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Angel

Ich dachte noch an den Abschied von meiner besten Freundin Brit, als ich am Flughafen stand und das Auto meiner Mutter suchte. Ich wusste, dass ich Brit niemals wiedersehen würde. Vor einer Woche noch war alles in Ordnung gewesen. Wir sind zusammen Eisessen gegangen, haben über Jungs gelästert und uns richtig schöne DVD-Abende gemacht. Doch dann kam der Anruf.

Das Telefon klingelte im Flur. "Josephine, so geht es nicht weiter. Deine Tochter ist in der falschen Umgebung zum Aufwachsen!", kam Brits Mum entgegen, als sie den Hörer abnahm. Wie oft hatte sie dieses Thema schon mit ihrer Mutter durchgekaut, und wie oft hatte es deswegen schon Streit gegeben. "Mama, Brit ist hier gut aufgehoben, es wird ihr schon nichts passieren. Sie ist doch so glücklich, dass sie in diesem Ort leben darf und Freunde hat, warum willst du ihr das nehmen?"
"Das müsstest du als ihre Mutter doch am besten wissen. Josephine, Brit ist noch nicht bereit für die Welt da draußen. Schick sie zu mir, und ich werde sie auf alles vorbereiten, was sie brauchen wird, um ein richtiges Leben führen zu können!"
Wir saßen zusammen in Brits Zimmer, als der Anruf kam. Der Streit zwischen Josephine und Brits Oma war inzwischen schon bekannt, doch wussten wir nie, worum es ging. Als dann aber Brits Name fiel, waren wir ganz Ohr.
"Wie oft soll ich dir noch sagen, dass ich dir bestimmt nicht mein einziges Kind gebe, nur weil sie anders ist, oder du zumindest glaubst, dass sie anders werden wird! Du hast keine Beweise und sie ist meine Tochter!"
Moment mal. Es war zwar Allgemein bekannt, dass Brit "anders" war, aber so anders, dass sie zu ihrer grausamen Oma zweitausend Kilometer weiter musste, war sie nun auch nicht. Ich sah Brit in die Augen. In ihre schönen, andersfarbigen Augen. Sie waren von einem Braun, das schon in Rot überging und dann innen ein giftiggelbes Grün, wodurch Brit manchmal wirklich gruselig aussah. Aber sonst war sie eines der normalsten Mädchen, die ich kenne. Shoppen, Jungs, Schminken, das komplette Ensemble.
Aus dem Augenwinkel bemerkte Brit meinen starren Blick in ihre Augen. Sie drehte sich zu mir und sah mich fragend an. "Die reden über mich, oder?"
Auch wenn ich es selbst nicht glauben wollte, musste ich ihr Recht geben.
"Mama, egal, was du sagst, du weißt doch selbst nicht, wie sich diese Blutgruppe auf sie auswirken wird. Vielleicht bringt es nichts, wenn sie bei dir ist und du sie 'erziehst'."
"Rede nicht so mit deiner Mutter. Ich weiß sehr wohl, was gut für sie ist und du wirst sie Montag zum Flughafen bei euch bringen. Ihren Flug habe ich bereits reserviert und ist nicht zu stornieren. Du kommst da jetzt nicht mehr raus! Ich habe schon viel zu lange mit dir über meine Enkelin diskutiert! Tschüss!" Josephines Augen weiteten sich. "Aber Mama, du kannst doch nicht… Einfach aufgelegt…"
Brit hatte scheinbar genug gehört. Sie richtete sich auf, ging auf ihr Bett zu und warf sich hinein. Ich konnte es ihr nachfühlen, denn ich kannte ihre Oma von den Familienfesten. Ein mehr als nur feuriger Drachen. Plötzlich fing Brit an zu weinen. Und erst in dem Moment wurden mir die Konsequenzen des Gesagten bewusst.
"Du musst weg?! Und wirst nicht mehr bei mir sein? Das ist nicht deren Ernst? Ich kenne dich schon, seitdem ich denken kann, und jetzt sollst du mir weggenommen werden?"
"Wem sagst du das?", schluchzte sie unter Tränen.
An der Tür klopfte es und Josephine trat ein. Sie überblickte kurz die Lage und setzte sich zu Brit. "Josi, sag mir bitte, dass du gerade mit irgendeinem Typen von deinem Job gesprochen hast, um deinen Rollentext zu lernen?!" Ich sah Brits Mutter an. Sie war Schauspielerin und deswegen hatte ich noch einen winzigen Funken Hoffnung, der sich allerdings schnell in Luft auflöste. Mir sollte das Einzige, was mir je in meinem Leben wirklich wichtig war, weggenommen werden. Die einzige Person, mit der ich alles machen konnte, und die mir alles verzieh, was ich jemals Schlimmes gemacht hatte.
Josephine lächelte mich an. Es war ein trauriges, hoffnungsloses Lächeln. Selten sah sie so traurig aus.
Also kein Schauspiel am Telefon.
"Es wäre zu schön, um wahr zu sein, wenn das eben am Telefon mein Rollenpartner gewesen wäre. Aber leider ist die Realität schlimmer. Brit, mein Schatz, ich muss mit dir reden." Brit hob den Kopf aus dem Kopfkissen und funkelte sie wütend an. Ihre Augen hatten nun einen mehr rötlichen als grünen Schein, was wohl auch durch das Weinen kam. "Du hast doch gewusst, dass es so enden würde, oder? Ich erfahre heute zum ersten Mal, dass all die Streitgespräche mit mir zu tun hatten und jetzt willst du mir wahrscheinlich auch noch weismachen, dass dies das letzte Gespräch mit Oma war und sie auch noch gewonnen hat!"
"Liebling, lass mich erklären…"
"Nein, lass ich dich nicht! Du belügst mich also schon seit Monaten, was sag ich, Jahren!, erzählst mir, dass es in euren Streits immer nur um deinen Job ging, und dabei ging es die ganze Zeit um mich! Was habe ich bitte verbrochen, dass ich mit meiner Oma gestraft werde?"
"Du hast gar nichts verbrochen. Es hängt alles mit deinem Unfall von damals zusammen."
Unfall? Das war mir neu und das, obwohl ich sie schon ewig kannte.
"Welcher Unfall?" Scheinbar war es für Brit auch etwas Neues, denn in ihrem Gesicht klebte ein großes Fragezeichen. Die Tränen ließen langsam nach. Brit interessierte sich jetzt mehr für das, was ihre Mutter ihr erzählte, als für ihr momentanes Problem mit ihrer Oma.
"Mum, ich bin, seit ich denken kann, völlig unfallfrei. Ansonsten würde Angel mir auch den Hals umdrehen!" Stimmt, dass würde ich allerdings. Brit im Krankenhaus war für mich eine grauenvoller Albtraum.
"Brit, als du 3 Jahre alt warst, und daran kannst du dich sicherlich nicht mehr genau erinnern, ereignete sich der Unfall. Ich erinnere mich, als wäre es erst gestern gewesen. Wir beide waren in der Stadt in der Fußgängerzone und du hast einen süßen Hund gesehen. Er lief auf der anderen Straßenseite, und da es eine Fußgängerzone war, habe ich dich hinüber laufen lassen. Dein strahlendes Gesicht war wie Balsam für meine Seele. Als du bei dem Hund angekommen warst, raste plötzlich ein schwarzes Auto um die Ecke. Ich stand noch auf der anderen Straßenseite und sah alles nur noch in Zeitlupe. Du beugtest dich zu dem Hund herunter um ihn zu streicheln und das Auto geriet durch die Geschwindigkeit ins Schleudern." Josi legte eine Pause ein. Es fiel ihr sichtbar schwer, weiter zu sprechen. "Es war furchtbar und ich konnte nicht glauben, was ich sah. Der Wagen fuhr durch das Schleudern direkt auf dich zu. Und ich konnte nichts für dich tun. Ich hätte dich rufen sollen, dir irgendein Zeichen geben müssen, doch mir blieb die Stimme weg. Mir blieb nichts übrig, als zuzusehen, wie das schwarze Auto dich anfuhr." Ihr standen die Tränen in den Augen, als sie Brit ansah. Brit und ich waren sprachlos. Wir konnten es nicht glauben. Aber es war Brits Geschichte, obwohl wir beide davon zum ersten Mal etwas hörten. "Der Fahrer des Wagens beging Fahrerflucht. Ich war zu geschockt, um auf das Fahrzeug zu achten, und rannte zu dir rüber. Du lagst da, den Kopf auf dem Asphalt aufgeschlagen, blutend und warst ohnmächtig. Die anderen Fußgänger in der Zone schienen ebenfalls schwer geschockt, da sich keiner rührte. Nur einer schien solche Situationen zu kennen. Als ich bei dir ankam, und deinen Kopf in meinen Schoß bettete, kam der Herr zu mir und half mir, dich richtig hinzulegen. Er meinte zu mir, er wäre Arzt im Krankenhaus, was mich ein wenig getröstet hat, denn er schien zu wissen, was er tat. Über sein Handy rief er im Krankenhaus an und bestellte einen Krankenwagen zum Unfallort.
Später im Krankenhaus konnte ich nichts tun, als darauf zu warten, dass du wieder aufwachen würdest. Ich saß an deinem Bett und hielt deine Hand. Deine kleine, süße Hand. Du hast eine Blutinfusion bekommen, da du durch den Aufprall des Autos eine größere Wunde davongetragen hattest, als ich zuerst glaubte."
Brits Mum schien zu überlegen, wie sie weitermachen sollte. Brit saß da, als höre sie die Geschichte von jemand anderen. "Was ist los, Mum? Wieso erzählst du nicht weiter?"
"Weil jetzt der Part kommt, in dem ich dir sagen muss, weshalb du zu deiner Oma musst.
Deine Wunden verheilten sehr schnell, schneller, als die Ärzte es hatten glauben wollen. Du warst schon wieder gesund, liefst fröhlich umher, als sei nie etwas gewesen, aber sie wollten dich noch zur Untersuchung da behalten. Es war noch nie vorgekommen, was mit dir passiert war."
"Josi, manche Menschen haben nun mal einen schnelleren Heilungsprozess im Körper als andere. Das ist nun wirklich nicht so ungewöhnlich."
Sie sah mich an, zumindest wirkte es zuerst so, aber eigentlich sah sie durch mich hindurch, auf etwas weit in der Ferne.
"Der Heilungsprozess war schneller als jemals im Krankenhaus vorgekommen, aber das meinte ich gar nicht. Was ich meinte, war, dass sich von außen nach innen in Brits Augen ein rotbrauner Schimmer zog. Ihr übernatürlich schönes Grün war noch strahlender und außen herum war plötzlich dieses Rotbraun."
Fassungslos starrte Brit sie an. Das war zu viel.
"Ich habe diese Farben nicht von Dad?!"
"Nein, und da dein Vater früh starb, war es nicht schwer, dir diese Lüge unterzujubeln. Nur dein Grün stammt von Dad, das Rotbraun stammt von deiner Blutinfusion. Die Ärzte haben zwar die richtige Blutgruppe genommen, aber scheinbar war der Blutspender etwas Besonderes. Die Ärzte entdeckten interessante Dinge in dem Blut, mit denen sie aber nichts anzufangen wussten. Man versuchte, den Spender ausfindig zu machen, aber man fand ihn nie.
Daraufhin wurdest du aus dem Krankenhaus entlassen, da es scheinbar keinen negativen Einfluss auf dich gehabt hat.
Deine Großmutter und ich waren aber anderer Meinung. Du verhieltst dich noch so, wie früher, aber die Farbe war halt neu. Und je nach deiner Stimmung strahlte die eine oder andere Farbe stärker. Wie ein Leuchten deiner Seele. Wir gingen der Sache genauer auf den Grund. Und tatsächlich fand deine Großmutter einen Menschen, der ein ähnliches Phänomen hatte.
Er beschrieb ihr, dass aus ihm ein anderer Mensch geworden war, als er 15 Jahre wurde. Was mit ihm geschehen ist, wollte deine Großmutter mir nie so genau sagen, aber sie hat noch Kontakt zu ihm und will dir helfen, alles richtig in die Hand zu nehmen. Deswegen soll ich dich zu ihr schicken."

So war das. Und nun stand ich im Regen auf der Suche nach einem dunkelgrünen Wagen. Plötzlich blitzten mir zwei Autolichter entgegen. Ich lief zu dem Auto hin, riss die hintere Tür auf und ließ mich in den Sitz fallen. Schnell schlug ich die Tür wieder zu, denn es regnete immer noch in Strömen.
"Alles überstanden?", fragte meine Mam. Natürlich war nichts überstanden. Jetzt ging der Horror meines Lebens erst los. Keine Brit mehr. Vielleicht für den Rest meines Lebens.
Allein für die blöde Frage strafte ich meine Mutter mit Schweigen. "Süße, das Leben geht weiter. Es wird ihr bestimmt gut gehen bei ihrer Oma. Was auch immer mit ihr passieren wird, es wird schon schief gehen. Und du kannst ihr doch auch schreiben. Oder ihr chattet. Du darfst sie auch mal anrufen, aber dann nicht zu lange, weil Auslandgespräche immer so teuer sind."
"Mama, ich möchte da jetzt nicht drüber reden."
"Schon gut, Angel, ich kann das nachvollziehen. Aber denk an meine Worte: Das Leben geht weiter!"

Den ganzen Nachhauseweg über redete ich kein Wort mehr mit meiner Mutter.
Ich ging meinen eigenen Gedanken nach. Im Radio lief I'm singing in the rain, was hervorragend zum Wetter passte, nur nicht zu meiner Stimmung. Während ich nach draußen starrte und der Regen gegen die Scheiben klatschte, dachte ich an Brit. Ihr würde es sicher nicht gut gehen bei ihrer Oma. Und ich glaubte auch nicht, dass sie dort Internet hatte zum Chatten, so wie ich ihre Oma kannte, die alles Neue zutiefst verabscheute. Mit ganz viel Glück würden wir uns Briefe schreiben können.
Ich musste dringend Josi nach der Adresse fragen.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 04.09.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
An meinen Freund, der mir in schwierigen Situationen mit merkwürdigen Denkansätzen doch zum richtigen Gedanken geholfen hat.

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