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Brit

Im Flugzeug war es still. Es würde eine lange Reise werden. Ich sah aus dem Fenster und betrachtete die düsteren Wolken über meinem alten Heimatort. Ob ich jemals wieder hierher kommen könnte?
Ich wusste es nicht. Und das schlimmste war, dass ich zu meiner Oma und dafür Angel alleine lassen musste. Eigentlich kannte ich sie nur von den Familienfeiern. Von uns aus sind wir nie freiwillig zu ihr geflogen. Sie kam immer zu uns. Auch wenn wir es nicht wollten. Manchmal stand sie einfach vor der Tür mit den Worten, sie sei auf Durchreise. Wohin, das erzählte sie auch nie.
Arme Angel. Ich wäre gerne bei ihr. Ich hoffte, dass wir uns schreiben könnten. Wie, dass wusste ich auch nicht, aber es musste irgendwie möglich sein, mit ihr Kontakt zu halten.
Eine Stewardess kam zu mir und fragte, ob ich irgendetwas bräuchte.
"Wenn Sie mir einen heißen Kakao bringen könnten, wäre das super!", antwortete ich. "Mit Sahne."
"Gerne doch", sagte sie und ließ mich wieder alleine. Neben mir, am Gang, saß ein älterer Herr und schlief. Ich betrachtete ihn genauer, um mir die Zeit zu vertreiben.
Er trug einen Anzug, grau mit Nadelstreifen, ein hellrosafarbenes Hemd und eine dunkelviolette Krawatte.
Während er schlief, lief ihm leicht Speichel aus dem Mundwinkel. Eigentlich sah er sehr nett aus, aber ich traute momentan niemandem mehr. Meine Mutter hat mich belogen, und dies über Jahre. Ich sah mein Spiegelbild auf der Rückseite meines iPhones an. Die leuchtenden Augen, die manchen Menschen Angst machten, aber eigentlich immer zu mir gehörten. Und dann erfuhr man plötzlich, dass diese Augen einen nicht das ganze Leben über begleitet hatten, sondern erst seit man 3 Jahre alt war.
Die Stewardess kam und brachte mir den Kakao mit Sahne. Sie hielt ihn mir hin. "Wünschen Sie noch etwas?"
"Nein danke, das wäre es erst einmal."
Ich wärmte mir die Hände an der dampfenden Flüssigkeit.
Während ich anfing, langsam an meinem Kakao zu nippen, wurde der Mann neben mir wach.
Er gähnte, wischte sich mit dem Ärmel über den Mund und streckte sich.
"Na, kleines Fräulein, erstes Mal fliegen?"
"Ja", antwortete ich kurz. Mit anderen Menschen reden war in dem Moment nicht gerade mein größter Wunsch.
"Wohin geht es denn?", fragte er und sah mir neugierig in die Augen. "Oh, interessante Augenfarbe."
Offensichtlich schien ihn die Farbe nicht abzuschrecken, was mich überraschte und dafür sorgte, dass ich mich doch mit ihm unterhielt.
"Zu meiner Oma. Ich soll jetzt bei ihr weiterleben."
"Aha. Und wie alt bist du?"
"Fast 15 Jahre. Und, wohin fliegen Sie?" Kurz schlürfte ich einen Schluck vom Kakao und verbrannte mir prompt die Zunge. Es fühlte sich leicht pelzig an.
"Zu meiner Frau. Ich habe sie schon ewig nicht mehr gesehen, da ich ständig auf Geschäftsreisen bin und dadurch selten zu Hause sein kann."
"Was machen Sie beruflich, dass Sie nie zu Hause sind?"
Jetzt war ich doch neugierig. Wenn man ständig am Fliegen war, musste das ja ein besonderer Beruf sein.
"Ich bin Manager einer Firma und muss immer wieder verschiedene Zweigstellen besuchen."
So verging die Zeit, ich unterhielt mich sehr gut mit diesem Mann und vergaß langsam auch meine Sorgen. Irgendwann kam eine Stewardess mit etwas zu essen für den Herrn und da ich ihn nicht vom Essen abhalten wollte, versuchte ich noch zu schlafen.

Als ich aufwachte, holte mich jedoch alles wieder ein, was ich über den Flug und das Gespräch schon vergessen hatte.
"Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Passagiere, wir möchten Sie bitten sich anzuschnallen, da wir bald in den Landeanflug gehen werden."
Es war also soweit.

Als ich aus dem Flugzeug stieg, mein Gepäck abgeholt hatte und in der Ankunftshalle stand, lief mir meine Großmutter entgegen und nahm mich freudestrahlend in den Arm.
"Brit, mein Engel! Schön, dass deine Mutter sich überreden ließ, dass du zu mir kommst. Wie geht es dir? Hast du alles gut überstanden?"
Am liebsten hätte ich so etwas wie "Ja, alles überstanden, wo geht es jetzt zum Rückflug?" gesagt, aber ich wollte nicht unhöflich erscheinen, auch wenn ich vor der Person stand, die mich gerade aus meinem Leben gerissen hatte.
"Danke, Oma, mir geht es gut. Die Landung war ein wenig holprig im Bauch, aber sonst alles okay. Fahren wir jetzt zu dir oder wo geht es jetzt hin?" Im Kopf hatte ich eigentlich Mordgedanken und Fragen zu meiner Blutinfusion, aber ich war zu müde für diese Fragen. Wahrscheinlich hätte ich die Antworten auch gar nicht verstanden.
Oma sah mich an, nahm mir mein Gepäck ab und sagte: "Wir bringen erst einmal dein Gepäck weg und dann gehen wir Essen. Ich will dir den Aufenthalt bei mir so angenehm wie möglich gestalten. Schließlich habt ihr mich nie besucht!"
War da ein kleiner Vorwurf in ihrer Stimme? Auf jeden Fall müsste sie sich verdammt anstrengen, wenn sie den Aufenthalt angenehm gestalten wollte. "Was würdest du denn gerne essen? Chinesisch? Griechisch?"
Nun war ich drauf und dran und wollte McDonalds sagen, nur um ihr den jugendlichen Geschmack näher zu bringen, aber irgendwie hatte ich zu Burgern und Pommes auch keine Lust. "Wäre italienisches Essen in Ordnung? Pasta, Spaghetti, Pizza?"
"Alles, was du willst, meine Kleine!"
"Ich bin nicht deine Kleine, Oma!", fauchte ich sie an. Das fing ja schon gut an.
"Ja, ja, sicherlich, sicherlich!"
Wir gingen gemeinsam zum Auto und stiegen ein. Es war ein roter, hässlicher Kleinwagen, einer der schlimmsten und wahrscheinlich auch ältesten Sorte. Meine Oma warf den Motor an und fuhr sehr schnell rückwärts aus der Parklücke. Plötzlich krachte es hinter uns.
"Oh, scheiße", hörte ich sie murmeln. Innerlich konnte ich einfach nur lachen. Es war einfach zu herrlich, dass sie jemand anderen rammte. Oma stellte den Motor ab, stieg aus und betrachtete den Schaden der beiden Autos. Ich drehte mich auf meinem Sitz um, um besseren Überblick zu haben. Es stand schlimmer, als ich gedacht hatte. Scheinbar ist meine Großmutter mit vollem Karacho in die Front des anderen gefahren. Der Typ schrie sie in einer mir völlig unbekannten Sprache an. Russisch oder so… Aber meine Oma schien diese Sprache zu kennen, sie konterte auf der gleichen Sprache.
Auf jeden Fall war das Essen hiermit erledigt und ich konnte mir sicher sein, dass, wenn wir hier fertig waren, wir sofort zu meinem neuen "Zuhause" fahren würden.
Draußen war inzwischen die Hölle los. Meine Großmutter und der Typ schrieen um die Wette, viele Schaulustige standen daneben und grinsten vor sich hin.
Ich wünschte mir, dass ich nach Hause könnte. In mein richtiges Zuhause.

Nach dem Zwischenfall am Flughafen fuhren wir noch zur Polizeiwache, weil wir noch die rechtlichen Sachen klären mussten, bevor es endlich zum Haus meiner Oma ging. Da ich noch nie bei meiner Oma gewesen war, wusste ich auch nur vom Hörensagen, dass sie eine Art Großgrundbesitzerin war. Aber wie groß der Grund und Boden war, der ihr gehörte, das wusste keiner.
Die Auffahrt war mit riesigen Buchsbaumskulpturen gesäumt. Hunde, Katzen und Pferde. Es sah ein wenig kitschig aus, aber das war ja bekanntlich Geschmackssache. Knirschend fuhren wir die Auffahrt entlang, bis wir in einen Kreis kamen und vor einer Marmortreppe hielten.
"Steig hier schon mal aus, ich muss noch den Wagen parken und komme dann nach. Kannst auch schon hoch gehen", sagte sie zu mir. Ohne zu zögern öffnete ich die Tür und stieg aus. Sofort, nachdem ich die Tür zugeworfen hatte, fuhr sie auch weiter und bog rechts ab. Ich begutachtete das Haus von vorne. Der Treppenaufstieg war lang und mit großen Marmorsäulen gesäumt, rechts sowie links. Allein dieser Teil hatte einen sehr griechischen Stil. Langsam stieg ich hoch. Ein Absatz, noch ein Absatz…
Die Treppe nahm kein Ende.
Als ich es dann doch geschafft hatte und vor einem großen hölzernen Portal angekommen war, erwartete mich meine Oma bereits. Wie war die denn so schnell da hoch gekommen?
"Na endlich, wird langsam auch Zeit! Und ich dachte schon, Frauen in meinem Alter sind langsam. Das scheint sich aber seit der Computertechnologie geändert zu haben, wenn ihr Kinder schon bei einem kleinen Aufstieg schlappmacht."
Gut, somit hatten wir Omas Meinung zu der Moderne. Also war ziemlich sicher kein PC im Haus, erst recht nicht mit Internet. Ohne ein weiteres Wort an mich zu verlieren, schloss sie die Tür auf und ließ mich eintreten. Man konnte nur staunen über das, was sich hinter diesem Portal befand. Das gesamte Haus schien aus Stein zu bestehen. Die Wände, der Boden, die Decke, sogar die Treppe. Wenn man ins Haus hineinging, befand man sich zunächst in einer Eingangshalle. Ein großer Kronleuchter aus Glas hing von der Decke, es waren überall auf dem Boden Läufer ausgelegt. Vermutlich, damit einem nicht die Füße einfroren. Sehr stilvoll, soviel musste ich ihr lassen.
"Willkommen in meinem bescheidenen Heim! Ich hoffe, es gefällt dir."
Bescheiden war etwas anderes, und meine Oma kannte wohl noch nicht die Unterschicht der Bevölkerung.
"Ja, wenn es nicht so kalt ist, wie es aussieht. Wäre es in Ordnung, wenn ich schlafe gehen würde? Ich bin ziemlich müde." Ich gähnte, um die Aussage noch zu unterstreichen.
"Aber Kindchen, es ist doch mitten am Tag!" Verdammt, sie hatte Recht. Jetlag. Diese verflixte Zeitverschiebung. "Außerdem: willst du nicht wissen, weshalb du zu deiner geliebten Omi musst?"
"Wegen meiner Blutinfusion?", fragte ich schon etwas genervt. Ich hatte ehrlich keine Lust, mit meiner Oma jetzt darüber zu reden, einfach weil ich zu müde war.
"Pass auf, Omi, wir machen einen Deal: Du zeigst mir mein Zimmer, ich lege mich schlafen, und Morgen zum Frühstück kannst du mir alles erzählen, was du mir sagen willst. Aber lass mich doch bitte so lange noch schlafen." Sie legte den Kopf schief und sah mich an. Ihre Stimme war um einige Grade kühler als zuvor.
"Na gut, aber ich sage dir jetzt schon, es wird dir nicht gefallen, was ich dir sagen werde."
Sie ließ meinen Koffer stehen, zog ihre Jacke aus, hängte sie an einem alten Jackenständer aus irgendeinem Metall auf und ging auf die Treppe zu.
"Was ist? Kommst du nun, oder muss ich dir Beine machen?"
Ich verdrehte die Augen, griff nach meinem Koffer und folgte ihr den langen Aufstieg nach oben.

Mein Zimmer war ein Traum. Ein Traum in quadratischer Form. Das Zimmer an sich war, wie das ganze Haus, ebenfalls aus Stein. Aber die Einrichtung entsprach den Wünschen eines jungen Mädchens. Ein Himmelbett, dessen Matratze und Kissen und Decken kuschelig weich waren. Ein riesiger Kleiderschrank, mit einem nicht weniger großen Spiegel, ein Schminktisch, schon fertig bestückt und ein Schreibtisch mit Drehstuhl. In einer Ecke stand ein Aquarium mit Guppies und anderen Fischarten, die ich so nicht kannte.
Als meine Großmutter meine strahlenden Augen sah, scheinbar in Grün wie "Freude", lächelte sie und ließ mich alleine. Vielleicht würde es mir ja doch hier gefallen, hatte ich in dem Moment noch gedacht.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 06.09.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
An meinen Freund, der mir in schwierigen Situationen mit merkwürdigen Denkansätzen doch zum richtigen Gedanken geholfen hat.

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