie Platz nahm. Den Stab legte sie demonstrativ vor ihre Füße.

Mittlerweile hatten sich alle Dorfbewohner auf dem Platz versammelt. Manche von ihnen hatten Lampions an Stöcken befestigt und hielten sie nun gen Himmel.

Der Tempelwächter trat aus dem Tempel, gefolgt von seinen Anhängern, welche Musik spielten und Weihrauch verteilten.

„Heute ist es wieder so weit“, bellte der Mann und breitete seine Arme aus. „Huǒyàn schenkte uns unser Leben zurück und gab uns die nährende Hoffnung. Seinetwegen ist unsere Erde wieder fruchtbar und der schwarze Tod besiegt. Es ist sein Wunsch, dass wir leben und unsere Blutlinie nicht beendet wird.“ Wen, ein schlaksiger Junge mit Sommersprossen, reichte dem Tempelwächter eine silberne Schale, welche mit gefärbtem Reis gefüllt war. Dieser grub seine Hand in die Schale und begann die Dorfbewohner mit dem Reis zu bewerfen. Jubelnd streckten sie ihre Arme ihm entgegen und versuchten so viel Reis wie nur möglich zu berühren.

Binnen Minuten war die Zeremonie beendet und Sulin wurde das Schlusswort erteilt. „Meine lieben Freunde“, begann sie wie jedes Jahr. „Auch dieses Jahr ist uns Huǒyàn gnädig und hat uns erlaubt, unsere Gemeinde um ganze zwölf Kinder zu erweitern. Selbst wenn unser geliebter Gott sich zurzeit schweigend um uns kümmert, so dürfen wir auch sein Wohlbefinden nicht vergessen. Daher bitte ich euch, trinkt und esst. Trinkt für ihn mit! Esst für ihn mit! Nährt ihn durch eure Mägen und so werden wir auch weiter von ihm ernährt werden.“ Sie verbeugte sich knapp und erst nachdem die Jubelschreie verstummt waren und die Anhänger Essen und Alkohol verteilten, nahm sie ihren Stab wieder in die Hand, um Xiaoquin und der Hausherrin zum Tisch der hohen Familie zu folgen.

Wie eine Statue saß Sulin einfach nur da ließ sich von zwei Dienerinnen das Brot und das Fleisch schneiden. Zeng, die Tochter der Hausherrin, reichte ihr einen dünnen Stock, welcher gesäubert und mit Pflanzensaft eingerieben war. Mit diesem stach Sulin in ein Stück Fleisch und konnte es so essen, ohne ihre eigene Haut an etwas Minderwertigem zu beschmutzen.

Erst als die Sonne untergegangen war und die letzten Kerzen in den Lampions ausgebrannt waren, wurde das Fest mit einem Feuerwerk beendet.

Ermüdet wurde Sulin von einem der Dorfbewohner in das Haus zurückgetragen. Ihr Körper war vollkommen ausgelaugt und laufen war für sie nun vollkommen unmöglich. Entspannt lauschte sie den lauten Knallgeräuschen und dem Lachen der Kinder.

 

Am nächsten Morgen erwachte Sulin in aller Frühe. Die Sonne schien durch das kleine Fenster über ihrem Bett und hatte ihre Augenlider gekitzelt. Der trockene Wind ließ die Stoffe an den Wänden aufblähen und die Hitze erträglicher erscheinen. Wie lange sie einfach nur regungslos dort lag wusste sie nicht. Doch war sie fast wieder eingeschlafen, als die Dienerin des Hauses ins Zimmer kam. Es war ein vierzehnjähriges Mädchen, dessen Namen Sulin Tag für Tag vergaß. Das Mädchen hatte ein kleines Becken aus Holz mitgebracht und platzierte es genau neben Sulins Bett, sodass diese in dieses hineinrutschen konnte. Das Mädchen legte das gelähmte Bein in die Wanne und füllte diese dann mit warmem Wasser auf. Sulin hasste es, wenn das Mädchen hektisch zwischen Wasserstelle und Becken hin und her rannte, wagte es jedoch nicht, sie darauf anzusprechen. Schnell war Sulin gebadet und eingekleidet. Der Mann von Zeng trug sie in den Wohnbereich des Hauses, wo Zeng am Webstuhl saß und ihre Mutter genüsslich auf ihrem Tabak kaute. 

„Der Kaiser will nun aus allen Dörfern Jungen rekrutieren“, erzählte der Mann der Hausherrin, während er die Teekanne anstarrte. „Mein Bruder hat mir einen Brief geschickt, in dem steht, dass er und sein Sohn nun zur Armee gehen werden. Es ist traurig. Denn eigentlich wollte er sich den Rebellen anschließen, sagte er zumindest. Aber nun muss er für den Kaiser kämpfen. Weißt du Frau, ich hatte es ihm geschrieben, dass er aus dem Dorf verschwinden und zurück zu uns kommen solle. Ich hatte es ihm geschrieben und jetzt muss er doch zur Armee. Weißt du noch, als wir ihn das letzte Mal gesehen hatten? Das war auf der Hochzeit von Zeng. Er war ein so glücklicher Mann und jetzt geht er wirklich zur Armee. Jetzt muss er dem Kaiser dienen. Es ist traurig.“

Die Hausherrin nickte bloß und sah aus dem Fenster. „Traurig.“

„Werden sie auch zu uns kommen?“, fragte Sulin, nachdem niemand mehr etwas gesagt hatte.

Der Mann der Hausherrin lachte und nahm einen Schluck von seinem Tee. „Nein, mein Kind. Wir leben nach wie vor in neutralem Gebiet und solange kann uns auch nichts passieren.“

„Aber wir leben im Reich des Kaisers“, stellte sie fest und zog ihre Stirn kraus. „Wie kann er dann keinen Einfluss auf uns haben?“

Nun lachten alle in diesem Raum und sogar Zeng unterbrach für einen kurzen Moment ihre Arbeit.

„Der Kaiser ist nicht mehr so mächtig, wie er es früher einst war, deswegen hat er Städte und Dörfer von seinen Soldaten besetzen lassen, die Rebellen taten das Gleiche. Dieses Tal ist bislang noch nicht besetzt worden und somit gehören wir keiner der beiden Parteien an“, erklärte Zengs Ehemann, während er sich neben seinen Schwiegervater setzte und sich Tee in einen Becher goss. „Natürlich kann sich das schnell ändern, aber solange wir noch frei sind, genießen wir jede Sekunde davon.“

Sulin verstand nicht, warum ausgerechnet ihr Dorf bislang verschont geblieben war, bemerkte aber den gereizten Blick der Hausherrin und stellte daher keine weiteren Fragen.

„Xiaoquin, du musst heute noch Essen einkaufen“, brummte die Hausherrin und sah die junge Frau an, welche gerade in den Raum kam. „Ich bitte dich darum, dass du Sulin mitnimmst. Sie scheint ihre Neugierde nicht zügeln zu können.“

Xiaoquin verbeugte sich und hätte dabei fast die Felle der Ochsen fallen gelassen. „Jawohl.“

Sulin zog sich an ihrem Stab auf die Beine und humpelte hinter ihrer besten Freundin her. Diese legte die Felle vor dem Zimmer der Hausherrin ab und schnappte sich ein wenig Geld aus dem Geheimversteck unter einer losen Diele. Gemeinsam verließen sie das Haus und gingen die staubige Straße entlang zu einer kleinen Hütte. Vor dieser saß eine alte Frau auf dem Boden. Um sie herum waren etwa fünf Reissäcke verteilt und Körbe mit Obst und Gemüse. Xiaoquin gab das gesamte Geld für Nahrung aus und reichte dem Sohn der Verkäuferin einen Silberkrug, damit er den Reis am Abend mit seinem Karren vorbei bringen konnte. Das Obst bekam sie in einen ledernen Sack, welchen sie schulterte und zusammen mit Sulin den Rückweg antrat.

„Was passiert, wenn der Kaiser in unser Dorf kommen würde?“, fragte Sulin, während ihr Blick auf den Boden gerichtet war.

„Unsere Männer würden zur Armee gehen. Aber ich bin mir sicher, dass das nicht passieren wird, denn Huǒyàn ist an unserer Seite und er wird uns schützen“, erklärte sie voller Zuversicht.

Gerade bogen sie in die Straße ab, in der das Haus lag, als Wen auf sie zugerannt kam. Seine Haut war mit einem dünnen Schweißfilm bedeckt und sein Atem ging stoßweise. „Sie sind hier!“, rief er und wäre beinahe in Xiaoquin hineingelaufen. „Die Truppen des Kaisers sind hier! Er lief an den beiden vorbei und schrie wie ein geisteskranker.

„Oh, verdammt“, keuchte Xiaoquin und ließ den Sack fallen. Sofort schulterte sie ihn wieder und sah wie ein Tier, welches in die Ecke getrieben wurde, zwischen Sulin und dem Haus hin und her.

„Geh und warne die Anderen, ich komm schon nach Hause“, drängte Sulin und versuchte ihre Freundin nach vorne zu drücken, ohne dabei ins Straucheln zu geraten.

Xiaoquin biss sich auf die Unterlippe und zögerte einen Moment. Um sie zu überzeugen, humpelte Sulin los und erst als sie schon mehrere Meter weiter war, wurde sie von ihrer Freundin eingeholt. „Ich bringe eben das Obst und Gemüse zur Herrin und werde dich dann holen kommen!“, rief sie, rannte an Sulin vorbei und kam schon nach wenigen Sekunden am Haus an.

„Der Kaiser kommt“, schrie sie und kam auch sofort wieder auf die Straße. Sie packte Sulins Arm und legte ihn sich um die Schulter. Den anderen Arm legte sie in die Kniebeugen und hob das leichte Mädchen hoch. Sie hatten nicht mal das Haus erreicht, als Hunderte von Pferden auf die zukamen und sie beinahe niedergetrampelt hätten.

Alle Menschen kamen aus den Häusern gerannt. Frauen weinten und Kinder lugten neugierig hinter den Fenstern hervor. Auch die Hausherrin und ihre Familie kamen auf die Straße und auf ihr Findelkind zugerannt. „Sie reiten auf den Tempel zu“, schrie die Hausherrin und sofort folgten sie, ihr Mann und ihr Schwiegersohn den Reitern.

Xiaoquin, die nach wie vor Sulin in den Armen trug, folgte ihnen, war jedoch etwas langsamer. Als die beiden ankamen, hatten sich die Reiter um die Statue des Gottes Huǒyàn verteilt und diesen mit ihren Schwertern und Speeren enthauptet.

„In Namen des Kaisers rufen ich, Admiral Tanju, jeden Mann auf, der älter als sechzehn Jahre ist, für sein Land der Armee beizutreten. Kranke müssen der Armee als Gegenleistung Verpflegung und Pferde zur Verfügung stellen“, las ein bärenähnlicher Mann von einem Pergament vor. „Dazu kommt, dass der Priester oder Tempelwächter dieses Dorfes wegen Hochverrats gegen unseren geliebten Kaiser verhaftet und zum Tode verurteilt wird. Da er die Huldigung des verbotenen Gottes Huǒyàn gestattet hatte.“ Er wandte sich von dem Pergament ab und warf den Dorfbewohnern einen vernichtenden Blick zu.

„Das könnt Ihr nicht machen!“, rief der Tempelwächter, welcher von zwei Soldaten abgeführt wurde. „Wir sind ein neutrales Dorf, wir werden nicht kämpfen. Huǒyàn hat dies nicht für uns vorgesehen!“

Einer der Soldaten gab ihn einen noch gut gemeint sanften Schlag mit seinen Schwert auf den Hinterkopf, sodass der alte Mann verstummte. Kein weiterer im Dorf wagte es, das Wort zu erheben. Zu groß war die Hoffnung gewesen, dass dieser Moment niemals eintreffen würde.

„Bitte lasst mich runter“, flüsterte Sulin ihrer Freundin zu, welche dieser Bitte auch nachkam.

Als das Mädchen sicher stand, humpelte sie mit dem Stab an ihrer Seite durch die Menschenmenge hindurch, bis sie genau vor dem Pferd  stand, auf welchem der Admiral saß. Dieser sah sie bloß belustigt an. „Was willst du, Kleine?“, fragte er gehässig.

„Mein Name ist Sulin“, begann sie und verstärkte ihren Griff um den Stab, sodass die Knöchel ihrer Finger weiß hervortraten. „Ich bin nach meiner Geburt in diesem Dorf ausgesetzt worden und obwohl diese Menschen nicht wussten, wer ich war und was ich war – denn ich sehe nun wirklich nicht wie ein gewöhnlicher Mensch aus“, fügte sie hinzu und deutete dabei auf ihre Haare „- haben sie mich aufgenommen. Huǒyàn ist der Gott, dessen Liebe wir zum Leben benötigen. Er nährt uns und wir ernähren ihn. Wenn der große Kaiser sein Volk für sich gewinnen will, so sollte er uns den Glauben an das Gute nicht rauben, den Glauben an Huǒyàn.“

Der Admiral lachte auf und wandte sich dabei seinen Soldaten zu, welche ebenfalls zu lachen begonnen hatten. „Du bist ja ein süßes Ding“, sagte er und wischte sich die kleinen Tränen aus den Augenwinkeln. Sofort wurde sein Gesichtsausdruck wieder ernst und er beugte sich Sulin entgegen. „Was ihr glaubt, ist mir vollkommen egal. Des Kaisers Wille ist unser Wille.“ Er schnippte mit seinen Fingern und wedelte daraufhin mit seiner Hand herum. Drei seiner Soldaten, welche ebenfalls auf Pferden saßen, zündeten die Spitzen ihrer Pfeile an und zielten auf den Tempel. „Und unser Wille ist stärker als der Einfluss des Drachengottes Huǒyàn.“ Die Soldaten schossen und das Dach des Tempels fing Feuer.

Die Dorfbewohner schrien auf und viele sanken weinend zu Boden. Der Glaube zerfiel.

Auch Sulin schrie auf und hatte vor Schreck ihren Stab fallen lassen. Bloß wenige Sekunden konnte sie ihr Gleichgewicht halten, bevor ihr rechtes Bein an Kraft verlor und sie zu Boden fiel. Tränen über Tränen flossen über ihre Wangen und hinterließen in der Sonne glitzernde Schlieren. „Warum?“, wimmerte sie und kroch auf den Mann zu. „Warum tut Ihr so etwas?“

„Des Kaisers Willen ist unser Wille“, wiederholte er.

Ein Schmerzenschrei entrann Sulins Kehle und sie drückte ihr Gesicht auf den Boden. Ihr gesamter Körper zitterte. Ein lauter Knall aus dem Tempel ließ die Pferde erschrecken und einen Satz zur Seite machen. „Houw“, sagte der Admiral und klopfte dem Tier beruhigend auf die Seite.

Wieder ein Knall und die Flammen stiegen immer höher in den Himmel. Sulins Narbe auf ihrem linken Bein begann zu glühen und wieder stieß sie einen Schmerzenschrei aus.

Das Feuer wurde immer größer, aber anstatt einer glühenden Hitze wurde der Platz bloß angenehm warm. Es fühlte sich an, als würde man sich eines Winters nachts in eine dicke Decke einkuscheln.

„Was passiert hier?“, fluchte der Admiral und wandte sich mehrmals um sich selbst.

Die Flammen schossen in den Himmel und stürzten auf den Platz. Der Admiral und seine Soldaten flüchteten schreiend und kreischend zu den Dorfbewohnern.

Als die Flammen sich aufzulösen begannen, kam der Kopf der Statue zum Vorschein. In prachtvollen Farben sah sie aus wie an ihrem ernsten Tag. Daneben stand Sulin. Ihr weißes Haar wehte im Wind und schien die Flammen zu einem Tanz herausfordern zu wollen.

„Ihr wagtet es meinen Tempel zu zerstören?“, rief eine tiefe Stimme aus dem Mund Sulins. Ihre grünen Augen leuchteten wie die einer Katze bei Nacht. Ein kalter Wind kam auf und wühlte den Staub des Bodens auf, sodass die Dorfbewohner zu husten begannen und ihre Augen mit den Händen abschirmen mussten. „Unwürdig, unwissend und beschränkt.“ Der Wind erstarb und der Staub fiel zurück auf den Boden. Nun stand nicht mehr das weißhaarige Mädchen vor ihnen, sondern ein Drache. So groß wie der Tempel selbst, rot wie der Himmel, wenn die Sonne die Berge berührt, und mit grünen Augen, die der Haut einer Schlange glichen.

Ein Mann mittleren Alters trat aus der Menge hervor. Er trug wie die anderen Soldaten die Rüstung des Kaiserreiches. Er nahm sich seinen Helm ab und zum Vorschein kam das Gesicht des allseits bekannten Kaisers. Des Mannes, welcher das Unglück mit sich brachte und über das Reich verteilte. „Gott, der du vor mit stehst, großer Huǒyàn, deine Zeit neigt sich dem Ende zu. Danke ab und ich werde dein Gefolge in eine Welt mitnehmen, die ihrer würdig ist.“

Der Drache lachte auf und die Flammen des Tempels stiegen wieder höher in den Himmel. „In meiner Welt habt Ihr viele Rufe, Kaiser“, letzteres Wort sprach der Drache wie ein Schimpfwort aus.  „Aber in eine Welt, die diesem Dorfbewohnern würdig ist, könnt Ihr sie nicht bringen. Das schaffen nicht einmal die Götter.“

„Die Götter sind nicht so mächtig, wie sie es glauben“, rief der Kaiser und warf voller Wut seinen Helm zu Boden. Xiaoquin klappte der Unterkiefer herunter, so wie vielen anderen.

„Sie sind mächtig genug, um einen Tyrannen wie Euch in die ewigen Weiten des Vergessens zu zerren“, sagte der Drache monoton. „Als Sohn eines glorreichen Herrschers, als seine Zukunft und sogleich auch als sein Tod, bestiegt Ihr den Thron und brachtet das Leid in das Tal der Heiligen. Doch anstatt die Götter um Grande zu beten, schürt Ihr unseren Zorn, indem Ihr uns sterben lassen wollt?“ Der lange Schwanz des Drachen machte einen bedrohlichen Schlenker. „Ihr lebt wie eine Wespe, tödlich und aggressiv. Minderwertig wie Ihr seid, so sollt Ihr auch sterben. Euer Urteil: in Vergessenheit zu geraten, so wie Ihr unser Schicksal zu bestimmten versuchtet.“  Der Drache erhob sich, wobei die Erde zu beben begann. Er streckte seine Schnauze gen Himmel, gab ein tödliches Fauchen von sich und wandte sich wieder dem Kaiser zu. Sein Schweif erhob sich in die Luft und schlug wieder auf den Boden. Huǒyàn flog auf den Kaiser zu und durch ihn hindurch und auf einmal waren beide verschwunden.

Die Flamen erloschen in Sekunden und alles wirkte wie ein Traum. Ein Traum, der den Frieden wiederbrachte.

 

Der Neffe des Kaisers bestieg nach wenigen Monaten den Thron und konnte den Frieden mit den Rebellen vereinbaren. Das Dorf im Tal war in aller Munde und obwohl wenige dem Glauben schenkten, was die heimkehrenden Soldaten berichteten, so wusste jeder, dass die Götter den Menschen immer zur Seite standen und auch Huǒyàn seine Pflicht als solches erfüllt hatte.

Zu Ehren Huǒyàns und seiner menschlichen Gestalt Sulin wurde ein Stolperstein auf der Stelle errichtet, an der sie in der regnerischen Frühlingsnacht gefunden worden war. Ein Kreuz aus Holz sollte an ihren Mut und ihre Tat erinnern, doch es verdarb und ihre Geschichte war bloß eine blasse Erinnerung.

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Tag der Veröffentlichung: 16.04.2012

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