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Angel

Als ich zu Hause war, fing ich sofort an, einen Brief an Brit zu verfassen. Ich wollte so schnell wie möglich mit ihr reden, mit ihr irgendwie Kontakt aufnehmen. Das Problem war einfach, dass wir keine Handys hatten, da "wären wir noch zu jung für", wie meine Mam immer zu sagen pflegte. Ätzend.
Und aus irgendeinem mir noch unerklärlichen Grund waren Brit und ich uns immer ziemlich sicher gewesen, dass ihre Oma garantiert keinen PC hatte. Vielleicht würde mir Brit das bald erklären können, wenn sie mir einen Antwortbrief schrieb. Sofern ich selbst einen Brief zustande bekommen würde. Aber irgendwie fiel mir zu dem Zeitpunkt das Schreiben schwer.
Sonst flossen Worte nur so aus meiner Feder. Brit liebte es, wenn ich ihr Briefchen und ähnliches schrieb. Sie meinte dann immer, es seien verzauberte Worte, die ihrem Herzen Flügel verliehen. Vielleicht war etwas Wahres daran. Es wollte nur in diesem Moment nicht fließen.
Es klopfte, die Tür ging auf und meine Mutter streckte den Kopf herein.
"Angel, Liebling, es wäre besser, wenn du jetzt schlafen gehen würdest. Morgen ist doch dein erster Schultag nach den Sommerferien. Ich weiß, die Ferien waren zu kurz, und ich weiß, du hast auch momentan besseres im Kopf, als zu schlafen, aber es wäre wirklich besser." Sie lächelte mich an und schloss die Tür wieder.
Recht hatte sie ja. Und schreiben ging gerade sowieso nicht. Also zog ich mich um und ging ins Bad um Zähne zu putzen. Als ich die Zahnbürste ansah, um Zahnpasta darauf zu schmieren, kamen mir die Tränen. Brit und ich hatten uns damals die gleichen Zahnbürsten gekauft. Einfach, weil es dann schwieriger war, wenn sie hier war oder ich bei ihr, die beiden zu unterscheiden. Ich legte die Zahnbürste beiseite und ging wieder in mein Zimmer. Hatte ja doch keinen Sinn. Wenn man in Gedanken war, konnte man einfach nichts mehr machen. Besonders, wenn es Gedanken an Brit waren.
In Gedanken an sie versunken, schlief ich dann doch irgendwie ein.

"Piep, piep, piep, guten Morgen, es wird Zeit. Du musst aufstehen…"
Ich riss die Augen auf. Meine Mutter grinste mir im Schlafanzug dicht über meinem Gesicht entgegen. "Mach dich fertig. Frühstückstisch ist schon gedeckt." Sie drehte sich um und schlurfte mit ihren Tigerpuschen aus meinem Zimmer. Als ich die Decke zurückschlug, traf mich die Kälte meines Zimmers. Mam hatte in der Nacht schon wieder mein Zimmerfenster aufgemacht.
Bibbernd stand ich auf, ging auf meinem Schrank zu und zog mir Unterwäsche, ein T-Shirt und eine Jeans heraus. Zum Umziehen ging ich dann aber doch ins Bad, da es durch die nächtliche Frische wirklich kalt in meinem Zimmer war. Für einen Sommertag im August war es eindeutig zu kühl. Aber das Wetter sah auch nicht danach aus, dass es noch besser werden würde.
Ein Blick aus dem Fenster im Bad verriet mir die weiteren Aussichten: Grau bewölkt, mit einer hohen Wahrscheinlichkeit von Regen. Nach dem Umziehen ging ich gemütlich in die Küche. Alles war wie immer. Auf dem Tisch standen Brot, Aufstrich, Müsli, Cornflakes und Milch. Es hätte ein ganz normaler erster Schultag werden können, wenn nicht Brit fehlen würde. War sie bei ihrer Oma überhaupt an einer Schule angemeldet worden?
Das gab mir nun doch zu Denken, während ich mir Müsli, Cornflakes und Milch zusammen in eine Schüssel kippte. Mam kam herein und setzte sich zu mir.
"Papa fon hur Arbei?", fragte ich mit vollem Mund. Das Grinsen meiner Mutter wurde noch breiter, als es beim Wecken gewesen war, und sie legte mir ein Küchentuch neben meine Schale, damit ich meine versprühten Krümel aufwischen konnte.
"Ja, er musste heute früher los. Im Radio sind irre lange Staus angesagt worden, ein LKW ist in einen Unfall verwickelt und blockiert dadurch beide Autobahnspuren. Also muss er über die Dörfer, was bekanntlich länger dauert."
Oh ja, den ganzen Weg über die Dörfer war sehr lang.
Nach dem Frühstück musste ich noch schnell meine Tasche für die Schule packen.
Leider hatte ich in den Ferien nichts dafür gemacht, was ich in diesem Moment auch bereute. Meine ganzen Mappen waren zerfleddert, da ich mir keine neuen zugelegt hatte, und waren auch noch voll mit den Zetteln vom letzten Jahr. Aber zum Ausheften war keine Zeit mehr, da ich noch ein Stück bis zur Bushaltestelle laufen musste und ich schon in Verspätung war.
Auf dem Weg zur Haltestelle überholte mich der Bus auch schon. Ich sprintete los, damit ich ihn noch erwischte.
Aus der Puste kam ich am Bus an. Alle Schüler waren schon eingestiegen. Der Busfahrer lächelte mich an und fragte nach meiner Busfahrkarte. Also kramte ich in meiner Jackentasche, zeigte ihm die Karte vor und ging weiter. Die Sitzbänke waren schon belegt, nur noch vereinzelt waren Plätze frei. Vorher war es immer so gewesen, dass Brit immer vor mir am Bus war und mir dann einen Platz freigehalten hat. Als ich ein kleines Mädchen, geschätzt 5. Klasse, fragte, ob ich mich neben sie setzten durfte, verneinte sie und so musste ich stehen.
Lang war die Fahrt und so schaute ich nach draußen. Die Sonne war schon aufgegangen, sie strahlte über den Himmel, als ob nichts wäre. Doch meine Gedanken schweiften schnell wieder zu Brit. Ohne sie wird es in der Klasse ruhig werden, dessen war ich mir sicher. Sie war immer so etwas wie der Klassenclown gewesen.
An der Bushaltestelle meiner Schule stieg ich aus. Ich schaute in Richtung meiner Schule:
Nicht mehr die neuste, aber immer noch eine sehr schöne Schule. Durch eine Art Torbogen geriet man auf die vordere Rasenfläche, auf der man im Sommer sich meistens ausbreitete und einfach die Sonne genoss. Am Rand entlang wuchsen Buchsbäume, die zu einer niedrigen Hecke geschnitten waren, wodurch sie wirklich nur Dekoration war und keine weitere Funktion hatten.
Als ich durch die Flure zum Klassenraum ging, liefen überall Menschen in Gruppen oder Paaren herum. Ich kam mir furchtbar alleine vor, denn das war ich auch ohne Brit. Erst durch Brit hatte ich an dieser Schule eine Freundin gefunden, alle anderen waren immer so anders und mochten mich nicht. Nur Brit war genauso wie ich. Eine Art Seelenverwandte.
In der Klasse setzte ich mich auf meinen Platz, der schon eine Art Stammplatz geworden war. Nach und nach trudelte auch der Rest der Klasse ein und der Unterricht begann. Der Platz neben mir blieb leer. Es fragte seltsamerweise auch keiner nach Brit, als ob sie nie da gewesen wäre.
Während des gesamten Unterrichts blieb ich still und sagte kein Wort. Auch per Aufforderung brachte ich kein Wort heraus. Ich war einfach nur enttäuscht. Enttäuscht darüber, dass alle Brit vergessen hatten und mich auch niemand begrüßte oder mir überhaupt etwas sagte. In der Pause ging ich auf den vorderen Schulhof und legte mich auf meine Jacke. Kleine Wolken schoben sich vor die Sonne und zogen weiter. Als ich versuchte aus den Formen etwas zu erkennen, verband ich mit jeder Wolke einen Teil von Brit. Ihre Nase, ihre Augen, ihren Arm, die linke Hand. Es machte mich depressiv, woraufhin ich schon vorzeitig wieder in den Klassenraum ging.

Nach dem Unterricht verlies ich ohne ein Wort die Klasse und ging zur Bushaltestelle. Auf dem Weg sah ich den Wagen meiner Mam vorfahren.
"Hallo Angel! Ich dachte, ich hol die lieber ab. Das Essen ist nämlich schon fertig." Da ich den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte, freute ich mich über diese Aussage meiner Mama und stieg sofort in den Wagen. "Was gibt es denn?", fragte ich neugierig.
"Bleibt geheim, bis wir zu Hause sind."

Zu Hause angekommen, ging ich ohne Umwege zum Jackeaufhängen oder ähnlichem direkt in die Küche. Es roch verführerisch nach Pute und Reis.
"Oh, Mam!!! Curry, Pute, Reis und Mais? Super!" Ich freute mich riesig, da sie mein Lieblingsessen zubereitet hatte. Wir setzten uns an den Tisch und genossen das warme, leckere Essen. Mit jedem Happen wurde die Freude und die Gier größer bis alles bis auf den letzten Rest weggeputzt war. Pappsatt lehnte ich mich zurück und grinste vor mich hin.
"Ich wusste, dass es dir schmecken würde!"
Wir stellten zusammen die Teller weg, wuschen die Töpfe ab. Später ging ich in mein Zimmer und versuchte erneut, einen Brief an Brit zu verfassen.
Tatsächlich kamen die ersten Worte zu Papier:

Liebe Brit,
ich hoffe, du bist heil bei deiner Oma angekommen. Wie geht es dir dort? Ist sie so furchtbar oder tut sie bei euch immer nur so?
Weißt du schon warum du zu ihr musst? Wieso du etwas Besonderes bist?
Ich mache mir Sorgen um dich. Schreib mir doch bitte bald zurück.

Deine Angel


Nicht sonderlich professionell, aber es musste reichen. Nun musste ich nur noch die Adresse herausfinden. Josi musste die haben, es war schließlich ihre Mutter, zu der der Brief geschickt werden musste.

Den Rest des Nachmittags setzte ich mich an meine Hausaufgaben, sah ein wenig fern und genoss ein heißes Bad.
Am nächsten Tag wollte ich Josephine nach der Adresse fragen, in der Hoffnung, dass sie sie mir geben würde.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 21.09.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
An meinen Freund, der mir in schwierigen Situationen mit merkwürdigen Denkansätzen doch zum richtigen Gedanken geholfen hat.

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