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Neues Deutschland

 

WINTERTARN

Ein fiktiver Roman

von Thomas Saalfeld

 

 

Teil 1:

10.10 Samstag

Seite 2

 

Teil 2:

11.10 Sonntag

Seite 170

 

Teil 3

12.10 Montag

Seite 206

 

Teil 4

13.10 Dienstag

Seite 282

 

 

 

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig und nur teilweise unbeabsichtigt; die Handlung spielt in einem Berlin der nahen Zukunft und die beschriebenen Örtlichkeiten stimmen deshalb nicht kongruent mit den derzeitigen Gegebenheiten überein

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

10.10 SAMSTAG

 

 

 

„ Guten Morgen, die Herren. Ich hoffe, dass ich euch nicht zu früh aus den Betten geworfen habe, aber es ging leider nicht anders. Gestern Abend oder heute Morgen, ganz wie ihr wollt, sind in der Grenzallee zwei Leichen von einer Streife gefunden worden; weibliches Geschlecht, Alter zwischen zwanzig bis fünfundzwanzig Jahren. An einer Leiche fehlt der Kopf, an der anderen ist das Gesicht so stark deformiert, dass eine Identifikation bis jetzt nicht erfolgen konnte. Die beiden Mädchenkörper, es handelt sich bei ihnen möglicherweise um Prostituierte, der Kleidung nach zu schließen, weisen außerdem Unterleibsverletzungen auf, ziemlich gravierende sogar. Ein Sexualdelikt ist also wahrscheinlich. Die Haut- und Haarfarbe ist dunkel, die Opfer sind also möglicherweise Ausländerinnen. Türkinnen oder Ähnliches. Die Untersuchungen in der Gerichtsmedizin haben gerade erst begonnen. Weil die Mädchen wahrscheinlich Ausländerinnen oder nicht deutschstämmig sind, oder besser gesagt waren, ist der Fall natürlich besonders brisant. Das hat uns noch gefehlt, nach den Scherereien, die wir hier heuer im August gehabt haben. Das könnte der Tropfen sein, der das Fass endgültig zum Überlaufen bringt. Die islamistischen Untergrundorganisationen werden sich wie Wölfe auf den Fall stürzen und bis zum Gehtnichtmehr ausschlachten. Es ist also größte Vorsicht angebracht bei den Ermittlungen. Ein verkehrter Schritt und es kommt zur Explosion.

Deshalb habe ich Sie, meine Herren, aus dem Wochenende geholt und hier antanzen lassen. Am Samstag, um acht Uhr dreißig. Wegen zweier Huren, werden sich einige von Ihnen denken, aber es hilft nichts. Je schneller wir vorankommen und den Fall zum Abschluss bringen, desto eher können wir wieder auf Normalbetrieb umschalten. Wir haben auch so weiß Gott genug um die Ohren. Kimrod und Remke, Sie übernehmen bitte die Ermittlungen vor Ort. Straßenstrich, Bumslokale, Nachtbars, et cetera, et cetera. Euch kann ich da am besten hinschicken. Ihr kennt eure Pappenheimer noch vom letzten Mal. Ihr wisst schon, die Zuhälterkriege, Teil dreizehn.

Herder und Maikovsky, ihr schleust euch in Kreuzberg ein und versucht dort ausfindig zu machen, ob jemand die Mädchen vermisst oder sie kurz vor ihrem Ableben noch gesehen hat. Aber Vorsicht! Die Ruhe bewahren und mit Fingerspitzengefühl vorgehen.“

Kriminalkommissar Maikovsky richtete sich auf.

„ Aber Herr Kriminalrat, wir sind doch keine Anfänger. Ich hab heute schon zwei Kebab verdrückt. Außerdem kenne ich in Kreuzberg viele Leute. Ich hätte beinahe mal eine Türkin geheiratet und...“

„ Es reicht, Maikovsky. Das wird kein Frühstücksausflug. Die Geschichte wird sich bestimmt schon herumgesprochen haben. Wir lassen noch heute Zettel mit den Kleidungsstücken der Toten in den einschlägigen Vierteln verteilen. Der Innensenator ist bereits informiert und will täglich auf dem neuesten Stand der Ermittlungen gehalten werden. Sie sehen also, dass ich Sie nicht umsonst hierher zitiert habe. Die große Politik schaltet sich wieder zu. Da heißt es auf Zack sein und mit Volldampf voraus....äh, wo bin ich stehengeblieben...richtig, die Einteilung. Kimrod, Remke nach da, Herder, Maikovsky nach dort und Härtlein, Bullrich, Sie beide befragen die Anwohner. Was haben die gestern Nacht gehört und gesehen. Wer ist aufgefallen, was hat sich da abgespielt, so ähnlich. Gehen Sie in die Geschäfte und Kneipen, läuten Sie die Leute raus, die unmittelbar am Fundort der Leichen leben. Befragen Sie Taxifahrer und Schichtarbeiter. Einfach alles, was uns irgendwie weiterhelfen könnte. Ich bleibe hier und werte die neuesten Nachrichten aus der Gerichtsmedizin und dem Labor aus. Ich wäre sehr froh, wenn wir bis heute Abend wenigstens so weit kommen, dass eine Identifizierung der Leichen zweifelsfrei vorgenommen werden kann. Vielen Dank, meine Herren.“

 

Kriminalrat Zefhahn verließ das Büro, seine Polizisten hielten Kriegsrat. Kriminaloberkommissar Remke, der kurz vor seiner Pensionierung stand, war nicht sehr erbaut von dem neuen Fall.

„ Ausgerechnet zwei Kanakerbräute, noch dazu Nutten. Das bedeutet noch ein Magengeschwür, so kurz vor dem Ziel. Pfui Deibel, in was wir da wieder herumstochern werden müssen. Ich hasse diesen ganzen Bumsbetrieb wie die Pest und ausgerechnet uns schickt dieser Komiker dort hin. Will keiner mit uns tauschen? Ich geb auch ein Bier aus?“

Maximilian Kimrod, verheiratet, zwei Kinder und dreiundvierzig Jahre alt, betrachtete nachdenklich die Tatortaufnahmen, die Zefhahn auf einem der Schreibtische zurückgelassen hatte. Die Miniröcke der Leichen waren zerfetzt und die Schenkel bis hinunter zu den Knie mit Blut beschmiert. Die Körperhaltung war bei beiden Mädchen arg verdreht und sichtlich unter roher Gewalteinwirkung entstanden. Das sah für Kimrod nicht nach Zuhälter aus.

„ Tut mir leid, Otto, aber ich glaube das wird nichts mit deinem Bumsbetrieb. Meiner Meinung nach müssen wir den Täter eher im Zoo suchen. Vielleicht im Primatenhaus.“

„ Du immer mit deinem Fremdwörterkauderwelsch. Der Boss hat gesagt im Milieu und damit basta. Du kannst doch nicht leugnen, dass die Mädels wie Nutten aussehen? Wer läuft denn zu dieser Jahreszeit noch mitten in der Nacht mit einem Minirock durch die Gegend, am zehnten Oktober? Ne, ne, wo der Alte recht hat, hat er recht. Vielleicht wollte da jemand auch nur ein Sexualdelikt vortäuschen und hat es deshalb wie aus dem Horrorfilm arrangiert. Könnte doch sein, oder Maikovsky?“

„ Hätte, könnte, vielleicht, das ist nicht meine Kragenweite. Ich halte mich an Fakten und sonst nichts. Außerdem habt ihr keinen Grund, euch zu beschweren. Erstens könnt ihr frühestens gegen vierzehn Uhr mit eurer Tour anfangen und zweitens werdet ihr nicht so wie wir gegen eine Wand laufen. Wenn es sich bei den Mädels um Töchter von Onkel Osman handelt, sind wir bestimmt die Letzten, die erfahren wie es passiert ist und wer mit drin steckt. Ich kenn die Brüder genau. Die halten dicht wie ein frischgeteerter Sautrog. Da dringt nichts nach draußen. Vielleicht muss ich mir einen Bart wachsen lassen und die Haare schwarz färben. Da hat doch schon mal einer, so‘n Journalistenfuzzi - mir fällt der Name nicht ums Verrecken ein .. . Palgraf oder so ähnlich.“

Herder bewarf seinen Kollegen mit einem Radiergummi und drängte zum Aufbruch.

„ Komm Harry, das bringt doch nichts mehr. Wir rücken ab. Palgraf oder so ähnlich...manchmal weiß ich wirklich nicht, mit wem ich da seit zehn Jahren zusammenarbeite. Der Mann heißt....“

Herder warf die Tür hinter sich zu und fuhr fort, seinen Busenfreund Maikovsky zu belehren, dessen Gelächter noch bis ins zweite Stockwerk hinunter zu hören war. Härtlein verteilte Zigaretten an die Männer. Kimrod wollte zuerst ablehnen, griff dann aber doch zu.

„ Hat keinen Zweck. Mit der Scheiße, die jetzt auf uns zukommt, fang ich sowieso wieder an. Wenigstens sind wir jetzt die beiden Witzbolde los. Manchmal geht mir der gute Harry schon arg auf den Senkel. Ob der überhaupt was ernst nimmt?“

„ Das sind halt junge Burschen. Meiner Meinung nach zu schnell befördert worden. Da drückt dann manch einer zu fest aufs Pedal. Mir soll‘s recht sein. So lange mir keiner in die Quere kommt“, sagte Kriminaloberkommissar Bullrich und machte eine wegwerfende Handbewegung.

Remke nickte zustimmend.

„ Was soll‘s, mir kann sowieso alles an der rechten Backe vorbeigehen. Noch sechs Monate und dann ab nach Ibiza oder wie das heißt. Max, das wird dein Fall. Das habe ich im Urin. Fangen wir von mir aus im Zoologischen Garten an. Bei deinen Primaten oder wie die Dinger auch immer heißen mögen. Ich alter Dackel mag‘s halt nicht mehr so exotisch. Auf alle Fälle lass uns von hier verschwinden. Ich habe tierischen Kohldampf. Ich kenn da so einen Schuppen in der Oranienstraße. Die machen schon um acht Uhr auf. Lass uns da hinfahren und anständig früh-stücken. Ich lade dich auch ein.“

„ Dann sofort. Ich bin auch ohne zu essen in die Klamotten gesprungen und hierher gedüst. Richtiger Kaffee, frische Hörnchen. Du musst mich nicht zweimal fragen.“

„ Fein. Servus, die Kollegen“, sagte Remke.

„ Guten Appetit“, erwiderte Bullrich kurz.

„ Und meldet euch sofort, wenn sich was ergibt“, ermahnte Härtlein pflichteifrig die Männer, die ohne die Zigaretten auszudrücken im Fahrstuhl verschwanden. Das war nicht ungefährlich. Der Polizeipräsident war ein militanter Nichtraucher. Wer sich nicht peinlich genau an die penibel ausgetüftelten Verbotszonen hielt, riskierte eine Disziplinarstrafe. Remke gab sich jedoch gerne lässig in Kimrods Gegenwart, um den Jüngeren zu beeindrucken und von seiner großzügigen Dienstauffassung zu überzeugen.

 

 

Die Zeit der sturen Paragraphenreiter war zweifellos vorbei, besonders im Kriminaldienst. Als Polizist musste man selbst zum kleinen Verbrecher werden, um bestehen zu können. Im Brennpunkt der sozialen Konflikte standen Millionen von Arbeitslosen, die auch nur die Hoffnung auf einen Job als Aushilfskellner schon längst aufgegeben hatten, radikalisierte Minderheiten mit Migrationshintergrund, eine immer stärker von der Verarmung bedrohte Mittelklasse und die explodierende Verrohung und Gewaltbereitschaft der Kinder und Jugendlichen. In jeder Gruppierung stieg die Bereitschaft, Gesetze zu brechen und gegen den Staat tätig zu werden.

Nach den jüngsten Kürzungen im Sozial- und Arbeitslosenhilfebereich war die Rate der Sachbeschädigungen und mutwilligen Zerstörungen öffentlicher Einrichtungen besonders in den reicheren Vierteln stark nach oben geschnellt. Man wollte den Geldsäcken zeigen, dass man sich nicht unterkriegen ließ. Macht kaputt, was euch kaputt macht. Diese Parole längst vergangener Tage gewann eine neue, bedrohliche Bedeutung. Der Staat war verhasst wie nie zuvor. Zumindest bei den zwei Dritteln der Bevölkerung, die sich mit den weniger größeren Kuchenstücken zufriedengeben mussten. Die Blütezeit der großen Koalition war vorbei, der Vertrauensvorschuss verbraucht und die Hoffnung auf eine Verbesserung der wirtschaftlichen Lage begraben. Die immer wieder beschworene Solidargemeinschaft war nur noch eine Phrase in abgedroschenen Politikerreden, um den Plebs zu besänftigen. Die Fassade bröckelte, der einst so witterungsbeständige bundesrepublikanische Außenputz und das Fundament begannen Risse zu zeigen.

 

Die immer aggressiver agierenden Gewerkschaften machten längst nicht mehr vor dem ehemals geheiligten Beamtenstatus halt. Polizei, Post, Feuerwehr, alles konnte systematisch und über Nacht lahmgelegt werden, um die von einer Minusrunde in die andere eilenden öffentlichen Arbeitgeber und Ministerien zu höheren Abschlüssen zu nötigen. Doch Geld war keins mehr da. Das Steueraufkommen der Großindustrie sank von Jahr zu Jahr, und bei den kleinen Fischen war Vorsicht geboten. Neue Abgaben bedeuteten oftmals das Aus für mittelständische Betriebe und viele der Arbeitnehmer und Angestellten mussten bereits mehr als die Hälfte der Nettolöhne für die überteuerten Kredittilgungsleistungen aufwenden.

 

 

Kimrod stammte aus kleinen Verhältnissen: der Vater BMW-Fließbandarbeiter, die Mutter Teilzeitsekretärin. Da wurde es eng, wenn man drei Kinder vernünftig großziehen und ausbilden wollte. Kimrod hatte sein Abitur auch nur gemacht, um nicht gleich als Sechzehnjähriger arbeitslos oder auf ein berufliches Abstellgleis geschoben zu werden. Zur Polizei ging er deshalb, weil sein Vater ihm die Vorteile des Beamtendaseins ans Herz legte. Aber sogar dort stand die Unkündbarkeit neuerdings zur Debatte. Der Staat agierte da nach der Devise Auge um Auge, Zahn um Zahn.

Nach der Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege, Fachbereich Polizeivollzugsdienst, folgten ein paar Lehrjahre im Einbruchsdezernat. Seitdem konnte er alle Türen und Schlösser mit dem kleinen Finger öffnen. Danach zur Mordkommission, unter Remkes Fittiche. Es gab schlechtere Einkommensklassen, aber reich wurde im gehobenen Dienst auch niemand mehr. Man kam gerade so durch. Vor drei Jahren der neue Wagen. Einmal im Jahr zwei Wochen Griechenland, Essen, Kleidung, Versicherungen. Eine größere Wohnung war da einfach nicht drin. Kimrod stotterte immer noch die Zinsen für den Opel ab. Emma, seine Frau, hatte auf dem gehobenen Modell bestanden. Wenn nicht jetzt, wann denn sonst?

Klar, sie hatte recht, das letzte Hemd hat keine Taschen, aber zu sehr über die eigenen Verhältnisse leben, konnte gefährlich werden. Der BF stieg, wobei BF für Bestechlichkeitsfaktor stand. Und das in einem Beruf, der einen mit allen Tricks und Kniffen in Berührung brachte. Jeder hat bekanntlich seinen Preis. Man sollte also nicht zu ausgiebig im Fahrwasser der Zinshaie baden. Remke BF drei, Kimrod BF fünf, Maikovsky BF sieben. Das war eines von Zefhahns Lieblingsspielchen. Für die Betroffenen war es freilich weniger lustig. Wer sich überschuldete oder ein unregelmäßiges Privatleben führte wie Maikovsky, der mit Vorliebe unbefriedigte Ehefrauen bestückte, lief Gefahr, sich einer langwierigen Sicherheitsüberprüfung unterziehen zu müssen. Wer durchfiel, landete wieder bei der Schupo, zukünftige Beförderung ausgeschlossen.

Ein weiteres fragwürdiges Beurteilungskriterium aus dem Köcher des Kriminalrats war der PF, der Pressefaktor. Kimrod acht, das lag hart an der Schmerzgrenze. Zefhahn wurde rasend, wenn einer seiner Beamten auf eigene Faust Öffentlichkeitsarbeit leistete. Der Platz an der Mediensonne war ausschließlich ihm, dem Dienststellenleiter, vorbehalten. Wer sich vordrängelte, müsste fürchterlichste Repressalien in Kauf nehmen, die Suspendierung vom Dienst eingeschlossen. Kimrod liebte jedoch die direkte Zusammenarbeit mit den Zeitungen und trug durch seine unvoreingenommene Art viel zur Hebung des Ansehens der Polizei bei. Von den vielen Tips und Hilfestellungen der Journalisten, die dabei abfielen, ganz zu schweigen. Einem Reporter standen einfach ganz andere Informationskanäle offen.

 

 

Zefhahn wachte freilich wie ein Zerberus über sein Monopol. Bereits mehrmalig hatte er Kimrod mit dem Entzug eines Falls gedroht, was aber jedes Mal durch Kimrods Beliebtheit in der Presse verhindert wurde. Für die breite Masse war man als Polizist entweder korrupt oder, was noch schlimmer war, ein sadistischer Staatsscherge, der aus purem Spaß an der Freude für die oberen Zehntausend den Bluthund spielte. Kimrod hatte sich daran gewöhnt, für alle Vergehen der Politiker büßen zu müssen, die einerseits vom Otto Normalverbraucher immer drückendere Abgaben einforderten und andererseits nicht davor zurückschreckten, ihre Privatvermögen durch fragwürdige Steuerschiebereien zu mehren oder den Großkonzernen Erlasse in Milliardenhöhe zu gewähren.

Durch die immer größer werdende Verarmung verschoben sich auch die Moralvorstellungen. Kleindelikte wie das Zurückdrehen des Stromzählers oder privater Hanfanbau wurden verstärkt gebräuchliche Mittel, um sich über Wasser zu halten und das Einkommen aufzubessern. Die Delikttoleranz nahm rapide zu, wie sich Zefhahn auszudrücken pflegte. Kimrod hatte gelernt, auch beide Augen zu zudrücken. Wer einen großen Fisch fangen will, muss zehn kleine erwischen und sie wieder laufen lassen, nachdem sie gesungen haben. Ein in der Praxis nicht immer leichtes Unterfangen, da sich die großen Hechte meistens stark im Hintergrund versteckt hielten und die kleinen Angst hatten und sich lieber einsperren ließen.

Die Polizeiarbeit ähnelte daher immer mehr einer Gratwanderung. Links und rechts im Abgrund drohten Bestechlichkeit, Begünstigung, Beihilfe, Amtsmissbrauch, Strafvereitelung, Erpressung, Hehlerei und andere Rechtswidrigkeiten. Wer erfolgreich arbeiten wollte, war gezwungen, sich das ein oder andere Mal nach unten zu bewegen. Der Typ Remke, der auf der Fahrt zum Einsatzort drei Strafmandate wegen Gefährdung des Straßenverkehrs ausstellt, war zum Untergang verurteilt und konnte nur noch an der Seite eines Beamten von Kimrods Zuschnitt überleben, der mit mehr Ganoven per Du war als mit Kollegen, die seine ironische Art leicht als Arroganz missdeuteten.

 

 

 

Seit Kimrods Frau für das Abgeordnetenhaus kandidierte, fielen scheele Blicke auf ihn. Dabei war doch eine Partei so gut wie die andere und ohne die Sozis wäre die Lage noch viel beschissener. Kimrod machte sich aber in Wirklichkeit schon seit geraumer Zeit nichts mehr aus Parteiengezänk. Nur um im ehelichen und sonstigen Alltag etwas parat zu haben, übernahm er einige von Emmas Parolen und intonierte sie bei Bedarf.

Remke war schwarz wie die Nacht finster und konnte aus dem Stegreif Grundsatzerklärungen des Kanzlers rezitieren. Sie hatten sich deshalb darauf geeinigt, das Thema Politik auszuklammern, was Remke nicht immer leicht fiel. Er glaubte immer, seinen vom reformierten Sozialismus indoktrinierten Kameraden bekehren zu müssen.

 

 

 

„ Hallo, aufwachen, wir sind da. Pennst du oder stellst du schon wieder deine Reflexionen an? Nach dem Motto: Ich und die Welt. Die Stellung des sozial verantwortungsbewusst handelnden Kriminalbeamten im Wirkgefüge der postrevolutionären Realdemokratie insbesondere. Nur gut, dass ich keine solche Politwally zu Hause habe. Das täte mir gerade noch abgehen. Es gibt nichts Schlimmeres als intelligente Weiber. Du bist wirklich nicht zu beneiden.“

„ Außer intelligente Kollegen. Da kannst du gleich nachvollziehen wie mir manchmal zumute ist. Ich bekomm‘s zu Hause und in der Arbeit reingedrückt. Außerdem bist du bloß neidisch. Wenn Emma den Sprung in das Abgeor-dnetenhaus schafft, kann ich meinen Beruf an den Nagel hängen. Dann reicht‘s nämlich für zwei. Im Übrigen bist du der Sozialfatzke. Oder hab ich letzte Woche die drei Sudanesen laufen lassen, die am Ku'damm Dutzende von Börsen gezogen haben? Wahrscheinlich hast du sie wegen ihrer Hautfarbe nicht verhaftet. Unter Parteifreunden sozusagen“, sagte Kimrod bissig.

„ Ich habe die Kollegen informiert. Sie haben sie wenig später gestellt. Wir sind nun mal bei der Mordkommission. Man muss das alles schön getrennt halten. Und nun komm. Tiefer runter geht's nicht.“

 

 

 

Die Männer verließen den Fahrstuhl und gingen zu ihrem Dienstfahrzeug, das sich in der letzten Ecke der Tiefgarage unter dem Präsidiumsgebäude befand. Ein Teil der mehrstöckigen Parkplatzanlage diente gleichzeitig als Werkstatt. Hier wurden die Wägen frisiert und nach den oft materialmordenden Einsatzfahrten wieder hergerichtet. Die Zeiten des Überflusses waren auch hier längst vorbei. Nur was beim besten Willen nicht mehr zum Rollen zu bringen war, wurde ausgemustert. Der betagte Ford, den die beiden Polizisten bestiegen, lief ständig Gefahr, von einer der zahlreichen Verwertungsgesellschaften aus dem Verkehr gezogen zu werden. Man durfte ihn deshalb nie länger als achtundvierzig Stunden an einem Platz stehen lassen. Die Recyclinggeier wurden sonst aufmerksam und schlugen erbarmungslos zu.

Das Vehikel hatte unter der Haube noch gute zweihundert PS stecken. Man tat freilich gut daran, sie nur selten zu wecken. Bei höheren Geschwindigkeiten begann die Fuhre so bedenklich zu schwimmen und schaukeln, dass einem Angst und Bange wurde. Sogar Kimrod, der sonst kein Risiko scheute, drückte das Gaspedal nur zum Überholen durch und auch da erinnerte ihn Remke noch ständig an seine Rente, die er doch tunlichst nicht im Rollstuhl genießen wollte. Aber es war nichts zu machen. So lange der Wagen lief, gab es keinen Ersatz und die Mechaniker hatten es inzwischen zu einer wahren Meisterschaft im Präparieren und Instandsetzen von Rostlauben gebracht.

Zefhahn verwies seine Untergebenen bei Klagen einfach an die Autobahnpolizei. Wer rasen wolle, müsse eben dort sein Glück versuchen. Seine Beamten seien Spürhunde und keine Rennfahrer, basta.

 

„ Musik?“ fragte Kimrod, der die röhrende Limousine gekonnt ans Tageslicht steuerte. Remke nickte stumm. Die grauen Betonwände waren übersät von bunten Graffitos. Die Kids waren auch direkt unter den Augen der Polizei bienenfleißig. Remke hatte sich mehrfach nachts auf die Lauer gelegt, war aber nie fündig geworden. Die Künstler fertigten ihr Werke wohl während der Mittagspausen an. Einige Kunstjournalisten sollten sogar schon Fotos gemacht haben. Unter Zefhahns verschärftem Protest, der wahrscheinlich den Titel einer zukünftigen Ausstellung fürchtete: Subwaystimmung unterm Präsidium oder so ähnlich.

„ Was is? Ist dir nicht gut?“ erkundigte sich Kimrod weiter.

Remke winkte ab.

„ Lass mal. Mir ist schlecht vor Hunger. Und jetzt noch quer durch die ganze Stadt mit dieser Gurke. Fahr bloß langsam. Wir haben alle Zeit der Welt.“

„ Gut, gut, ich bin auch nicht lebensmüde. Kannst ja beim nächsten Mal mit der U-bahn fahren.“

,,Bin ich bescheuert oder was? Ich kenn ne Menge Typen, die bloß darauf warten, dass sie mir im Gedränge einen Schraubenzieher zwischen die Rippen stecken können. Alles schon mitgemacht.“

„ Ach ja, das musst du mir genauer erzählen. Ich dachte, die Leute, die sich mit dir angelegt haben, schwimmen alle schon kieloben im Landwehrkanal.“

„ Mach nur deine Witzchen. Zu meiner Zeit gab‘s noch eine klare Frontenverteilung. Da war nichts mit Schmiere zum Anfassen oder Gestörtenregelung. Unter fünf Jahren ist bei mir keiner davongekommen. Da verschafft man sich Feinde.“

 

 

 

Remke spielte auf ein neues Regierungsprogramm an, dass jedem Täter einen ursprünglichen Unschuldszustand zubilligte. Zum Verbrecher wurde man nur durch eine Verkettung unglücklicher Umstände im sozialen Umfeld. Die krankmachende, sprich den kriminellen Trieb verursachende Umwelt musste, wenn möglich, verändert werden und der Täter in einem speziellen, der Haft- beziehungsweise Bewährungsstrafe sich anschließendem Programm lernen, mit dieser Umwelt anders, in einer keine kriminellen Verhaltensweisen produzierenden Art, umzugehen. Die Erfolge waren durchwachsen. Viele Mehrfachtäter hatten den Dreh bald heraus, sich mit dem richtigen Vokabular auch aus dem fünften und zehnten Einbruch herauszuwinden. Sie schützten vor, dass sie mit den hohen Anforderungen der unerbittlichen Leistungsgesellschaft nicht mehr zurechtkämen und man sie im letzten Täterschutzprogramm einfach unzureichend auf den rauen Alltag vorbereitet hätte.

Bei Gewaltverbrechern griffen die Programme manchmal besser. Wer zum Beispiel seine Ehefrau krankenhausreif geschlagen hatte, konnte seine Strafe alternativ zum Gefängnis in einem Ausbildungslager für Einzelkämpfer abbüßen, in dem die vierschrötigen Feldwebel berechtigt waren, jegliche Regung individuellen Widerstands mit massiver körperlicher Gewalt zu brechen. Wer sich wiederholt von einem physisch weit überlegenen Gegner Prügel für eine verdreckte Uniform eingefangen hatte, merkte alsbald, dass diese Form von zwischenmenschlicher Kommunikation für den Unterlegenen ziemlich frustrierend war. Die Raufbolde lernten so ihre Lektion viel eindringlicher und kamen oft völlig bekehrt wieder nach Hause, insgeheim stolz, eine harte Schule durchlaufen zu haben. Das Projekt war erst am Anlaufen und man musste die richtigen Therapieformen für alle Täterprofile erst noch ausfindig machen, so dass es zu früh war, eine Bewertung anzustellen. Fest stand nur, dass die Grenzen des herkömmlichen Strafvollzuges erreicht und teilweise auch schon überschritten waren.

Die Strafen wurden immer höher und der Platz in den Justizvollzugsanstalten immer weniger. Wer seine fünfhundert Euro Bußgeld für zu schnelles Fahren nicht zahlen wollte, ließ die gesetzte Frist verstreichen und erklärte sich bereit, die ersatzweise verhängte Haft anzutreten, mit der Gewissheit, niemals gesiebte Luft atmen zu müssen. Um Drogenabhängige zu kurieren, die um ihre Sucht zu befriedigen, straffällig geworden waren, dachten manche schon laut darüber nach, malaiische Verhältnisse einzuführen. Dort steckte man die Süchtigen in militärisch geführte Umerziehungslager, in denen mit viel frischer Luft und Zwangsarbeit versucht wurde, den Junkies ihr Laster auszutreiben. Dealer hängte man nach wie vor kurzerhand auf.

Es war also Bewegung ins Justizsystem gekommen. Mit welchem Erfolg und zu welchen Ufern, stand noch in den Sternen.

 

 

 

Kimrod zog seinen Kollegen weiter auf.

„ Die, die du einsperren wolltest, lachen sich heute noch krumm und bucklig. Erzähl mir lieber, was du jetzt mit deiner vielen Freizeit anfangen willst. Vielleicht noch ein Kind machen oder was?“

Remke griff seinem Chauffeur scherzweise ins Steuer und betätigte dabei die Hupe. Ein Fahrer, der neben ihnen zum Überholen ansetzte, trat kurz auf die Bremse und bewegte dann seine Hand mit gespreizten Fingern mehrfach vor dem Gesicht hin und her.

„ Der hat dich gemeint. Fährst auch wie eine gesenkte Sau“, sagte Remke belustigt.

Kimrod ging vom Gas und ließ den Mann vorbeiziehen.

„ Also, was steht an? Klappt‘s noch oder muss ich dich heute Nachmittag in der Safaribar auf Vordermann bringen? Kostet mich nur ein Lächeln“, meinte Kimrod gut gelaunt.

Remke seufzte. Seine Frau war zwanzig Jahre jünger als er und Kimrod machte immer wieder seine Anspielungen. Schlimmer wie ein pubertierender Sechzehnjähriger. Seine Inge bekam, was sie brauchte. In der Beziehung konnte ihm niemand etwas vorwerfen.

„ Mich auf Vordermann bringen. Dass ich nicht lache. Solchen Nachtwächtern wie dir mache ich noch mit achtzig was vor. Kannst mir ja mal deine Alte ausleihen, wenn du es nicht glaubst. Aber beschwer dich nachher nicht, wenn sie dich von dem Tag an von der Bettkante stößt.“

,,Das Risiko nehme ich locker in Kauf. Mach jedoch vorher dein Testament. Meine Frau ist einiges gewohnt und legt bestimmt ein scharfes Tempo vor. Du könntest dich überanstrengen. Wäre vielleicht kein schlechter Tod. Aber im Ernst. Mit was willst du deine alten Tage verbringen? Meinst du, dass du Theo behalten kannst, als Privatmensch? Rottweiler sollen doch verboten werden.“

„ Papperlapapp. Außerdem ist Theo ein Mischling. Er hat viel Bernhadinerblut in den Adern, das macht ihn ruhiger. Pass lieber auf, wo du hinfährst. Ständig von links nach rechts, da wird man richtig seekrank.“

Kimrod schlängelte sich geschickt durch den zähflüssiger werdenden Verkehr. Häufige Spurwechsel waren unvermeidbar, wenn man schnell vorankommen wollte. Der Nieselregen wurde dichter, die Häuserzeilen am Straßenrand noch düsterer. Die Stadt sah von Jahr zu Jahr heruntergewirtschafteter aus. Alte Gebäude wurden nicht mehr saniert, die neuen Regierungspaläste wirkten morbide und deplatziert. Versicherungs- und Bankentower versuchten vergeblich, den tristen Gesamteindruck durch geschäftige Dynamik zu übertünchen. Lieblos hochgezogene Wohnblöcke, schwärzliche Siedlungen aus dem vorigen Jahrhundert. Man zog mit anderen europäischen Metropolen wie Paris und Rom gleich, freilich ohne deren kosmopolitische Leichtigkeit zu erreichen. Gewissermaßen nur im negativen Sinne.

 

 

Kimrod suchte einen neuen Sender. Das System klinkte sich in eine ansprechende Hardrockstation ein. Kimrod erhöhte die Lautstärke. Die erwartete Reaktion seines Kollegen kam prompt.

„ Dein Gedudel kannst du dir gefälligst zu Hause anhören. Wir sind im Dienst, da gibt‘s für einen guten Polizisten nur eine Welle. Wenn‘s denn unbedingt sein muss, dann bitte etwas leiser. Ich will mir jetzt auch nicht noch die Lauscher verderben.“

„ Apropos Lauscher. Nächste Woche soll die neue Walter PZ 40 eintrudeln. Hülsenlose Munition, Mündungskompensator und fünfundzwanzig Schuss im Magazin; Einzel - und Dauerfeuer. Mit der Flak kannst du in den Krieg ziehen. Die mäht alles um.“

„ Na da wünsch ich euch viel Spaß. Je mehr Technik, desto schneller kaputto. Wie lang haben wir gebraucht, um die neue SIG von allen Kinderkrankheiten zu kurieren? Die Kaliber werden immer stärker, die Geschosse rasanter und die Rahmen kleiner. Das dauert lange bis das alles wieder zusammenpasst. Werde sie mir natürlich mal genauer ansehen. Ich will schließlich wissen, mit was ihr jungen Spunde durch die Gegend ballert.“

„ Genau. Man will natürlich auch hören, was der Fachmann spricht. Wir werden das Gerät nächste Woche ordentlich durchchecken und dann sehen wir weiter. Ich bin aber echt saumäßig froh, dass wir endlich nachrüsten. Jeder Hinterhofgangster ist inzwischen besser bestückt wie wir. Da käme so ein kleiner Raketenwerfer gerade recht.“

„ Vielleicht haben wir dann auch wieder gegen die Spiderwesten eine Chance. Es ist einfach ein Unding, bis auf fünf Meter herankommen zu müssen, um die Burschen umnieten zu können. Und dann auch nur noch mit überschweren Kalibern. Wir sind tatsächlich nicht mehr auf dem neuesten Stand der Technik.“

„ Ich denke schon, dass sich in der Richtung was tun wird. Die Durchschlagskraft soll enorm sein. Diese Scheißelastoseide, an der wir uns bisher die Zähne ausgebissen haben, wird wird den neuen Turbogeschossen nicht viel entgegenzusetzen haben. Da werden einige eine saftige Überraschung erleben. Ich kann mir die Szene gut vorstellen. Da marschiert einer in seinem leichten Ganzkörperanzug in die Bank und verlangt ganz ruhig und gelassen die gesamte Kohle. Wir werden heimlich alarmiert, aber der Knabe hat nichts zu befürchten. Wenn er uns auf Distanz halten kann, riskiert er höchstens ein paar blaue Flecken. Plötzlich macht‘s Wumm und dem Typen fliegen die Eingeweide auf die Fliesen. Die neue Walter hat zugeschlagen: fern, schnell, gut.“

„ Du sagst es, und ich bin nicht mehr mit dabei. Eigentlich schade, vielleicht sollte ich noch einmal zehn Jahre draufpacken. Bin sowieso zu jung für die Rente.“

„ Nein. Ich denke, du hast deine Zeit gehabt. Man muss immer dann aufhören, wenn es am schönsten ist. Du hast doch vorhin gesagt, dass dir vor dem neuen Fall graut. Ein untrügliches Zeichen, du solltest sofort Schluss machen. Früher mussten wir dich mit Gewalt ins Wochenende prügeln. Kein Tag unter zehn, zwölf Stunden, kein Fall zu groß. Da bleibt mit der Zeit der Verschleiß nicht aus...“

„ Mensch, hast du den gesehen, der hat mindestens achtzig Sachen drauf. Stell den Kojak raus und setz nach. Der hat es bestimmt nicht umsonst so eilig. Ich will einen Besen gefressen haben, wenn der sauber ist.“

„ Sachte Otto. Wir machen in Sachen Mord und sind von unserem Chef, der beauftragt wurde, eine Sonderkommission zu bilden, angewiesen worden, in einem Fall Ermittlungen anzustellen, der keinen Aufschub duldet. Du hast gehört, was Zefhahn gesagt hat. Identifizierung bis heute Abend. Nicht umsonst, schätze ich. Da hat der Präsident persönlich aufs Gaspedal gedrückt. Bis ich diesen Fuzzi erwische, der wahrscheinlich bloß seine neue Mühle ausprobieren will, sind wir in Mahrzahn. Wir könnten wahrscheinlich eine schöne Stange Mäuse einkassieren, aber momentan werden wir für etwas anderes bezahlt. Außerdem ist der Sprit bald alle. Bevor ich die Mühle richtig auf Touren gebracht habe, sitzen wir auf dem Trockenen.“

„ Gut, du hast gewonnen. Du willst nicht und hast den höheren Rang, aus welchen Gründen auch immer. Wahrscheinlich war das einer von deinen Spezis, der seiner Tussi imponieren wollte. Mir kannst du erzählen, was du willst. Ihr steckt doch alle unter einer Decke. Ich befürchte bloß, wenn du keinen mehr hast, der auf dich aufpasst, wirst du mit deinen Gangstern endgültig gemeinsame Sache machen.“

„ Fang bloß nicht wieder damit an. Das sind nicht meine Freunde, alte Bekannte allenfalls und einige von denen sind auch nicht schlimmer wie der Minister da vorne in seiner Regierungskiste.“

„ Kommunist. Außerdem ist das kein Minister, sondern ein Botschafter. Das ist ein Diplomatenkennzeichen. Na ja, mach doch was du willst. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. Eins ist auf jeden Fall sicher. Ich bleibe bis zum letzten Tag im Dienst und werde bis zu diesem Tag dafür sorgen, dass die Gesetze eingehalten werden. Mit dir oder ohne dich. Ist mir schnurzegal.“

„ Na dann ist ja gut. Mir nämlich auch.“

 

 

Sie erreichten um viertel nach neun die Oranienstraße und parkten den Wagen in einer Tiefgarage. Das Cafe, das Remke ausgesucht hatte, war noch ziemlich leer, die Beleuchtung gedämpft. Sie bestellten zweimal französisches Frühstück und musterten dezent die Gäste. Remke kannte den Besitzer persönlich und wusste, dass sie hier geduldet wurden. Die Kundschaft entstammte normalerweise nicht dem kriminellen Milieu.

Die noch etwas schläfrig wirkende Bedienung brachte das Essen nach wenigen Minuten. Es gab Hörnchen, Rührei mit Speck, drei verschiedene Sorten Marmelade, eine Kanne Milchkaffee, Orangensaft, appetitlich aufbereitete Butterstückchen und diverse Käsesorten. Kimrod ließ sich außerdem Zigaretten bringen. Remke vergewisserte sich bei der Bedienung, ob alles im Preis inbegriffen sei und langte dann herzhaft zu.

„ Na, hab ich zu viel versprochen? Wo kriegt man hier noch für sieben Euro so viel zu fressen wie man will. Und schmecken tut es obendrein.“

Kimrod, der gerade sein zweites Butterstückchen in Bearbeitung hatte, nickte zustimmend. Er schluckte den letzten Bissen mit einem großen Schluck Kaffee hinunter und unterbrach seine Beschäftigung, um sich eine Zigarette anzuzünden.

„ Ja, nicht schlecht. Ich find nur, der Kaffee ist ein bisschen dünn. Zu Hause bin ich ihn stärker gewöhnt.“

„ Ach Quatsch. Das ist Café au lait, französisches Nationalgetränk, zumindest vor zwölf Uhr. Ich gehe normalerweise nicht gerne mit meinen Fremdsprachenkenntnissen hausieren, aber die Betonung liegt auf Milch, viel Milch und dann kommt erst der Kaffee. Die Franzosen müssen morgens noch ihren Magen schonen, weil sie später wieder so viel Zeugs in sich reinschütten. Das sind keine Türken, die den Satz mitfressen. Nein, sanft und schonend. Wusste übrigens gar nicht, dass deine Frau Kaffee kocht. Ich dachte immer am Herd regierst du. Sie macht doch nur auf Hausfrau, wenn ein Reporter in der Nähe ist. Ansonsten feilt sie an ihren Reden und entwirft neue Strategien für ihre roten Brüder. Wenn sie nicht aufpasst, landet sie bald in der Grundwertekommission. Wenn sie nicht schon dabei ist...“

„ Auf alle Fälle bin ich mir im Gegensatz zu dir nicht zu fein für die Hausarbeit. Meine Emma kocht sehr guten Kaffee und das hier ist Muckefuck. Ob mit lait oder ohne lait. Ich hab nämlich selber in der Schule Französisch gelernt.“

„ Ach ja, das musst du mir genauer erzählen. Wie alt war denn die Lehrerin, einunddreißig?“

„ Siebenundzwanzig, und sie hat wegen mir ihren Beruf an den Nagel gehängt. Es stimmt also doch. Manche Männer werden ab einem gewissen Alter wieder kindisch. Wenn sie überhaupt jemals erwachsen geworden sind. Apropos Kaffeesatz fressende Türken. Diesen Ton kannst du dir postwendend abschminken. Wenn nicht, fliegst du raus.“

„ Wär mir sehr recht. Wie oft muss ich satzfressende Türken wiederholen? Mir steht diese ganze Scheiße nämlich bis zum Hals. Jeder Fall ist neuerdings politisch und muss mit Fingerspitzengefühl gelöst werden. Nur wegen den paar eingeschlagenen Köpfen im August.“

„ Es gab immerhin fast tausend Verletzte, hundert auf unserer Seite. Die Türken und der schwarze Block, in der Tat eine brisante Mischung. Aber wir dürfen die nicht zusätzlich provozieren, sonst gibt‘s sofort wieder einen Affentanz. Damals sind zwei Türkinnen vergewaltigt worden. Heute haben wir zwei übel zugerichtete Leichen. Vielleicht ergibt sich da ein Zusammenhang.“

„ Sag ich doch. Damals hat sich doch auch plötzlich herausgestellt, dass sie von einer Handvoll Landsleuten beklettert worden sind. Genauso wird‘s jetzt auch wieder sein. Vielleicht war‘s der erzürnte Bräutigam oder gar Bruder, der es nicht mehr verwinden konnte, dass das Mädchen anschaffte.“

„ Das wäre einfach. Wir müssen auf alle Fälle aufpassen. Die Sache steht schon morgen in allen Sonntagszeitungen und ab Montag geht der Tanz richtig los. Aber mit reden allein kommen wir nicht weiter. Wir müssen einen Plan ausarbeiten. Wo gehen wir als Nächstes hin, wo können wir was in Erfahrung bringen ohne gleich zu viel Staub aufzuwirbeln? Schieß los!“

„ Langsam. Schau mal auf die Uhr. Wir sind zu früh dran. Bumslokale sonnabends ab fünfzehn Uhr. Eher nicht. Vielleicht noch in die ein oder andere Kneipe.“

„ Das macht Härtlein. Dem will ich nicht begegnen“, gab Kimrod zu bedenken.

„ Aber wie viele Kneipen gibt‘s in Kreuzberg und Umgebung? Mir fällt schon eine ein. Nur die Ruhe.“

„ Das bezweifle ich nicht. Wenn‘s nur was bringt. Wir halten schon zu lange Maulaffen feil. Jetzt sind Taten gefragt.“

„ Gerade sagst du, wir müssen mit Überlegung vorgehen und dann muss plötzlich alles Hals über Kopf gehen. Wenn wir wenigstens ein Foto hätten. Ich meine, ein richtiges Foto. Das könnte man den Leuten zeigen und die würden sich erinnern, wo sie die beiden Mädchen gestern Nacht gesehen haben und vor allem mit wem. Totaler Quatsch, uns nur mit diesen Metzgeraufnahmen loszuschicken. Die kann man doch niemanden zeigen. Den Leuten wird doch nur schlecht. Typisch Zefhahn. Hauptsache, er hat die Verantwortung abgeschoben!“ schnaubte Remke.

„ Was soll er denn machen, sich Portraitaufnahmen aus dem Hut zaubern? Wir sollen doch rausfinden, wer die waren und mit wem sie verkehrten.“

„ Aber wie, du Schlaumeier? Weisst du, wie viele Leute hier wohnen? Willst du die alle persönlich befragen? Entschuldigen Sie bitte, kennen Sie zufällig zwei Nutten mit zermanschtem Gesicht? Willst du das?“

„ Komm, komm, nicht auf die Tour. Ich hab uns die Suppe nicht eingebrockt. Du hättest halt Taxifahrer werden sollen. Da wären dir solche unappetitlichen Geschichten erspart geblieben. Zumindest hättest du dich nicht näher damit befassen müssen. Schätze, dass wird sowieso dein letzter Fall. Hab irgendwie so ein Gefühl, dass das eine längere Angelegenheit wird. Besonders der abgeschnittene Kopf macht mir zu schaffen. Das hat so was Perverses an sich. Und unten mit einem Mixer reingefahren. Also, ich weiß nicht, da steckt etwas anderes dahinter. Ich sehe nur noch nicht was.“

Die Bedienung, die am Nachbartisch ein Kreuzworträtsel löste, wurde immer blasser. Die wenigen Gesprächsfetzen, die sie verstand, schienen ihr auf den Magen zu schlagen. Sie tippelte zornig hinter die Theke und genehmigte sich einen Underberg. Remke beobachtete sie amüsiert und orderte ebenfalls ein Verdauungsregulans, das die Angeschlagene mit spitzen Fingern servierte.

„ Vielen Dank, schöne Frau. Du trinkst ja nicht vor Sonnenuntergang. Ist auch besser so, da bleibt mir mehr.“

Remke kippte den Kräuterschnaps gekonnt mit einer eleganten Kieferbewegung ohne die Hände zu Hilfe zu nehmen und grunzte danach befriedigt.

„ So, jetzt sehe ich gleich wieder viel klarer. Wir dürfen nicht so laut reden. Die Bedienung wäre beinah umgekippt. Ich sehe das so. Heutzutage ist alles möglich und was heißt schon pervers. Da hat jemand unsauber gearbeitet oder für ein paar Augenblicke die Beherrschung verloren, mehr nicht. Außerdem wissen wir noch viel zu wenig, um großartig Schlüsse ziehen zu können. Lass uns gemütlich zu Ende essen und nachher gehen wir ein paar Häuser weiter ins Madonna. Vielleicht trifft sich da auch schon vormittags Gelichter unseren Zuschnitts. Ich meine, wie‘s wir benötigen, um mit unserem Fall weiterzukommen. Lass uns bis dahin über etwas Netteres reden. Wie geht‘s zu Hause, was machen die Kinder? Noch alles gesund und munter?“

Kimrod holte tief Luft und zündete sich eine neue Zigarette an. Das war ein Reizthema. Besonders in Bezug auf die Kinder, Wolf und Ingrid.

„ Ja, alles gesund. Ich bin noch verheiratet, die Kinder leben noch. Zufrieden?“

„ Nein, nein, mein Lieber. So leicht lass ich mich nicht abspeisen. Ich kenne euch doch schon so lange. Die Kinder von klein auf, da kann ich doch ein bisschen mehr verlangen. Was treibt Wolf so? Mit der Schule ist er doch fertig?“

„ Ja, Gott sei Dank. Ich weiß auch nicht genau, was der vorhat. Er treibt sich immer noch viel mit diesen Camos herum. Nichts Vernünftiges jedenfalls.“

„ Totsch. Der Mann wird immer schlechter gemacht wie er in Wirklichkeit ist. Der holt die Kids von der Straße und gibt ihnen die Möglichkeit, so was wie Gemeinschaftsgefühl zu entwickeln. Wart nur ab, der Junge macht seinen Weg. Vielleicht schneller wie du denkst!“

 

 

 

Erich Totsch war der Anführer der Camos, einer paramilitärischen Organisation, die schon mehrere Tausend Mitglieder zählte. Nicht nur in der Hauptstadt, sondern in der ganzen Republik wurden Monat für Monat neue Filialen gegründet, die streng nach dem Vorbild der Mutterorganisation in Berlin aufgebaut waren. Die Unterführer wurden in speziellen Kursen auf ihre Aufgabe vorbereitet und auf Totsch persönlich eingeschworen, so dass die Durchsetz-ung seiner Prinzipien bis in die kleinste Zelle hinein reibungslos funktionierte.

Mit der Kombination von modernster Kommunikations- und Computertechnologie war die ständige Kontrolle und Verbindung aller Kameraden, wie sich die Mitglieder untereinander anredeten, somit jederzeit gewährleistet. An den Wochenenden wurden Übungen abgehalten, die stark militärischen Manövern ähnelten. Es wurde dabei viel Wert auf Nahkampfausbildung gelegt. Man schlief im Freien oder in kärglichen Armeezelten. Alkohol war zwar nicht verboten, er wurde jedoch nur im geringen Ausmaß konsumiert. Die Kameradschaft entwickelte sich am Lagerfeuer auch ohne Drogen. Das bevorzugte Kleidungsstück der Camos war die Tarnjacke. Im Winter schwarzweiß gesprenkelt, in den anderen Jahreszeiten grünbraun. Auch Mädchen und junge Frauen verstärkten immer mehr die Reihen von Totschs Einheit, die auch Sicherungsaufgaben übernahm. Die soldatisch vorgebildeten Camos waren vorzüglich geeignet, um Banken- und Versicherungskomplexe, U-Bahnanlagen und Einkaufszentren zu überwachen und vor Beschädigungen zu bewahren. Das wurde immer notwendiger, weil alles, was nach Geld roch, in den ärmeren Teilen der Bevölkerung immer verhasster wurde und die Polizei oft streikte oder wegschaute.

Und Totschs Dienste waren nicht teuer. Viele Camos wurden noch im Schulalter angeworben und konnten noch mit einem Taschengeld abgespeist werden. Materialismus war unter ihnen streng verpönt. Auch die Regierung hatte Totsch bereits für kleinere Aufgaben engagiert. Bei Wahlveranstaltungen etwa zur Absicherung der Barrikaden und zur genauen Überwachung des Publikums. Die Politiker vertrauten ihren Leibwächtern nicht mehr bedingungslos. Man hatte aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt. Viele Augen sehen mehr wie wenige und allein die Präsenz so vieler Uniformierter wirkte abschreckend. Die Motivation stimmte hundertprozentig, denn die Camos arbeiteten auch bei solchen Einsätzen ausschließlich für Totsch, der seine Schäflein durch eine geschickte Vorgehensweise eng an sich band. Wer nicht parierte, wurde von ihm persönlich degradiert, und seine Offiziere, meistens die über Zwanzigjährigen, wurden instruiert, alle Entgleisungen, aber auch besondere Leistungen der Kameraden, in ein streng abgeschirmtes Computernetz einzuspeisen, so dass beim so genannten Monatsrapport jedem Mitglied einzeln fundierte Noten erteilt werden konnten. Durch die kurzen Haarschnitte und die getarnten Jacken kamen die Camos rasch in Verdacht, rechtsradikalem und nationalsozialistischem Gedankengut verhaftet zu sein.

Doch Totsch war apolitisch und ideologiefrei, zumindest gab er sich so. Man konnte natürlich sein Gebaren auch anders interpretieren. Die einzigen Schlagworte, die er seinen Anhängern predigte, waren Kameradschaft, Pflicht und Treue. Aber, wie gesagt, keine Politik. Das war in den Augen vieler freilich Politik genug. Man verglich ihn mit einer Größe des Dritten Reiches und bezeichnete ihn als üble Aaskrähe, die eine vorübergehende Schwäche der Nation schamlos ausnutzte und rücksichtslos, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln des demokratischen Rechtsstaates, bekämpft werden müsse.

 

 

 

Nächstes Jahr im Frühjahr wurde gewählt und Remke hatte gehört, dass Totsch bei mehreren Wahlkampfhöhepunkten der CDU für den Personenschutz zuständig sein sollte. Wolf, Kimrods Sohn, war vor drei Monaten zum Leutnant befördert worden und würde deshalb bestimmt mit von der Partie sein. Für seinen Vater bedeutete dieses Engagement eine Katastrophe. Er hatte ihn beschworen zu studieren. Egal was, aber nach dem Ablehnungsbescheid von der Musterungskommission war das völlige Überwechseln Wolfs zu den Camos keine Frage mehr. Hier konnte er beweisen, was in ihm steckte.

Totsch verlangte viel, doch er gab alles zurück, mit Zinsen. Bei ihm wusste man immer, dass man dem Vaterland diente und sein Leben nicht sinnlos verschleuderte. Wo sonst wurde einem das heute noch geboten? Sogar in der Armee wurde man zusehends nur noch für fragwürdige Aktionen der UNO oder NATO missbraucht.

Wolf bereute seine Entscheidung nicht im Geringsten. Wurde er doch von Totsch schon nach kurzer Dienstzeit mit verantwortungsvollen Aufgaben betraut. Und Geld gab es obendrein. Wer gut war und viel arbeitete, machte immer seinen Schnitt. Das galt freilich nur für die höheren Dienstränge. Nur denen wurden die einträglichen Wertkurierfahrten anvertraut. Man musste sich eben hochdienen. Aber, wie gesagt, Totsch gab jedem eine Chance. Wer willig war und die richtige Einstellung mitbrachte, konnte etwas werden. Und vielleicht reichte es bis ganz nach oben, in den engsten Vertrautenkreis um Totsch, der seine auserwählten Paladine gerne als Generäle titulierte und mit ihnen als Erster unter Gleichen die Geschicke der Truppe leitete.

 

 

„ Ich kann diesen Kerl einfach nicht leiden. Die anderen geben wenigstens zu, woher bei ihnen der Wind weht, aber der tut immer so, als ob er für den Friedensnobelpreis in Frage käme. Möchte nicht wissen, was der so hinter verschlossenen Türen vom Stapel lässt. Da war Adolf noch ein Biedermann dagegen. Kommt Jahr und Tag nicht aus seiner Karnevalsuniform heraus. So was ist einfach abartig. Tut so, wie wenn wir schon seit zwanzig Jahren Krieg hätten. Und immer nur in Rudeln auftreten. Das hab ich am meisten gefressen. Allein den Schwanz einziehen und dann zu zehnt den starken Mann markieren. Diese Idioten müssten wirklich mal ein halbes Jahr an der Front verbringen, aber dazu reicht es bei keinem“, sagte Kimrod verbittert und inhalierte tief.

Wenn es um Totsch oder die Camos ging, musste er seine ganze Energie aufwenden, um sich zu beherrschen. Nicht nur weil ihm der Unsympathling seinen Sohn abspenstig gemacht hatte. Da war ein Geschwür am Wachsen, das den ganzen Organismus bedrohte.

„ Du sprichst von deinem Sohn. Du wirst ihn doch nicht als Feigling bezeichnen, der sich nur gegen Schwächere traut. Außerdem ist das ganz normal in seinem Alter. Da sucht man sich andere Ideale. Wolf hat seins gefunden. Nicht das schlechteste, wenn du mich fragst.“

„Tu ich aber nicht. Wenn du einen fahren lässt, müssen die Bauern drei Tage lang Ruß kutschieren, so schwarz bist du. Wenn dann noch einer sagt Deutschland ist prima, kann er deinetwegen auch seine Oma zu Chappi verarbeitet haben. Mir macht der nix vor. Das ist ein ganz übler Geselle, der unter dem Mäntelchen der Jugendarbeit anti-staatliche Ziele verfolgt. Der wartet doch nur darauf, dass hier die Ordnung zusammenbricht und er den starken Mann spielen kann. Dieses Gesocks müsste man meiner Meinung nach alles rausschmeißen! Hinter den Ural oder so! Da können sie sich dann ausspinnen und ihr Viertes Reich gründen.“

„ Jetzt verwechselst du aber ein paar Dinge, mein Lieber. Totsch ist für einen starken Staat und ist bereit, für diesen etwas zu riskieren. So einer wie der hat seinen Krieg tagtäglich. Da brauchst du dich nicht drum zu kümmern. Ihr Linksmichel hockt doch in jeder Redaktion und in jedem Sendeturm an den Schalthebeln. Die Leute werden in Deutschland immer noch nur aus einer Richtung aufgehetzt. Wer Heimat und Vaterland sagt, ist schon ein Hakenkreuzler. Nein, mein Bester. Totsch springt da in eine Bresche, wo deine Gewerkschaft zugeschlagen hat. Immer kürzere Arbeitszeiten, immer mehr Feiertage, Streiks, keine Überstunden mehr. Immer mehr Verständnis für die Kriminellen. Wen wundert es da noch, wenn alle das Vertrauen in uns verlieren. Die Bullen kümmern sich eh um nix mehr. Los, lass uns einen Bruch machen...kam gestern Abend in so einer Fortsetzungsserie. Gespräch zweier Zwölfjähriger, am Puls der Zeit.“

Ein gehetzt wirkender junger Mann betrat das Café und marschierte ohne sich umzusehen oder eine Bestellung aufzugeben in die Herrentoilette. Kimrod kannte ihn. Pillenfred.

„Wenn das kein Dusel ist. Der versorgt auch Nutten mit seiner Medizin. Ich werde ihn mir mal ein bisschen vornehmen. Du hältst die Stellung.“

Kimrod schlich sich vorsichtig in den Kloraum und konnte durch den Spiegel beobachten, wie sich der Dealer aus dem engen Lüftungsfenster beugte. Kimrod stellte sich breitbeinig in die Schwungtür und sagte:

„ Komm Kleiner, bleib doch hier. Ich bin‘s, der gute Onkel von der Schmiere. Na los, zeig mal, was du hast.“

Fred machte einen verzweifelten Satz nach oben und versuchte, sich durch den Rahmen zu zwängen. Kimrod zog ihn am Gürtel nach unten und begann, seine Taschen zu duchwühlen.

„ Ah ja, da haben wir das Döschen für alle Fälle. Nicht schlecht für Sonnabend Vormittag.“

Der Kommissar öffnete die gelbe Plastikdose, in der sich gut hundert dicke, rote Pillen befanden.

„ Baldrianperlen. Oder Verdauungspillen, bestimmt nichts Verbotenes. Etwas anderes würde ich von dir gar nicht erwarten. Da ich weder unter nervösen Zuckungen leide und meine Gedärme zur Zeit vorzüglich arbeiten, will ich keine der Bomben verschwenden. Was ist das, Diabolos?“

Der Chemotripmarkt boomte wie nie zuvor. Jahr für Jahr wurden in den Labors neue, noch stärker wirkende Drogen kreiert, die althergebrachte Substanzen wie Kokain und Heroin schon weitgehend verdrängt hatten. Man konnte alles vor Ort in kleinen mobilen Küchen produzieren und war nicht länger auf gefährdete Auslandstransporte angewiesen. Die Gewinnspannen waren auch hier enorm, da die Rohstoffe billig im Pharmaziegroßhandel bezogen werden konnten. Diabolos wurden aus einer LSD-Amphetaminverbindung hergestellt und waren seit Jahren der etablierte Renner fürs Wochenende. In den Diskotheken ging nichts mehr ohne. Wer keine einwarf, versuchte die enthemmten Dauertänzer zu imitieren, in deren Ohren meistens eine stark veränderte Musik dröhnte. Der Stoff war nicht immer clean. Pfuscher verwechselten die Reaktionsschritte oder wogen falsche Mengen ab, aber Abgänge blieben eher selten und waren zu verschmerzen. Kein Reiz ohne Gefahr, und da man mit dreißig eh schon alles hinter sich haben würde, schreckte die von den Ärzten prognostizierte vorzeitige Umnachtung auch niemand mehr.

Die Justiz und ihre Vollstreckungsorgane waren machtloser denn je. Man kam nicht mehr mit, die Verbotsliste im Betäubungsmittelgesetz zu erweitern und den aktuellen Geschehnissen anzupassen. Von einem Grunddesign existierten hundert verschiedene Varianten, denen alle strafrechtlich nicht beizukommen war. Freds Karten standen gar nicht so schlecht.

„ Nimm deine dreckigen Griffel von meiner Hose. Ich weiss zwar, dass ihr Idioten von der Kripo alle schwul seid, aber bespring bitte deinen fetten Freund. Vielleicht bläst er dir auch einen. Mich lass auf alle Fälle los“, keckerte Fred frech.

Kimrod schubste den Dealer ziemlich kräftig gegen die Wand und steckte die Pillendose zurück in Fred‘s Jackett.

„ Will ich dir auch geraten haben. Das geht dich einen Dreck an. Ihr könnt mir nichts am Zeug flicken. Die Drops kannst du in jeder Höchstfiliale kaufen. Alles ganz legal. Mein Anwalt freut sich auf so ein Arschloch wie dich. Bedrohung, Freiheitsberaubung und Körperverletzung. Jetzt vergehen dir deine dummen Sprüche, was!“

Der Kommissar drückte das Fliegengewicht mit aller Gewalt gegen die Kacheln.

„ So, du Klugscheißer. Von so einer kleinen Ratte wie dir lass ich mich nicht beleidigen. Noch ein Wort und ich breche dir sämtliche Rippen.“

Fred wurde blass und nickte stumm. Kimrod ging wieder einen Schritt zurück.

„ Gefällt mir schon besser. Ich weiß, dass ich dich für das Zeug festnageln kann. Das ist illegaler Drogenbesitz. Wärst sonst nicht erst hier reinmarschiert, um dir einen Fluchtweg zu sichern. Oder ist die Konkurrenz hinter dir her?“

Fred schüttelte den Kopf. Er war noch schwer am Schlucken.

„ Ist mir auch egal. Euch Giftmischer kann ich zwar am wenigsten leiden, aber du bist noch einer der angenehmsten, momentan wenigstens noch. Wenn du weiter im Geschäft bleiben willst, dann hör gut zu. Du hast heute deinen Glückstag. Ich lass dich wieder laufen, aber du musst was dafür tun. Heute Morgen wurden zwei Mädchen massakriert. Wahrscheinlich beide vom horizontalen Gewerbe. Und es sind Ausländerinnen, eventuell türkisch. Wir wissen, dass du auch Prostituierte belieferst. Also horch dich um, wir sind für jeden Hinweis dankbar. Und ich rate dir, bald was aufzuschnappen, sonst kannst du zwei Jahre in Moabit dealen. Ich hab dich sofort wieder, also lass dir schleunigst was einfallen.“

Fred war sichtlich erleichtert. Der Kommissar hatte seine Pillen nicht beschlagnahmt und wollte nur eine belanglose Auskunft. Der Monat war gerettet.

„ Kannst dich auf mich verlassen, Kimrod. Fred weiß alles, Fred sieht alles, Fred hört alles. Wie heissen die beiden Ärmsten denn? Ich hab sie bestimmt gekannt. Wer was auf sich hält, deckt sich bei mir ein.“

„Ja, ja, die Namen haben wir leider noch nicht. Ich kann dir nur ein paar schlechte Fotos von den Leichen anbieten.“

Kimrod zog die Aufnahmen aus seiner Jackentasche und gab sie dem Dealer, der sie mit gespieltem Interesse studierte.

„Tja, für die ist wohl der Zug endgültig abgefahren. Schade eigentlich, zwei so junge Dinger. Schlecht zu sagen, wenn nicht so viel Blut dran wäre, könnte man mehr erkennen. Und bei der anderen... nein, ohne Kopf, tut mir leid, da bin ich überfragt. Aber ich werde sehen, was sich machen lässt. Bin Ihnen auf alle Fälle schwer verbunden. Ich habe eben manchmal eine große Klappe, aber die braucht man eben in meiner Sparte. Ich weiß, wo ich Sie finden kann. War mir ein Vergnügen.“

Fred schob sich sein Jackett zurecht und verließ eilig das Café. Kimrod erleichterte sich und überbrachte seinem Kollegen die freudige Nachricht.

„ Hat einen ganz verschüchterten Eindruck gemacht, das kleine Schwein, aber erst nachdem ich ihm eine vor den Latz geknallt habe. Diese Typen werden immer unverschämter. Die glauben, weil sie fünfmal so viel verdienen wie unsereins, können sie sich aufführen wie die Wildsäue. Er hat eine ganze Büchse von seinem Dreck dabeigehabt und faselt dann noch was von Anwalt und Freiheitsberaubung. Ich hätte ihm ordentlich die Fresse polieren sollen. Jedenfalls haben wir schon einen Versuchsballon gestartet. Mal sehen, was er bringt.“

„ Der ist hier raus wie eine Rakete und hat dabei von einem Ohr zum anderen gegrinst. Ich glaub, den können wir abschreiben. Hast du wenigstens die Drops behalten? Sonst sehen wir den nie wieder?“

„ Nein, natürlich nicht. Sonst ist er sauer und macht nichts. Ist auch nicht gesagt, ob er wegen uns so nervös war. Vielleicht hat ihm sein Labor wieder was Neues zusammengeschneidert, das durch das Paragraphensieb rieselt. Ich hätte es höchstens beschlagnahmen können....bis dann die Untersuchung wieder fertig ist....nein, man muss eben auch was riskieren. Wenn er sich nicht meldet, ist auch nichts verloren. Höchstens für die Drogenfahndung, aber das ist nicht unser Problem.“

„ Das ist eine Dienstauffassung, aber du hast wahrscheinlich recht. Anders werden wir in der Geschichte nicht vorankommen. In dem Milieu muss man immer erst investieren, bevor man einen Ertrag abschöpfen kann. Ich möchte nur wissen, wo sich die anderen rumtreiben. Es wäre ganz hilfreich zu wissen, was die bisher schon rausgebracht haben.“

„ Bestimmt nicht mehr wie wir. Wollen wir wetten?“ schlug Kimrod vor.

„ Gut. Ich setze fünf Euro auf Maikovsky, dass er die Namen hat. Wir rufen im Präsidium an, nachdem wir uns im Madonna umgehört haben.“

„ Meinetwegen. Das ist sicheres Geld. Maikovsky könnte in der Zwischenzeit genauso gut Miss America gevögelt haben. Das wäre ebenso wahrscheinlich. Die Türken sagen einem Deutschen gegenüber nichts. Besonders nicht in einem Mordfall.“

„ Wir werden sehen. Der Junge ist auf jeden Fall immer für eine Überraschung gut. Wenn er die richtige Geschichte auftischt, hat er schon halb gewonnen. Die schwatzen doch für ihr Leben gern, diese Orientalen. Und Maikovsky auch. Da gibt sich eine Hand die andere.“

„ Gut. Ich lade dich noch schnell auf einen Espresso ein und dann lass uns von hier verschwinden. Ich werde das Gefühl nicht los, dass wir irgendwas verschlafen. Die Typen, die die Mädchen umgelegt haben, wollten damit doch irgendwas bezwecken. Das war nicht die letzte Aktion in dieser Richtung. Wir müssen auf der Hut sein. Präsenz ist gefordert. Bedienung!“

 

 

 

Die Kellnerin räumte die Reste der Frühstückstafel ab und verschwand kurz in einem Hinterzimmer. Anschließend kümmerte sie sich um die Espressomaschine, die bald fauchend und gurgelnd den Betrieb aufnahm. Die Frau stellte zwei Tassen bereit und füllte etwas Wasser nach. Sie beendete ihre Arbeit in erstaunlich kurzer Zeit. Der füllige Besitzer des Lokals erschien hinter dem Tresen, servierte persönlich die Getränke und sagte:

„ Hallo Otto! Was verschlägt dich hierher?“

Dabei musterte er Kimrod eindringlich. Remke machte die beiden Männer miteinander bekannt.

„ Dachte ich mir schon. Ihr seht alle gleich aus. Dieser prüfende Blick...na ja, kann eben niemand aus seiner Haut raus. Gab‘s Ärger? Sind Sie belästigt worden, Herr Kommissar?“ forschte der Wirt weiter.

Kimrod schüttelte den Kopf.

„ Nein, nein, nur alte Kundschaft. Nichts von Belang. Ich konnte es nicht vermeiden. Der Kerl wurde pampig, aber der kommt so schnell nicht wieder.“

„ Na da bin ich ja beruhigt. Ich mag solche Geschichten nicht hier drin. Wenn man das einmal einreißen lässt, kriegt man die Bullen nicht mehr vom Hals. Entschuldigung, seid ihr mir jetzt böse? Die zwei Kaffee gehen auf jeden Fall auf mich. Nicht nur deswegen, ihr erfüllt schon euren Zweck. Ich möchte nicht wissen, was hier los wäre ohne euch.“

„ Vielen Dank, aber mit Bulle kann man leben. Wir werden Ihr Lokal nicht so schnell wieder beehren. Das, nach dem wir suchen, trifft sich eine Etage tiefer“, antwortete Kimrod und zeigte dem Kneipier die Tatfotos.

„ Um Gottes Willen! Nein, ist ja scheußlich. Gott sei Dank habe ich damit nichts zu tun. Ich glaub, mir wird schlecht. Macht‘s gut, tschüss.“

Der Gastronom verschwand hinter der Theke. Kimrod grinste schief.

„ Du, unterschätz den nicht, der hat es faustdick hinter den Ohren. Gut, dass du ihm die Bilder gezeigt hast. Was meinst du wie der jetzt die Lauscher spitzt. Sozusagen der zweite Versuchsballon. Und kein schlechter dazu. In so einer Pinte kommt doch alles zusammen. Ein bisschen was wird auch für uns dabei sein. Hoffe ich wenigstens“, erklärte Remke befriedigt.

„ Ist der eigentlich schwul?“ fragte Kimrod mit gedämpfter Stimme.

Die Bedienung drehte ab und zu verräterisch den Kopf.

„ Glaube ich nicht. Er war verheiratet und hat sogar Kinder. Vielleicht verkehren bei ihm so viel Warme. Das soll abfärben“, antwortete Remke.

„ Tja, war wohl eine blöde Idee, aber er ist gar so affektiert erschrocken.“

„ Der hat schon schlimmere Sachen erlebt. Der tut nur immer so. Fritz wollte sich nur davonschleichen. Draußen macht er jetzt bestimmt Brotzeit.“

„ Prost Mahlzeit. Los, an die Tassen! Kalt wird das Zeug ungenießbar. Bedienung!“

Kimrod leerte seine Tasse und winkte mit einem Zwanz- igeuroschein. Die Kellnerin brachte die Rechnung. Jeder zahlte einzeln. Kimrod verlangte eine zweite Ausfertigung der Kostenaufstellung.

„Für unsere Buchführung. Die wollen es immer ganz genau wissen. Handschriftlich reicht auch.“

„ Das hätten sie gleich sagen müssen. Ich bin keine Hellseherin. Bei euch Beamten kennt sich keiner mehr aus. Können Sie nicht zu Hause frühstücken?“ fragte die Bedienung unwirsch.

„ Hilde! Jetzt reicht‘ s. Das geht dich nichts an. Also gib ihnen ihre Zettel und wir reden nicht mehr davon.“

Die Stimme des Wirtes war für einen kurzen Moment bedrohlich geworden. Wenn er wollte, konnte er bestimmt sehr unangenehm werden. Die Kellnerin warf die zweite Rechnung verachtungsvoll vor Kimrod auf den Tisch und tippelte zurück hinter die Theke, um die Spülmaschine fertig einzuräumen. Remke fing plötzlich an zu lachen.

„ Mein Gott, jetzt war die ganze Aufregung umsonst. Eigentlich wollte ich dich einladen. Hab‘s in der Aufregung ganz vergessen.“

Fritz, der Wirt, war schon wieder verschwunden.

„ Ist doch egal. Ich geb‘s sowieso als Spesen an. Hab diesen Monat noch so gut wie nichts. Und wenn sie Schwierigkeiten machen, komm ich auf dich zurück“, bemerkte Kimrod gelassen.

Die Polizisten bezahlten und marschierten los. Der Regen war feiner geworden, hatte jedoch an Intensität kaum nachgelassen, so dass Kimrod und Remke etwas durchnässt um halb elf im Madonna ankamen. Sie bereuten es fast, nicht den Wagen benutzt zu haben. Nur das leidige Parkplatzproblem hatte sie davon abgehalten. Das Madonna war etwas heruntergekommen. Das einstige Szenelokal wurde vermehrt von halbseidenem Publikum frequentiert, das den Stadtteil immer stärker dominierte.

Der Virus, der apokalyptische Schrecken des letzten Jahrhunderts, war besiegt und man begann wieder sich zu amüsieren. Die wenigen Siechenden, die die tödliche Krankheit noch in sich trugen, wurden von den Medien als Ikonen des Untergangs konserviert und den dankbaren Konsumenten als High-Tech-Pestweiblein einer fernen, maroden Epoche präsentiert. Zwischen und innerhalb der Geschlechter war wieder alles erlaubt. Die lächerliche Allianz von staatlichen Safer-Sex Programmen und Keuschheitsgeboten bigotter Moraltheologen war von der Tatkraft aufgeklärter Wissenschaft im Staub zertreten worden.

Die gesetzlichen Zügel hingen lockerer denn je. Die Prostitution war nach wie vor erlaubt und blieb als boomender Wirtschaftszweig von kleinlichen Restriktionen verschont. Kneipen mutierten zu Bars, Eigentumswohnungen zu florierenden Privatbordellen, die häufig von einsamen Regierungsbeamten aufgesucht wurden. Studentinnen und Hausfrauen gründeten Einmannbetriebe, teilweise unter Mithilfe ihrer Lebensgefährten und Ehemänner, und schlugen der längst zur Depression gediehenen Wirtschaftsmisere ein Schnippchen. Menschenmaterial stand in Form mit Kurzzeitvisa ausgestatteten Polinnen und weiterer Bewohnerinnen der slawisch-asiatischen Siedlungsgebiete praktisch unbegrenzt zur Verfügung.

Wer mehr Exotik wollte, blieb ebenfalls nicht unbefriedigt. Großzügige Einreisebestimmungen für heiratswillige Mädchen aus der dritten und vierten Welt trugen dazu bei, auch diesen Markt abzudecken. Die unzähligen Banden, die um jede Straße und jedes Lokal kämpften, in dem sie die Kundschaft abzocken konnten, folgten dem Strich wie ein Schwanz dem Hund. Doch die moderne Hure wollte sich nicht mehr ohne weiteres von einem rudimentären Organ vereinnahmen lassen. Wer sich nicht selbst gegen Übergriffe arbeitsloser oder expansionsfreudiger Zuhälter wehren konnte, engagierte schlagkräftiges, vornehmlich ausländisches Personal, das sich gegen ein immer niedrigeres Entgelt immer blutiger, sprich wirksamer, in Szene setzte.

Remke graute nicht zu unrecht vor diesem Fall. Wer in Verdacht geriet, mit der Polizei zu kooperieren, hatte sein Leben schnell verwirkt. Man regelte Streitigkeiten intern. Ein Übereinkommen, dass auch von den Behörden abgesegnet war, freilich nur inoffiziell. Wenn eine Leiche zu viel Wirbel machte und die Zeitungen Blut leckten, musste rasch und kompetent gehandelt werden. Bevorzugt wurde der Mörder, der sich nach der Tat selbst richtete, bevor das Vögelchen zwitschern konnte.

 

 

 

Im Madonna waren drei Tische besetzt. Einer nur mit Frauen, einer von vier Männern und einer mit zwei Pärchen. Fast alle tranken Bier. Man war trotz des miesen Wetters bester Stimmung. Der Männertisch lachte berstend als die Kommissare wie begossene Pudel ins Lokal trotteten und sich fröstelnd ihrer nassen Jacken entledigten.

„ Ist doch weiter als man denkt“, sagte Remke trocken.

„ Und der verdammte Regen. Erst glaubt man, dass nur ein bisschen Nebel herunterfällt und wenn man dann richtig draußen ist, schifft‘s einem die Hucke voll. Aber das kenne ich von mir. Fast jedes Mal, wenn ich mich entschließe, ohne Schirm loszugehen, das gleiche Spiel. Auf halber Strecke werden die Schleusen geöffnet und man ärgert sich schwarz, weil man keine Vorkehrungen getroffen hat“, schimpfte Kimrod und hob grüßend die Hand in Richtung des Männertisches. Er nahm neben Remke Platz, der bereits die Speisekarte studierte.

„ Kennst du diese Kanarienvögel etwa?“ fragte Remke. Kimrod legte den Zeigefinger auf den Mund.

„ Leise, das ist einheimische Mafia. Da sind wir genau an der richtigen Adresse. Wir wollen uns doch nichts verscherzen. Und wie ich sehe, können wir in der illustren Damenrunde auch ein bisschen auf den Busch klopfen. Du hast den richtigen Riecher gehabt. Die Wasserstoffblonde hat früher selber angeschafft. Jetzt lässt sie anschaffen. Wir haben wirklich Glück heute.“

„ Ach weißt du, hier in Kreuzberg ist nichts mehr so wie früher. Dieses ganze Gesocks findet man bald schon zu jeder Tages- und Nachtzeit an allen möglichen und unmöglichen Plätzen vor. Da gehört nicht mehr viel Spürsinn mit dazu, um hier fündig zu werden. Das ist so wie wenn du mit einem Netz durch den Karpfenteich gehst. Da verfängt sich rein zwangsläufig was.“

„ Aber auch Fischen will gelernt sein.“

Die Bedienung brachte unaufgefordert zwei große Helle.

„ Wer ist der edle Spender, wenn man fragen darf?“ erkundigte sich Kimrod.

Die robust gebaute Kellnerin deutete auf den Männertisch.

„ Einer von den Herren da war so frei. Zum Wohl.“

Kimrod und Remke prosteten sich zu und nahmen tiefe Schlücke von dem etwas abgestanden aussehenden Bier. Ein grau melierter Herr im abgetragenen Lederanzug erhob sich von dem Nachbartisch, den Kimrod mit dem Prädikat organisiertes Verbrechen ausgezeichnet hatte, und bat die Polizisten höflich, an ihrem Tisch Platz nehmen zu dürfen. Kimrod rückte zuvorkommend einen Stuhl zurecht.

„ Bitte, bitte. Wer uns ein Bier ausgibt, ist immer willkommen. Sie kennen doch die mickrigen Beamtengehälter. Da muss man heutzutage in so manchen sauren Apfel beißen.“

Der Mann, der nach Kimrods Informationen hauptsächlich im Schutzgeldbereich tätig war, zuckte ein wenig mit der rechten Augenbraue, bot aber Kimrod trotzdem aus einem protzig wirkenden Etui eine Zigarette an.

„ Der Kollege raucht ja nicht. Die Herren vom Mord müssen ihre Gesundheit schonen, das Leben ist hart genug. Was führt die Herren Kriminaler denn am Wochenende ins Revier? Doch nichts Dienstliches?“

Kimrod ließ sich auch noch Feuer geben und zog die Aufnahmen aus seiner Jacke, die er hinter sich auf die Stuhllehne gehängt hatte. Remke beobachtete interessiert das Minenspiel des Ganoven, das jedoch so ausdruckslos blieb, als ob er das Gesangsbuch in der Sonntagsmesse studieren würde.

„ Mein Name ist übrigens Kroll, Jürgen Kroll. Meine Freunde dürfen mich Johnny nennen, aber das möchte ich Ihnen aus verständlichen Gründen nicht zumuten. Die Polizei hat nicht nur Freunde und man könnte versuchen, Ihnen daraus einen Strick zu drehen. Soll das hier in Kreuzberg passiert sein?“

Remke, dem etwas Deftiges auf der Zunge lag, wurde von Kimrod mit einer beruhigenden Handbewegung an der Ausführung gehindert.

„ In der Grenzallee. Gestern Nacht, so gegen zwei Uhr. Wir kennen bis jetzt noch nicht einmal die Namen. Vielleicht können Sie uns behilflich sein. Sie scheinen was für die Polizei übrig zu haben“, sagte Kimrod ironisch.

„ Immer, es besteht doch ein allgemeines Interesse an der Aufklärung solcher Geschichten. Ich traue mich kaum mehr aus dem Haus, wenn solche Bestien frei herumlaufen.“

„ Waren es denn mehrere?“ fragte Remke scharf.

„ Bitte, woher soll ich das wissen? Aber die Frauen können doch alle Kampfsport. Da kann man schon auf mehrere Täter schließen. Wie geht es übrigens Polizeipräsident Wulke? Ist er immer noch so auf Draht?“

Remke zog die Hörner wieder ein. Der Typ schien jeden Berliner Polizisten mit Vornamen zu kennen. Kimrod blies Kroll etwas Rauch ins Gesicht.

„ Wulke wird sich freuen, wenn ich Grüße bestelle. Er wird sich bestimmt an Sie erinnern können.“

„ Gut. An Ihrer Stelle würde ich mich zu dem Damenkränzchen gesellen. Da gibt‘s bestimmt mehr zu holen. Ich empfehle mich.“

Kroll setzte sich wieder neben seine Kompagnons, die nach wenigen Minuten wieder in schallendes Gelächter ausbrachen. Krolls Bericht schien der guten Laune keinen Abbruch zu tun. Remke bat Kimrod um eine Zigarette.

„ Jetzt weiß ich, was du gemeint hast, mit da wird sogar ein Klosterschüler zum Suchtbolzen. Sag mal, sind die wirklich so unangreifbar oder tun die nur so? Der hat doch seine Finger in jedem schmutzigen Geschäft, das hier über die Bühne geht. Ich würde einen Teil meiner Rente dafür geben, wenn man so eine Sau zur Strecke bringen könnte.“

„ Lass nur. Die erfüllen irgendwie auch ihre Aufgabe. Damals im Dritten Reich wurden ebenfalls Kriminelle in den Konzentrationslagern mit der Aufrechterhaltung der Ordnung betraut und zur Disziplinierung der Mitgefangenen eingesetzt. Nur das Ergebnis zählt. Das alte Lied, der Zweck heiligt die Mittel. Je weniger die Polizei hier herumschnüffelt, desto lieber ist denen das. Deswegen haben sie ein Interesse daran, den Fall schnell aufzuklären.“

„ Aber Kreuzberg ist kein Konzentrationslager. Und was die unter Ordnung verstehen, ist doch nur ein möglichst reibungsloses Abwickeln ihrer kriminellen Geschäfte. Wenn man so denkt, kann man gleich die Gesetze abschaffen und alle Polizisten zu Parkplatzwächtern umschulen. Der Dschungel reguliert sich selber.“

„ Sag ich doch. Manchmal jedenfalls, man muss da flexibel sein. Ich gehe jetzt zu Conny und ihren Schützlingen rüber. Vielleicht haben die schon was gehört. Du bleibst auf jeden Fall hier. Nicht dass du mir wieder die Pferde scheu machst.“

„ Nur allzu gern. Zeig ihnen bloß nicht die Bilder. Das schreckt nur ab.“

 

 

 

Kimrod begab sich an den Tisch, der mit drei reichlich geschminkten Frauen besetzt war und fragte, ob er sich für ein paar Minütchen dazusetzen dürfe. Conny, die Blondine, bejahte und machte ihn mit ihren beiden Begleiterinnen bekannt. Conny hatte vor Jahren ihrem Zuhälter eine Kugel in den Unterleib verpasst, weil er mit ihren Autonomiebestrebungen nicht einverstanden war und sie mehrmals grün und blau geschlagen hatte. Sie war von dem Luden angezeigt worden und konnte die Anklage wegen versuchten Mordes gerade noch abbiegen. Sie kam mit einer Bewährungsstrafe davon und blieb seitdem von allen weiteren Belästigungen verschont. Der Fall war von etlichen Illustrierten durchgehechelt worden, die immer zu ihren Gunsten berichteten. Der Lude kam weniger gut davon. Hämisch amüsierte sich die Öffentlichkeit über seine vorübergehend außer Funktion gesetzte Männlichkeit.

Connys Tat war kein Einzelfall. Die Frauen setzten sich mit massiven Mitteln zur Wehr und wurden darin durch das sich wandelnde Rechtsempfinden bestärkt.

„ Also, ich will nicht lange stören. Gestern Nacht ist eine scheußliche Geschichte passiert. In der Grenzallee hat man zwei schrecklich verstümmelte Frauenleichen aufgefunden. Sie müssten in eurer Branche tätig gewesen sein, der Kleidung und dem Fundort nach zu schließen. Habt ihr schon was gehört davon?“

Kimrod kannte Conny so gut, dass er wusste, wie weit er gehen durfte. Sie würde ihm seine direkte Art nicht übel nehmen.

„ In eurer Branche...wofür hält der uns denn. Wir sind doch nicht im Puff hier, oder Mädels?“

Alle lachten und Kimrod spürte, dass das Eis gebrochen war. Er konnte auf weiteres Entgegenkommen hoffen. Conny wurde wieder ernst.

„ 0.k., ist geschenkt, aber nur weil du es bist. Du hast mir in meinen Kampfjahren auch ab und zu geholfen. Aber Berlin ist groß und kein Dorf. Möchte nicht wissen, was da jede Nacht alles abläuft...Grenzallee, das ist Straßenstrich. Viel Ausländer, ficko facko fünf Marko. Da hab ich nicht so ‘nen Kontakt dazu. Wir sind gerade erst aufgestanden. Und in der Zeitung habe ich nichts gelesen. Also ich muss passen, keine Ahnung.“

„ Klar, es ist noch ein bisschen früh, aber wir stehen mächtig unter Zeitdruck und ich dachte mir, die Conny kennt hier alles und jeden. Vielleicht kann dir die weiterhelfen. Gut. Ja, Moment, das wollte ich dir noch sagen. Es waren zwei Ausländerinnen. Vielleicht hat man sie auch von woanders hergeschafft. Es ist alles möglich. Macht‘s gut, Kinder. Ich will euch nicht länger stören.“

„ Schöne Grüße an deine Frau. Sie soll gut auf dich aufpassen. Und Petri Heil oder wie man da sagt. Arrivederci!“

Conny wollte ihn noch zu sich herabziehen und einen Abschiedskuss auf die Wange drücken, aber Kimrod entzog sich entschlossen ihren Bemühungen und ging zu Remke zurück.

„ Bei der hast sogar du Chancen. Vielleicht kann man das auch über die Spesen absetzen. Wenn‘s was bringt, warum nicht. Der Zweck heiligt die Mittel, wie du immer sagst. Emma würde das bestimmt verstehen...“, stichelte Remke hämisch grinsend.

Kimrod nahm einen Schluck und sagte:

„ Alte Männer, die vor Geilheit sabbern, sind einfach widerlich. Du müsstest dich mal im Spiegel sehen.“

„ Ja, ja, schon gut. Ich halt schon die Fresse, sonst kehrst du wieder deinen Hauptkommissar raus. Was steht an?“

„ Fehlanzeige, keine Ahnung. Du bist wieder dran.“

„ Oder Maikovsky. Wir wollten doch im Präsidium anrufen, wenn wir hier fertig sind. Soll ich?“

„ Ja, mach. Du kannst dich doch nicht beherrschen. Schließlich stehen fünf Euro auf dem Spiel.“

Remke ließ sich den Apparat zeigen und kam nach fünf Minuten wieder zurück. Er rückte an Kimrod heran und erstattete Bericht.

„ Der Kopf ist gefunden worden. Der Kopf von der zweiten Tusnelda! Dreimal darfst du raten wo...“

„ Sag schon, ich weiß es nicht.“

„ In einer Plastiktüte, am Türknauf der Wohnung einer Tazredakteurin. Die Schreibliese hat einen Schock erlitten und ist ins Krankenhaus eingeliefert worden. Sie dachte wahrscheinlich, dass ihr jemand netterweise ein paar Brötchen vermacht hat. Das Gesicht hätte ich sehen mögen!“

„ Und wo ist das? Wir fahren sofort hin. Bezahlt ist alles.“

„ In Müggelheim. Der nächste Weg, ich weiß, aber da lassen sich gut verdienende Redakteure nun mal nieder. Hoffentlich schifft‘s nicht noch immer.“

Sie zogen ihre Jacken an, verabschiedeten sich und machten sich auf den Weg. Die Polizisten hatten Glück, es fiel nur noch leichter Sprühregen. Sie beschleunigten ihre Schritte trotzdem. Kimrod wollte keine Zeit mehr verlieren. Er löste ein Ticket, als sie die Tiefgarage erreicht hatten und hielt seinen Kollegen zu größerer Eile an, der sich an einem detailgetreuen weiblichen Akt erfreute, den ein unbekannter Künstler per Spraydose angefertigt hatte.

„ Nun komm schon. Da draußen ist bestimmt noch mehr zu holen.“

„ Das sieht aber wirklich gut aus. Bald braucht man keine Museen mehr, weil jeder freie Quadratmeter zugepinselt ist. Und die Burschen werden immer besser.“

Sie fuhren los und kamen gut voran. Der Verkehr war noch flüssig. Die Straßenerweiterungsmaßnahmen machten sich bezahlt. Es schien auch so, dass die vielen Tempolimits sich nicht nachteilig auf die Durchschnittsgeschwindigkeit auswirkten. Die Politik zu bauen, was das Zeug hält, hatte sich als richtig erwiesen. Nun, da kein Geld mehr vorhanden war und teure Verkehrsplanungen schon auf dem Reißbrett dem Rotstift zu Opfer fielen, wurde die in vergangenen Tagen kritisierte Asphaltierungsstrategie allgemein gelobt und als vorausschauend gepriesen.

Die aggressive Benzinversteuerung der Regierung trug ebenfalls dazu bei, den Verkehrsfluss zu regulieren. Nur wer wirklich unbedingt selber fahren musste, machte nicht von den öffentlichen Verkehrsmitteln Gebrauch. Die Energiekonzerne, die das Rohöl zu Vorzugspreisen aus den Staaten der Panarabischen Liga importierten, begannen bereits unter empfindlichen Umsatzeinbußen zu leiden, obwohl das schwarze Gold reichlicher denn je floss. Der Staat unterstützte die radikalen Vertreter der arabischen Welt unverhohlen auch mit umfangreichen Waffenlieferungen. Einerseits um die einheimische Rüstungsindustrie zu fördern und um sich andererseits eine geostrategische Position im wichtigen Nahen Osten zu sichern, die dem wiedererlangten Großmachtstatus des Landes genügend Rechnung trug. Verbilligte Rohstoffe gab es dafür obendrein.

 

 

 

Remke kannte die Gegend um den Müggelsee von seinen Wochenendausflügen mit dem Paddelboot her recht gut und dirigierte Kimrod zielsicher an die angegebene Adresse in der Fischerheide. Die Wohnung befand sich in einem schmucken Mehrfamilienhaus, von dem aus man bis zur Großen Krampe, einem Nebenarm des Langen Sees, blicken konnte. Kimrod parkte den Wagen zur Hälfte auf dem Gehsteig und erntete dafür tadelnde Blicke seines Kollegen, der den Standpunkt vertrat, dass man sich besonders als Polizeibeamter peinlich genau an die Gesetze und Verordnungen halten musste.

„ Wehret den Anfängen! Wer heute sein Auto falsch parkt, hinterzieht morgen die Steuer...“

„ Und überfällt übermorgen die Deutsche Bank. Das wolltest du doch sagen. Wir sind im Einsatz, du Nussknacker. Soll ich dir die diesbezüglichen Dienstvorschriften runterbeten? Ich kann sie alle auswendig, auch rückwärts. Da bleibt dir die Spucke weg, Senior.“

Remke unterbrach seinen Versuch, die Tür schlüssellos durch Herunterdrücken des Verriegelungsknopfes abzusperren.

„ Sag das noch mal. Jetzt sind wir nicht mehr in deiner Scheißstadt, wo an jeder Ecke ein Schutzmann steht. Pass also auf, sonst schmeiß ich dich ins Wasser, du Grünschnabel.“

Remke beendete sein Vorhaben erfolgreich und schnellte mit einem mächtigen Satz über den rechten Kotflügel und die Hälfte der Kühlerhaube auf den Hauptkommissar zu, der in gespielter Angst in einen der winzigen Vorgärten flüchtete, die mit einem circa fünfzig Zentimeter hohen Maschendrahtzaun von dem Bürgersteig und den Nachbargrundstücken abgetrennt wurden. Remke hatte sich während der Fahrt Notizen gemacht und blätterte nach Abschluss seiner Turnübung in einem kleinen Block. Er fand, was er suchte und informierte seinen Kollegen.

„ An der Krampe 12b. Frau Zollner, Ilona. Bei mir ist vierzehn.“

Kimrod wechselte in den nächsten Vorgarten und entdeckte die Nummer.

„ Hier, 12b. Hoffentlich ist jemand zu Hause.“

Er drückte auf die Klingel und wartete. In einem durch einen weißen Vorhang geschützten Fenster wurde kurz der Kopf einer blassen, jungen Frau sichtbar. Kimrod hielt der ersten Inspektion offenbar stand. Wenige Augenblicke später wurde der Haustürschlüssel herumgedreht. Die Journalistin machte einen Spalt weit auf.

„ Sie sind von der Polizei. Ich rieche das. Aber zeigen Sie mir bitte trotzdem Ihre Dienstmarke. Eine Überraschung am Tag ist genug.“

Kimrod gab ihr seinen Ausweis und bat die Redakteurin, eintreten zu dürfen. Remke untersuchte den Türknauf mit einer Lupe und folgte anschließend Kimrod und der Redakteurin in die Wohnung. Frau Zollner entschuldigte sich für ihr Misstrauen und bot den Beamten Kaffee an. Die Wohnung war mit vielen Pflanzen und schwarzen Ledermöbeln eingerichtet. Die Decken zierten edle Hölzer. Kimrod und Remke machten es sich im Esszimmer bequem, von dem aus man einen guten Blick zum Wasser hinunter hatte. Frau Zollner brachte ihnen einen Aschenbecher und zwei kleine Klare.

„ Der hat mir heute Morgen sehr gut geholfen. Ich bin gleich so weit.“

Sie verschwand wieder in der Küche. Die Männer zündeten sich Zigaretten an und bestaunten die Unmengen von Taschenbüchern, die in einfachen Metallregalen aufbewahrt wurden.

„ Siehst du, Otto, das ist wahre Kultur. Es gibt sie doch noch, aber wir mussten dazu bis hier raus fahren. In der Stadt geht so was unter. Wenn du in der Rente bist, legst du dir auch eine Bibliothek an. Vielleicht ist noch was zu retten“, spottete Kimrod.

Remke leerte sein Glas und antwortete geheimnisvoll:

„ Du kennst mich zwar schon ziemlich lange, aber offensichtlich nicht gut genug. Auch ich habe mal davon geträumt zu studieren und all den Kram. Aber mir wurden Steine in den Weg gelegt und ich musste mich arrangieren. Aber vielleicht liegt in meinem Kopf trotzdem mehr begraben als in diesen zwanzig Meter Regal.“

Frau Zollner brachte den Kaffee und schenkte den Beamten ein.

„ So, jetzt kann ich mich zu Ihnen setzen. Haben Sie den Täter schon?“

„ Welchen? Den, der die Mädchen umgebracht hat oder den, der den Kopf an Ihre Tür hängte?“ fragte Kimrod.

Die Journalistin wusste anscheinend noch nicht, dass es zwei Leichen gab.

„ Tut mir leid, aber ich dachte...ein Kopf, eine Leiche?“

Frau Zollner wurde wieder etwas blasser. Remke klärte sie auf.

„ Heute Nacht sind in der Grenzallee zwei Leichen gefunden worden. Eine ohne Kopf. Jetzt sind wir wieder komplett. Ihr Kopf passt zu unserem. Haben Ihnen die Beamten, die den Fall hier untersucht haben, nichts davon gesagt?“

„ Nein. Mir wurde gleich nachdem ich die Polizei verständigt hatte, schwindelig und schwarz vor den Augen. Dann hat man mich ins Krankenhaus gebracht. Aber es ging dann gleich wieder viel besser und ich bin mit einem Taxi nach Hause gefahren. Das ist alles.“

„ Nun gut, wir wollten gerne noch ein paar Dinge wissen. Wenn es Ihnen zu viel wird, können wir die Sache natürlich auch verschieben. Es wäre nicht schlecht, wenn Sie uns sofort...“

Kimrod setzte auf ihren beruflichen Jagdtrieb, der die Schwäche ihrer Konstitution aufwiegen sollte.

„ Nein, nein, Sie brauchen sich nicht zu sorgen. Es war nur etwas zu viel auf einmal. Wer ist auch auf so was gefasst, auf nüchternen Magen? Wo drückt der Schuh?“ fragte die Journalistin im Geschäftston

„ Haben Sie irgendwelche Feinde, die Ihnen einen Denkzettel verpassen wollen? Vielleicht haben Sie sich diese Feinde durch eine Reportage im Rotlichtmilieu verschafft. Wäre so etwas möglich?“ fragte Kimrod.

„ Eigentlich nicht. Ich mache Tagespolitik. Rund ums Rathaus und den Reichstag, von Rotlicht keine Spur. Entstammen die Opfer etwa diesen Kreisen?“

Frau Zollner begann, sich Notizen zu machen. Kimrod registrierte es mit einem lachenden und einem weinenden Auge.

„ Ihre Zeitung ist der Polizei nicht gerade wohlgesonnen und hält mit ihrer Meinung nicht hinterm Berg, besonders wenn es uns um unsere angebliche Frauen- und Ausländerfeindlichkeit geht. Es handelt sich bei den Mädchen wahrscheinlich um Prostituierte, jedenfalls sprechen alle Anhaltspunkte dafür. Ihre Hautfarbe ist dunkler als beim mitteleuropäischen Normaltypus. Das bereitet uns die größten Sorgen. Sie kennen die hier ansässigen radikalen Gruppierungen sicherlich besser wie wir. Die Lage ist derzeit so angespannt, dass wir uns es absolut nicht leisten können, durch nachlässige Ermittlungsarbeit den Anschein von Desinteresse oder gar Ausländerfeindlichkeit zu erwecken. Ich bin jedoch auch dafür bekannt, zwar wahrscheinlich nur in polizeiinternen Kreisen, die Presse mit in die Fahndung einzubeziehen. Schon öfters hat eine Täterbeschreibung oder ein Foto maßgeblich zu der Ergreifung von Verbrechern beigetragen. Ich weiß Ihre Tätigkeit also zu schätzen, doch mehr wissen wir im Augenblick selber nicht. Wenn sich weitere Tatsachen ergeben, die der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollten, werde ich mich wieder an Sie wenden. Das verspreche ich Ihnen, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Ich will mir eine positivere Berichterstattung nicht erkaufen, wobei aber ein neuerliches Scharfmachen von Seiten der Medien eine Katastrophe heraufbeschwören könnte.“

 

 

 

Die Journalistin wollte Kimrod mehrmals unterbrechen, schluckte ihre Einwände aber hinunter und äußerte ihre Meinung erst, nachdem der Kommissar fertig war.

„ Eine Katastrophe, die von den Behörden bewusst in Kauf genommen wird. Eine Radikalisierung liegt doch heute im Interesse höchster Regierungskreise. Wenn die Tragödie da ist, wird der große Knüppel aus dem Sack geholt und dreingeschlagen. Unter dem Eindruck abscheulicher Bluttaten ist auch der liberalste Abgeordnete dazu bereit, die notwendigen Gesetze passieren zu lassen. Erzählen Sie mir nur nichts vom braven Bürger in Uniform! Ich könnte Dutzende von Beispielen anführen, welche die Minoritätendiskriminierung durch Staatsbeamte anschaulichst dokumentieren.“

„ Schwarze Schafe gibt‘s überall und wir können Kriminelle nicht deswegen laufen lassen, weil sie keinen deutschen Pass haben oder in ihrer Heimat politisch verfolgt werden. Viele verwechseln die freie Marktwirtschaft mit absoluter Narrenfreiheit“, erwiderte Kimrod.

Remke nickte beifällig.

„ Großer Gott, jetzt bin ich schon wieder am Diskutieren. So als wenn nichts gewesen wäre. Man glaubt gar nicht, was der Mensch alles wegstecken kann. Ich danke Ihnen auf jeden Fall dafür, dass Sie vorbeigeschaut haben. Als alleinstehende Frau ist man doch in gewissen Momenten froh, wenn der starke Arm des Gesetzes präsent ist. Ich verspreche Ihnen, falls wir etwas Brisantes erfahren, werden Sie nicht erst in der Zeitung darüber stolpern“, erklärte die Journalistin abschließend.

Die Polizisten verabschiedeten sich und verließen die Wohnung. Es war heller geworden und die Sonne begann, sich einen Weg durch die sich auflösenden Wolken zu bahnen. Remke schlug vor, am Müggelsee Mittag zu essen. Kimrod war einverstanden und sie fuhren los. Wetterbedingt herrschte kein zu großer Betrieb. Die Polizisten bekamen ohne Schwierigkeiten einen Platz auf der Terrasse eines grossen Restaurants, in dem während der Sommermonate täglich Hunderte von Gästen bewirtet wurden. Kimrod war noch satt vom Frühstück und begnügte sich mit einem Eisbecher, Remke bestellte Currywurst. Trotz der Flaute versuchten etliche Surfer, ihr Brett in Bewegung zu setzen. Nicht alle mit Erfolg, doch der See war noch warm. Es regnete erst seit Donnerstag. Remke musste sich Luft machen.

„ So eine blöde Ziege. Hockt hier draußen in einer Luxussuite und will uns erzählen, wie wir mit unseren Kunden umgehen sollen. Na Gott sei Dank hat sie jetzt mal wenigstens ein bisschen Ahnung von dem, was wir alles mitmachen. Minoritätendiskriminierung, dass ich nicht lache. Kinderschänder sind auch in der Minderheit und müssen deshalb besonders liebevoll behandelt werden. So weit kommt‘s noch. Bloß gut, dass wir gleich wieder abgehauen sind. Ich kann diese besserwisserischen Moralapostel von eigenen Gnaden absolut nicht verputzen.“

„ Ich auch nicht, aber diese Leute geben nun mal den Ton an. Vielleicht deswegen...

Da will jemand, dass die Sache möglichst schnell die Runde macht. Ein weiteres Indiz dafür, dass es sich um keinen normalen Mord handelt. Der abartige Triebtäter will sich mit seiner Tat zwar auch artikulieren, aber nicht so unmittelbar und zielstrebig. Das macht keinen Sinn irgendwie...erst ein Schlachtfest veranstalten und dann den Kopf an die Klinke einer linken Redakteurin. Da will jemand einen möglichst großen Schaden anrichten. Vielleicht ist die Tat auch gefilmt worden und die Aufnahmen liegen schon beim Fernsehen.“

„ Oder bei einem Pornoproduzenten. Wär nicht das erste Mal, dass solche Schweine damit auch noch Geld machen wollen.“

„ Die hätten die Leichen aber nicht so offen liegen gelassen und auch nicht das mit dem Kopf riskiert. Leute dieses Schlages wollen tunlichst nicht erwischt werden. Verdammt, verdammt, da ist nichts Gutes zu erwarten.“

„ Wie immer wenn‘s politisch wird. Jetzt müssen wir halt warten. Vielleicht kommt aus dem Labor noch etwas. Wie geht‘s eigentlich Ingrid?“ erkundigte sich Remke.

 

 

Ingrid war Kimrods einundzwanzigjährige Tochter. Sie hatte sich einer Sekte, dem Feldzug Gottes, angeschlossen und studierte Pädagogik. Kimrod zündete sich eine Zigarette an und lehnte sich zurück. Beide Kinder, Wolf und Ingrid, beschritten Wege, die er absolut nicht für sie vorgesehen hatte. Er war zwar auch religiös, doch die Penetranz, mit der Reverend Stähler, der charismatische Führer der Sekte, das Evangelium predigte, fand er entwürdigend.

Seine Anhänger verehrten ihn abgöttisch. Seine zwielichtige Vergangenheit in den Vereinigten Staaten, die ihn ausgewiesen hatten, nachdem seine Frau, eine gebürtige Texanerin, spurlos verschwunden war, wirkte sich nicht schädigend auf seine Popularität aus. Nach erbitterten Gerichtsfehden mit den Angehörigen, war ihm ein Großteil des von ihr eingebrachten Vermögens zugestanden worden. Der Verdacht, sie ermordet zu haben, war nach Ansicht seiner Gegner nie ausgeräumt worden. Stähler hatte sich auch nach der medienwirksam inszenierten Rückkehr in die Heimat eine gesunde Portion Materialismus bewahrt. Er gründete mit dem Erbe seiner Frau als Basis landwirtschaftliche Betriebe, Supermärkte, Wäschereien und Verlage. Dabei profitierte er sowohl von den großzügigen Spenden seiner Jünger, als auch von den mit viel Idealismus und Begeisterung eingebrachten Arbeitsleistungen, die seine Geschäfte alsbald von der Konkurrenz abhoben. Die Kombination von preisgünstiger Qualität und freundlichem Personal garantierten ihm Erfolg in jeder Branche.

Sein Konzern expandierte Jahr für Jahr um zweistellige Prozentpunkte. Der Preis, den die Anhänger Stählers bezahlen mussten, war freilich hoch. Sie wurden vollständig finanziell und psychisch abhängig von dem Guru, der keinerlei Privatbesitz duldete und Widerstand gegen sein diktatorisches Regime im Keim erstickte, indem er alle Kritiken als Fallstricke Satans brandmarkte, die in seinem Wirkungsbereich nicht geduldet und mit dem Entzug der Barmherzigkeit Gottes gesühnt wurden.

Ingrid kam immer seltener nach Hause und hatte es zur Bedingung gemacht, das Thema Stähler auszuklammern. Sie würde sonst endgültig den Kontakt abbrechen. Kimrod wusste, dass sie einen großen Teil des Stipendiums, das man ihr nach zwei Semestern bewilligt hatte, an die Sekte abführte und unentgeltlich als Verkäuferin in einem von Stählers Märkten jobbte. Die freie Unterkunft und Verpflegung in einem überfüllten Massenquartier, die man ihr dafür gewährte, stellten nur einen unzureichenden Gegenwert für ihre Leistungen dar. Stähler nahm sie nach Strich und Faden aus, aber man konnte absolut nichts dagegen tun. Ingrid war längst volljährig und für ihr Leben selbst verantwortlich. Gegen die Mauer, die Stähler in ihrem Kopf errichtet hatte, war kein Kraut gewachsen.

 

 

 

„ Ingrid macht, glaube ich, gerade ihre Zwischenprüfung. Ich mache mir in der Beziehung keine Sorgen. Sie hat ein Hirn für zwei. Wo sie das bloß her hat?“ antwortete Kimrod gequält witzig.

Remke wusste, wo der Schuh drückte.

„ Na wart mal ab. Das ist die gleiche Geschichte wie bei Wolf und Totsch. Das ist so eine Art Sturm und Drangphase. Das renkt sich schon wieder ein.“

„ Du hast leicht reden, weil du keine Bälger angeschafft hast. Ich war nicht so schlau. Jetzt weiß ich nicht mehr aus und ein vor lauter Sorgen. Aber lassen wir das. Ich will heute noch etwas erreichen in unserem Fall. Was schlägst du vor?“

„ Immer soll ich die Ideen haben. Du bist doch der große Zampano.“

„ Dann lass uns nach dem Essen sofort abhauen und zurück ins Zentrum eilen. Wie wär‘s mit dem Maxim. Die haben doch ständig mit der Stadt Ärger. Wenn sie nichts rausrücken, machen wir die Bude dicht. Das wird ein Fest. Wer war eigentlich heute Nacht vor Ort? Härtlein?“

„ Du hast es erraten. Es wird also nicht viel bringen, wenn wir da noch mal vorbeischauen. Die Körper sollen am Oberhafen gleich am Wasser gelegen haben. So gründlich wie der ist, macht die Arbeit gar keinen Spaß mehr. Man lebt doch immer von den Fehlern anderer.“

Ein Ober brachte das Eis und die Currywurst. Die Polizisten rauchten nach dem Essen noch eine Zigarette und fuhren anschließend los. Der Verkehr war dichter geworden, weil Hertha ein Heimspiel hatte. Kimrod und Remke analysierten die Fähigkeiten des prominenten Gegners Bayern München. München bezog seine Stärke noch immer aus den millionenschweren Beinen internationaler Starfußballer. Hertha, die seit vier Jahren wieder erstklassig war, musste mit Kampfkraft und Teamgeist dagegen halten, weil ein Sponsor abgesprungen war und Geld zum Ankauf von Verstärkung Mangelware war. Die Polizisten, die sich das Spiel gerne selber angeschaut hätten, schimpften wie die Rohrspatzen auf ihren Beruf, der einem nichts als Ärger einbrachte.

 

 

 

Wenig später stellte Kimrod den Wagen in den für Gäste reservierten Parkplatz ab und befestigte an der Innenseite der Windschutzscheibe ein Polizeischild.

„ So, jetzt können sie uns nicht mehr abschleppen lassen. Leider habe ich meine Knarre nicht dabei. Na ja, es wird auch so reichen.“

Remke lüftete seinen Pullover. Eine kleine Automatik kam unter der linken Achsel zum Vorschein, die Kimrod nicht bemerkt hatte.

„ Gut, noch besser. Los, da lang. Ich kenn da einen kleinen Privateingang. Wir wollen die Herren doch ein bisschen überraschen“, sagte Kimrod und stapelte einige leere Bierträger übereinander. Anschließend schob er den Turm unter ein zugepinseltes Fenster. Kimrod testete seine Konstruktion auf Standfestigkeit und begann den Aufstieg. Das Fenster war nur angelehnt. Kimrod stieß es auf und winkte Remke heran, der mit eindrucksvoller Gestik andeutete, nicht schwindelfrei zu sein. Kimrod stützte sich mit den Unterarmen auf den Sims auf und zog sich ächzend durch den schmalen Rahmen.

Das Fenster war hoch genug, um einem Mann in gebückter Stellung Platz zu bieten, so dass sich Kimrod umdrehen konnte. Der Boden war sehr viel höher als draußen und er konnte sich bald gefahrlos fallen lassen. Kimrod misstraute den Kletterkünsten Remkes und schlich sich lautlos aus der Toilette zum Lieferanteneingang, der mit schweren Riegeln gesichert war. Mit einem Einbrecher von innen hatten die Bordellbetreiber freilich nicht gerechnet. Kimrod hatte leichtes Spiel mit der Tür. Schließlich war er vor Jahren bei maßgeblichen Kapazitäten der Branche in die Lehre gegangen. Remke stand unglücklich vor den gestapelten Bierkästen. Er schien noch immer auf eine Strickleiter oder ein Seil zu warten.

„ Psst, du Nachtwächter. Los, komm schnell. Wir sind hier nicht zu Hause“, raunzte ihn Kimrod an. Sie drangen tiefer ins Gebäude ein, ohne auf eine Menschenseele zu stoßen. Plötzlich drang aus einer Tür, die einen Privataufkleber trug, Lärm auf den Gang. Kimrod legte sein Ohr an die Tür und horchte. Seine Züge begannen sich aufzuhellen.

„ Die spielen Poker. Glaub mir, wir haben die ganze Bande im Sack. Bei drei machen wir reinen Tisch. Die Tür dürfte offen sein.“

Remke nahm hinter Kimrod mit durchgeladener Waffe Aufstellung. Bereit auf alles zu schießen, was ihre Sicherheit gefährden konnte. Kimrod stieß die Tür auf und rief:

„ Hände hoch und keine falsche Bewegung.“

Die vier Männer, die an einem mit Geldscheinen aller Größe bedeckten Tisch saßen, dachten nicht daran, den lautstark vorgebrachten Befehl auszuführen. Ein Spieler mit Baseballmütze und dicker Zigarre im Mund gab grinsend Entwarnung.

„ Keine Panik Leute. Die zwei Komiker sind von der Mordkommission. Und umgebracht haben wir bis jetzt noch keinen. Höchstens ruiniert.“

Die Mienen der restlichen Zocker begannen sich ebenfalls zu entspannen. Mike, der Mann mit der Zigarre, musste es wissen. Er war der Pächter des Etablissements und veranstaltete die Pokerrunden seit Jahren zur vollsten Zufriedenheit aller Beteiligten. Bei ihm gab es kein Limit und Falschspieler mussten draußen bleiben. Wer verlor wusste zumindest, dass er nicht betrogen worden war. Und Glück konnte auch ein Anfänger haben, wobei sich Mikes Künste am Grünen Tisch bis dato noch gegen jeden Duselbruder durchgesetzt hatten. Egal ob der Heimweg mit vollen oder leeren Taschen angetreten wurde, der Poker im Maxim war ein Geheimtip und die meisten ließen es nicht bei einem einmaligen Besuch bewenden.

Einige Beamte von der zuständigen Polizeiinspektion wurden geschmiert und da von den Teilnehmern so gut wie keine Beschwerden kamen, war die Existenz der Spielhalle nur von einigen Verwaltungsmenschen bedroht, die bislang jeglicher pekuniärer Versuchung widerstanden hatten und Mikes Laden des Öfteren unliebsame Besuche abstatteten. Mike besaß zwar ein ausgeklügeltes Frühwarnsystem - die Bekannte seiner Freundin arbeitete in der zuständigen Abteilung - aber die permanenten Kontrollen begannen doch ihn nervös zu machen. Man war nicht mehr Herr im eigenen Haus und musste sich von spießigen Fuzzis Vorschriften machen lassen. Gott sei Dank wurde in ein paar Wochen gewählt und wenn man den richtigen Mann durchbrachte, sah die Sache schon anders aus. Mike war deshalb schwer erleichtert, dass er nur zwei harmlose Kriminalbeamte vor sich hatte, wobei er mit einem per Du war.

Kimrod taxierte rasch den Wert des Geldes und bedeutete seinem Kollegen, die Waffe zu senken.

„ Sonst passiert noch was, obwohl man hier keinen Verkehrten treffen kann. Was Mike, hast wieder ein paar Dumme gefunden.“

Mike stand auf und gab Kimrod die Hand.

„ Guten Tag, Herr Kriminaldirektor. Schön, dass Sie uns wieder mal beehren. Wen darf ich für Sie reservieren? Wir haben für den Herren etwas Handfestes aus der Inneren Mongolei auf Lager. Da stehen nicht nur die Augen schräg.“

Kimrod gab ihm einen freundschaftlichen Klaps auf den Bauch und zog ihm die Mütze ins Gesicht.

„ So kennst du uns, was! Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen. Mike, eins schwör ich dir. Bevor ich in Rente gehe, wirst du Ehrenkommissar bei der Berliner Kripo. So störungsfrei wie du deinen Laden organisierst, das schafft sonst keiner hier.“

„ Da hab ich aber noch ein Wörtchen mitzureden. Ich werde nämlich demnächst pensioniert und hätte da ein paar ganz andere Kandidaten in Aussicht“, sagte Remke und musterte dabei die anderen Spieler unfreundlich. Er hatte sich vorgenommen, tabula rasa zu machen.

„ Los, los, meine Herren! Aufstehen und Hände an die Wand. Wir wollen hier nicht fest wachsen.“

Die Männer richteten fragende Blicke auf Mike, der seufzend die Schultern hochzog.

„ Avanti, avanti, mir geht das nicht schnell genug.“

Remke hob drohend seine Pistole, die Spieler setzten sich in Bewegung. Remke durchsuchte sie recht ruppig, wurde aber nicht fündig.

„ Kein Ballermann, kein Solingen, nichts. Da stimmt doch was nicht. Max, wehe wenn du vorher Alarm geschlagen hast, während ich draußen gewartet habe. Mit mir nicht Freundchen, ich...“

„ Das hab ich mir doch gedacht, dass ich wieder dran schuld bin, wenn sich der feine Herr bepinkelt, weil er seinen Arsch zwei Meter in die Höhe hieven muss. Wenn ich sie gewarnt hätte, wäre wohl kaum noch Geld auf dem Tisch“, bellte Kimrod zurück.

Remke nahm einen Fünfhunderter vom Tisch und führte ihn ganz nah an Kimrods Augen vorbei. Er lächelte dabei diabolisch.

„ Oder...“

„ Oder was?“ fragte Kimrod scharf.

Mike versuchte zu schlichten.

„ Hört doch auf, ihr beiden Supercops. Mir kommen gleich die Tränen, so was von sauber seid ihr. Und Sie, Meister Remke, wissen doch ganz genau, dass hier sehr oft um Geld gespielt wird. Egal ob mit oder ohne Polizei...“

„ Das lass ich ...“

Remke wurde immer ungehaltener. Von dieser Puffotter wollte er sich nicht beschmutzen lassen.

„ Sie und Ihr dreckiges Geld. Sie glauben wohl, damit können Sie sich alles erlauben. Aber Sie sind es gar nicht wert, dass ich mich aufrege.“

Remke ließ den Schein fallen. Kimrod fing ihn mit einer blitzartigen Handbewegung auf und steckte ihn dem Pächter ins Hemd.

„ So, jetzt ist alles wieder an seinem Platz und wir können zur Sache kommen. Dabei hoffe ich insbesondere auf deine Mithilfe, Mike“, sagte Kimrod und informierte die Pokerrunde über den Mord an den beiden Mädchen. Da erwartungsgemäß niemand etwas zur Aufklärung beitragen konnte, bat Kimrod Mike, ihn mit seinen Untermieterinnen reden zu lassen. Mike führte ihn nach oben in die Separees.

„ Hier links, die erste Tür, das ist Renate und die dritte Tür rechts, Doris. Mehr sind heute nicht da. Aber mach nicht zu lange, sonst...“

Er lachte dreckig und ging nach unten, um weiter zu spielen. Remke zog sich mit einer Illustrierten in eine Ecke zurück. Kimrod klopfte bei Renate. Man hörte wie Musik leiser gestellt wurde. Eine tiefe Frauenstimme meldete sich verschlafen.

„ Hallo, Mike? Ich dachte, du machst erst um sechs auf.“

Die Tür wurde einen Spalt weit geöffnet und sofort wieder zugeschlagen.

„ Hauen Sie ab, wir haben noch geschlossen.“

Kimrod zog seinen Ausweis aus dem Portemonnaie.

„ Polizei! Ich komme rein dienstlich!“

Renate machte nach einer Weile wieder auf, überprüfte kurz den Ausweis und empfing den Kommissar danach in einem weit geschnittenen Jogginganzug. Die Prostituierte war schlank, vielleicht Ende zwanzig und lud Kimrod ein, es sich bequem zu machen. Sie wies dabei auf ein rotes Sofa, neben dem ein breites Futonbett stand. An den Wänden hingen Reproduktionen später Helnweinwerke, die einen befremdenden Kontrast zum trivialen Verwendungszweck des Raumes bildeten.

Kimrod zog seine Jacke aus, das Zimmer war stark beheizt. Renate nahm auf dem Sofa Platz und wiederholte ihre Aufforderung.

„ Setzen Sie sich doch. Ich weiß was Sie denken, aber nur weil man sein Geld damit verdient, bedeutet das noch lange nicht, dass man nur noch eins im Kopf hat. Außerdem hat mir Mike viel von Ihnen erzählt, eigentlich nur Positives. Ich will Sie also nicht bestechen...mit meinen Mitteln. So manch einer Ihrer Kollegen ist da empfänglicher.“

Sie lächelte süffisant. Kimrod wusste nur zu gut, worauf sie anspielte.

„ Mag sein, doch deswegen bin ich nicht hier. Zwei Ihrer Kolleginnen, es handelt sich bei den Opfern mit großer Wahrscheinlichkeit um Prostituierte, wurden gestern Nacht ermordet in der Grenzallee aufgefunden. Waren die Mädchen gestern hier? Oder hat sich einer der Gäste auffällig benommen, Drohungen ausgestoßen?“

Renate konnte ihm nicht weiterhelfen. Ihr war nichts aufgefallen. Sie bestand darauf, die Bilder der Leichen zu sehen.

„ Bitte, wenn Sie unbedingt wollen. Aber beklagen Sie sich nachher nicht, wenn Ihnen schlecht wird.“

Kimrod setzte sich neben Sie und wartete auf ihre Reaktion. Renate hielt die Bilder sehr lange in ihren Händen und machte einen ziemlich betroffenen Eindruck. Kimrod steckte die Bilder schließlich wieder ein.

„ Sie müssen sich nicht so quälen. Mir ging es genauso, als ich sie zum ersten Mal sah. Man zweifelt daran, dass ein Mensch der Täter sein kann. Viehische Grausamkeit, die einem monströsen Gehirn entsprungen sein muss. Wir müssen den Täter zur Strecke bringen, bevor er wieder zuschlagen kann.“

Renate hatte sich wieder gefasst.

„ Darin stimme ich vollkommen mit Ihnen überein. Dieses Schwein gehört lebenslänglich hinter Gitter. Ich werde alles tun, um Sie zu unterstützen. Ich fürchte nur, dass ich Ihnen nur wenig behilflich sein kann. Ich bin zwar aktives Mitglied bei Hydra, einer Berufsgenossenschaft der Huren, aber die Mädchen kenne ich nicht. Wenn man so lange im Geschäft ist wie ich, kann man allerdings Ihre Skepsis bezüglich der Natur des Täters nicht mehr unbedingt teilen. Solche Monstren gibt es mehr, wie Sie sich vorstellen können. Bei den meisten kommt es nur nicht zum Ausbruch.“

Kimrod erhob sich und dankte der Prostituierten für ihre Mitarbeit. Renate wünschte ihm viel Erfolg und verschloss hinter ihm die Tür. Kimrod versuchte sein Glück bei der nächsten Prostituierten. Doris weigerte sich hartnäckig aufzumachen und stieß nur wüste Beschimpfungen aus. Mit Scheißbullen wolle sie nichts zu tun haben. Kimrod beendete das sinnlose Unterfangen vorzeitig und ging wieder hinunter zu den Spielern. Remke hatte seinen Stolz inzwischen überwunden und kiebitzte bei einem Zocker über die Schulter. Kimrod sah auch bei zwei Runden zu und drängte anschließend zum Aufbruch. Remke bettelte nun förmlich darum, noch ein wenig bleiben zu dürfen.

„ Nein, jetzt ist Schluss. Wir gehen erst ins Mirage, dann zurück ins Präsidium und danach kannst du machen, was du willst. Voraussichtlich. Wenn uns Zefhahn schon gehen lässt.“

Mike wieherte wieder los bei der Bekanntgabe des Schlachtplans. Die Anwesenheit der Polizisten schien sich paradoxerweise sehr positiv auf seine Stimmung auszuwirken. Remke konnte sich schließlich doch noch losreißen von der packenden Partie und die Beamten verließen das Bordell durch den Hintereingang. Mike verabschiedete sich mit ein paar kräftigen Lachern und vergaß nicht, auch das Toilettenfenster zu schließen.

Nach einem kurzen Fußmarsch erreichten die Kommissare das Mirage, das eine Kategorie unter dem Maxim angesiedelt war. Berta, die Besitzern, ließ die Zügel nach ihrem ersten Herzinfarkt etwas schleifen. Die Mädchen wirkten nicht so gepflegt, die Zimmer waren schmuddelig und abgewetzt. Die Preise lagen dafür um einiges unter denen der Konkurrenz und Tante Berta, wie sie im Kiezjargon liebevoll, doch nicht ohne Respekt, genannt wurde, entging nichts, was sich im Milieu abspielte.

Sie kannte alles und jeden. Die Mädchen kamen zu ihr, wenn sie Kummer hatten und die Zuhälter akzeptierten sie als Schlichterin in ihren Streitigkeiten untereinander. Die dem Bordellbetrieb angegliederte Bar war schon geöffnet. Kimrod und Remke ließen sich an der Theke nieder und bestellten zwei Pils. Berta machte sich am Zapfhahn zu schaffen und drückte auf einen Knopf neben der Registrierkasse. Sofort erschienen drei Mädchen, die sich an die Theke zu den Kriminalbeamten gesellten. Berta litt unter grünem Star und hatte die Polizisten offensichtlich nicht erkannt. Erst als Remke die Animierdamen freundlich, aber bestimmt verscheuchte, begannen sich ihre Züge erkennend aufzuhellen.

„ Mein Gott, bin ich ein altes Trampel. Ich hab doch gewusst, dass ich die Stimme schon mal gehört habe. Otto und, wenn mich nicht alles täuscht, Max. Was wollt ihr trinken?“

„ Pils, Tante Berta. Du hast sie schon in Bearbeitung, glaube ich. Wie geht‘s, du alte Bretterhütte? Wir haben uns schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen“, sagte Remke leutselig.

Berta kam ganz nahe heran. Ihr noch immer stattlicher Busen ruhte schwer auf einer Lage gestapelter Biergläser.

„ Man kann nicht klagen. Ich muss dafür dankbar sein, dass ich überhaupt noch hier stehen kann. Man wird halt alt.“

Tante Berta seufzte und ging zurück zum Zapfhahn.

„ Diesmal übernimmst du. An dir hat sie einen Narren gefressen“, sagte Kimrod leise zu seinem Kollegen.

Berta schüttete das noch fehlende Bier aus einem als Tropfenfang dienenden Glas nach und stellte die zwei Pils vor die Polizisten auf den Tresen. Das Bier schmeckte nicht so schal wie es aussah. Kimrod zündete sich eine Zigarette an. Bei Tante Berta war es trotz allen Unzulänglichkeiten immer noch am gemütlichsten. Kimrod gab Remke unauffällig einen Stoß in die Seite. Berta hatte sich eben den zweiten Schnaps eingeschenkt und wenn man von ihr noch etwas erfahren wollte, war Eile geboten. Zumal sie bei weitem nicht mehr so viel vertrug wie früher. Remke orderte eine Runde Southern Comfort. Berta folgte der Einladung nur zu gerne. Endlich kam wieder Schwung in die Bude, und das an einem Fußballnachmittag. Die Nachtclubbetreiberin leerte schnell ihren Korn und servierte den Whiskylikör auf ihrem besten Tablett. Die Jungs waren zwar von der Schmiere, aber doch so nette Kerle. Sie hatten es sich verdient. Berta kam um den Tresen herum und nahm gewichtig zwischen den Polizisten Platz.

„ Wohl sein, die Herren. Ich habe nicht gedacht, dass ich das noch erlebe. Von zwei so schnieken jungen Kerlen eingeladen zu werden! Habt ihr denn was zu feiern?“

Sie stürzte den Schnaps hinunter und stellte das Glas mit einer etwas zu heftigen Handbewegung auf die Theke zurück. Remke stoppte das abdriftende Teil elegant mit dem Ellbogen.

„ Nun aber langsam, meine Gute. Nachher wirft man uns noch vor, dich mit Alkohol gefügig gemacht zu haben. Das wollen wir doch vermeiden.“

Tante Berta rückte näher an Remke heran. Ihr gewaltiger Vorbau bebte eindrucksvoll.

„ Du Schmeichler. Du willst dich doch bloß vor der nächsten Runde drücken. Dabei geht doch bei euch sowieso alles auf Spesen. Aber ich krieg dich schon noch rum. Auch wenn ich schon siebzig bin und aussehe wie eine alte Vettel.“

Remke nahm sie tröstend in den Arm.

„ Na, so schlimm ist das nun auch nicht. Wenn ich nicht verheiratet wär...mein lieber Schwan, da könntest du heute Nacht was erleben. Das gäb einen harten Schlagabtausch“, prophezeite der Oberkommissar vollmundig und tätschelte dabei herzhaft ihren rechten Busen.

Tante Berta gluckste vor Vergnügen.

„ Mein Gott, das wäre die Nummer meines Lebens. Wir müssten das Bett nahe an die Stützwand rücken, damit wir nicht durchbrechen. Ich weiß aber genau, was du wirklich vor hast. Willst mich besoffen machen und dann soll ich dir wieder einen Verbrecher ans Messer liefern. Doch das kostet eine Kleinigkeit. Einen noch. Ich mache euch einen Vorzugspreis. Hau weg, das Zeug!“

Kimrod machte gute Miene zum bösen Spiel. In seinen Augen war die Partie so gut wie verloren. Remke trug zu dick auf. Die Alte kam schon richtig ins Schwitzen, aber sie schien nicht auf den Kopf gefallen zu sein. Sie hatte sofort spitz bekommen, was ihr vermeintlicher Verehrer im Schilde führte. Tante Berta füllte mit überraschender Behändigkeit Whisky nach, stellte die halbvollen Gläser zurück auf die Theke und kramte aus einer Schublade eine angegilbte Zigarettenspitze hervor. Remke bot ihr eine Marlboro an.

„ Danke, der Herr. Jetzt bleib ich aber hier auf meinem Platz. Ihr wollt mich doch nur veräppeln. Was liegt nun an?“ fragte Berta nüchtern.

Remke steckte sich auch eine Zigarette an und nahm noch einen Schluck, bevor er loslegte. Berta hörte sich seinen Bericht kommentarlos an. Sie wusste die Elfenbeinspitze stilvoll einzusetzen. Den Dreh wie man auf Männer wirkte, hatte sie noch immer heraus. Als Remke fertig war und sie die Tatfotos inspiziert hatte, blieb Berta mit der erkalteten Spitze im Mund wortlos stehen. Ganz so als wollte sie das berühmte Edgar Wallace Portrait in den uralten Krimibänden nachstellen. Es schien in ihr zu arbeiten, doch das Mahlen konnte von Außenstehenden nicht klassifiziert werden. Remke nickte verstehend, obgleich auch ihm selber nicht ganz klar war warum. Kimrod drückte seine Marlboro aus und beendete das Schweigen.

„ Alles klar, keiner weiß Bescheid. Die zweite Runde übernehme ich.“

„ Lass mal, das geht schon klar. Ich wollte dich doch heute noch einladen. Versprochen ist versprochen. Außerdem schulde ich dir noch fünf Euro“, sagte Remke langsam.

Er schien noch auf etwas zu warten. Berta wurde wieder munter.

„ Na, schlagt euch die Köpfe ein deswegen. Normalerweise geht‘s anders herum. Sechs SC, macht dreißig Euro. Billiger kann ich‘s nicht machen, auch nicht für euch. Und mit dieser Geschichte mit den Mädchen, da lasst euch noch mal sehen, wenn ihr wisst, wie die Häschen heißen. Ich war früher selber eine große Bordsteinschwalbe, aber an so was kann ich mich beim besten Willen nicht erinnern. Aber könnt schon sein, dass ich sie kenne. Hier kommen auch viel selbständig arbeitende Pflänzchen hereinspaziert. Wenn sie vorher noch ordentlich Zeche machen, hab ich nix dagegen. Aber manche benehmen sich dann wie auf der Straße und machen mir die Kundschaft abspenstig. Ist eben alles nicht mehr so wie früher. Man muss es halt heutzutage nehmen wie es kommt. Wer groß pingelig ist, bleibt auf der Strecke. In unserem Metier sowieso. Aber schade um die jungen Dinger. Ich werde auf jeden Fall Augen und Ohren, besonders die Ohren, offen halten, weil sehen tu ich nicht mehr viel.“

Remke gab ihr die geforderten Scheine und schaute auf die Uhr.

„ Zwanzig nach zwei. Da kommen wir doch locker noch zum Spiel zurecht. Weiter kommen wir heute eh nicht mehr. Das ist doch alles nur verplemperte Zeit. Wenn Tante Berta nichts weiß, weiß niemand etwas. Komm, lass uns abhauen.“

„ Eigentlich hast du recht, aber ich will mich noch vorher in der Zentrale erkundigen. Vielleicht ist wieder was aufgetaucht.“

Kimrod ging zum Telefon, das hinter der Theke an der Wand hing und noch mit einem Zähler ausgestattet war. Er wählte und wartete lange, doch niemand ging ran. Erst als er im Begriff war aufzulegen, wurde abgehoben.

„ Kriminalrat Zefhahn. Mit wem spreche ich?“

„ Hier Kimrod, Chef. Gibt es was Neues?“

„ Das wollte ich eigentlich euch fragen. Die Leichen werden noch untersucht. Ich bin sicher, dass wir da mehr rausholen können. Ihr Standort?“

„ Eisenbahnstraße, Mirage, bei Tante Berta. Hat aber auch nichts rausgerückt. Wundern Sie sich also nicht über ansteigende Spesenabrechnungen. Diese Art von Kneipen sind teuer, und wenn wir bloß Leitungswasser trinken, werden die Schweigsamen noch schweigsamer. Da muss man schon investieren, bevor die überhaupt mal mit einem reden. Wir waren noch bei der Journalistin, draußen in Müggelheim. Die ist schon wieder zu Hause und bereitet eine Story vor.“

„ Das kann ich mir vorstellen. Ausgerechnet von diesem linken Kampfblatt. Dass ihr mir da nicht in die Quere kommt. Keine Insiderinformationen und keine privaten Interviews. Das geht alles seinen offiziellen Gang. Wir machen täglich unseren Pressebericht und das muss reichen. Ich lass mir von diesen Schmierfinken nicht vorschreiben, wie wir unsere Arbeit zu erledigen haben.“

„ Und wie soll es weitergehen? Ich meine, was kommt als Nächstes dran? Ein weiteres Puff?“

„ Mein Gott, lasst euch was einfallen. Ich bin doch nicht euer Kindermädchen. Tut, was ihr für richtig haltet und was zur Aufklärung der Tat beiträgt. Was zählt, sind brauchbare Ergebnisse, sonst nichts. Wie ihr weiterkommt, ist eure Sache. Ich hoffe, ich habe mich klar genug ausgedrückt.“

„ Wie immer, Chef, wie immer. Also dann, bis bald.“

„ Nein, nicht bis bald, sondern spätestens bis achtzehn Uhr im Präsidium. Habe ich das nicht schon gesagt... also wirklich, muss man denn alles doppelt und dreifach...“

„ Äh ja, ich habe verstanden. Bis achtzehn Uhr. Das passt, ich meine, bis dahin kann man schon noch was erreichen.“

„ Apropos erreichen. Habt ihr diese beiden Komiker, Maikovsky und Herder, irgendwo vorgefunden? Die haben es nämlich nicht für nötig gehalten, sich zwischendurch zu melden. Na die können was erleben. Wenn ich Härtlein nicht hätte...“

„ Gut Chef, beziehungsweise nein, haben wir nicht. Geht alles in Ordnung. Ich muss Schluss machen, wir werden belauscht. Ich lege auf. Bis später.“

Kimrod wirkte sichtlich erleichtert, als er das Gespräch beendet hatte. Zefhahn hatte wieder einmal alle Klarheiten gründlich beseitigt. Das mit achtzehn Uhr traf sich jedoch gut. Sie konnten ungestört das Fußballspiel genießen. Der Tag war doch nicht ganz verloren. Und versäumen würde man auch nichts. Für tiefergehende Recherchen war es einfach noch zu früh. Remke hatte da recht. Woanders noch fündig zu werden, war vorerst unwahrscheinlich.

Tante Berta hantierte schon wieder mit Hochprozentigem. Es wurde Zeit, Land zu gewinnen. Die gute Seele neigte dazu, nach reichlichem Alkoholkonsum ausfallend zu werden.

„ Komm Otto. Wir müssen weiter. Zefhahn will Ergebnisse sehen. Wir begeben uns an einen Ort, wo es immer welche gibt“, sagte Kimrod verheißungsvoll zu seinem Kollegen. Remke verstand die Andeutung und verabschiedete sich bei Berta, deren glasiger Blick in eine andere Welt gerichtet zu sein schien. Remke gab ihr noch einen Klaps auf den Hintern und folgte Kimrod auf die Straße. Berta gab keinen Mucks von sich. Sie registrierte den Aufbruch der Männer nicht mehr.

 

 

 

 

„ Eigentlich schade. Wenn sie sich ein bisschen zusammenreißen würde, könnte sie das große Geld machen. Wenn sie nüchtern ist, verbreitet sie eine so anheimelnde Atmosphäre. Warum sich manche Menschen so mit Vorsatz ruinieren müssen?“ bemerkte Kimrod traurig.

„ Ach weißt du, ob man das unbedingt ruinieren nennen soll? Sie ist ein sehr sentimentaler Mensch und hat ein großes Herz. So jemand muss eine Mauer aufbauen zwischen sich und der harten Realität. Sie macht das mit Alkohol. Das konserviert ihre Gutherzigkeit. Der Suff hat daher auch was Gutes. Man muss es nur erkennen können unter all dem Morast“, antwortete Remke optimistisch.

„ Wahrscheinlich hast du recht. Bei solchen Leuten gehört das einfach mit dazu. Ohne solche Masken würde an deren Persönlichkeit ein wichtiges Teil fehlen. So wie Cowboystiefel erst recht wirken, wenn sie schön abgewetzt sind. Kein Glanz ohne Schatten.“

Als sie den Parkplatz im Hinterhof des Maxim erreichten, brausten zwei dicke Schlitten davon. Kimrod glaubte einen der Pokerspieler am Steuer zu erkennen. Die Partie schien vorzeitig beendet worden zu sein. Doch die Zocker hatten sich gerächt. Auf dem Dach des Dienstwagens lag ein fetter Haufen Hundescheiße. Hinter den Scheibenwischer war ein Pikass geklemmt. Auf Anonymität wurde anscheinend kein gesteigerter Wert gelegt.

„ Sieh mal einer an. Unsere Kartenhaie haben ihre Visitenkarte hinterlassen. So eine Sauerei. Erst letzte Woche war ich in der Waschstraße mit dem Scheißkübel. Und jetzt das hier. Ich hätte nicht übel Lust, deinem Freund Mike einen zweiten Besuch abzustatten. Und diesmal durch die Vordertür, mit einem Zug Grenzschützer im Rücken. Dem würde das Lachen endgültig vergehen“, sagte Remke aufgebracht.

Kimrod brach von einem dürren Holunderbusch einen Ast ab und wischte damit die Fäkalien vom Dach.

„ Ach Gott, das sind halt die üblichen Lausbubenstreiche. Wenn man das alles an die große Glocke hängen würde“, sagte Kimrod beschwichtigend.

Plötzlich rief eine Stimme von oben.

„ Kann ich nix dafür. Die Hamburger Kollegen lassen sich halt nur ungern stören. Wenn ihr wollt, fahr ich euch die Kiste schnell zum Waschen.“

Mikes Kopf ragte aus einer winzigen Dachluke hervor, von einem Ohr zum anderen grinsend. Remkes Drohung verfehlte ihre Wirkung offensichtlich vollständig oder Mike hatte sie einfach nicht gehört. Remke bückte sich nach einer zerschlissenen Obsttüte und wickelte mit den Papierfetzen den übelriechenden Hundehaufen ein. Er ging näher an die Fassade heran, aus der Mikes Haupt lugte, und nahm Maß. Kimrod schüttelte den Kopf und parkte den Wagen aus. Da hatten sich zwei gefunden. In der Kinderstunde wurde Unterhaltung weitaus höheren Niveaus geboten.

Remke warf endlich und wurde mit einem Guss kalten Wassers belohnt, das der findige Bordellpächter schnell beschafft hatte. Remke besudelte sich hauptsächlich selber und setzte sich schimpfend und stinkend in den Wagen. Kimrod nutzte die Gunst der Stunde und verließ eilends das umkämpfte Areal. In dieser Stimmung war dem Oberkommissar alles zuzutrauen. Es grenzte an ein Wunder, dass er seine Waffe nicht benutzt hatte.

„ Weißt du, Otto, was mir heute den ganzen Tag über aufgefallen ist bei den Ermittlungen, die wir anzustellen versucht haben?“ fragte Kimrod, nachdem er demonstrativ das Fenster geöffnet hatte.

Remke grummelte nur unwirsch vor sich hin. Ihm steckte die eben erlittene Niederlage noch gehörig in den Knochen. Kimrod gab so schnell nicht auf. Wahrscheinlich nagte derselbe Wurm in Remke und fand dort nur andere Nahrung vor. Man musste ihn packen und ans ungewohnte Tageslicht zerren. Nur so konnte der schleichenden Vergiftung zu Leibe gerückt werden.

„ Also gut. Wenn du nicht willst, dann mache ich eben den Anfang. Dass wir in gewissen Kreisen kein sehr hohes Ansehen genießen, ist ein alter Hut. Doch so wie man uns heute überall abgekanzelt hat, beginnt man sich zu fragen, ob uns überhaupt noch jemand ernst nimmt. Nicht mal bei so einem abscheulichen Fall, der nach Aufklärung schreit. Da denkt man sich doch, dass da so eine Art interfraktionelle Koalition entstehen müsste, um die Bestie zur Strecke zu bringen. Aber Schweigen im Walde. Bullen verpisst euch! Ihr korrupten Arschkriecher wollt bloß euer Gehalt aufbessern mit irgendeiner linken Tour. Die Mädchen sind doch für euch bloß Abfall, die ihre gerechte Strafe erhalten haben. Kleine, billige Nutten. Nicht wert, viel Aufhebens davon zu machen, auf der ihnen gebührenden Müllkippe endgelagert...noch ein paar Mal umgedreht, um die geifernde Blutgier der Massen zu befriedigen und dann endgültig verscharrt...meine Herren, der nächste Fall, aber bitte ohne störende Gefühlsduselei. Dafür werden Sie nicht bezahlt. Ein bisschen rumstochern und dann Schwamm drüber...“

„ Nun hör schon auf. Kriegt er gleich wieder seinen Moralischen, bloß wegen der paar Weiber. Ja, ich weiß wovon ich rede. Die Leute sind nun mal so. Und dass wir überall wie die größten Hanskasper behandelt werden, liegt nicht nur an den Kollegen von der Schupo, die gerne mal das Händchen aufhalten. Der Fisch stinkt von oben her. Vom Kopf. Keine unnötigen Beschränkungen des Amüsierbetriebes. Die Stadt lebt von den Touristen, die ordentlich einen drauf machen wollen. Also Cops, lasst die Handschellen stecken und geht auf Verbrecherjagd. Nur nicht in unserer Nähe! Bürgerrechte haben Vorrang! Erledigen Sie Ihre Arbeit, aber ohne jemanden weh zu tun... und so weiter, und so fort.“

„ Du kommst aber früh drauf, das predige ich schon seit Jahrzehnten. Jetzt weiß doch kein Schwanz mehr, wie er sich im Dienst verhalten soll. Da werden viele halt passiver, man holt sich dann weniger Schrammen. Zu viel Eifer bedeutet meist nur Ärger. Sich raushalten und durchschmuggeln, das ist die gängige Devise heutzutage. Nur nicht auffallen!“

 

 

 

Remke klopfte Kimrod aufmunternd auf die Schulter. So schnell war Preußen noch nicht verloren. Je näher sie dem Stadion kamen, desto dichter wurde der Verkehr. In der Reichsstraße verursachten Dutzende von Bussen ein mittleres Verkehrschaos. Kimrod kam trotz Hupe und Kojaklampe nur noch im Schritttempo voran. Die Münchener Fans waren zu Zigtausenden angereist und ergriffen lautstark von dem Berliner Territorium Besitz. Wie üblich wurden schon während der Anfahrt Unmengen von Alkohol vertilgt, so dass die Begeisterung vieler Anhänger schon vor dem Anpfiff jegliches Maß verlor. Im Nu brannten die ersten Autos und die vereinzelt auftretenden Polizisten versuchten vergeblich, die randalierenden Hooligans zur Räson zu bringen.

Die Herthafrösche verbrüderten sich bereitwillig mit den Münchenern, wenn ein neues Fahrzeug gekippt oder ein Ordnungshüter attackiert wurde. Die ersten Warnschüsse peitschten auf, wie zur Begrüßung der Wasserwerfer, die auf der Rominter Allee heranrollten. Unmittelbar vor dem wieder abgerüsteten Ford, Kimrod hatte die Rundumleuchte sicherheitshalber vom Dach entfernt, wurde ein Wachtmeister von seinem Hengst herunter zu Boden gerissen. Sofort bildete sich über den Wehrlosen eine dichte Traube, die Kimrod und Remke mit wirbelnden Schlagstöcken zu zersprengen versuchten. Kimrod bewahrte die hilfreichen Accessoires immer griffbereit unter seinem Sitz auf, so dass die beiden Kommissare ihrem Kollegen schnell zur Hilfe kommen konnten. Mehrere Randalierer ließen schreiend vor ihrem Opfer ab.

Kimrod und Remke verteilten platzierte Schläge auf essentielle Körperteile wie Kopf und Nieren, so dass den Getroffenen nachhaltig die Lust verging. Die Hartnäckigsten jedoch, die zu betrunken waren, um noch Schmerzen verspüren zu können, umringten bald den neuen Gegner und gingen mit aufgeschlagenen Bierflaschen auf die Beamten los. Remke griff sofort zur Pistole und wollte gerade den ersten Schuss abgeben, als sich eine Hundertschaft des Sonderkommandos mit wuchtigen Tritten und Schlägen den Weg zum Tatort bahnte. Die Angehörigen der Spezialtruppe waren am ganzen Körper mit Plastikprotektoren gepanzert und in allen Nahkampftechniken ausgebildet. Wenn einmal die Schilder und Knüppel nicht mehr ausreichten, kamen mehrschüssige Schrotflinten zum Einsatz, die Gummigeschosse abfeuern konnten. Dabei wurden auch ernsthaftere Verletzungen in Kauf genommen. Die Flinten wurden aber nur benutzt, wenn Leib und Leben eines Beamten gefährdet waren. So viel geballte Staatsmacht nahm den Schlägern rasch den Mut. Sie suchten ihr Heil in der Flucht.

Der vom Ross geholte Wachtmeister war noch am Leben, doch er benötigte rasch ärztliche Hilfe. Sein Gesicht war übel zugerichtet, er blutete stark aus tiefen Schnittwunden. Kimrod und Remke wiesen sich dem Kompanieführer gegenüber als Polizisten aus und nahmen die Verfolgung auf. Die Täter waren allerdings schon längst in der Masse untergetaucht. In den wogenden Horden Festnahmen vorzunehmen, war sowieso ein aussichtsloses Unterfangen. Es sei denn man war bereit, den Rest der Meute mit Maschinengewehren niederzumähen.

Kimrod und Remke schlugen sich bis zum Haupteingang durch und zeigten ihre Ausweise vor. Erst nachdem sie ein bulliger Ordner überprüft hatte, wurden sie eingelassen. Sie suchten sich ganz unten einen Platz, unmittelbar unter den Trainerbänken. Remke besorgte zwei Bier und Wurstsemmeln. Es konnte losgehen. Doch bevor die Spieler aufliefen, wurde ein fahrbarer Ring auf den Rasen geschoben. Zwei Kickboxer traten in Aktion und lieferten sich einen sehenswerten Fight. Das Stadion war schon ziemlich voll, doch das Publikum spendete den Akteuren nicht den verdienten Beifall. Erst als zwanzig Cheerleadergirls viel knuspriges Fleisch zeigten, kam Stimmung auf. Der Ring wurde wieder nach draußen geschoben und die Fußballer kamen endlich zu ihrem Recht. Die Bayern drängten von Anfang an vehement auf das Herthator und konnten mehrere gute Schüsse platzieren. Hertha brauchte eine knappe halbe Stunde, um zur ersten nennenswerten Chance zu kommen. Eine deftige Granate prallte von einem Abwehrspieler direkt vor die Füße der wieselflinken Sturmspitze, die jedoch knapp am linken Pfosten vorbeizog.

Die Partie ging torlos in die Halbzeit. Die Veranstalter ließen nur noch die Cheerleader auftreten, die Kickboxer wurden nicht mehr bemüht. Nach dem Wechsel dominierte die Herthaelf. Der italienische Startrainer hatte einen Stürmer mehr aufs Feld geschickt. Etliche klare Torchancen wurden herausgearbeitet, die Bayern gerieten zusehends in Bedrängnis. Die Heimmannschaft versäumte es aber, die zahlreichen Möglichkeiten zu verwerten. Als sich wieder einmal alle Feldspieler in der Bayernhälfte aufhielten, nahm das Unglück seinen Lauf. Der erfahrene Libero der süddeutschen Millionenelf passte klug auf den zurückhängenden Mittelstürmer, der den Ball in einem sehenswerten Sololauf unbedrängt in den Berliner Sechzehnmeterraum trieb. Seine südamerikanische Schnelligkeit und Ballbeherrschung ließen den gegnerischen Abwehrspielern nicht den Hauch einer Chance und er kam vor dem Berliner Torwart frei zum Schuss. Der Ball landete unhaltbar im rechten Kreuzeck. Der Keeper war durch eine geschickte Körpertäuschung kurz vor dem Abziehen verladen worden, so dass er auf die falsche Seite hechtete. Es blieben noch zwanzig Minuten, um den unverdienten Rückstand aufzuholen, doch nun machte sich die auf internationalen Parkett erworbene Routine und Cleverness der Bayern bezahlt. Man war nicht umsonst während der letzten Jahrzehnte in fast allen wichtigen europäischen Wettbewerben vertreten gewesen. Gekonnt ließ man die nassforschen Nachwuchstalente ins offene Messer laufen.

Durch das Ausnutzen einer weiteren Konterchance erhöhte Bayern auf zwei zu null, und das fünf Minuten vor Schluss. Nun rasteten die aufgepeitschten Berliner Anhänger vollständig aus. Sie hatten den Außenstürmer der Bayern im Abseits gesehen. Erneut sollte die vom Pech verfolgte Elf trotz der überlegenen Spielleistung an dem Unvermögen eines Unparteiischen scheitern. Man war nicht gewillt, das tatenlos hinzunehmen. Feuerwerkskörper wurden in rauen Mengen gezündet und aufs Spielfeld befördert. Trotz dicker Rauchschwaden unterbrach der Referee die Partie nicht. Die Bayernspieler beschwerten sich vergeblich über die unzähligen Wurfgeschosse, die es von den Rängen hagelte. Der Schiedsrichter ließ die restlichen hundertzwanzig Sekunden ohne Rücksicht auf Verluste ablaufen. Die Anweisungen vom DFB waren eindeutig. Spielunterbrechungen oder gar vollständige Abbrüche waren tunlichst zu vermeiden. Die Hooligans waren danach umso schwerer unter Kontrolle zu bringen. Obwohl gründliche Leibesvisitationen vorgenommen wurden, passierten bei jedem Spiel Unmassen von gefährlichen Gegenständen die Kontrollen. So wurden Messer, Blechdosen, Gasrevolver und selbstgebastelte Sprengkörper von harmlos aussehenden Zuschauern in die Stadien geschmuggelt und dort an die Randalierer verteilt. Vom Alkoholverbot war man wieder abgekommen, da die Fans sich bei verhängter Prohibition vor den Spielen umso heftiger betranken, so dass es noch vor dem Anpfiff zu wüsten Ausschreitungen kam.

Die ersten Hooligans begannen die meterhohen Absperrgitter zu überklettern. Die Stadionleitung hielt es für angebracht die fest installierten Wasserkanonen einzusetzen. Diese Hochdruckwerfer bestrichen die untere Hälfte der Ränge mit einem gebündelten, eisigen Strahl und kühlten zuverlässig die Gemüter der tobenden Rowdies. Insgesamt kamen drei Kanonen zum Einsatz. Das Spiel endete fast unbemerkt während der ernüchternden Gemeinschaftsdusche. Kimrod hatte das Stadion zehn Minuten vor dem Ende der Partie verlassen. Er wollte den Ford vor dem allgemeinen Aufbruch in die gesperrte Rominter Allee retten. Remke, der seit anno Tobak für Hertha schwärmte, hielt die Stellung bis zum Schluss. Er geriet mitten ins Gewühl und benötigte deshalb eine halbe Stunde, um den vereinbarten Treffpunkt an der Einmündung der Hanns Braun Straße zu erreichen.

 

Kimrod unterhielt sich mit einem Wasserwerferfahrer, der sich über die hohe Ausfallquote in seinem Ausbildungsjahrgang beklagte.

„ Nur vier von sieben sind noch dabei, der Rest abgenibbelt. Dem Stress nicht gewachsen. Vor dem Spiel, zum Beispiel, hat es drüben am Reiterstadion einen Toten gegeben. Angeblich Herzstillstand. Man will die Bilanz so eines Tages nicht verfärben. Für mich war das Mord, oder zumindest Totschlag. Den haben die Sanis bloß so schnell verfrachtet, damit nichts aufkommt. Der hatte einfach das verkehrte Trikot an. Rot-weiß unter lauter Fröschen, das konnte nicht gutgehen. Den haben sie so lange an seinem Schal gezupft bis die Pumpe streikte. Eine saubere und schnelle Sache. Das können nicht alle ab. Ich hier in meinem Tank muss mir auch vorstellen, dass ich im Krieg bin und durch die feindlichen Linien rolle. Anders kommst du nicht klar damit. Immer drauf aufs Gas und nicht links oder rechts schauen. Was bei drei nicht aus dem Weg ist, wird plattgemacht. Klotzen, nicht kleckern...das ist so ein Spruch von meinem Kommandanten. Soll irgend so ein Heini von der Wehrmacht erfunden haben, der mit seinen Tanks, also richtigen Panzern mit Kanonenrohr und allem drum und dran, durch ganz Europa gebrettert ist. Find ich absolut o.k. so. Wenn dann volle Kanne. Was anderes zieht doch bei diesen Knallköpfen nicht mehr. Die wollen einzig und allein Rabatz und den sollen sie haben. Ich lass mir nix mehr gefallen. Wenn man Kommandant sagt Volle Fahrt Geradeaus, dann gibt‘s kein Halten mehr! Rumms und durch. Alles andere ist Käse, das kapieren viele bloß nicht. Die meinen hier kann man auch was mit dem Gebetbuch erreichen. Aber das ist nicht. Gerade vorhin haben sie einen von uns vom Pferd geholt und halb tot geprügelt. Hier herrscht Krieg. Da kann mir einer erzählen, was er will. Ohne Knute läuft da gar nix mehr.“

Remke, der inzwischen zu ihnen gestoßen war, nickte beifällig.

„ So ist‘ s recht, junger Mann. Nur ordentlich draufhalten und durchdrücken. Diese Scheißliberalen sollen sich ihren Psychologiefirlefanz an den Hut stecken. Hier an der Basis sind andere Qualitäten gefragt. Recht so. Sie werden Ihren Weg machen.“

Kimrod bugsierte Remke ins Auto. Es war schon viertel vor sechs und Zefhahn liebte keine Verspätungen. Remke hatte mit dem schneidigen Werferfahrer ein Exemplar nach seinem Geschmack gefunden. Der war aus dem richtigen Holz geschnitzt, so musste der zukünftige deutsche Polizeibeamte aussehen. Es gab also doch noch Hoffnung.

Im Präsidium waren die zwei anderen Teams schon eingetroffen. Kimrod und Remke stürzten in letzter Minute in das Büro, das ihnen heute Morgen als Hauptquartier gedient hatte. Kriminalrat Zefhahn klopfte unwirsch auf die kleine Tafel, auf der er neue Fakten festgehalten hatte.

„ Bitte, meine Herren, wir wollen doch nicht die ganze Nacht hier verbringen. Wenn Sie schon zu spät kommen müssen, kann ich wohl verlangen, dass Sie meine Ausführungen nicht ständig unterbrechen. Jetzt muss ich schon wieder von vorne anfangen. Wie ist übrigens das Spiel ausgegangen?“

Der Kriminalrat durchbohrte Remke mit strafenden Blicken. Er wusste instinktiv, wo sich die beiden Nachzügler so lange herumgetrieben hatten. Und dann beichten, dass sie nichts in Erfahrung bringen konnten. Wenn das Labor nicht so gute Arbeit geleistet hätte, würde man mal wieder völlig im Dunkeln tappen. Die Männer in den weißen Kitteln machten sich immer unentbehrlicher. Die Mehrzahl der Fälle wurde inzwischen mit Hilfe des Mikroskops und des Reagenzglases aufgeklärt. Viele Kriminologen promovierten erst in naturwissenschaftlichen Fächern wie Chemie und Biologie, bevor sie in den Polizeidienst eintraten.

Männer wie Remke waren nur mit der Waffe schnell und versuchten, ihre mangelnde Fachkompetenz durch tumbes Drauflospoltern zu kaschieren. Freilich, ab und zu verfing sich noch ein Fisch in diesem grobmaschigen Netz, doch der Großteil des Fangs wurde schon lange von allen neuen Techniken gegenüber aufgeschlossenen Beamten wie Härtlein eingeholt, die ruhig und methodisch vorgingen und noch aus dem feinsten Härchen Schlüsse ziehen konnten, die oftmals zur Ergreifung der Täter führten. Und jetzt wollte dieser ungehobelte Klotz auch noch frech werden. Zefhahn hatte das Datum seiner Pensionierung schon mit roter Farbe in sein Notizbuch eingetragen. Hoffentlich fand sich rasch ein geeigneter Nachfolger für diese Dreingabe.

Remke wölbte unbeeindruckt die Brust.

„ Erstens, Herr Kriminalrat, sind wir nicht zu spät, sondern gerade noch rechtzeitig gekommen. Just in time, um mich an den von Ihnen bevorzugten Jargon anzupassen. Es muss alles nach Ausland oder lateinisch klingen. Deutsch ist was für derbe Bauern. Zweitens kommen wir deshalb so spät, weil Sie uns mit leeren Händen losgeschickt haben. Und nun sollen wir was aus dem Hut zaubern. Aber das kennt man ja. Hauptsache, dass im Zweifelsfall die Verantwortung nach unten abgeschoben werden kann. Wir sind dann wieder die Blöden. Fahndungspannen, schlampige Ermittlungen, immer die Schwierigkeiten mit dem Personal. Ich sehe Ihr nettes Köpfchen schon wieder im Fernsehen. Der große Matador weiß, wie man sich in Szene setzt.“

Zefhahn bedeckte angesichts dieser Tirade die Augen. Und das noch an seinem Golfnachmittag. Als ob er seine Männer nicht immer vor den giftigen Attacken der Medien in Schutz genommen hätte und dabei seine eigene Reputation aufs Spiel setzte, selbstlos und alle Konsequenzen in Kauf nehmend. Ohne diese Kamikazetaktik säße man doch schon längst im Innenministerium, fern aller Widrigkeiten einer kleinkarierten Polizeiadministration. Bereit für strategische Weichenstellungen in der Sicherheitspolitik. Sich nicht mehr sich mit diesen Flegeln herumschlagen brauchen, die immer glaubten, ihre Gossenmanieren an ihm erproben zu müssen.

„ Ich weiß, Remke, mit Ihnen wurde vierzig Jahre lang Schlitten gefahren. Ihre Vorgesetzten haben Sie nur ausgenutzt und drangsaliert. Die Öffentlichkeit weiß Ihre verdienstvolle Tätigkeit auch nicht zu würdigen und bei den Verbrechern sind Sie von Haus auf in Verschiss, da Sie kein Pardon kennen und vor keinem Delikt die Augen verschließen. Ich weiß, Sie haben tausendmal Recht und alles hat sich gegen Sie verschworen, doch versuchen Sie doch einmal, sich in meine Lage zu versetzen. Ich stehe doch unter einem viel größeren Druck wie Sie. Wenn was schief läuft, heißt es doch nicht Remke und seine Kommission haben versagt, sondern Zefhahn oder Wulke sind unfähig und müssen ersetzt werden.

Ihre Arbeit ist nicht leicht, aber da sind Sie doch nicht der Einzige. Wir alle müssen tagtäglich unseren Mann stehen. Und wenn wir untereinander nicht zusammenhalten, können wir den Laden gleich dicht machen. Stellen Sie bitte für die wenigen Monate, die Sie noch bei uns verbringen, alle Animositäten zurück und versuchen Sie zu kooperieren, in unser aller Interesse. Wir sind auch bloß Menschen!“

Zefhan bat Maikovsky um seinen Bericht. Die Frohnatur stand auf und warf sich in Pose. Er wollte dem Kriminalrat und Remke in nichts nachstehen.

„ Nachdem wir uns mit anatolischen Spezialitäten und würzigem Kaffee gestärkt hatten, widmete ich mich ausgiebig der gebräuchlichen Morgenlektüre. Herder schäkerte trotz meiner Warnungen mit der properen Bedienung. Doch Kemal, der Wirt, ließ fünf gerade sein und beendete das Techtelmechtel nicht unsanft mit seinem Krummsäbel und beschränkte sich darauf, uns mit Köstlichkeiten seiner Heimat zu versorgen. Es gab frische Datteln, Oliven in Öl, Oliven in Essig, Oliven mit Füllung, Oliven...“

Zefhahn unterbrach die Litanei unwirsch.

„ Ich weiß, Maikovsky, Sie sind der führende Orientexperte in Deutschland und Sie könnten uns noch tagelang irgendwelche Rezepte oder Aussprachevorschriften durchdeklinieren, aber kommen Sie jetzt endlich zur Sache. Wir sind doch hier nicht auf einer Laienspielbühne, auf der sich jeder möglichst effektvoll in Szene setzen muss! Hat sich die Tat in Kreuzberg schon herumgesprochen, wusste jemand Näheres? Nur das interessiert mich, sonst nichts. Bitte.“

Maikovsky sank etwas in sich zusammen. Er wollte seiner Schilderung doch nur etwas Lokalkolorit angedeihen lassen, die Atmosphäre greifbarer machen.

„ Na gut, komme wir also zur Sache. Über die Morde habe ich nichts erfahren. Es wusste auch niemand etwas darüber. Nicht verwunderlich, wenn es sich um Nutten handelt. Das sind Unpersonen, noch viel schlimmer als bei uns. Bei den Radikalen auf alle Fälle ist das so. Man macht das zumindest nicht so öffentlich. Die Schriftgelehrten haben übrigens eine Lücke im Koran ausfindig gemacht. Ein Mann kann da auch mit einer Frau eine Ehe auf Zeit eingehen, wenn sie geschieden oder verwitwet ist. Ganz legal und mit Absegnung der Pfaffen. Diese Frauen auf Zeit sind dann halt früher vielfach als Ersatzprostituierte verwendet worden und haben ein sehr ausschweifendes Leben geführt. Die Stimmung im Allgemeinen ist nach wie vor schlecht. Die Kurden planen Attentate gegen die Türken, die Türken gegen die Deutschen. Insbesondere die Söhne Allahs, die gegen die deutsche Unterstützung des Regimes in Ankara protestieren, die Kurden aus dem gleichen Grund gegen die Deutschen. Beide zusammen, Kurden und Türken, gegen die deutsche Regierung, die zu lasch gegen Hakenkreuzier vorgeht. Und so weiter, und so weiter. Wir haben viel Kaffee getrunken und geschwätzt. Es war ein gelungener Tag. So was geht halt nicht von heute auf morgen.“

Zefhahn forderte Härtlein auf, seine Ergebnisse zu präsentieren.

„ Tja Chef, wir haben auch nicht allzu viel vorzuweisen. Am Oberhafen wird gebaut. Da steht eine große Containersiedlung. Nachts treten die Prostituierten sich auf die Zehen. Aber ohne vernünftige Bilder und Namen war da nichts zu machen. Man kam sich direkt hilflos vor. Nur dieses blutverschmierte Gesicht in der Hand und die Kleidungsfetzen, da wollte sich natürlich niemand festlegen. Wir haben bei mindestens fünfzig Anwohnern geklingelt, aber auch da Fehlanzeige. Am Wochenende geht‘s bei den Bauarbeitern immer ein bisschen lustiger zu. Da hat keine Schreie oder Kampfgeräusche gehört.“

Kriminaloberkommissar Bullrich gab dem Vortragenden ein Zeichen. Härtlein überlegte kurz und nickte dann verstehend.

„ Ach ja, ehe ich es vergesse. Da draußen sind des Öfteren schwere Daimlerlimousinen gesehen worden; dem Typ nach zu schließen Regierungskarossen. Aber außer den Chauffeuren war nie jemand zu erkennen. Da ist hinten meistens alles abgedunkelt, mit Spezialglas. Herren dieser Preisklasse suchen sich ihre Gespielinnen normalerweise nicht auf dem Straßenstrich. Also irgendwie hat mich das stutzig gemacht. Mehr war nicht.“

Kriminalrat Zefhahn bezog mit einem triumphierenden Lächeln im Gesicht neben der Tafel Stellung.

„ So, und jetzt kommen wir zu meinen Ergebnissen, beziehungsweise zu denen von HASSSO. Ich will mich nicht mit fremden Federn schmücken. HASSSO steht für Hard and Software Security Services Organisation, aber das dürfte allgemein bekannt sein oder sollte es zumindest. Gut, gehen wir gleich medias in res oder wie auch immer das heißen mag. Ich meine ganz schlicht und einfach: Lasst uns zur Sache kommen.“

Zefhahn unterstrich zwei Namen.

„ Claudia Luper, fünfundzwanzig Jahre, ledig und Susanne Roschmann, siebenundzwanzig Jahre, ebenfalls ledig. Beide wohnhaft in Neukölln, Siegfriedstraße 33b. Na, jetzt sind die Herren aber baff. Ein Polizeihund sticht sechs meiner besten Beamten aus. Ein kurzer Pfiff, HASSSO fass und der Täter wird apportiert. Streifenweise, wenn es sein muss.“

Niemand lachte. Die Polizisten waren wirklich verblüfft und warteten gespannt auf die Auflösung des Rätsels. Zefhahn genoss die Situation sichtlich. Da fiel den sonst nicht auf den Mund Gefallenen nichts mehr ein.

„ Ja, meine Herren, das ist Polizeiarbeit der Zukunft. Modernste Technologie gepaart mit der Scharfsinnigkeit geschulter Gehirne. Aber ich will Sie nicht länger auf die Folter spannen, die Sache ist ganz banal zustande gekommen. Ein aufmerksamer Assistent in der Gerichtsmedizin, so was gibt es auch noch, ist aber bestimmt ein absterbender Ast, hat...äh, hat festgestellt, dass bei beiden Mädchen neuartige Füllungen, ich meine Zahnfüllungen, installiert sind. Füllungen die erst seit ein paar Monaten auf dem Markt sind und wegen des hohen Preises auch nicht weiter verbreitet sein dürften. Der Rest war ein Kinderspiel. Wir haben einen dentalen Fingerabdruck genommen, wenn ich mich so salopp ausdrücken darf und diesen dann in HASSS0 eingespeist. Es gibt in ganz Berlin eben nur drei Zahnärzte, die mit diesem neuartigen Material arbeiten. Und schwuppdiwupp, HASSSO such, hatten wir die Identifizierung. Das ist der Vorteil der modernen Datenvernetzung. Auch am Wochenende ist mit den richtiges Kodes alles jederzeit abrufbar. Wir sparen uns Zeit, Geld und jede Menge Nerven.“

Kriminalhauptkommissar Härtlein wollte es genauer wissen.

„ Da tippt praktisch jede Sprechstundenhilfe in ihren Computer ein, wie die Zähne repariert worden sind. Aber wie kommen wir da ran? Ärzte hüten ihre Karteien wie ihre Augäpfel.“

„ Das läuft dann über die Krankenkasse, glaube ich. Ein Teil davon jedenfalls. Aber das ist eben HASSSO. Der weiß genau, wo er suchen muss, und vor allem nach was. Bei Kapitalverbrechen haben die Anwender, also wir, große Vollmachten und auf eine ungeheure Datenflut Zugriff. Da kann so ein spezielles Programm schon sehr von Nutzen sein. Ich bin natürlich kein EDV-Experte, aber praktisch ist so was schon. Innerhalb von wenigen Stunden mit Erfolg abgeschlossen, die Aktion. Jetzt stehe ich auch der Presse gegenüber nicht mehr mit leeren Händen da. Ein kurzer Zwischenbericht ist schon über die Fernschreiber getickert. Die wollen was für ihre Sonntagsausgabe haben. Ich lass mir in der Beziehung nichts mehr nachsagen. Wer die Mediendiktatur haben will, soll sie bekommen“, äußerte Zefhan überschwänglich.

Remke wurde hellhörig.

„ Sie haben das hier alles den Pressefritzen zugänglich gemacht? Und uns total übergangen? Ha, warum gehen Sie nicht gleich zum Abendblatt? Da könnten Sie ihre Profilneurose wenigstens ausgiebig auskurieren. Aber das ist wieder typisch für unsere Abteilung. Die Männer werden zu Bauern auf dem Schachbrett der leitenden Herren degradiert und nur noch sporadisch als Lückenbüßer eingesetzt.“

Zefhahn wurde energischer. Sein Bariton dröhnte durch den kleinen Raum.

„ Ich erfülle nur meine Pflicht. Der Innensenator hat eindeutige Anweisungen gegeben in dieser Richtung. Glasnost ist angesagt, meine Herren. Auch wenn es einige von Ihnen damit übertreiben zuweilen. Außerdem verstehen Sie nichts von Schach, Remke. Die Bauern sind zentrale Figuren, besonders im Endspiel. Ohne sie wäre der König verloren, ohne Bauern keine neue Dame. Ich weiß also gar nicht, was Sie immer wollen. Wenn Sie sich während der Dienstzeit nicht nur in Fußballarenen herumtreiben würden, wären wir nämlich schon längst fertig. Ich muss Ihnen nämlich noch was unter die Nase reiben. Das...“

Kriminalrat Zefhahn kritzelte eine Darstellung an die Tafel, die entfernt an einen Hundekopf erinnerte.

„ Das, meine Herren, hat die Gerichtsmedizin auf den Innenseiten der Schenkel der Mädchen gefunden. Ein Wolfsrachen, das Erkennungszeichen der Nazipartisanen nach Kriegsende. Die wurden von den Alliierten sehr gefürchtet, traten aber eigentlich nie in Erscheinung. Eine Geisterbrigade, die den Besatzungsmächten dann später dazu diente, harte Auflagen durchzusetzen, da die Hakenkreuzler sich angeblich noch nicht geschlagen gaben. Dieser Wolfsrachen wurde den Mädchen eingebrannt, wie bei einem Stück Vieh. Wo müssen wir also die Täter suchen?“

Zefhahn ließ den Kommissaren keine Zeit, die Frage zu beantworten. Er hörte sich selbst am liebsten reden.

„ Wissen Sie, wie viele Rechtsradikale es in Berlin gibt, polizeilich erfasste? Eben! Das wird eine Schlacht! Von Degradierung keine Spur, meine Herren. Ihr Betätigungsfeld wächst ins Unendliche.“

„ HASSSO wird‘s schon richten“, bellte Maikovsky nach vorne.

Auch er war mit Zefhahns Vortrag nicht ganz einverstanden. Man war bereit, große Opfer zu bringen und wurde dafür abgekanzelt wie ein Schuljunge, dessen Hausaufgaben vor Fehlern strotzte. Zefhahn nahm wieder etwas Tempo raus. Seine Rhetorikkurse machten sich bezahlt.

„ Sie haben durchaus recht, mein Lieber. Das Programm stöbert schon durch diesen braunen Sumpf. Ab Montag können Sie unseren vierbeinigen Mitarbeiter an die Leine nehmen und an Ort und Stelle testen. Das ist übrigens nicht nur sinnbildlich gemeint. Ein elektronisches Notebook kann mit Festplattenmunition, die von HASSSO geliefert wird, bestückt werden. Sie sind also immer bestens im Bilde. Passen Sie nur auf, dass Ihnen das Untier nicht an die Kehle geht. Bei zu vielen Daten einfach abschalten.“

Remke reagierte prompt.

„ Schade, dass wir das nicht auch bei den Menschen einführen können. Das wäre ein revolutionärer Fortschritt, der das Leben ungemein erleichtern würde. Ich war vorhin noch nicht ganz fertig. Hertha hat zwei zu null verloren. Der Schiedsrichter war gekauft, aber was will man machen. Geld regiert die Welt. Wir haben übrigens unsere Zeit nicht ganz nutzlos verplempert. Es gab wieder dicke Keilereien und wir konnten einen arg in Bedrängnis geratenen Kollegen raushauen. Na ja, eine Orden werden sie uns dafür nicht an die Brust heften. Dafür passiert so was zu oft. Aber trotzdem war es ein schönes Gefühl irgendwie. Mal wieder was richtig Handfestes zur Abwechslung. Wär ich doch nur beim Grenzschutz geblieben. Da kann man sich noch so richtig austoben.“

Der Kriminalrat hatte sich schon längst ostentativ umgedreht und war zum Waschbecken gegangen. Diesen Kerlen musste man schon zeigen, wer Herr im Haus war. Was zu weit geht, geht zu weit. Und immer wurde einem dieselbe abgestandene Brühe aufgetischt. Diese Miesmacher sollten nur spüren, wie unwichtig sie eigentlich waren.

Remke lag jedoch noch mehr auf dem Herzen. Der große Meister hatte das Wichtigste wieder einmal vergessen. Aber Hygiene und Sauberkeit gingen vor. Man musste sich einem akribischen Reinigungsritual unterziehen, wenn man mit dem gemeinen Pöbel in Kontakt geraten war. Dieser Fatzke.

 

„ Chef! Was ist nun, sind es Nutten oder nicht?“

Zefhahn befeuchtete seine Haare und drehte sich kurz um.

„ Ja, aber das habe ich doch schon zwanzigmal erzählt. Warum sind Sie eigentlich immer so unaufmerksam? Bei den anderen geht‘s ja auch. Dabei wollte ich Sie noch zur Beförderung vorschlagen. Das wäre eine hübsche Aufbesserung Ihrer Rente gewesen. Ob ich das noch vor Wulke vertreten kann? Sie wissen wie er ist. Der deutsche Beamte ist ordentlich, ehrlich und bescheiden. Punktum, was will man da machen. Da müssen Sie schon den Bundespräsidenten vor einem Sprengstoffattentat bewahren oder so was Ähnliches. Na ja, Sie werden schon durchkommen.“

Rache ist süß. Zefhahn kämmte sich befriedigt. Kimrod hatte auch noch ein Anliegen.

„ Herr Kriminalrat, ein zentraler Punkt ist immer noch nicht geklärt. Wie passt der südländische Typus zu diesem Namen? Ich meine deutscher geht‘s doch nicht?“

Zefhahn strich die letzten Strähnen glatt. Ab einem gewissen Alter konnte man gar nicht genug auf sein Äußeres achten. Ein bisschen Eitelkeit war da nur von Vorteil. Zefhahn klopfte Kimrod wohlmeinend auf die Schulter.

„ Sie haben natürlich Recht. Den Punkt muss ich wirklich übersehen haben in der Hektik der Konferenz. Die Geschichte ist ein bisschen kompliziert. Wir, beziehungsweise HASSSO, haben ein wenig Genealogie betreiben müssen. Diese Luper, die jüngere der beiden Callgirls...also das darf ich schon schnell erklären. Sie sind beide registriert, mit Finanzamt und allem drum und dran. Gott sei Dank hat der Gesetzgeber da jetzt auch endlich Nägel mit Köpfen gemacht und diesen Erwerbszweig mit allen Konsequenzen als Beruf anerkannt. Da hat man nun in so mancher Beziehung tieferen Einblick und kann da auch teilweise besser zupacken.

Gut. Was ich sagen wollte, diese Wohnung in Neukölln wurde auch richtig gewerbsmäßig genutzt. Die Spurensicherung war schon dort und hat, na ja, ihre Arbeit gemacht. Fingerabdrücke, Kleidung, Haare, Fussel, das komplette Programm. Bevor ihr Elefanten dort rumtrampelt, muss da alles vor Ort sauber und gewissenhaft untersucht werden. Die Einteilung für morgen und Montag mache ich gleich anschließend. Also Geduld. Je länger Sie mich reden lassen, desto schneller können Sie ins Wochenende starten. Auch wenn das paradox klingen mag. Also, der Vater von der Luper ist Türke. Ein Lehrer, der eine Deutsche geheiratet hat. Das Kind, diese Claudia, hat später den Namen ihrer Mutter angenommen. Die Eltern leben in Ankara, nur ein Bruder lebt noch hier in Berlin. Eine ziemlich finstere Type. Ja HASSSO, brav! Wer sich einmal bei uns verfangen hat, den lassen wir so schnell nicht mehr los. Wäre auch noch schöner. Also, Punkt eins geklärt. Punkt zwei verhält sich ebenso, nur umgekehrt.

Familie Roschmann: Vater Deutscher, Mutter Türkin. Kind nimmt Namen des Vaters an, logischerweise, weil das halt hier in Deutschland praktischer ist. Ich meine, einen deutschen Namen zu haben, hat viele Vorteile. Der Vater, dieser Roschmann, ist schon verstorben. Krebs, mit Anfang vierzig. Die Mutter ist wieder verheiratet, wieder mit einem Deutschen. Das erklärt die Namen, das Aussehen, einfach alles. Also, so weit, so gut. Wir haben schon einen guten Teil unserer Arbeit erledigt. Deshalb können wir unsere Truppen, glaube ich, etwas reduzieren. Härtlein und Bullrich scheiden aus der SOKO Spreetöchter aus. Passt doch ganz gut, oder? Spreetöchter, das reduziert sich jetzt auf vier Mann, aber das dürfte locker reichen. Die Presse wird zwar noch etwas Wind machen, zwei geschändete Huren, die eine sogar ohne Kopf. Da steigt die Auflage, da lacht das Leserherz, aber sonst, nein...übrigens, man muss die armen Dinger mit einer Bohrmaschine vergewaltigt haben. Der Tod trat wahrscheinlich jeweils durch Messerstiche ins Herz ein, bei der Kleinen jedenfalls. Die Roschmann, die ohne Kopf, woran die gestorben ist ursächlich, kann man wahrscheinlich nie mehr genau sagen. Hoffentlich hat man sie erstochen bevor...ich meine so unmenschlich und brutal kann ja niemand, außer... womit wir beim nächsten Punkt wären....wenn es sich um krankhafte Sexualtäter handelt. Leute diese Schlages, die dafür in Frage kämen, sollten alle hinter Schloss und Riegel sitzen, für alle Zeit. Die Praxis sieht leider Gottes anders aus. Nach ein paar Jahren in der Anstalt als geheilt hinterlassen, Rückfälle ausgeschlossen. Laut psychologischem Gutachten, die oft nicht das Papier wert sind, auf dem sie geschrieben werden. Diesen Täterkreis müssen wir natürlich auch berücksichtigen.

Aber zunächst, und damit zur Einteilung, wollen wir in der Ecke suchen, die sich besonders aufdrängt. Der Wolfsrachen nämlich. Das wird übermorgen das Erste sein. Das übernehmen die altbewährten Fahrensmänner Kimrod und Remke. Gleich für morgen stände noch ein Besuch bei Mustafa an, dem Bruder der Luper. Wenn ihr den nicht erwischt, büchst der womöglich für die ganze Woche aus. Und das wollen wir doch vermeiden, nicht? Wir wissen natürlich nicht, ob die Kleine noch mit ihrem Bruder in Kontakt gestanden ist, aber etwas Besseres fällt mir im Augenblick nicht ein. Wir werden auch versuchen, die Eltern zu erreichen. Das kann sich jedoch in die Länge ziehen. Dort unten weiß man nie.

Ja, gut. Und Maikovsky und Herder versuchen ihr Glück zunächst mal bei der Mutter der Roschmann. Die wohnt in der Marienburger Straße, Prenzlauer Berg. Vielleicht ist da was zu holen. Ist immer schwierig mit den Angehörigen der Prostituierten. Da will keiner mehr was damit zu tun haben. Gut, dann bis Montag. Moment, diesen Mustafa könnt ihr in der Prinzenstraße 21 ausfindig machen. Ihr kennt euch da aus, aber möglichst morgen. Tut mir leid, aber ein bisschen müssen wir schon noch ranklotzen. Wir dürfen uns nichts nachsagen lassen. Von wegen auf dem rechten Auge blind oder so. Ihr kennt das ja. Da muss man vorbauen. Gut, dann ein schönes Wochenende. Bis Montag.“

 

Die Polizisten zündeten sich Zigaretten an. Zefhahn verließ mit Bullrich und Härtlein das Büro. Remke klatschte mit der flachen Hand gegen die Tafel.

„ Dieses Schwein. Er weiß genau, dass ich meine Beförderung schon längst in den Wind geschrieben habe. Aber immer wieder muss er davon anfangen. Als ob Wulke daran schuld wäre! Eines Tages ist er fällig. Ich lasse ihn zwanzig seiner Golfbälle schlucken. Die kann er dann hübsch der Reihe nach versenken. Mit seinem Arsch.“

Kimrod winkte ab.

„ Du und deine leeren Versprechungen. Außerdem hast du das selber verbockt. So wie du den behandelst. Das würde sich keiner so mir nichts dir nichts gefallen lassen. Wenn du so weiter machst, schickt er dich bis zur Rente in den Urlaub. Wahrscheinlich arbeitest du auf das hin.“

Auch Maikovsky musste seinen Frust loswerden.

„ Der mit seinem HASSO kann mir den Buckel runterrutschen. Soll er doch das Ding auf einen Sackkarren verfrachten und durch Berlin schippern. Vielleicht könnte er mit diesem Wandofen ein paar alte Steckdosen verhaften oder weiß der Teufel was. Was erwartet er denn, wenn er uns mit leeren Taschen losschickt? Wir haben uns den Samstag doch völlig umsonst um die Ohren geschlagen. Ihr wart wenigstens so schlau und habt euch das Spiel reingezogen. Dabei hat Hertha doch in den letzten drei Spielen sieben Punkte geholt. Und jetzt gegen diese abgehalfterten Großkotze zwei zu null. Da ist doch was nicht mit rechten Dingen zugegangen. Aber einmal stärkt man diesen Pfeifen nicht persönlich den Rücken, schon geht‘s den Bach runter.“

Remke setzte ihm genauestens auseinander, wie es zur schmachvollen Niederlage gekommen war. Auch wenn Maikovsky sonst ein ziemlicher Sprücheklopfer war, vom Fußball verstand er etwas. Er hatte stets den aktuellen Tabellenstand parat und wusste mit fachmännischen Analysen zu glänzen. Einer sachverständigen Diskussion stand also nichts im Wege.

Kimrod rauchte nachdenklich zu Ende. Er war mit dem Verlauf des Tages eigentlich zufrieden. Zefhahn und die Medizinmänner hatten gute Arbeit geleistet. Die Jagd konnte jetzt richtig losgehen. Die Beute war identifiziert und die Räuber wenigstens ansatzweise markiert worden. Als Täter kamen Rechtsradikale, Zuhälter, durchgeknallte Freier, die vielleicht erpresst worden waren und krankhafte Sexualverbrecher vom Schlage eines Jack the Ripper in Frage. Keine kleine Auswahl. Der Schlüssel zu diesem Fall lag vielleicht im Milieu. Insofern war ihre heutige Tour nicht umsonst gewesen. Wer kannte die Mädchen näher, wer hatte sie vermittelt und angelernt? Mit welchen Freiern hatten sie es hauptsächlich zu tun gehabt?

Tante Berta! Sie hatte schon vorhin ein so betretenes Gesicht gemacht. Das war ein Ansatzpunkt. Man musste sie nur aus der Reserve locken, ihr klar machen, dass nur die Polizei den Täter überführen und seiner gerechten Bestrafung zuführen konnte. Das war freilich leichter gesagt als getan. Die Polizei und die Justiz besaßen in dieser Branche traditionell kein großes Ansehen. Die Bestechlichkeit einiger Vollstreckungsbeamten und die Gleichgültigkeit der Gerichte waren denkbar schlecht dazu geeignet, diesen Zustand zu verändern. Und Leute wie Berta konnten einen vielleicht als Mensch gut leiden, vergaßen aber bestimmt nie, dass man sich in zwei strikt getrennten Lagern befand.

Die Sache würde also viel Zeit und Überredungskunst erfordern. Ersteres war nach Kimrod Einschätzung nur bedingt vorhanden. Man würde der Öffentlichkeit schnell einen Schuldigen präsentieren müssen. Die Wahlen standen bevor und die Senatoren der Justiz und des Inneren standen dementsprechend unter Druck. Der Bürger maß die Effizienz seiner Repräsentanten gern an der Auflösung solch blutgeschwängerter Trivialtragödien aus den Niederungen des horizontalen Gewerbes, mit dem zwar schon fast jeder Vertreter des männlichen Geschlechts im Rahmen von Initationsriten in Berührung gekommen war, das aber noch immer himmelweit davon entfernt war, gesellschaftlich anerkannt oder zumindest akzeptiert zu werden. Das Stückchen Normalität, das durch die formale Einordnung in die Selbständigensparte und die Gründung eines offiziellen Berufsverbandes erreicht worden war, verblasste angesichts der generellen Diskriminierung und Verachtung, die den Prostituierten weiter unverhohlen ins Gesicht schlug.

Kimrod drückte seine Zigarette aus und verabschiedete sich von den Kollegen. Er vereinbarte mit Remke einen Treffpunkt für morgen Mitttag und fuhr mit dem Dienstwagen nach Hause. Emma, seine Frau, hatte sich bereits Sorgen gemacht.

 

„Ich dachte mir schon, dass was passiert sei. Du hättest dich aber auch mal melden können zwischendurch. Wo es doch wieder solche Krawalle gab im Stadion. Hat deine Verspätung damit zu tun?“

Kimrod schlüpfte aus den Schuhen und ging neben seiner Frau vorbei in die Küche. Er hatte Hunger, außerdem wollte er erst einmal nichts mehr von den Ereignissen des Tages wissen.

„ Im Kühlschrank sind Schnitten. Bier müsste auch noch da sein“, rief ihm Emma hinterher.

Kimrod machte es sich gemütlich. Die Brote schmeckten herrlich, das Bier war erfrischend kühl. So ließ es sich leben. Emma wartete bis er fertig gegessen hatte und sich eine Zigarette anzündete.

„ Also, was war denn heute so großartig los, an einem Samstag?“

Kimrod stieß genüsslich kleine Rauchringe aus, nachdem er inhaliert hatte. Das war typisch. Sie ließ nicht locker bis er nachgab und ihr genauen Bericht erstattete. Er gab sich gerne geschlagen, denn ihre Anteilnahme war aufrichtig und manchmal auch hilfreich. Schon mehrmals hatte sich ihr gesunder Menschenverstand als nützlich erwiesen, wenn er in einem verzwickten Fall nicht weiterkam. Kimrod nannte sie deshalb in solchen Momenten scherzhaft Watson, auch wenn sie sonst eigentlich gar nichts mit dem schrulligen Wald und Wiesendoktor gemeinsam hatte, der Sherlock Holmes bisweilen assistierte.

Emma hatte Kimrod noch während ihrer Schulzeit kennen gelernt. Es war nicht einfach gewesen, den etwas scheuen jungen Mann zu erobern, der aus einfachen Verhältnissen stammte und es lange nicht glauben wollte, dass die piekfeine Professorentochter sich ernsthaft in ihn verknallt hatte. Doch Emma war hartnäckig und gab ihn auch dann nicht auf, als er Polizist wurde. Sie wurde mit dreiundzwanzig schwanger und beendete trotzdem erfolgreich ihr Biologiestudium. Sie hatten inzwischen geheiratet und sich eine kleine Wohnung genommen, wobei ihnen die finanzielle Unterstützung von Emmas Vater sehr gelegen kam, auch wenn Kimrod die pekuniäre Großzügigkeit des Gelehrten nur zähneknirschend akzeptierte. Aber als Polizeifachschüler durfte man nicht sehr wählerisch sein, besonders wenn man Frau und Kind zu versorgen hatte.

Kimrod überwand den verbissenen Stolz des Proletariersprösslings und arrangierte sich schließlich mit der kosmopolitischen Bildungsbürgerfamilie seiner Frau, deren Mutter gebürtige Brasilianerin war und ebenfalls Vorlesungen an der Freien Universität hielt. Nachdem er zum Kommissar befördert worden war und sie die größten Geldsorgen hinter sich gelassen hatten, kam man sich auch menschlich näher und Kimrod wurde voll und ganz aufgenommen in den Klub der Intelligenzbestien, wie sein Sohn Wolf diesen Teil des Stammbaums despektierlich titulierte.

Der alte Professor, Emmas Vater, war ein wandelndes Lexikon und Kimrod hatte auch auf diesen Fundus schon öfters zurückgegriffen bei seinen kriminologischen Recherchen. Auch Emma war ihm intellektuell überlegen. Kimrod gestand sich das neidlos und ohne Groll ein, doch ab und an brachte sie ihre Herkunft zu penetrant ins Spiel. Sie entwickelte dann seines Erachtens nach richtigen Standesdünkel, dem er ebenfalls nur aus einer unterlegenen Position entgegentreten konnte. Doch in diesem Fall verstand er keinen Spaß. Auch wenn ihn mit seinen Eltern Zeit seines Lebens eher wenig verbunden hatte, brachte er ihnen heute mehr denn je ungeheuren Respekt entgegen. Trotz geringer Mittel allen Kindern eine hochwertige Bildung angedeihen zu lassen, war keine geringe Leistung. Kimrod wusste das spätestens seit der Einschulung seiner Kinder.

Bücher, Taschenrechner, der oft nicht mehr den Anforderungen der Mathematiklehrer genügte, es sollte schon ein kleiner PC sein, Fahrkarten und Klassenausflüge. Überall wurde die staatliche Subventionierung zusammengestutzt und eingestellt. Wer dennoch in den Genuss öffentlicher Beihilfe kommen wollte, musste Bedürftigkeit nachweisen. Kimrod fiel das bei seinem Gehalt nicht schwer, auch wenn Emma durch ihr gelegentliches Jobben in einem Institut zu einer Verbesserung des Familieneinkommens beitrug. Unterm Strich blieb monatlich nur wenig übrig. Ein Glück, dass Ingrid, die Tochter des Hauses, sich ein Stipendium erarbeitet hatte. Um so bitterer stieß es ihrem Vater auf, dass sie alles Stähler, diesem hanebüchenen Scharlatan, in den Rachen warf.

Die Aussicht auf einen Sitz im Abgeordnetenhaus für Emma war auch für die Familie verlockend, nicht nur aus finanziellen Gründen. Kimrod brachte immer häufiger das geringe Prestige seines Berufes mit der exotischen Lebensgestaltung seiner Kinder in Verbindung. Er hatte ihnen anscheinend durch sein Beispiel wenig geistigen Rückhalt und Orientierung bieten können. Beide gingen abgefeimten Bauernfängern auf den Leim, trotz des akademischen Blutes in ihren Adern, das, Ingrid hatte es bestätigt, noch immer heftig pulsierte. Wenn Emma den großen Sprung schaffte, ihre Erfolge auf kommunaler Ebene gaben Anlass zu berechtigten Hoffnungen, konnte sie sicherlich zur Reintegration der Kinder beitragen.

Emma etablierte sich in der Partei immer stärker als Fachfrau für Wissenschaft und Forschung. Wenn die Wende endlich gelang und der angefaulte schwarze Moloch aus den Ämtern gejagt werden konnte, winkte vielleicht sogar ein Senatorenstuhl. Da die absolute Mehrheit höchstwahrscheinlich nicht erreichbar war, musste die SPD-Fraktion zwangsläufig in den sauren Apfel beißen und sich nach anderen kompromissfähigen Koalitionspartnern umsehen. Doch die waren rar. Die Ehe mit den Grünen war schon mehrmals gescheitert, doch alte Liebe rostet nicht. Die Stimmen häuften sich, die empfahlen, in dieser Richtung verstärkt vorzufühlen.

Die andere Alternative, die Sozialisten, war kaum verlockender. Die Nachfolgepartei der kommunistischen Staatsbankrotteure gewann jedoch zusehends an Profil, besonders bei den Jungwählern. Bei einigen Genossen stieg die pepige Linksaußenpartei immer mehr im Ansehen, schließlich hatte man bei allen divergierenden Entwicklungen gemeinsame Wurzeln. Und die Probleme des einfachen Mannes waren aktueller denn je.

Die schweigende Mehrheit der Sozialdemokraten tendierte weder in die eine noch in die andere Richtung. Die radikalen Randparteien waren in den Augen vieler nicht bündnisfähig. Eine Zusammenarbeit machte keinen Sinn, da bei vielen essentiellen Themen von vornherein kein Grundkonsens bestand, zumindest in Berlin. Was blieb, waren die Rechtsextremen, die als Partner zwar noch immer indiskutabel waren, inzwischen aber über ein stabiles Stammwählerkontingent verfügten, das sie zu einem ernstzunehmenden Gegner machte.

Insgesamt profitierten die Zwergparteien von ihrem Bürgerschreckimage. Die Protestwähler konnten den Herrschenden saftig eins auswischen, wenn sie ins extreme Lager abwanderten. Die Altparteien im Bundestag waren durch die langwährende Regierungskoexistenz stärker zusammengewachsen als beabsichtigt, konstruktive Opposition wurde nur noch von Außenseitern betrieben. Die Wahlen wurden deshalb sehnsüchtiger denn je erwartet. Endlich mussten wieder demokratische Verhältnisse einkehren, die verfilzten Cliquen im Reichstag an die frische Luft gesetzt werden. Alle Umfragen bestätigten diesen Trend, so dass die Parteistrategen nicht umhinkamen, einer Fortsetzung und Neuauflage der Großen Koalition im Bundestag und den Länderparlamenten eine klare Absage zu erteilen.

 

Kimrod war zwar im Grunde seines Wesens ein apolitischer Mensch, doch wenn er sich zum Urnengang aufraffen konnte, meistens brachte ihn Emma so weit, machte er bei der Union sein Kreuzchen. Die Innensenatoren wechselten häufig und der CDU-Kandidat war nicht immer der bessere, aber insgesamt lag die sicherheitspolitische Auslegung dieser Partei am ehesten auf seiner Linie, von den polternden law and order Sprüchen der Rechten einmal abgesehen, bei denen so manch frustrierter Kollege Zuflucht gesucht hatte. Auch Kimrod liebäugelte ab und an mit den braun angehauchten Rechtsauslegern, doch die oft mangelhaft ausgeprägte Integrität deren Propagandisten verhinderte bislang eine engere Anbindung an Personen und Programm der Blut und Bodenparteien. Er stieß sich ebenfalls an der aufgesetzt wirkenden Schlagwortpolitik der Ultrarechten, auch wenn die Regierungskoalition vieler ihrer Forderungen erfüllt hatte und eine Aufnahme aller Staaten des ehemaligen Ostblocks in die EU und NATO verhindert worden war.

In diesem Spektrum dominierte dumpfe Ausländerfeindlichkeit und Sündenbockabstempelungen, da war nichts gewachsen und tiefer begründet. Die Industrie und das Handwerk hatten zwar durchgesetzt, dass mehr billige Arbeitskräfte aus dem Osten und den Entwicklungsländern mit befristeten Aufenthaltsgenehmigungen ausgestattet wurden und dadurch das Lohnniveau gedrückt werden konnte, doch den Beweis, dass die drückende Arbeitslosenquote ursächlich allein mit dem Ausländeranteil in Verbindung stand, hatte noch niemand erbracht. Die Fremdenfeindlichkeit wurde von der scheinheiligen Boulevardpresse geschürt, die bestehende Missstände plakativ anprangerte und mit fetten Lettern ins Volksbewusstsein einbrannte. Wenn die so produzierte Gewalt wieder einmal eskalierte, war man mit Schuldzuweisungen schnell bei der Hand. Der autoritäre Staat schüre diese Konflikte, die Polizei habe nicht angemessen reagiert oder war gar der Bürger noch nicht reif für das toleranzerfordernde Zusammenleben in der multikulturellen Gesellschaft des einundzwanzigsten Jahrhunderts?

Nichts haftete so sehr wie das gedruckte Wort, und Verbrechen wurden gerne nachgeahmt, aus welchen Gründen auch immer, so dass das potenzierende Element der Medien nicht hoch genug bewertet werden konnte. Die bluttriefenden Fernsehreportagen verleiteten leicht beeinflussbare Gemüter zur Folgetat. Anlässe zur enthemmenden Frustration gab es ebenfalls mehr als genug.

 

Die Politik spielte also auf mannigfache Weise in den Mordfall hinein. Es konnte also bestimmt nicht schaden, von berufener Seite eine Stellungnahme einzuholen. Emma setzte sich neben ihren Mann an den Küchentisch.

„ Du rauchst wieder. War es wirklich so schlimm?“

Kimrod drückte die Zigarette aus.

„ Es geht. Zwar kein normaler Fall, aber wir sind schon ein gutes Stück vorangekommen. Dank HASSSO.“

„ Wer ist das, euer neuer Hund?“

„ Genau. Der alte Bullenbeißer geht in Pension und der amerikanische Bärenhund aus dem Siliconvalley tritt die Nachfolge an. Ein sehr gescheites Tier. Es ist eine wahre Freude, mit ihm zusammenzuarbeiten.“

„ Du willst mich auf den Arm nehmen. Hat Zefhahn mal wieder seinen Computer durch die Datenbanken gehetzt? Ich möchte nicht wissen, wo ihr eure Nase überall reinsteckt. Mit oder ohne Erlaubnis.“

„ Ich auch nicht, ist mir aber egal. Der moderne Mensch lebt so, dass er nichts zu verbergen hat. Dann können einem sämtliche Datenschutzbeauftragte gestohlen bleiben. Die wahren Verbrechen finden im Kopf statt, dort wo keiner hinsehen kann. Was ich mir da manchmal ausmale...“

Kimrod dachte an seine jungfräuliche Liaison mit den Rechten. Emma würde ihn aus dem ehelichen Schlafzimmer verweisen, wenn sie etwas davon wüsste. Gegen alles, was nach braun roch, entschieden auf die Barrikaden zugehen, war den Linken noch immer oberstes Pfadfindergebot. Emma bat ihn um eine Zigarette.

„ Das ist unfair. Nur weil du dich am Samstag mit einem stressigen Fall herumschlagen musst, fange ich wieder mit dieser Scheißqualmerei an. Führe mich nicht in Versuchung...“

„ Psst, wenn das Ingrid hören würde. Die kann doch bestimmt schon alle Bibelsprüche rückwärts hersagen.“

„ Nicht so laut. Deine religiöse Töchter liegt in der Wanne, in unserem Badezimmer.“

„ Aber hallo. Ist ihrem Stähler das Manna ausgegangen oder was? Sie war doch bestimmt seit einem viertel Jahr nicht mehr hier.“

„ Weil du sie immer wie eine Zehnjährige behandelst, die sich auf dem Rummelplatz in der Geisterbahn verirrt hat.“

„ Ein treffender Vergleich. Stähler und Jahrmarkt, dort hat er bestimmt seine Karriere gestartet...in irgendeinem Nest in Texas oder Neumexico, in dem der Wüstenwind diese runden Büsche durch die Straßen treibt. Stähler steht in einem zerschlissenen Zirkuszelt auf dem obligatorischen durchlöcherten Whiskyfass und sabbelt vor einer Handvoll altersschwacher Zuhörer vor sich hin...

lasst ab von eurem lästerlichen Treiben. Der Tag des Herrn naht und er wird furchtbares Strafgericht halten. Noch ist Umkehr möglich auf dem Pfad der Verdammnis. Der Herr wird die Seinen vor dem Zorn der Racheengel beschützen, doch wer sich von ihm abkehrt, fällt Satan anheim. Ich bin der Verkünder des Schicksals, nur wer mir spendet...Kasse links, Kasse rechts.

 

Emma klatschte amüsiert Beifall. Heute konnte er sich sogar einmal lustig machen über die Sektierer, die auch aus Parteikreisen regen Zulauf hatten.

„ Bravo! Ich wusste schon immer, dass in dir ein Schauspieler steckt. Mein Gott, das war wirklich eine Nummer! Dass uns nur das Kind nicht hört, sonst sind wir sie endgültig los. Sie wollte etwas besprechen mit uns, mit uns beiden. Sie legt also noch Wert auf deine Anwesenheit. Es ist noch nicht alles verloren. Da kommt mir eine Idee. Wir könnten doch alle zusammen zum Essen gehen, zur Feier des Tages. Wär doch schön, nicht? Vielleicht kann ich Wolf noch erreichen. Der steckt natürlich schon wieder bei seinem Haufen, anstatt dass er sich mal nach einer Freundin umsehen würde. Aber was willst du machen? Ich rufe schnell in ihrem Hauptquartier an und danach erzählst du mir alles. Ich platze schon vor Neugier.“

Emma verschwand im Flur um zu telefonieren. Aus dem Bad war gedämpftes plantschen zu hören. Wie oft war diese Reinigungsstätte heiß umkämpft gewesen, als die Kinder noch zur Schule gingen? Besonders kritisch war die Lage geworden, nachdem Ingrid ihr elftes Lebensjahr vollendet hatte und beschloss, eine Dame zu werden, die sich schminken musste und sehr viel Wert auf ihr Äußeres legte. Es war nicht leicht gewesen, sie davon zu überzeugen, dass es auch noch andere Personen im Haushalt gab, die sich frühmorgens waschen und Zähne putzen mussten. Sie stand danach tatsächlich für ein paar Wochen um fünf Uhr auf, um ihr Programm störungsfrei absolvieren zu können. Ein Dickkopf, der es gewohnt war, bei der Verwirklichung seiner Pläne auch dornenreiche Pfade einzuschlagen.

Emma hatte ihr Gespräch beendet.

„ Ich habe nichts anderes erwartet. Dein Sohn ist unabkömmlich. Sie feiern den Abschluss der Freiluftsaison auf dem Dachsberg. Anwesenheit ist Pflicht. Weißt du übrigens, dass dein Sohn den Waffenschein beantragt hat? Totschs Offiziere haben alle einen. Ich mache mir Sorgen, jetzt werden sie ihn mit immer gefährlicheren Aufgaben betrauen. Kann man denn so was nicht verhindern? Ich meine, bevor es zu spät ist und man sich hinterher Vorwürfe machen muss, weil man nicht rechtzeitig eingeschritten ist.“

Kimrod schüttelte seufzend den Kopf.

„ Totsch ist ein Mann der Regierung, mit sehr guten Verbindungen nach oben. Er kann sich rausnehmen, was er will. Die Polizei ist ja unfähig, korrupt und streikt ständig. Also muss man sich jemand anders suchen, der für Ordnung und Sicherheit sorgt. Jeder Vorstadtschläger wird mit einer scharfen Waffe ausgestattet und darf ungestraft durch die Gegend ballern. Der Bürger will es so. Gegen die Kriminellen und Asozialen, die auf der Straße herumlungern, ist nun mal kein anderes Kraut gewachsen. Sollen sie doch! Mir können schon langsam alle gestohlen bleiben!“

„ Aber Wolf ist doch kein Vorstadtschläger. Mir gefällt dieser Totsch zwar auch nicht, aber der Junge sieht das als Chance, etwas aus sich zu machen. Es kann nicht jeder ein Einstein werden. Diesen Drang zum Ordnungshüter hat er vielleicht von dir geerbt. Und irgendwas muss er machen, um ein selbständiges Leben zu führen. Mir gefällt dieser martialische Aufzug auch nicht. Das militärische Gehabe und die kindische Geheimniskrämerei ebenso wenig, aber das gehört bei solchen Organisationen einfach mit dazu. Und nützlich sind sie doch in mancher Beziehung. Die Polizei kann doch schlecht für alles und jeden den Bodyguard spielen. Die Camos können in dieser Richtung viel flexibler vorgehen. Sie sind neutral und keiner Partei und keinem Politiker verpflichtet. Sie machten es sich zur Aufgabe, das Land vor Störenfrieden zu schützen und dem Bürger wieder ein ausreichendes Maß an Sicherheit zu verschaffen. Jetzt der Wahlkampf. In der ganzen Hektik und leider Gottes auch Brutalität der Veranstaltungen würde die freie Meinungsäußerung, ein elementarisches demokratisches Grundrecht, doch ohne die Camos nicht mehr möglich sein. Die Störer und Provokateure, wer sonst würde sie zur Räson bringen und an der Durchführung ihrer Vorhaben hindern? Von den verkappten und tatsächlichen Attentätern ganz zu schweigen. Ich meine, es kommt doch genug vor. Die Polizei allein ist den sehr rauen klimatischen Bedingungen nicht mehr gewachsen. Entweder wird überreagiert oder überhaupt nicht. Bei Totsch und seiner Truppe wissen die Chaoten, was sie zu erwarten haben. Die sind kampfsportmäßig ausgebildet und wirken allein schon durch ihre Anwesenheit.“

„ Deswegen braucht dein Sohn auch einen Waffenschein. Er darf deine Chaoten und Provokateure ruhig durchlöchern. Von ihm hat keiner etwas anderes erwartet. Ich dachte, Totsch wäre nur bei den Rechten so beliebt. So kann man sich täuschen. Mit Totsch und seiner Truppe werdet ihr euch noch sauber ins eigene Fleisch schneiden. Der stürzt sich doch wie ein Vampir auf jeden Blutstropfen, der in Deutschland vergossen wird, um ihn für seine Zwecke eiskalt und berechnend auszuschlachten. Das Einzige, wem sich der verpflichtet fühlt, ist seine Geldbörse. Sonst interessiert den nichts. Vielleicht noch die Befriedigung seiner Machtgelüste. Wahrscheinlich findest du ihn deshalb so sympathisch. Dein Drang in die große Politik erklärt da vieles. Ihr Sozis seid für mich auf jeden Fall gestorben. Wieder eine Stimme weniger.“

 

Kimrod griente. Seltsam, sein Gehirn schien außergewöhnlich viele Glückshormone zu produzieren. Bei dem ganzen Müll, den er sich heute anhören musste, verlor er partout nicht seine gute Laune.

„ Ja, ja, du und deine Rechten. Die musst du wählen, sonst wirst du nie Zefhahns Nachfolger“, konterte Emma trocken.

„ Es würde auch kaum einen Unterschied machen, wenn man dich so reden hört. Aber ihr Sozialdemokraten zeichnet euch traditionell durch einen strammen innenpolitischen Kurs aus, wenn ihr tatsächlich in der Regierungsverantwortung steht. Und Zefhahns Stuhl ist schon lange vergeben. Härtlein ist bereits heute wieder von unserem Fall abgezogen worden. Der Gute soll sich wohl nicht die Hände schmutzig machen. Fürs Grobe gibt es so nützliche Idioten wie mich. Soko Spreetöchter wurde auf vier Mann reduziert. Noch bevor wir richtig zu arbeiten angefangen haben. Nur noch Maikovsky, Herder, Remke und ich.“

„ Eine starke Truppe, in der Tat. Auf wen werdet ihr losgelassen? Spreetöchter, das hört sich so romantisch an.“

„ Ist es aber leider Gottes nicht. Zwei Callgirls wurden grausam ins Jenseits befördert. Deutschtürkinnen oder Türkischdeutsche, ich weiß nicht, wie man das nennt. Auf alle Fälle eine sehr unsaubere Angelegenheit. Ich will jetzt nach dem Essen nicht näher ins Detail gehen. Die Tat wird eine Menge Staub aufwirbeln. Zefhahn hat die Herren von der Presse bereits eingehend informiert. Wir werden uns also sputen müssen. Sogar morgen wird malocht. Zefhahn will mal wieder nach oben glänzen.“

„ Und wo hat sich das Ganze ereignet?“

„ Die Leichen wurden in der Grenzallee gefunden. In der Nähe von so einer Containersiedlung mit Bauarbeitern. Auf den Schenkeln der Mädchen wurden Wolfsrachen eingebrannt. Weißt du, wofür das steht?“

„ Nein, keine Ahnung. Vielleicht hat sich da einer zu viele alte Gruselfilme reingezogen.“

„ Du liegst gar nicht so verkehrt. Dieser Wolfsrachen ist laut Zefhahn das Erkennungszeichen einer Nazipartisanentruppe, die am Ende des dritten Reiches in Erscheinung getreten ist.“

„ Und so viele Jahre später soll sie wieder mit einem Doppelmord auf sich aufmerksam machen, deutsches Blut vergießen?“

„ Wirkt reichlich konstruiert, das Ganze. Da hast du recht. Deutsch sind beide zur Hälfte. Das schließt doch einen aus rein rassischen Motiven, oder wie man das auch immer nennen soll, handelnden Mörder aus. Wenn man mit halb, viertel und achteldeutsch anfängt, kann man ganz Berlin zur ethnischen Säuberung freigeben.“

„ Eigentlich die ganze Welt...“

„ Und den ganzen Kosmos. Alles hat einen gemeinsamen Ursprung.“

 

Diese Sentenz wurde von Ingrid beigesteuert, die in einen engen Bademantel gehüllt in der Tür erschienen war. Von ihrer Mutter hatte die sehr energisch wirkende Studentin die langen blonden Haare und von ihrem Vater die kräftige, doch sportlich wirkende Nase geerbt. Kimrod stand auf und begrüßte sie mit zwei Küssen auf die Wangen.

„ Na, du lässt dich auch mal wieder blicken. Ich dachte schon, du weißt gar nicht mehr, wo deine Heimat ist. Du siehst gut aus, mein Prachtmädel.“

„ Du auch, Paps. Wie geht‘s denn so? Wie ich höre, bist du schon wieder fleißig am Arbeiten. Das bedeutet bei dir nichts Gutes. Ich meine, wenn du aktiv wirst, tragen andere Trauer.“

„ Na, na. Der Sensenmann bin ich aber nicht. Wir räumen nur die Reste weg und wollen verhindern, dass die bösen Buben ein zweites Mal zuschlagen.“

„ Bei Claudia kamt ihr aber zu spät. Sie war eine Bekehrte, ein Mitglied unserer Gemeinde. Ich hoffe, das wird sich auf das Aufklärungstempo nicht nachteilig auswirken.“

Kimrod war verblüfft. Seine Tochter war über die Tragödie bereits informiert.

„ Woher weißt du, dass das Mädchen ermordet wurde? Sie hat doch hier keine Angehörigen, nur einen Bruder, den wir erst morgen benachrichtigen wollten.“

„ Vielleicht hat sie keine Angehörigen, aber sie hat uns, die Gemeinde. Jemand von euch hat unsere Verwaltung verständigt und da ich einige Meditationskurse leite, die Claudia teilweise besuchte, hat man mich eingeschaltet, um die Umstände ihres Todes zu klären. Die Gemeinde lässt niemanden im Stich.“

„ Moment. Ich denke, das ist meine Aufgabe. Davon lässt du lieber die Finger. Du könntest sie dir ordentlich verbrennen. Das werde ich zu verhindern wissen. Schließlich bist du meine geliebte Tochter, die ich nicht so einfach gemeingefährlichen Kriminellen ausliefere. Du kannst dir die Leichen gerne ansehen in der Gerichtsmedizin. Glaube kaum, dass du danach noch großartig Lust verspürst, dich mit der Sache näher zu beschäftigen.“

„ Du unterschätzt mich, Vater. So schnell bin ich nicht kleinzukriegen. Zuallererst muss für eine ordnungsgemäße Beerdigung gesorgt werden. Die Leiche wird verbrannt und die Urne von ausgewählten Bekehrten mit unserem Ritus bestattet. Dazu bräuchten wir noch ein paar persönliche Gegenstände von ihr: Kleidung, Schuhe etc. Das lässt sich doch sicher bis zum Dienstag oder Mittwoch der kommenden Woche bewerkstelligen, oder?“

„ Moment, meine Liebe. Wann die Leichen freigegeben werden, entscheidet die Staatsanwaltschaft. Und in die Wohnung dürfen später vielleicht die Eltern oder der Bruder. Ihr jedoch mit Sicherheit nicht. Ich würde mir die Behausung gerne zuerst selber ansehen. Irgendwas findet man immer. Aber ich werde dir bestimmt nichts mitbringen...du musst gar nicht so beleidigt dreinschauen. Wir sind doch nicht mehr im Mittelalter. Oder macht Stähler jetzt auch noch auf Voodoo? Sonst hat er doch schon alle möglichen und unmöglichen Glaubensrichtungen und Kulte abgegrast.“

Emma versuchte, ihren Gatten zu bremsen.

„ Max, fangt doch nicht schon wieder zum Streiten an. Es muss doch nicht immer in der gleichen Schiene verlaufen. Spätestens nach fünf Minuten kriegt ihr euch in die Haare. Immer wegen diesem Stähler. Dabei habt ihr euch früher so gut verstanden. Nun bleibt mal hübsch friedlich, alle beide.“

Ingrid hob trotzig den Kopf.

„ Lass nur, Mutti. Er kann James nicht beleidigen. Dazu steht James zu weit über...“

Ingrid zögerte. Die Formulierung geriet ihr etwas zu scharf.

„ Ja komm, sprich es nur aus. Ich, der kleine Polizist, bin der letzte Trottel im Land. An mir darf jeder das Bein heben, besonders dein James. Wenn ich das bloß höre... James...der Kerl heißt doch Johannes oder Hans mit Vornamen. Wenn er den Amis nicht so viel Ärger bereitet hätte, säße er doch heute noch. Vielleicht sogar in der Todeszelle. Der Hund hatte sich nur zu gut abgesichert. Die oberen Zehntausend gaben sich in seinen Séancen die Türklinke in die Hand. Möchte nicht wissen, was die ihm alles gebeichtet haben, die Herren Senatoren und Manager. Da kann unsereins natürlich nicht mithalten. Max...Max und Moritz, das ist das Einzige, was den Leuten dazu einfällt.“

Kimrods Empörung war nur teilweise gespielt.

„ Du Armer. So, und jetzt vertragt ihr euch wieder. Schluss mit Stähler und Morden. Da vergeht einem doch der ganze Appetit. Paps will uns nämlich zum Essen einladen. Mach einen Vorschlag, Ingrid.“

Emma ließ wie üblich keine Zweifel darüber aufkommen, wer zu Hause den Ton angab.

„ Ist mir egal. Hauptsache, man kann gut essen. Wir sind fast alle Vegetarier. Da verlässt man sich lieber auf die eigenen Kochkünste“, erklärte Ingrid desinteressiert.

Kimrod zündete sich wieder eine Zigarette an. Auch daheim musste man sich noch auf strapaziöse Diskussionen einlassen. Dieser verfluchte Doppelmord verfolgte ihn noch bis ins Schlafzimmer. Es fehlte nur noch, dass die andere, diese Roschmann, SPD-Frauenbeauftragte gewesen war oder so was Ähnliches.

Kimrod musterte seine stramm gebaute Tochter prüfend.

„ Bist du schwanger, Herzchen oder ist dir nur der Bademantel deiner Mutter zu klein?“

Ingrid lächelte verschmitzt

„ Willst du auch wissen, wer sich an deiner Tochter vergangen hat? Dreimal darfst du raten...“

„ Der gute alte James womöglich. Na dann sind wir unsere Sorgen endgültig los. Deine Mutter wird Wissenschaftssenatorin, du heiratest einen zigmillionenschweren Seelenbaron und unser Sohn wird Leibwächter vom Bundespräsidenten. Da kann man sich so zum Vergnügen auch noch einen Kriminalkommissar halten. Eine tolle Familie, wirklich! Wir sollten uns beim Fernsehen bewerben.“

Kimrods Stirn warf erneut Falten. Wenn das mehr als nur ein schlechter Witz war...

,,Das kommt noch früh genug. Jetzt wissen wir aber immer noch nicht, wo es hingehen soll. Max bitte, zur Abwechslung etwas Konstruktives. Schließlich bist du der edle Spender“, sagte Emma bestimmt.

Kimrod hatte sich bereits entschieden.

„ Also wenn ich bezahlen soll, kommt nur die Frittenbude um die Ecke in Frage.“

„ Jetzt drückt er sich. Außerdem habe ich nur zugenommen, weil ich mich nicht mehr so anstrengen muss an der Uni. Mein Stipendium habe ich sicher in der Tasche, die Zwischenprüfung ist im Kasten...“

Ingrid wurde von ihrem Vater unterbrochen.

„ Und jetzt kommt das dolce vita. Aber steht dir gut, im Ernst. Wenn ich nicht dein Vater wäre... ich werde euch doch ins Naxos entführen müssen, die griechische Kaschemme gleich am Branitzer Platz. Da sind wir in zehn Minuten vor Ort, zu Fuß natürlich. Ich bin heute schon genug durch die Gegend gegondelt.“

„ Hast du gehört, Ingrid. Dein Vater lädt dich zum Griechen ein, in seiner unverwechselbar nonchalanten Art. Also manchmal, mein Lieber, wenn ich dich nicht schon so lange kennen würde...“

„ Gottverdammte Weiber! Euch kann man wirklich nichts recht machen. Und Wolf klemmt den Schwanz ein und lässt mich mit der Horde allein. Vielleicht wäre es am besten, wenn ich euch fünfzig Euro gebe und zu Hause bleibe. Ich hol mir an der Tankstelle ein paar Bier und ihr seid mich los.“

„ Warum klemmt Wolf den Schwanz ein, wie du dich so treffend ausdrückst? Feigheit konnte man ihm doch noch nie nachsagen“, wollte Ingrid von ihrem Vater wissen.

„ Ich bin nun mal ein einfaches Proletariergewächs, mit dem deine Mutter übrigens sehr erfolgreich vor ihren Genossen angibt. Wir aus den unteren Klassen pflegen uns nicht so gewählt wie ihr, die kultivierte Elite, auszudrücken. Ich wollte damit nur sagen, dass dein Bruder wieder einmal eine familiäre Diskussion mit ziemlich konträren Standpunkten scheut. Zu so was wird doch der Abend bestimmt ausarten. Eine Frage zu vorhin hätte ich noch, als du an der Tür gehorcht hast. Woher wusstest du, dass ich mit der Aufklärung des Falls betraut wurde?“

„ Ich habe nicht gehorcht. Ihr schreit nur so laut, dass ich sogar unterm Föhnen alles mitbekommen habe. Unser Büro hatte sich bereits mit euch in Verbindung gesetzt, das ist alles. Wir sind nicht überall so schlecht angesehen wie bei dir. Der Senator für kulturelle Angelegenheiten bescheinigte dem Feldzug Gottes kürzlich eine soziologisch wertvolle Ausrichtung. Das Christentum erhält durch Reverend Stähler endlich wieder dynamische Impulse, die sich durchaus mit den Zielen der beiden Altreligionen vereinbaren lassen. Eine Mehrung des positiven Einflusses unserer Gemeinde wird auch von maßgeblichen Teilen der Regierung gewünscht. Deshalb weiß ich so gut Bescheid, weil man auch am Fehrbelliner Platz der Auffassung ist, dass die Gemeinde durchaus in die Arbeit der Polizei mit einbezogen werden sollte.“

„ Schön langsam wäre mir das auch lieber. Die Angelegenheit wir immer verwickelter. Jetzt ist die Luper, oder besser gesagt war sie, auch noch Mitglied in einer großen Sekte. Wie viele Bekehrte gibt es denn überhaupt in Berlin?“ fragte Kimrod seine Tochter.

„ An die zehntausend. Auf Bundesebene sind wir schon seit längerem sechsstellig. Genaue Zahlen habe ich nicht im Kopf. Claudia hat übrigens ein Testament hinterlassen. Ihr Vermögen hat sie der Gemeinde vermacht, wie alle von uns. Die Eltern und ihr Bruder sollen nur ein paar persönliche Gegenstände erhalten. Der Täterkreis ist also enorm gewachsen.“

„ Eigentlich nur um einen Mann: Hänschen Stähler. Die dicken Brocken reserviert er doch für sich selber. Seine Bekehrten dürfen sich um die Brosamen balgen.“

„ Ach ja, und warum und womit hat er unsere Supermärkte und Bauernhöfe gekauft, mit Hosenknöpfen vielleicht? Das sind nur die Vorurteile der Missgünstigen und Neider. Materieller Besitz hat bei uns keinen so großen Stellenwert wie in euren Köpfen. Die Gemeinde lebt hauptsächlich vom Zusammenhalt und dem Enthusiasmus der Bekehrten.“

„ Und vom schnöden Mammon! Fliehet die Unzucht. Alle Sünden, die der Mensch tut, sind außer seinem Leibe; wer aber Unzucht treibt, der sündigt an seinem eigenen Leibe, Korinther, Kapitel sechs, Vers 18; Haben die Taler deiner Claudia nicht ein paar unschöne Flecken abbekommen? Flecken, die stören auf dem schlichten, doch reinen Gewande des großen Meisters?“

Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet, Matthäus, Kapitel sieben,Vers 1 und Du Heuchler, zieh erst den Balken aus deinem Auge, danach sieh zu wie du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehest, ebenfalls Kapitel sieben,Vers 5; Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt, Matthäus zwanzig, Vers 16; so viel zu Claudia und James. Ich weiß übrigens überhaupt nicht, ob überhaupt ein Vermögen da ist. Sie war doch noch so jung, kaum älter als ich.“

Emma seufzte schwer. Jetzt beharkten sie sich auch noch mit Bibelzitaten.

„ Kinder, das wird mir zu anstrengend mit euch. Ich lege mich noch für eine halbe Stunde aufs Ohr. Bis dahin dürftet ihr euren Disput schon ausgefochten haben. Also bis gleich.“

 

Emma ließ die Tür hinter sich demonstrativ aussperrend ins Schloss fallen. Sie war die häuslichen Debatten nicht mehr gewohnt und musste sich etwas Distanz verschaffen.

„ Noch ein Wunder. Deine Mutter verlässt die Runde ohne das letzte Wort gehabt zu haben. Mein Kalender quillt heute über vor dicken Eintragungen. Du tust gut daran, dich an die Vorgabe deiner Mutter zu halten. Abmarsch in einer halben Stunde. Eine Verspätung wird als Insubordination gewertet und streng bestraft. Entschuldigungen sind nur mit Beifügung eines ärztlichen Attests gültig. Nichtachtung wird mit Zwangsvorführung vor den Fraktionsausschuss geahndet, Verweildauer nicht unter zwei Stunden. Das Urteil kann auch durch den Strang vollstreckt werden“, bemerkte Kimrod amüsiert.

„ Na wenigstens hast du dir deine gute Laune nicht verderben lassen. Mir war heute gar nicht zu lachen zumute. Die armen Mädchen..“

„ Ja, ich weiß auch nicht, was mit mir los ist. Wahrscheinlich bin ich wieder jenseits von Gut und Böse angelangt. Ich werde jetzt auf jeden Fall erst einmal die Fische füttern. Oder hast du schon?“

„ Nein. Ich bin doch hier bloß noch so was wie ein Gast. Ein Fisch ist glaube ich hinüber. Er schwamm jedenfalls mit dem Rücken nach unten.“

„ Und mit dem Bauch nach oben. Das ist meistens ein untrügliches Zeichen. Ich werde mir die Sache selber ansehen.“

 

Kimrod stand auf und ging ins Wohnzimmer. Das dicht bepflanzte Becken versteckte sich verschämt neben dem imposanten Bücherregal in der Ecke. Auch dieser Platz war nicht einfach zu ergattern gewesen. Emma hielt Aquarien grundsätzlich für spießig und traute der Technik nicht über den Weg. Die Scheibe könnte doch platzen und die glibberigen Fische wurden nachts aus ihrem Verließ kriechen. Kurzum, die sündteure Wohnzimmereinrichtung schwebte ihrer Meinung nach seit der Anschaffung der putzigen Haustiere in höchster Gefahr. Erst als der Verkäufer eine zehnjährige Garantie auf das Glas und den Rahmen gab, zerstreuten sich ihre Bedenken ein wenig und die Fischlein durften einziehen in den hehren Hort deutscher Bürgerlichkeit.

Denn die Spießige war eigentlich sie. Nur Kleingeister zeichneten sich doch durch sterile Tierfeindlichkeit aus. Bloß kein Dreck und die ganzen feinen Bleisatzausgaben der Memoiren und Reflektionen einstiger und heutiger bedeutender Sozialdemokraten wie Wehner, Brandt, Schmidt und Kolz immer auf Hochglanz poliert. Kolz galt als genialer Baumeister der großen Koalition, der die Maschinerie am Laufen hielt und mit schöner Regelmäßigkeit seine Gedanken zu den Themen der Zeit zu Bestsellern verarbeitete. Damit leistete er keinen unwesentlichen Beitrag zur Popularität der Regierung, deren Stern jedoch schon lange am Verblassen war, denn zu viele Versprechen blieben unerfüllt. Im Licht der kalten Realität entpuppten sich verheißungsvolle Formulierungen als abgedroschene Phrasen, die auch nicht durch mehrmaliges Wiederkäuen an Überzeugungskraft gewannen.

 

Ingrid hatte recht gehabt. Einer der grünlich phosphoreszierenden Guppys war schon in Auflösung begriffen. Eine fette Schnecke hatte es durch ein unbegreifliches Manöver geschafft, sich an den Kadaver zu heften. Das hatte man davon, wenn man zu sehr mit dem Auge kaufte. Die geselligen Fische schimmerten zwar schön in dem etwas mystischen UV-Licht, doch sie schienen nicht sehr robust zu sein. Drei Abgänge innerhalb von zwei Wochen. Da war das Ende abzusehen. Oder wurde diese Empfindlichkeit absichtlich mit angezüchtet, um den Kunden zu Nachkäufen zu veranlassen und die durch Sonderangebote bedrohte Kalkulation so wieder in den Plusbereich zu bringen? Zehn Fische dreißig Euro. Nach fünf Wochen noch einmal dreißig Euro, um allen Eventualitäten vorzubeugen. Vielleicht lag es wirklich nur am Futter. Macht insgesamt sechzig Euro. Da kamen Groß- und Einzelhandel schon wieder eher auf ihre Kosten. Wurde man denn wirklich nur noch hereingelegt, sogar bei einer solch harmlosen Transaktion wie dieser?

Kimrod überließ der Schnecke gerne den Festschmaus. Ihr Einsatz als Gesundheitspolizei war von der Natur so vorgesehen und hatte sich in Jahrmillionen bestens bewährt. Blieb nur die Frage, wie es das gewitzte Weichtier bewerkstelligt hatte, an die Wasserleiche anzudocken. Wenn die Viecher an der Scheibe nach oben glitten bis zur Oberfläche, konnten sie dort Luft tanken und mit diesen Gaseinlagerungen ihren Auftrieb erhöhen, so dass einer zeitlich begrenzten Schwimmrunde nichts mehr im Weg stand. Aber wie den Guppy anpeilen, die Strömung berechnen, die durch den Filter erzeugt wurde?

Hatte die Schnecke vom Boden aus den Zahnkarpfen erspechtet und dann eine gezielte nautische Aktion eingeleitet, die jedem Korvettenkapitän zur Ehre gereicht hätte? Oder war alles nur Zufall? Ein hirnloser, bedeckelter Muskel erreichte durch Planlosigkeit, die mathematisch prognostizierbar war, das angepeilte Ergebnis. Zehn Versuche, neun Fehlschläge, ein Treffer.

Ob Emma etwas zur Lösung des Problems beitragen konnte? Sie hatte doch studiert und alles. Vielleicht, sie war Molekularbiologin und hatte sich noch nie für sein Steckenpferd interessiert. Was nicht unters Mikroskop passte, war nicht erforschenswert. Zu handgreiflich, um ihren Akademikerverstand zu reizen. Die Spezialisierung, die in allen Berufen erforderlich war, brachte viele Nachteile mit sich. Das große Ganze, der Gesamtzusammenhang und das Wissen um die Vernetzung alles Gewachsenen und Lebendigen, das besonders in den Naturwissenschaften wichtig war, verschwanden aus dem Blickfeld. Wichtige Tatsachen wurden unterschlagen oder an den Rand gedrängt. Ein elementares Stück der Wirklichkeit kam abhanden. Wie die Zunge funktionierte, mit der die Schnecke die Gräten des Guppys so hurtig freilegte, konnte sie ihm wahrscheinlich beschreiben. Ebenso die Zusammensetzung des Gehäuses, doch wie intelligent war das Tier, gab es noch andere, höhere Kommandostrukturen als die angeborenen Instinkte?

Wusste sie, die Schnecke, das sie gerade eine Leiche fledderte oder war das nur ein einfach erreichbarer Fleischbrocken, der schön weich und leicht verdaulich war. Irgendwie kamen ihm diese Beobachtungen bekannt vor. Eine Schnecke, die auf der Schneide eines Rasiermessers entlanggleitet. Dazu das anschwellende Dröhnen von Helikopterrotoren, Napalmabwürfe, die Musik der Doors, Marlon Brando, Martin Sheen. Die Bilder nahmen deutlichere Formen an. Genau, ein alter Kriegsfilm, Coppolas Apocalypse Now. Erst vor zwei Jahren war er doch in einem alten, schäbigen Programmkino gelaufen, zusammen mit anderen Oldies aus Hollywoods glorreicher Vergangenheit. Eine Retrospektive auf die Siebziger und Achtziger des vergangenen Jahrhunderts, oder Jahrtausends... aber hatte sich wirklich schon so viel geändert, eine neue Epoche?

Ein Colonel, der über die von ihm und seinen Feinden verübten Untaten den Verstand verliert, zur bluttrinkenden Dschungelgottheit mutiert und von einem Kameraden, einem Hauptmann, der ebenfalls vom Krieg zerbrochen wurde, ins ersehnte Jenseits befördert werden muss. Würde das heutzutage noch ein Regisseur auf die Leinwand bannen?

Wohl kaum. Kriege gab es nach wie vor, genauso wie Filme darüber, doch die Distanz war gewachsen. Das Publikum war abgehärtet, teils durch entsetzliche Fernsehbilder, teils durch eigene Erfahrung. Die Bundeswehr unterhielt eine hochmobile Einsatzreserve, die im Bedarfsfall auf drei Divisionen aufgestockt werden konnte und von der UNO gerne und häufig angefordert wurde. Auch Wehrpflichtige wurden in Dritte Weltländern und anderswo als angebliche Friedenswächter und Deeskalationskatalysatoren eingesetzt. Die schwelenden Bürgerkriege begannen oft noch während der Anwesenheit der UNO-Truppen zu lodern und lichterloh zu brennen. Aufständische mussten mit Waffengewalt befriedet und an den Verhandlungstisch gezwungen werden. Der Tod wurde deshalb auch schon manchmal Zwanzigjährigen zum vertrauten Weggefährten. Die Nation schloss auf und bildete gleichfalls einen robusten Panzer aus, der unangebrachte Gefühlsduselei erst gar nicht aufkommen ließ. Man war wieder wer und man war imstande und gewillt, die damit verbundenen Konsequenzen zu tragen. Nicht alle Teile der Bevölkerung natürlich. Opposition gegen diese Auffassung kam sowohl von links als auch von rechts.

Der Pazifismus der Arbeiterschaft war seit ihrer Politisierung und Bewusstseinsbildung vorhanden. Eine Tradition, die leider vor den beiden Weltkriegen zugunsten effekthaschendem und ängstlichem Opportunismus vernachlässigt wurde. Doch der Widerstand aus der anderen Ecke, der radikal nationalen und rassistisch gesinnten, verblüffte angesichts des martialischen Auftretens der Anführer und Vorsitzenden der in Dutzende von Splittergruppen und -parteien zerfallenen Bewegung. Man wollte wahrscheinlich kein Blut für die schwarzen Affen lassen, sich gar einem indischen General unterordnen müssen...nein, nicht mit uns, aber Deutschland marschiert, am liebsten nach dem zehnten Bier auf einer Kirmes gegen einen altersschwachen Asiaten, der seine Glücksröllchen feilhält.

 

Aber irgendwie war Kimrod doch froh, dass sich sein Sohn nicht bei den Soldaten verdingt hatte. Wie wäre er nach Hause gekommen, nach seinem Einsatz als Kampfbeobachter in einem Hubschrauber, der mit einer Salve fünfzig oder mehr Menschenleben auslöschen konnte? Nach dem Gefecht, nach Betätigen der Auslöser, als Held oder Krüppel?

Etliche waren zurück gekommen. Angeblich als Soldaten, die nur ihren Auftrag erfüllt hatten. Nicht mehr und nicht weniger. Aber konnte man das wirklich so einfach wegstecken, schnell den Job erledigen und ein paar Dutzend über die Klinge springen lassen? Anschließend einen zivilen Beruf ergreifen, als Anstreicher oder Krankenpfleger?

Kimrod war während seiner Zeit im Einbruchsdezernat ein einziges Mal in eine Schießerei mit Todesfolge für einen Gangster verwickelt worden. Die Banditen hatten zuerst gefeuert. An der Berechtigung der Notwehr war auch von Seiten der Öffentlichkeit nie gezweifelt worden, doch der Beamte, der den tödlichen Schuss mit größter Wahrscheinlichkeit abgegeben hatte, die Ballistiker konnten sich auch hier zu keinem endgültigen Urteil durchringen, quittierte wenig später den Dienst. Das hatte man ihm dann doch angekreidet im Kollegenkreis, trotz dürftiger Anhaltspunkte aus dem Labor, einfach so das Handtuch zu werfen, quasi als Schuldeingeständnis. Da blieb auch was an den anderen hängen.

Und das war nicht fair. Man tat doch nur das, was von einem verlangt wurde. Damit mussten solch schwer bewaffneten Gangster nun einmal rechnen. Sie taten es auch, doch auch bei Kimrod hatte sich damals ein flaues Gefühl in der Magengegend bemerkbar gemacht. Unter anderem wegen dieser nie ausgeräumten Zweifel. Hatten sich die Diebe nicht gegenseitig abgeknallt, hatten sich nicht alle ziemlich wahllos abgefeuerten Polizeikugeln verirrt, das heißt, alle gingen fehl, oder war da was getürkt worden, im Labor, von den per Schulterschluss zusammengerückten Kriminalbeamten?

Man tat tatsächlich gut daran, solche Überlegungen weit beiseite zu schieben oder sie als Spitzfindigkeiten zu betrachten, die es nicht wert waren, näher erörtert zu werden. Schlug man diesen Weg nicht ein, drohte einem wohl kaum das Schicksal des Colonels aus Apocalypse Now, das Militär plante und operierte in anderen Größenordnungen, eher schon eine schleichende Zermürbung wie sie sich bei Remke bemerkbar machte, der nur halb so hart war wie er sich gab und bei scharfen Verhören immer als erster Zigaretten anbot, wenn er nicht gleich auf eine baldige Beendigung drängte.

Denn der Polizei wurde im Gegensatz zur Armee nicht durch einen breiten Grundkonsens der Rücken gestärkt. Als Bulle war man kein Hoffnungsträger, dessen Ankunft medizinische Versorgung, Nahrungsmittel und vielleicht sogar einen Waffenstillstand verhieß. Der hohe technische Standard und das reibungslose Funktionieren der Anlagen und Einheiten, die die Bundeswehr der Völkergemeinschaft zur Verfügung stellte, wurde immer wieder hervorgehoben und lobend erwähnt. Vor allem im Ausland, wo man schon bald registriert hatte, dass üppig verteilte Streicheleinheiten für die Nachfolger der einst so verhassten Wehrmacht, beinahe ohne Diskussion und Debatte, den Weg für neue, großzügig bemessene Mittel freimachten. Auch wenn manchmal Unschuldige ihr Leben lassen mussten. Die Absicht war gut und moralisch nicht anfechtbar.

Die Starken bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken, Matthäus, Kapitel neun, Vers 12; Weil du aber lau bist...werde ich dich ausspeien aus meinem Munde, Offenbarung, Kapitel drei, Vers 16; Kriegsdienst ist das Leben des Menschen, Hiob, Kapitel sieben, Vers 1. Stähler lässt grüßen. Die Bibel erfreute sich wieder eines großen Zuspruchs. Man musste sich wappnen.

 

Der Polizist hingegen bedrohte den Freiraum des Individuums. Er drang nur in den kärglichen Rest der Privatsphäre ein, um Gerichtsbeschlüsse, Bußgeldbescheide, Haftbefehle und dergleichen zu überbringen. Da halfen auch keine Weisheiten aus den Testamenten. Bulle bleibt Bulle. Das Gesetz nimmt man am besten selber in die Hand. Der Staat stört da nur.

Einen Strick über den nächsten Ast und hoch mit dem Galgenvogel. Der greift meiner Tochter nie wieder untern Rock. Herr Wachtmeister, das geht Sie gar nichts an! Wen ich widerrechtlich auf meinem Grund und Boden erwische, gehört mir. Bei dieser Visage muss man doch auf alles gefasst sein. Wie der schon schaut! Und stinken tun sie alle, nach Knoblauch oder weiß der Teufel was. Dem werde ich Mores lehren. Sehen Sie, wie er sich duckt. Der weiß genau, was die Stunde geschlagen hat. Mit mir nicht, in diesem Land herrschen bald wieder Recht und Ordnung. Wenn ich mit ihm fertig bin, können Sie mit ihm machen, was Sie wollen. Und jetzt aus dem Weg...

Das war die Schizophrenie des Otto Normalverbrauchers, der nur dem totalitären Regime zutraute, hart genug gegen die Verbrecher und das ganze andere Geschmeiß vorzugehen und hier dafür die Freiheit zu opfern bereit war...

aber aufgeräumt hat er, dieser Hitler, das muss man ihm lassen. Da kam keiner ungeschoren davon so wie heute. Ab ins Lager und erst mal richtig arbeiten. Das hat noch keinem geschadet und diesen Parasiten gleich zweimal nicht. Damals hat‘s schon die Richtigen erwischt, was man so hört...

 

Gott sei Dank gab es kaum noch Überlebende, die diese turbulenten Zeiten selbst durchlitten oder umschifft hatten. Je nachdem, mochte man fast sagen. Doch das war nur ein Trugschluss. Mit den Akteuren wurde nicht der Ungeist beerdigt, der keimte auch schon wieder in den neuen, frischen Generationen, die mit einer Zwei vor dem Geburtsjahr das dritte Jahrtausend anzählten, das eigentlich noch unschuldig in den Wehen liegen musste.

Das schien die schwerste Prüfung zu sein, die der Menschheit auferlegt worden war. Eine praktikable, für die Mehrheit tragbare und für Minderheiten erträgliche Staatsform zu finden, die am besten von allen zusammen getragen wurde. Am Rande dieses Weges lauerten Wegelagerer und großsprecherische Verführer. Die Paradiese und Lustgärten, die sie priesen, waren hinlänglich ergründet und auf ihre Schwachstellen abgeklopft worden, die ertragreichen Böden ebenfalls entdeckt und bekannt. Doch deren Bewirtschaftung war mühselig und mit harter Fron verbunden. Erfolge stellten sich mitunter erst nach langer Hege und Pflege ein. Missernten mussten billigend in Kauf genommen werden. War die Demokratie schon wieder in Gefahr? Ein Kerl wie Totsch der neue Verführer?

Wohl kaum, zumindest was Totsch anbelangte. Politische Ambitionen hatte dieser bislang nicht artikuliert, doch seine Mannschaft war ein Werkzeug, das in den falschen Händen großen Schaden anrichten konnte. Totsch wurde von vielen begrüßt. Endlich mal wieder einer, der zuhaut, zeigt, was Sache ist. Eine urdeutsche Tugend, die so lange von linker Larmoyanz geknechtet worden war. Wo der hinlangt, wächst kein Gras mehr. Die schlappe Polizei wird von umstürzlerischen Gewerkschaftlern unterminiert und in eine Clownstruppe verwandelt, die man allenthalben noch als Aufsicht im Altersheim einsetzen kann.

Wo war man überhaupt noch erwünscht, angesagt? Hier bei diesen blutrünstigen Morden, wünschte die Volksseele den oder die Täter aufs Schafott? Vielleicht nicht einmal ins Gefängnis.

Diese türkischen Metzen, deutscher Blutanteil hin oder her, hatten doch nichts Besseres verdient. Wer sich mit so etwas sein Brot verdient, braucht sich über nichts zu wundern. Eine Strafe Gottes, die vielleicht in ihrer Ausformung etwas überzogen ausgefallen, aber letztendlich doch berechtigt ist. Wahrscheinlich auch nur wieder eine interne Abrechnung, dieses Volk ist schnell mit dem Messer zur Hand. Da stochert man lieber nicht drin herum, da kommt bloß mehr Dreck hoch. Im Grunde ist es doch keinen Euro deutschen Steuergeldes wert, großartig nachzuforschen. Wenn die Presse befriedigt ist, einstellen. Wie schon so vieles aus dieser Richtung, das alles im Sand verlaufen ist. Hinter diesen orientalischen Ränken verbirgt sich nichts, was für unsereins von Belang sein könnte. Punkt, Schluss, Ende.

 

Herder und Maikovsky würden sich im Milieu verlieren, irgendeiner abstrusen Spur nachhecheln und unterwegs Verdächtige en masse markieren. Zefhahn förderte diese Taktik durch ermunternden Zuspruch. Wichtig war, dass man nach außen etwas vorzeigen konnte, Betriebsamkeit sichtbar wurde. Dieses billige Streben nach Effekt und nicht nach Effizienz war eine bedauernswerte Erscheinung der Zeit. Schnell, schnell, anstatt langsam und gründlich. Wen man mit dem Kalender stoppen konnte, wurde geschasst, versetzt und degradiert.

Schlechte Zeiten für Schnecken, die auch ans Ziel kommen und dabei keinen Quadratmillimeter unerforscht lassen.

Remke konnte die Prostitution und den daran hängenden Rattenschwanz an Personal- und Postierungsproblemchen (wer darf wo stehen und seinem Gewerbe nachgehen) nicht verputzen. Außerdem stand er schon mit einem Bein in der Rente. Seine Attacken gegen Zefhahn hatten es eindrucksvoll bewiesen.

Das wird dein Fall, sollte diese Prophezeiung des Seniors schon jetzt, nach einem Tag, Wirklichkeit werden? Assistierte nur HASSSO? Konnte man diesem Köter auch das Apportieren beibringen oder lag der fette Knochen schon längst im Körbchen. Wurde von oben nur mal wieder ein großes Kesseltreiben veranstaltet, um die Erwartungen des Publikums zu befriedigen? Wie oft waren schon überführte Mörder und Terroristen abgeschoben und ausgeliefert worden? Wenn die Politik die Regie übernahm, blieb oftmals die Gerechtigkeit auf der Strecke. Natürlich nur im Namen der Staatsräson.

Auch mit solchen Inszenierungen verdarb man es sich mit dem Bürger, der nicht mehr einsah, dass Kapitalverbrecher aus beispielsweise den arabischen Ländern, die tonnenweise Rauschgift schmuggelten und dabei über Leichen gingen, bevorzugt behandelt wurden, nur weil dadurch vielleicht eine vorsorglich genommene Geisel befreit oder eine Waffenlieferung an blutrünstige Revolutionäre verhindert werden konnte.

 

Die Schnecke war satt. Sie löste sich vom Kadaver und flutete ihre Tanks. Drei, vier kleine Luftbläschen entwichen noch auf dem Weg nach unten. Das Gehäuse bohrte sich knirschend in den feinen Kies. Fertig machen zum Anblasen, Seerohrtiefe, Rohr eins bewässern...

Nein, das war ein anderer Film. Kimrod musste lachen. Auch in seinen Gehirnwindungen beanspruchte das High Definition Medienzeitalter seinen ihm gebührenden Platz. Man konnte sich drehen und wenden wie man wollte, es blieb immer jede Menge hängen, wenn man nicht gänzlich zum zeitgeistfeindlichen Laumeier degenerieren wollte. Das Buch zum Film, die Serie zum Buch, verfilmte Stories erstmals als Taschenbuch. Auch die Flucht in die Welt der Lettern war nur bedingt von Erfolg gekrönt. Die Überschneidungen mit Film und Fernsehen waren zu häufig und generalstabsmäßig geplant. Da wurde nichts dem Zufall überlassen. Das große Geld wurde doch nur noch im Kino und mit der Glotze verdient, von den Computerverwertungen einmal abgesehen.

Wer sein Manuskript nur als Buch plante, war von gestern und hatte sich den Misserfolg selbst zuzuschreiben. Die alten Klassiker waren ganz nett, rein vom Sprachlichen her gesehen, aber als zeitgemäße up to date Unterhaltung nicht mehr zu gebrauchen. Die Welt von heute fesselnd auf Papier zu bannen und konsumierbar aufzubereiten, das gelang nur noch wenigen. Und die mussten schrille Aufhänger benutzen, um ihre Abnehmer zu interessieren oder überhaupt erst zu erreichen.

 

Ingrids elegante Finger strichen Kimrod kurz zärtlich über den rasierten Nacken.

„ Na, übst du dich ausnahmsweise in fernöstlicher Kontemplation? Der Fisch, der Mensch und die Kunst ein Aquarium zu warten. Haben deine Schützlinge auch schön brav aufgegessen?“

Ingrid ließ sich in die mit rotem Tuch bespannte Sitzgruppe fallen. Ihr Vater öffnete hastig die Futterluke in der Abdeckung des Beckens, in die drei Leuchtstoffröhren integriert waren. Jede produzierte Licht von unterschiedlicher Wellenlänge, da die Pflanzen in verschiedenen Abschnitten des Spektrums am effektivsten arbeiteten. Die Absorptionsspitzen des Chlorophylls lagen im violett-blauen und orange-roten Bereich. Zwei Röhren waren entsprechend gefärbt, eine weiße komplettierte das Assemble.

Vielleicht sollten die Fische wenigstens einen Hauch von Tageslicht verspüren bei ihren kurzen, abrupt gestoppten Ausflügen. Schließlich war doch diese Welt für sie errichtet worden und nicht für das wuchernde Kraut. Die Fische stürzten sich gierig auf die bunten Flocken, die Kimrod sorgfältig unter die getrockneten Mückenlarven mischte. Besonders im Winter gab ihm dieser kleine Kosmos eine Menge ab. Draußen hingen dicke Nebel in den grauen Häuserfluchten. Die Bäume waren längst kahl und oft floh alle Freundlichkeit aus den Gesichtern. Da war man für jedes Stück Grün und Lebendigkeit dankbar und die Fische litten bei artgerechter Pflege wohl kaum mehr als ihre Brüder in den Strömen Asiens, Afrikas und Südamerikas.

Ein Hobby war doch für jeden Deutschen Pflicht. Wer kein Steckenpferd ritt, galt als suspekt und tüftelte nachts sicherlich an Mordmaschinen herum. Wie der deutsche Verbrecher, der was auf sich hielt, und sich grundsätzlich durch große Technikverliebtheit auszeichnete. Ferngelenkte Kleinstuboote, die Erpressungsgelder abholten, Falschgeld aus den Hochleistungskopierern, Kreditkartenreproduzierer und Automarder, die jede Alarmanlage und Wegfahrsperre überwanden. Man lag zumindest gleichauf mit den Kollegen aus anderen Ländern, die in international berüchtigten Ballungszentren und Schmelztiegeln agierten.

Man hörte förmlich die Kiefer krachen, so herzhaft knusperten die Guppys an den Mückenlarven, die nach kürzester Bearbeitung in den Schlünden verschwanden. Da war es praktisch, im Wasser zu leben. Man brauchte nur den Mund aufzumachen und schon konnte man den Durst aus einem unerschöpflichen Reservoir löschen. Prost, die Herren.

 

„ Paps, gehen wir jetzt oder was? In meinen Innereien rumort es schon so. Kein Wunder, ihr habt mir den Mund wässrig gemacht mit eurem Griechen und jetzt trödelt ihr wieder. Macht da drin vielleicht eine Miniaturnixe einen heißen Strip oder warum glotzt du so vertieft in deinen Westentaschenzoo?“

Kimrod zerbröselte den letzten Rest Flocken zwischen den Fingern und schloss die Klappe.

„ Wo ist deine Mutter? Die schmeißt hier den Betrieb. Ich bin nur Staffage, nicht maßgeblich“, sagte Kimrod verärgert.

Als ob er keine anderen Sorgen hatte! Strippende Meerjungfrauen im Aquarium...wo sie das nur immer herholten? Seine Mädels waren wirklich eine Klasse für sich.

Er ging ans Fenster und schaute nach unten auf die Straße. Eichen-allee, der blanke Hohn. Die mickrigen Büsche, die verschämt auf einigen Begrünungsinseln vor sich hinvegetierten, hatten so gar nichts von der würdevollen Majestät der Gewächse, die der Straße vor langer Zeit den Namen gegeben haben. Die Sozialhilfeemfänger, die diese Restbiotope im Frühjahr und Herbst beackerten, dieser Ausdruck umschrieb die lieblos vorgenommenen Pflegemaßnahmen am treffendsten, hätten das verwahrloste Gestrüpp mit ein bisschen mehr Sorgfalt und Anleitung, gut ausgebildete Gärtner waren leider rarer denn je, locker in blühende Oasen verwandeln können. Doch auch hier erstickte das zwanghaft Angeordnete jegliches Bemühen. Für den Staat tat man nur das absolut Notwendige. Wer mehr Initiative zeigte, war doch krank und vergeudete seine Energien. Man konnte den armen Teufeln auch keinen Strick daraus drehen. Die Wohlfahrtsbezüge deckten kaum das Existenzminimum, und sich für ein paar Euro abzuschinden und auf den Knien herumzurutschen, war fast schon unzumutbar. Auch wenn es für viele die einzige Möglichkeit war, etwas nebenbei zu verdienen.

 

Es schien nicht zu regnen. Das Trottoir wirkte immer leicht schmierig, auch bei schönem Wetter. Ingrid rief nach ihrer Mutter, die in der Garderobe in ihren Mantel schlüpfte.

„ Moment Kinders. Ich muss mir nur noch die Mütze aufsetzen. Seit ihr schon fertig?“ schmetterte Emma zurück. Ihre Stimme war volltönend und gut ausgebildet, eine Grundvoraussetzung für den Erfolg in der Politik. Emma hatte bei einer Studentin Unterricht genommen, auch wenn ihr Gatte damit gar nicht einverstanden gewesen war. Er gab an, diese Kasernenhofbeschallung zu hassen und hatte eines Tages sogar von seinem Schießstand Ohrenstöpsel mitgebracht, weil er dieses Geplärre nicht mehr aushielt, angeblich.

Max wurde mit den Jahren immer empfindlicher, besonders seitdem Emma wieder arbeitete und eine steile Karriere in der Politik gemacht hatte. Männer waren da sowieso voreingenommen. Eine Frau, die sich selbstständig in der Gesellschaft verwirklichte, war mit Vorsicht zu genießen. Es konnte sein, dass man von so einer Amazone rechts überholt wurde und das letzte Stückchen Männerherrlichkeit unter diesem femininen Gestirn dahinschmolz. Oder war er nur eifersüchtig, weil es jetzt auch wieder andere Dinge in ihrem Leben gab, außer der Familie, die wichtig waren?

Kimrod holte seine Zigaretten in der Küche und schlüpfte anschließend im Flur in seine Schuhe. Emma stand immer noch vor dem Spiegel und überprüfte den Sitz ihrer Baskenmütze. Ingrid lüftete in der Küche und leerte den Aschenbecher. Was waren Raucher doch für Ferkel. Nicht nur dass sie die Luft aufs Abscheulichste verpesteten, nein, es wurden auch noch Langzeitstinkbomben hinterlassen.

Schließlich hatten alle ihre Vorbereitungen abgeschlossen und es konnte losgehen.

„ Fahren wir mit dem Lift oder gehen wir die Treppe runter?“ fragte Ingrid.

„ Eines ist mir so angenehm wie das andere. Der Aufzug streikt periodisch und das Treppenhaus ist dreckig“, erklärte Kimrod verdrossen. Sie entschieden sich für die Treppe, auch wenn es eine Menge teilweise rutschiger Stufen zu bewältigen gab. Die Wohnung lag im vierten Stock.

„ Ich mag auch keine Fahrstühle. Da bekommen manche immer so einen merkwürdigen Ausdruck im Gesicht. Ich möchte nicht wissen, was da alles abgeht, wenn man mal wirklich stehen bleibt für längere Zeit. Das ganze Abteil prallvoll, vielleicht noch mitten im Sommer, bei dreißig Grad im Schatten“, sagte Ingrid, die die letzten Stufen mit einem großen Satz nahm.

„ Da bist du hier ganz richtig. Mein Rekord liegt bei einer halben Stunde, alleine. Irgendwann könnt ihr mich unten im Schacht mit der Spachtel aufkratzen, wenn das Ding endgültig seinen Geist aufgibt und die Seile reißen. Ihr müsst mir allerdings versprechen, dass ihr dann den Vermieter lyncht. Dieser Drecksack drückt eine Erhöhung nach der anderen durch und investiert keinen Pfennig. Wahrscheinlich ist er auch ein großer Sozialdemokrat und darf sich deswegen alles erlauben“, sagte Kimrod herausfordernd.

Als sie das Haus verließen, wollte sich Kimrod bei seiner Frau unterhaken, doch Emma wehrte ihn ab.

„ Du bist mir zu langsam. Wir gehen rechts, oder?“

„ Ja, wenn während der letzten halben Stunde kein Polsprung stattgefunden hat, müsste das die Richtung sein. Branitzer Platz, Naxos, rechter Hand, marsch, marsch, auch wenn dir diese Order zutiefst widerstrebt. Oder wir gehen links und machen einen kleinen Umweg. Probier mal aus wie deine Füße reagieren, wenn‘s wirklich nicht geht...“

Kimrod gluckste. Seine Frau geriet tatsächlich ins Stolpern wegen einem prächtigen Loch im Asphalt.

„ Mein Gott, bin ich ein Trampel. Jetzt hättest du wirklich fast einen Grund zum Lachen gehabt.“

Emma strich sich über den Mantel, obwohl sie gar nicht gestürzt war. Warum ging sie auch immer auf diese Frotzeleien ein? Am besten gar nicht hinhören, der war doch nur neidisch.

„ Eines lasst uns vorab klären: keine Politik, keine Kriminalgeschichten und kein Stähler. Wer dagegen verstößt, muss eine Runde ausgeben“, schlug Emma vor.

„ Das finde ich gar nicht gut, denn über was sollen wir uns sonst unterhalten? Außerdem sind wir dann binnen kürzester Zeit stockbetrunken, weil sich keiner an diese Regel halten kann“, gab Kimrod zu bedenken.

Ingrid schüttelte nur den Kopf. Das konnte lustig werden. Die Eltern schienen sich seit ihrem Auszug nicht wesentlich weiter entwickelt zu haben.

Die Familie erreichte das im Tavernenstil eingerichtet Restaurant nach wenigen Minuten. Costa, der grimmig dreinblickende Besitzer und Chefkoch, führte die Kimrods an seinen besten Tisch und brachte ihnen die Speisekarten. Er kannte und schätzte Kimrod, weil er sich in seiner Jugend selbst einmal als Polizist versucht hatte. Nur noch zwei andere Tische waren belegt. Keine gute Quote für einen Samstagabend. Dabei waren die Preise moderat angesetzt. Costa bezog alles frisch vom Großmarkt und auch die Portionen fielen nicht zu knapp aus. Doch die Leute, die jetzt noch häufig zum Essen gingen, liebten es protziger. Die gute, nahrhafte Kost war was für die Zukurzgekommenen, die schon froh waren, wenn sie zur Suppe zwei Scheiben Brot bekamen anstatt einer. Gerade jetzt in den schlechten Zeiten wollte man es den Proleten so richtig zeigen. Alles nur vom Feinsten, früher konnte jeder. Der einzige Zweig der Gastronomie, der sonst noch von der Wirtschaftsmisere profitierte, waren die alteingesessenen Bierkneipen, die mit abgenutztem Mobiliar den Verzweifelten und Hoffnungslosen ein adäquates Ambiente boten.

Costa brachte drei Gratisschnäpse und nahm die Bestellungen auf. Die Kimrods hatten sich einfachheitshalber geschlossen für die Poseidonplatte entschieden, die ihnen Costa auch noch einmal besonders empfahl.

„ Das ist eine sehr gute Idee. Kommt alles direkt aus meiner Heimat. Fisch und Calamari, frisches Gemüse und zarte Kartoffeln. Was darf ich zu trinken bringen?“

Emma schlug eine große Karaffe Landwein vor. Max war einverstanden, Ingrid ließ sich zusätzlich ein Glas Mineralwasser kommen. Sie war Alkohol nicht mehr gewohnt und befürchtete, betrunken zu werden.

Der Grieche servierte die Getränke und man stieß aufeinander an.

„ Ingrid, zum Wohl. Es soll dir weiterhin so gut gehen mit deinem Studium. Viel Erfolg“, wünschte Emma ihrer Tochter von ganzem Herzen.

Sie wusste, dass es nicht leicht war, sich erfolgreich an einer Universität zu behaupten, besonders wenn man den Ehrgeiz besaß, den Abschluss möglichst schnell und mit besten Noten zu machen. Neben den notwendigen geistigen Voraussetzungen musste man dazu eine große Portion Disziplin und Beharrungsvermögen mitbringen, um an den aufgeblähten, bestreikten und überfüllten Bildungsstätten bestehen zu können.

„ Ich kann mich da nur anschließen, auch wenn ich weiß, dass du dein Diplom schon so gut wie in der Tasche hast. Deine Mutter hat mir verraten, dass du etwas Besonderes mit uns zu besprechen hast. Also, was hast du auf dem Herzen? Ich als dein Vater habe für deine Sorgen immer ein offenes Ohr.“

Kimrod zündete sich eine Zigarette an. Irgendwie ahnte er schon, woher der Wind wehte.

„ Das weiß ich doch, Paps. Es ist ja auch gar nichts Großartiges. Ich ziehe um, in die Villa Schönborn, unser Gemeindezentrum für Berlin und eigentlich ganz Deutschland. Ich werde James persönliche Assistentin, die unter anderem die Ausbildung der Kursleiter koordiniert und ihm möglichst viel Verwaltungskram abnehmen wird. Er will sich ganz auf seine spirituelle Arbeit beschränken und nur noch zu speziellen Anlässen sprechen. Es wird demnächst kein Mangel bestehen an öffentlichen Kundgebungen und James will sich da nicht verausgaben oder gar missbrauchen lassen. Die Politiker schrecken doch vor nichts zurück...oh, Entschuldigung, Mutti.“

Kimrod feixte, doch er wurde sofort wieder ernst. Wollte ihm da seine Tochter eine Verbindung unterjubeln, die weit über das Berufliche hinausging, eine Affäre mit Stähler?

„ Tja, du bist lustig. Gerade beglückwünschen wir dich zu deiner Zwischenprüfung und jetzt willst du alles über Bord werfen, um ausschließlich im Kielwasser dieses Wanderpredigers zu dümpeln. Das wirst du uns doch nicht antun?“ sagte Kimrod eindringlich.

Ingrid blieb sachlich.

„ Davon kann doch überhaupt keine Rede sein. Ich habe jetzt ein bisschen mehr Luft und wechsle nur meinen Arbeitsplatz. Da waren auch finanzielle Überlegungen ausschlaggebend. Warum auch nicht. James sagt immer, wer nach den Geboten Gottes lebt, kann nicht Schiffbruch erleiden und wird es zu was bringen. Mein Studium verläuft ganz normal weiter.“

Zwei Jugendliche mit glattrasierten Schädeln, die bunt bemalt und beklebt waren, stürmten ins Lokal und ließen sich am Nachbartisch nieder. Costa brachte ihnen zwei Dosen Bier und bedachte sie mit einigen griechischen Kraftausdrücken. Als Costa wieder verschwunden war, flogen die ersten Bierdeckel, einer auch an Emmas Hinterkopf. Die Biologin beförderte die Brauereipappe resolut zurück und begann zu schimpfen.

„ Ihr kleinen Flegel. Der Sandkasten ist draußen. Hier drin ist nur für Erwachsene.“

Einer der Paintos, so wurden diese Vertreter der aktiven Teenagerszene wegen der Kopfbemalungen genannt, die oft tagtäglich in stundenlanger Feinarbeit erneuert wurden, langte mit seiner Zigarette herüber und klopfte die Asche über Ingrids Schulter ab. Emma schüttete dem Rohling sofort ihren Wein ins Gesicht. Sie hatte während ihrer Studentenzeit so manchen Kampf mit den Faschos und der Staatsmacht ausgefochten. Da lief einer ins offene Messer. Sie war schon aufgesprungen und wollte ihren Angriff mit der Karaffe fortfahren, als Costa mit einer Bratpfanne bewaffnet den Schauplatz betrat und dem Spektakel ein rasches Ende bereitete. Seine wuchtige Statur verhinderte ein weiteres Aufflackern der Feindseligkeiten von Seiten der Paintos und wirkte sich auch abkühlend auf Emma aus, die die Karaffe auf den Tisch sinken ließ und sich setzte. Die kunstfreudigen Teenies suchten lachend das Weite. Der Knofelfresser war um einen Moment zu früh gekommen, vielleicht beim nächsten Mal. Der Grieche brachte noch einmal drei Schnäpse.

„ Tut mir leid. Die sind so und machen sich einen Spaß daraus, die Leute anzupöbeln. Aber ich bin darauf angewiesen. Die kommen fast jeden Tag und verputzen eine Dose nach der anderen. Natürlich vergraule ich dadurch meine letzten Gäste. Was soll man machen? Schmeiß ich sie zu oft raus, kommen die nicht mehr und dann kann ich an fünf Tagen zusperren. Essen kommt gleich.“

 

Costa stapfte zurück in seine Küche. Diese Sauhunde brachten ihn noch ins Grab. Kimrod klopfte seiner Gattin lachend auf die Schulter.

„ Mein Schatz, du bist großartig. Heute Nachmittag beim Herthaspiel, wärst du voll auf deine Kosten gekommen. Da lebe ich ja direkt gefährlich, wenn ich dich immer so hoch nehme.“

Emma zündete sich eine Zigarette an und inhalierte tief, um sich zu beruhigen.

„ Ist doch auch wahr. Ausgerechnet das arme Kind, das sich nicht wehren kann. Am liebsten hätte ich die an die Wand geklatscht.“

„ Aber Mutti, das sind doch Kinder. Außerdem bin ich gar nicht so wehrlos. Wolf hat mir ein paar Kniffe beigebracht, mit denen ich auch einen Gorilla beeindrucken kann. Prost.“

Bald nachdem sie die Schnäpse vertilgt hatten, trug Costa die Meeresfrüchteplatte auf. Die Calamari waren zwar etwas labbrig und die Kartoffeln zerkocht, doch im Großen und Ganzen war das Menü genießbar. Der vorzügliche Salat mit Oliven und Schafskäse entschädigte für einiges. Der Wein mundete ebenfalls. Was wollte man für die paar Euro mehr.

Kimrod war als erster fertig und steckte sich dreist eine Marlboro an, die vorletzte.

„ Denk doch an das Kind. Du weißt doch, wie empfindlich sie ist. Dass man bei euch Männern um jeden Zoll Anstand und Höflichkeit kämpfen muss“, wies ihn Emma zurecht.

Kimrod hob kurz die Hand in Richtung Theke, hinter der Costa Gläser polierte. Wenig später stellte der thessalische Bär ein Tässchen Espresso vor Kimrod auf den Tisch. Das filigrane Porzellangefäß verlor sich beinahe in Costas Pranke, so dicht wölbten die schwarzen Büschel und knotigen Muskeln sich auf den Knochen.

„ So, hat‘s geschmeckt, Chef? Sind Sie mir bitte nicht böse wegen vorhin.“

Kimrod bedeutete dem Griechen, sich auch etwas Hochprozentiges einzuverleiben.

„ Keine Bange, Costa. In meinem Beruf verzieht man wegen so was keine Miene mehr. Mach doch dann bitte die Rechnung fertig. Ich hab den ganzen Tag geschafft.“

Costa verschwand wieder hinter der Theke und begann, einen Block zu suchen.

„ Nicht sehr freundlich von dir, Max. Deine Tochter und ich sind doch noch gar nicht fertig. Außerdem ist der Wein noch halb voll“, sagte Emma vorwurfsvoll.

Kimrod leerte sein Glas in einem Zug und schenkte sich sofort nach. Er hatte für heute genug von Bars, Nachtklubs und Kneipen. Dieser entnervende Konsumzwang und das ständig sinkende Niveau dieser Einrichtungen übten keine anziehende Wirkung mehr aus auf einen Mann in seinem Alter. Es sei denn, er wäre Alkoholiker oder sexsüchtig. Die Jahre, in denen Kimrod viel und gerne ausgegangen war, lagen weit zurück. Diese Einsicht bedurfte keiner weiteren Bestätigung. Da war der kleine Zwischenfall nur von marginaler Bedeutung. Costa hatte es schon ausgesprochen. Wer in diesen Zeiten überleben wollte, konnte sich seine Gäste nicht aussuchen. Man erstand billiges Dosenbier und verhökerte es unter der Woche an die Halbstarken, die es sicherlich ganz abwechslungsreich fanden, einen Abend oder zwei einmal nicht auf der Straße oder im Park zu verbringen.

Wie Emma aufgeflattert war und die rasende Glucke gemimt hatte...ein Bild für Götter, auch wenn Ingrid dabei etwas in Mitleidenschaft gezogen wurde. Sie hätte es wohl auch mit einem Dutzend dieser Milchbärte aufgenommen. Wirklich, eine Prachtfrau.

Auch die SPD begeht schlagkräftig ihren Wahlkampfauftakt: Ihre Stimme für Emma Kimrod, die beweist, dass auch bei den Roten Recht und Ordnung Priorität haben.

Oder sollte sie sich vielleicht sogar umtaufen lassen in Emma Peel, die rächende Genossin, die den Hooligans zeigt, wo es langgeht.

 

Endlich hatten die beiden Damen ihr Dinner beendet. Costa war nicht fündig geworden und hatte die Beiträge auf einem Bierdeckel addiert. Der Grieche bewies Geschicklichkeit und platzierte die Kostenaufstellung mit einem Weitwurf auf den Tisch der Kimrods. Vielleicht hatten ihm die zwei Schnäpse, die er sich auf Kosten des Kommissars genehmigt hatte, den Rest gegeben. Kimrod wusste, dass er spielend zwei Flaschen Wodka wegstecken konnte, doch er wurde dann etwas schluderig und seine Küche verwegen. Kimrod sah den Betrag und nickte. Er hatte mit mehr gerechnet. Gut dreißig Euro, für ein Fischgericht nicht zu viel.

„ Jetzt weiß ich, wer diese Burschen angelernt hat. Der Meister persönlich, aber bring trotzdem noch zwei. Meine Mädels sind noch am Mampfen.“

Costa brachte die Spirituosen und die beiden Männer prosteten sich zu.

„ Auf dein Wohl, du altes Schlitzohr. Eins musst du mir noch sagen. Wie viel Prozent hat dieses Gebräu? Dass du es selber brennst, weiß ich.“

„ Herr Kommissar, das ist ein Betriebsgeheimnis und wird nicht verraten.“

„ In erster Linie für deinen Betrieb, ich weiß. Ohne kannst du nicht mal mehr eine Uhr aufziehen.“

Kimrod zahlte und gab ihm noch ein paar Euro Trinkgeld. Dem zähen Hund war immer noch nichts anzumerken. Costa räumte die restlichen Teller ab und trällerte zurück hinter seinen Tresen.

„ So, jetzt reicht‘s aber. Ich will hier keine Säufer heranziehen. Dass ihr euch nicht schämt, besonders du. Du hattest nämlich schon eine Fahne, als du nach Hause kamst. Ich wollte bloß nichts sagen, weil dass angeblich mit zu deiner Arbeit gehört. Den Wein überlässt du jetzt besser mir, sonst müssen wir dich nach Hause tragen“, sagte Emma und blähte drohend die Nüstern.

Für Kimrod ein untrügliches Zeichen, dass sie keinen Widerspruch duldete. Sie schenkte Ingrid nach und goss den Rest bei sich ein, nachdem sie mit kräftigen Schlücken Platz geschaffen hatte. Kimrod lächelte. Costas Hausmarke zeigte Wirkung. Ob sich das alles vertrug, der Fisch, das Gemüse, alles mit viel Fett zubereitet und der ölige Wein, der gut rutschte, aber bestimmt nicht leicht verdaulich war? Kimrod erhob sich schnell und ging nach draußen.

„ Bezahlt ist alles, ich brauche dringend frische Luft.“

Er eilte vor die Tür und füllte erwartungsvoll die Lungen. Doch die erhoffte Wirkung blieb aus. Das schale Gasgemisch, das sich durch seine angeteerten Bronchien zwängte, war nur sehr beschränkt dazu geeignet, etwas zur Regeneration seiner angeschlagenen Konstitution beizutragen. Gott sei Dank war es wenigstens deutlich kühler als drinnen. Das half ein wenig. Er hätte sich nicht vorstellen sollen, welchen Weg die Zutaten vom Erzeuger bis zum Endverbraucher zurücklegten.

„ Du lebst aber auch zu ungesund, Paps, das würde ich auch nicht aushalten. Mutti musste noch mal schnell auf die Toilette.“

„ Die wird sich wundern. Costa ist berühmt für seine Kakerlaken.“

„ Bloß weil er kein Deutscher ist. Das ist unfair!“

Ingrid stampfte dabei etwas auf den Boden mit ihren kleinen Lederschühchen. Das sah süß aus. Kimrod hatte vergessen, dass sie eine Gerechtigkeitsfanatikerin war und alles immer so schrecklich wörtlich nahm. Dabei hätte Costa selber drüber gelacht. Bei ihm kämen halt internationale Delikatessen auf den Tisch.

 

Emma ließ noch eine Weile auf sich warten. Vielleicht musste sie sich erst den Sitz freikämpfen. Oh, das war wieder eine Prüfung. Kimrod wollte sich gerade verabschieden, als Emma aus dem Lokal geschossen kam.

„ Dein Freund ist mir der Richtige. Erst klatscht er uns die Rechnung auf den Tisch wie bei seinen Fratzen und dann wurde er auch noch anzüglich. Ob ich überall so temperamentvoll wäre und was weiß ich noch alles. Also ich bin bedient für heute. Los kommt, bevor da noch was lauert in dieser Bruthöhle.“

„ Das ist das südländische Blut, das gehört bei denen mit dazu. Wichtig ist, dass wir satt geworden sind für wenig Geld“, erklärte Kimrod beschwichtigend.

Sie gingen los und erreichten die Wohnung ohne weitere Zwischenfälle. Ingrid zog sich in ihr altes Zimmer zurück und die Eltern machten es sich vor dem Fernseher bequem. Emma herrschte wie üblich über die Fernbedienung und blieb bei einer ihrer geliebten Talkshows hängen. Vielleicht gehörte sie bald selbst zu den gefragten Gästen, den Top Ten, oder waren es gar nur fünf, die ewig die gleichen abgestandenen Themen walkten und von einer Quasselrunde in die nächste hechelten.

Heute ging es um die Renten. Wie hoch, wie sicher, wie lange noch? Emma war sofort Feuer und Flamme für den Kandidaten der Sozis, einen zweitrangigen Sozialministers eines drittklassigen Bundeslandes, der eine offensichtlich auswendig gelernte Sentenz immer wieder in die Mikrofone blökte und alle anderen Protagonisten der Unsachlichkeit zieh. Emma würzte die drögen Duelle mit bissigen Kommentaren, wobei sie sogar ab und zu aus der Fraktionsdisziplin ausscherte und die Forderung der Grünen nach einer weiteren, größtenteils von den Arbeitgebern getragenen Senkung der Rentenversicherungsbeiträge unterstützte.

Verarmter Adel, dachte sich Kimrod abgeklärt und schlief darüber ein. Als er die Augen wieder öffnete, lag er noch immer im Wohnzimmer, in voller Montur. Emma war wohl wieder einmal an seinem narkotischen Tiefschlaf gescheitert, der, wenn er durch Alkohol gefördert wurde, nur durch rabiateste Mittel gestört werden konnte.

Es war kurz nach halb sechs. Kimrod entschloss sich liegenzubleiben. Seine Frau beklagte sich immer furchtbar über sein Schnarchen und hatte ihn wahrscheinlich auch deswegen auf diese diskrete Art und Weise aus dem ehelichen Schlafgemach verbannt. Sie würde sich zwar nachher wieder beschweren, weil er nicht einmal mehr am Wochenende Zeit für Zärtlichkeiten aufbrachte, aber das war nichts Neues. Kimrod musste sich ungefähr seit seinem vierzigsten Geburtstag eingestehen, potenzmäßig nicht mehr ganz auf der Höhe zu sein. Was früher fast zu viel vorhanden war, gleich zu Anfang ihrer Ehe hatte er nur mit Mühe und Not den Verführungskünsten einiger Kolleginnen widerstanden, wallte jetzt nur noch selten in ihm auf. Auch andere Frauen interessierten ihn nicht mehr sonderlich. Vielleicht war er auch schwul. Ein spätes coming out, warum nicht.

Emmas Libido ging mit ihren sonstigen Aktivitäten konform. Politik fand nicht nur im Kopf statt. Ob sie sich bereits nach Ersatz umgesehen hatte, einem jungen, feurigen Sozialisten etwa, der sich gerne von einer erfahrenen Praktikerin anlernen ließ? Sie war attraktiver denn je und die moderne Frau war für Triebsublimierungen wie Verseschmieden und Klavierspielen nicht mehr zu haben. Handfeste Lösungen waren angesagt. Ob sie sich mit einem detailgetreuen Vibrator anfreunden konnte, den viele ihrer aufgeklärten Schwestern dem schlappen Original vorzogen? Gesunde zwanzig Zentimeter, die nicht beim ersten Windstoß in sich zusammen sanken, mit spritzfreudigem Ejakulationssimulator. Der treue Begleiter für die Frau, die schon alles gehabt hat.

Kimrod dämmerte wieder hinüber in die barmherzigen Gefilde des Vergessens, fern von männermordenden Walküren, die ihre verschreckten Schlaffis höchstens noch zum Batterien besorgen benötigten.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

11.10 Sonntag

 

 

 

Um acht Uhr schlug Kimrod wieder die Augen auf. Die Vorhänge waren schon zurückgezogen und verführerischere Düfte drangen aus der Küche herüber. Er duschte kurz und schlüpfte in seinen peppigen Trainingsanzug. Emma war schon am Frühstücken. Es gab Müsli, Cornflakes und kerniges Schwarzbrot mit Marmelade. Kimrod schenkte sich Kaffee ein und füllte eine Schüssel mit Schokoflocken und Milch.

„ Wie ein Mensch so schnarchen kann. Ich habe zweimal die Lautstärke nachregulieren müssen. Und an wach kriegen war eh nicht zu denken. Manchmal beneide ich dich direkt.“

Emma wartete vergeblich auf eine Antwort. Kimrod verdrückte hastig seinen Brei und nippte ein bisschen am Kaffee, bevor er sich den Kellerschlüssel schnappte und seiner besseren Hälfte einen Kuss auf die Wange drückte.

„ Ich fahre ein paar Meter spazieren. Bis Mittag bin ich spätestens wieder da. Du brauchst aber nicht großartig zu kochen. Bis gleich.“

Emma blickte ihm staunend nach. So früh schon fit, das passte gar nicht zu ihm. Vielleicht die Zigaretten. Die Schachtel war leer. Ohne war kein Frühstück komplett. Kimrod benutzte den Lift, der polternd seine Fracht nach unten beförderte. Er stieg aus, ging über die Treppe zu den Kellerabteilen hinunter und sperrte den Raum auf, der neben etlichen alten Möbeln auch sein Mountainbike beherbergte. Der Kommissar überprüfte den Luftdruck und schob das Sportgerät nach draußen. Er verriegelte hinter sich die Tür und schulterte den massiv gebauten Drahtesel. Carbonrahmen waren immer noch teuer, Kimrod hatte sich deshalb mit einem schwereren Aluchassis beschieden. Er trug das Bike auf die Straße und trat in die Pedale. Am ersten Automaten zog Kimrod eine Schachtel Lights und setzte die Fahrt anschließend fort, allerdings ohne Glimmstängel im Mund. Er fuhr Richtung Grunewald. Dort gab es schöne Radwege und man lief nicht ständig Gefahr, von einem geifernden Automobilisten vom Sattel geholt zu werden. Als er die letzten großen Vorfahrtsstraßen hinter sich gelassen hatten, begann sich die Sonne auf dem vom Hochnebel verhangenen Firmament als weiße Scheibe abzuzeichnen. Der Kommissar bog in die Teufelstraße und überholte munter andere Ausflügler, die in den Forst radelten.

Wenig später hatte Kimrod den Teufelsberg erreicht. Er ließ sich in der Nähe der Rodelbahn auf einem großen Findling nieder und genoss seine erste Zigarette. Dabei beobachtete er einen Penner, der auf einer umgedrehten Gemüsekiste stehend Volksreden hielt. Kimrod rauchte fertig und mischte sich unter ein paar Dutzend Schaulustige, die den geifernden Alten umringten. Etwas abseits dieser Versammlung hielt sich ein Trupp Camos auf, etwa zehn Mann stark. Einer der selbsternannten Hilfssheriffs trug einen schweren Revolver an der Hüfte, vermutlich ein Offizier. Die obligatorischen Tarnjacken, schwarze, auf Hochglanz gewichste Schnürstiefel, Bürstenschnitte und enge Bluejeans vervollständigten das gewollt martialische Outfit der Schmalspurkämpen, die sich betont lässig gaben und in kurzen Abständen gemeinsam ablachten. Der in Lumpen gehüllte Prediger wurde lauter.

„ Und somit ist es an der Zeit, die Schaumschläger und Rattenfänger im Reichstag auszuräuchern. Das Feuer der Reinigung wird genährt vom Hass der Besitzlosen und Entrechteten. Dieses Natterngezücht, das schon so lange auf unserer Würde herumtrampelt, muss endlich zerschmettert werden. Wer sich noch einen Funken Anstand bewahrt hat, schließt sich mir an. Auf dass ein neues Fanal über der Hauptstadt leuchtet und die Funken aus dem Gebälk dieser unsäglichen Schwatzbude stieben. Heute ist der Tag der Abrechnung. Kommt her Ihr Opfer der internationalen Verschwörung, die euch in Armut knechtet und fern von den Krippen der Reichen und Mächtigen darben lässt. Wer noch aufrecht gehen kann, folget mir nach. Wir werden die Wurzeln des Übels herausreißen und der versengenden Flamme der Vergeltung anheim fallen lassen.“

 

Der Rhetoriker im Büßergewand, sein struppiger Mantel verlieh ihm tatsächlich ein wenig das Aussehen eines biblischen Propheten, stieg von seinem Podest herunter und versuchte mit wirren Gesten, hinter sich eine Prozession zu sammeln. Sein Pech war, genau auf die Camos zuzuhalten, die ihn prompt niederschlugen, als er einen von ihnen in seiner Trance anrempelte. Die rabiaten Kerle schleiften den Wehrlosen hinter ein nahes Gebüsch und setzten dort die Sonderbehandlung fort. Kimrod war nahe daran einzugreifen, doch da er seine Hundemarke nicht eingesteckt hatte und sich nicht ausweisen konnte, setzte er sein Vorhaben nicht in die Tat um. Diese Brüder würden wohl nicht zögern, ihm die gleiche Abreibung zu verpassen. Bei dem Kräfteverhältnis war eine Rettungsaktion glatter Selbstmord. Die restlichen Zuschauer zerstreuten sich bereits. Vielleicht war dieser Irre doch gefährlich. Die Jungs sollten ruhig tüchtig hinlangen. In diesen Zeiten musste man die Demokratie mit Händen und Füßen verteidigen. Mitleid war da fehl am Platze, besonders mit diesen Parasiten, die ihren unverdienten Anteil am Volksvermögen immer unverschämter einforderten.

Kimrod wusste, dass viele so dachten, auch wenn die Grenzen zwischen Armut und Verelendung immer fließender wurden und sich so mancher biedere Bürger über Nacht auf der Straße wiederfand, weil seine Arbeitslosenbezüge storniert wurden und die Sozialhilfe nicht mehr die Kosten für die Wohnung abdeckte. Die Clochards wurden tatsächlich immer dreister und organisierten sich in Banden. Da wurden Bezirke wie im Drogenhandel abgesteckt und wehe dem, der im Nachbarrevier wilderte und dort den Hut aufhielt. Es existierten regelrechte Krüppelakademien, an denen jeder Defekt von der Blindheit bis zur Querschnittslähmung zum Schein oder auch in Wirklichkeit erworben werden konnte. Alte Hasen brachen Arme und Beine und sorgten dafür, dass die Knochen nicht mehr richtig zusammenwuchsen und die Auszubildenden lebenslänglich versehrt blieben. Dass ab und zu ein Patient das Zeitliche segnete, tat der Popularität dieser Rosskuren keinen Abbruch. Schließlich schuf man sich dadurch eine Existenz, die ein bescheidenes, doch regelmäßiges Einkommen sicherte.

Die mickrigen Krümel vom großen Kuchen waren also umkämpfter denn je. Da kam es schon vor, dass der Bitte um eine milde Gabe mit forschen Mitteln Nachdruck verliehen wurde oder man sich aufs Börse ziehen verlegte. Wer in der Gosse landete, war deshalb eine Sozialleiche und wurde wie störender Abfall behandelt, wahrscheinlich auch weil die Penner einem so anschaulich die Kehrseite der freien Marktwirtschaft präsentierten.

 

Da Camos hatten genug und preschten mit einem pechschwarzen Kleinbus davon. Kimrod kümmerte sich um das Opfer, das mit aufgeplatzten Lippen, aber lächelnd einen unverständlichen Singsang von sich gab. Kimrod half ihm aufzustehen. Der Stadtstreicher stank wie die Pest und grinste noch immer breit. Kimrod verstand. Die Schergen der Machthaber hatten sich nicht als Schimären entpuppt, sondern übten ihr grausames Handwerk in der Realität aus. Der Kampf war noch nicht verloren.

Wahrscheinlich war der Mann krank und gehörte in ein Sanatorium, doch der Staat hatte die öffentlichen Nervenkliniken teilweise aufgelöst und die armen Teufel im Stich gelassen, die nicht mehr arbeiten konnten und keine Unterstützung von den Angehörigen erfuhren. Jetzt weinte er doch. Kimrod drückte ihm zwei Euro in die Hand und ging zurück zu seinem Fahrrad, bei dem ein grau melierter, drahtiger Mann stand. Der Jogger, seiner Kleidung nach zu schließen, winkte Kimrod heran. Kimrod kam das Gesicht bekannt vor. Vielleicht ein Schauspieler, die wirkten alle so aalglatt. Der Mann schüttelte Kimrod als erstes die Hand.

„ Guten Morgen. Ich heiße Schneider, Burkhard Schneider, Staatssekretär im Kanzleramt.“

Kimrod stellte sich ebenfalls vor.

„ Schau an, ein Kommissar. Aber ich habe schon von Ihnen gehört, mein Lieber. Sie haben den Würger von Wilmersdorf zur Strecke gebracht und den Pornormörder überführt, der seine Kundinnen mit einem Dildo abmurkste. Patenter Mann, das merkt man sofort. Schöne Luft heute, nicht wahr?“

Die Tragödie, die sich gerade abgespielt hatte, schien den Politiker nicht im Geringsten zu interessieren. Kimrod blieb stumm.

„ Ah, Sie sind noch ganz gedankenverloren wegen den Camos. Ich bitte Sie, wo kämen wir da hin, wenn jeder die Regierung und das Parlament zum Abschuss freigeben dürfte. An ein paar Spielregeln muss man sich schon halten, auch als Obdachloser, der nichts mehr zu verlieren hat außer seiner Weinbuddel.“

Die gleichen Symptome wie bei Emma. Totsch hatte alle Volksvertreter infiziert. Kimrod schluckte einen Großteil seiner Empörung wieder hinunter. Hier war Hopfen und Malz verloren.

„ Also ich sehe das ein bisschen anders. Was haben die Typen hier überhaupt zu suchen? Das ist doch kein Privatgrundstück, sondern ein Naherholungsgebiet, das jedem Bürger offen steht. Auch dieser armen Kreatur. Der wusste doch gar nicht, was er sagt.“

„ Und wenn schon. Sie müssten es doch eigentlich besser wissen. Oder können Sie bei Ihrer Arbeit immer buchstabengetreu die Gesetze einhalten? Na also, außerdem hat dieser Clown provoziert und einen der Tarnjacken angepöbelt. Wir sind doch nicht in London.“

„ Aber sie haben ihn grundlos zusammengeschlagen. Ich komme damit als einziger Augenzeuge vor Gericht nicht durch. Da gebe ich mich keinen Illusionen hin, aber das sind Tatsachen, auch wenn es sonst niemanden interessiert.“

„ Ach was. Hier nehmen Sie zwanzig Euro, das wird als Schmerzensgeld reichen. Da kann sich Ihr Schützling ein paar Tage lang zutrinken. Wahrscheinlich hat er es nur darauf angelegt.“

Kimrod steckte den Schein ein und wollte dem verhinderten Umstürzler nachfahren, der in Richtung Teufelssee losgezogen war. Schneider drückte auf die Vorderradbremse.

„ Eine Frage hätte ich noch. Wie kommt ihr denn voran mit diesem Nuttengemetzel? Ein interessanter Fall. Ihr Vorgesetzter, dieser Zefhahn hat mich kurz eingewiesen.“

„ Ach Gott, was soll man schon auf die Beine bringen innerhalb von vierundzwanzig Stunden. Das wird eine verzwickte Sache. Hunderte von potentiellen Tätern, keine Zeugen bis jetzt. Da bleibt nur die Hoffnung auf unsere Spezialisten. Vielleicht ist doch was an den Leichen hängen geblieben. Speichel, Haut oder Fussel von Textilien etwa.“

„ Na, ich werde mich auf dem Laufenden halten. Das wird man alles wieder uns ankreiden, wenn da geschludert wird. Jetzt fahren Sie schon los, sonst entfleucht er Ihnen noch. Bis bald.“

Kimrod nickte kurz und schwang sich in den Sattel. Der Stadtstreicher war bereits hinter einer Biegung verschwunden. Kimrod holte ihn kurz vor einem fahrbaren Imbissstand ein. Es war nicht schwer zu erraten, was den Clochard so magisch anzog. Kimrod stopfte ihm den Schein in die Manteltasche und wünschte ihm einen schönen Tag. Der Penner prüfte den Zwanziger kurz und trottete selig weiter, dem Lockruf des Alkohols folgend.

 

Die Sonne war wieder hinter einem grauen Schleier verschwunden. Kimrod begann zu frieren. Sein Sportdress machte zwar optisch viel her, ließ einen aber bei tieferen Temperaturen im Stich. Für kühle Witterung gab es spezielle Monturen, die der vorausschauende Verbraucher längst erstanden hatte. Die Freizeitindustrie hielt für jeden erdenklichen Anlass die maßgeschneiderte Ausrüstung parat. Mit der Laufgarnitur zum Parkplatz, zum Tennisplatz weiter mit dem Cabriokäppi, dort ins Dress des Wimbledonsiegers oder bei Bedarf in den Allwetteranzug. Anschließend ein paar Drinks in der Lounge. Natürlich im englischen Zwirn. Die Liste ließ sich fast endlos fortsetzen. Besonders wenn man Kinder hatte, ging dieser Kostümierungszwang schwer ins Geld. Man will bei den Nachbarn nicht auffallen und als arm gelten.

Der Kommissar strengte sich an und war in fünfzehn Minuten zu Hause. Die Schenkel schmerzten und seine Atmung begann zu rasseln. Da kam einem jede Zigarette hoch. Oder war er einfach schon zu alt für solche Extratouren, kam er gar in die Wechseljahre? Kimrod verstaute sein Rad und wagte den Aufstieg trotz allem über die Treppe. Er hatte keinen Schlüssel dabei und läutete. Ingrid linste kurz durch den Spion und sperrte auf.

„ Mutti hatte einen Anruf bekommen und musste weg. Irgendeine dringende Besprechung. Du weißt, wie nötig es die Parteifritzen zur Zeit haben.“

Kimrod nickte und ging in die Küche. Im Kühlschrank stand eine schöne, große Flasche Mineralwasser, die laut Hersteller mit regenerierenden Substanzen versetzt war. Das staatliche Drogenveto wurde eigentlich immer lächerlicher. Viele Lebensmittel prahlten mit aufputschenden Ingredienzien, die auf dem Index stehenden Stoffen an Wirksamkeit und Gefährlichkeit oft nicht nachstanden. Kimrod hatte kein Chemiestudium absolviert und schluckte die erfrischende Mixtur ohne weiteres Nachdenken. Der kleine Ausflug war nicht ohne gewesen. Er nahm sich vor, wieder mehr für seine Fitness zu tun. Wenn er so weiter machte, konnte ihn jeder Eierdieb auf fünfzig Meter abhängen.

Kimrod aß noch ein paar Brote und trank dazu Kaffee. Ingrid leistete ihm Gesellschaft. Er überlegte, ob er ihr von dem Vorfall im Park erzählen sollte. Besser nicht, dass würde sie nur ihrem Bruder vorwerfen und er wollte keinen Keil zwischen die Kinder treiben. Vielleicht wusste sie noch etwas über diese Claudia. Um zwölf traf er sich mit Remke am Steubenplatz. Je mehr er von dem Mädchen wusste, desto zielstrebiger konnte er ihrem Bruder gegenüber auftreten, der für nassforsch und blindlings fragende Polizisten bestimmt kein offenes Ohr hatte. Zefhahn hatte eine Andeutung gemacht, dass Mustafa kein unbeschriebenes Blatt mehr wäre. Vielleicht wusste Remke mehr. Kimrod zündete sich eine Zigarette an. Wahrscheinlich ächzte seine Lunge auch nur vom Verfolgen.

„ Du hast doch gesagt, dass du Claudia näher kanntest. War sie alleinstehend oder gab es einen Freund?“ fragte er seine Tochter.

Ingrid biss sich auf die Fingernägel. Irgendwas ging in ihr vor, das sie nervös machte. Sein Instinkt sagte ihm, woher diese Unruhe kam.

„ Hat das irgendwas mit eurer Gemeinde zu tun? Du kannst mir das ruhig erzählen, weil wir es sowieso herausfinden werden. Es passiert nicht zum ersten Mal, dass Sektenmitglieder unter mysteriösen Umständen in die ewigen Jagdgründe eingehen.“

Kimrod schien den richtigen Ton gefunden zu haben. Seine Tochter hob trotzig den Kopf.

„ Das sind Schauermärchen aus der Regenbogenpresse. Wir sind keine Sekte, sondern eine christliche Gemeinschaft. Eine der letzten intakten. Vielleicht diffamiert man uns deswegen unentwegt. Kann sein, dass du vielleicht Recht hast. Bevor dauernd deine Grützköpfe auf unseren Grundstücken herumschleichen, sage ich es dir lieber selbst. Claudia hatte einen Freund, der die Toten Brigaden unterstützte und deswegen im Untergrund lebt. Mehr weiß ich auch nicht. Das hat sie Stähler offenbart, bei einer Sitzung.“

„ Das fällt quasi unters Beichtgeheimnis. Wenn er im Untergrund lebt, dürfte es keine große Kunst sein, mehr über ihn in Erfahrung zu bringen. Das Bundeskriminalamt und der Verfassungsschutz verfügen über sehr umfangreiche Datenbanken. Aber jetzt geht es quer durch den Gemüsegarten: von ganz links nach rechts außen. Der Fall artet jetzt schon aus. Bin gespannt, wie das weitergeht.“

„ Ich nicht.“

Ingrid zog sich beleidigt in ihr Zimmer zurück. Die Toten Brigaden waren eine der Nachfolgegenerationen der Roten Armee Fraktion. Wer der legitime Erbe dieser legendären Truppe war, blieb umstritten. Die Toten Brigaden machten jedenfalls ihrem Namen alle Ehre. Wo Politiker und Industriegrößen um die Ecke gebracht wurden, waren die Brigaden nicht weit. Sprengungen aller Art und spektakuläre Entführungen komplettierten das Repertoire der Terroreinheit, die auch auf internationaler Ebene aktiv wurde und Kontakte zu befreundeten Bombenlegern pflegte.

 

Zefhahn hatte wieder einmal geschlafen. Vielleicht war die Luper tiefer in diese Geschichte verstrickt gewesen und einem Femegericht zu Opfer gefallen. Bei diesen Fanatikern genügte oft schon der kleinste Verdacht und die Rübe rollte. Ihr Freund musste damit gar nichts zu tun haben. Die Kommandoebene scherte sich nicht um die Belange des Fußvolks. Sein Pech, wenn er sich mit einer Verräterin eingelassen hatte. Das war keine abwegige Idee. Eine Nutte, die hochrangige Volksvertreter zu ihren Kunden zählte, musste für die Umsturzstrategen eine willkommene Informationsquelle gewesen sein. Was wurde doch nicht alles auf der Matratze geplaudert. Die frigiden Gattinnen interessierten sich doch längst nicht mehr für die Sorgen und Nöte des gestressten Führungspersonals. Da kam so ein kleines Kätzchen gerade recht. Endlich jemand, der zuhörte. Und irgendwann regte sich das Gewissen bei der Kleinen. Ein kleiner Tip an die richtige Adresse und schon kamen die Kameraden schwer in die Bredouille und wurden verklappt. Ein gefährliches Spiel, auf das sich wirklich nur abgebrühte Profis einlassen sollten. Amateure kamen nur allzu oft unter die Räder.

Kimrod drückte die Zigarette aus und ging ins Wohnzimmer. Die Beleuchtung war immer noch nicht eingeschaltet. Aber recht viel konnten die Fische nicht versäumt haben. Ihr Umfeld bot selten etwas anderes als die öde Monotonie ihrer beengten Unterwasserwelt. Zweimal am Tag Futter, der Rest stupides Treiben in der Strömung der Kreiselpumpe. Und das bis zur Stunde Null. Die Menschen mussten ziemliche Sadisten sein.

Kimrod versorgte die Guppies und legte sich aufs Sofa. Er stellte seinen Armbanduhrwecker auf zwanzig vor zwölf. Das war kein leichtes Unterfangen. Sein Chronometer war mit x-Knöpfen gespickt, die teilweise mit mehreren Funktionen belegt waren: Luftfeuchtigkeit, Temperatur, Smogalarm, Stoppuhr, da fehlte nur noch der Geigerzähler. Kimrod hatte es bis dato noch nicht geschafft, alle möglichen Operationen ohne Bedienungsanleitung durchzuführen, obwohl das hochbauende Gerät schon seit zwei Jahren sein linkes Handgelenk zierte.

Gegen die These mit den Terroristen sprach Folgendes: Warum wurde auch Susanne Roschmann exekutiert? Zur Tarnung oder hatte sie ebenfalls für die Brigaden gearbeitet und zu viel gewusst? Und noch etwas passte nicht ins Bild. Die Reebokerevoluzzer, die sich gerne mit den Fetischen ihrer Yuppiealtersgenossen ausstatteten, hinterließen ihre Visitenkarte am Tatort oder schickten hölzerne Bekennerschreiben an Redaktionen und Behörden. Wollte man hier eine falsche Fährte legen, weil noch andere Gunstgewerblerinnen im Sold der Killer standen und noch arbeiteten?

Alles nur Spekulationen, die einen scheinbar nicht weiterbrachten. Aber es war wichtig, alle Untiefen auszuloten. Jetzt gab es nämlich viele Bluthunde auf der Spur der Mörder außer der lächerlichen Soko Spreetöchter. Beispielsweise die Geheimdienste, die Sektierer mit Ingrid an der Spitze, die sensationsgeilen Journalisten, Mustafa, den Bruder der Luper. Vielleicht Mafiabanden, die es nicht gerne sahen, wenn in ihrem Bezirk ohne ihre Erlaubnis gemordet wurde, und so weiter und so fort.

 

Was Emma wohl gerade treiben mochte? Lernte sie einem Jungfalken das Fliegen auf einer in Schweinsleber gebundenen Sonderausgabe des Kapitals? Die gegerbte Tierhaut wurde so schön glibberig von den Brunstsekreten und schmatzte rhythmisch im Takt der Kopulierenden. Marx selig soll auch kein Kostverächter gewesen sein. Man konnte es ihr fast nicht verdenken. Verheiratet mit einem kleinen impotenten Schnüffler, eine Frau mit ihren Fähigkeiten. Hochintelligent, tatendurstig, von allen umschwärmt. Das musste doch schiefgehen. Siehe Wolf, siehe Ingrid. Ohne diese Flasche von Vater wären sie doch nicht ihren Rattenfängern in die Falle gegangen. Kimrod drehte sich um. Das sonore Brummen des Filters ließ ihn einnicken. Endlich vergessen, nicht mehr grübeln. Sanftes Schweben in den unergründlichen Sümpfen des Unterbewusstseins. Einfach herrlich.

Später. Was bimmelte da nur so penetrant, eine riesige Glocke im Turm einer Kathedrale? Kimrod versuchte, sich die Ohren zuzuhalten, doch seine Arme bewegten sich nicht. Nein, nicht schon wieder. Der Glöckner springt in die Seile, aufhören! Er schlug die Augen auf. Sanft erklang die kleine Melodie, komm wach auf. Der Wecker, keine Glocke, das hatte ihn so gebeutelt. Musste sich auch noch im Schlaf alles ins Abstruse, Monströse verkehren? Er drückte wahllos auf ein paar Knöpfe und das Piepsen erlosch endlich. Kimrod ging ins Bad und wusch sich das Gesicht. Gott sei Dank bekam er noch keine Glatze. Das hätte aber auch an ein Wunder gegrenzt. Nur Männer mit zu viel Testosteron mussten doch um ihren Kopfschmuck bangen. Und von einem Hormonüberschuss konnte bei ihm wirklich nicht die Rede sein. Er schlüpfte in die Jacke und zog seine ausgelatschten Cowboystiefel an. Wenigstens dieses Utensil hatte er aus seiner wilden Zeit herüberretten können. Da fühlte man sich gleich um zwanzig Jahre jünger.

Er klopfte bei Ingrid, doch die Tür blieb verschlossen. Der Vogel war ausgeflogen, ohne sich zu verabschieden. Mussten denn alle Familienzusammenkünfte so abrupt und unfreundlich enden? Er überprüfte seine Taschen. Schlüssel, Portemonnaie, Papiere, alles da. Aber keine Zigaretten. Die lagen in der Küche. Kimrod holte sie und verließ die Wohnung. Der Wagen stand auf einem Grundstück, das bald wieder bebaut werden würde. Der zuständige Makler hatte Kimrod, dem gefürchteten Kommissar, gerne einen Stellplatz zur Verfügung gestellt. Kostenlos selbstverständlich. Jetzt würden es sich alle Ganoven zweimal überlegen. Ein Träumer. Kimrod wusste, dass es sich nur eine sichere Methode gab, die Autoknacker abzuschrecken: Einen möglichst heruntergekommenen Rostkübel, in dem ein auf das Armaturenbrett geklebtes Transistorradio für zehn Euro für die musikalische Untermalung sorgte. Aber man kam vom Regen in die Traufe. Die Schrotthaie witterten Bares und umkreisten gierig die Beute. Die fackelten nicht lange und verfrachteten die altersschwachen Mühlen in die Recyclingbetriebe. Ein Hunderter sprang dabei allemal heraus. Der Besitzer konnte sich dann mit seiner Versicherung herumschlagen, die überhaupt nur noch selten Teilkasko für Blechgreise anbot.

Kimrod startete und parkte den Wagen vorsichtig aus. Schräg hinter ihm stand ein dicker Daimler, dessen Alarmanlage bei der kleinsten Berührung ausgelöst werden würde. Also Vorsicht. Das Manöver gelang und Kimrod fuhr los. Es waren relativ wenige Autos unterwegs. Sie würden gut vorankommen. Remke wartete schon. Auf die U-bahn war noch Verlass. Kimrod bremste ab und entriegelte die Tür.

„Tag Chef. Du bist ausnahmsweise mal pünktlich. Ich hatte mich schon auf einen kleinen Fußmarsch eingestellt, um dich aus den Federn zu werfen.“

Remke grinste breit. Das war ein Sonntag nach seinem Geschmack. Sein junger Kollege hatte den Nachmittag bestimmt schon verplant gehabt und war genauso auf die Nase gefallen wie er selber. Kimrod erzählte von dem Auftritt der Camos am Teufelsberg.

„ Sieh einer an. Die Herren von der Konkurrenz. Aber ich hätte mich auch nicht eingemischt ohne Marke und Pistole. So was schmeckt mir natürlich auch nicht. Zu zweit hätten wir mehr ausrichten können. Fahr nicht wie ein Henker. Ich habe gerade erst gegessen“, sagte Remke, der sich immer noch an seinem Gurtschloss zu schaffen machte. Das Ding wollte einfach nicht einrasten. Er gab es schließlich auf und lehnte sich fluchend zurück. Dann eben nicht.

„ Wenn was passiert, zahlt der Staat. Also keine Bange. Außerdem kann ich mir schwer vorstellen, dass es hier ein Teil gibt, das härter ist wie deine Birne. Zigarette?“ fragte Kimrod.

Remke nahm sich eine und drückte den Anzünder. Wieder Fehlanzeige. Kimrod gab ihm grinsend sein Feuerzeug, das auch erst nach etlichen Versuchen zu überreden war.

„ Hast du schon Zeitung gelesen?“ fragte Remke.

„ Nein. Ich darf doch zu Hause außer dem sozialistischen Gemeindeboten nichts lesen. Wie war denn das Echo?“

Remke hatte einen Artikel ausgeschnitten.

„ BamS. Soll ich dir vorlesen?“

„ Nein, verschone mich. Fasse das Wichtigste zusammen.“

„ Jawoll, Herr Lehrer.“

Remke berichtete kurz und steckte den Artikel wieder ein. Sie hatten sogar die Fotos von den Leichen mit drin. Die Gerüchte schossen wild ins Kraut, aber irgendeinen konkreten Anhaltspunkt konnten auch die Redakteure nicht vorweisen. Man versprach, den Lesern täglich die neuesten Fakten zu liefern. Sie waren dabei sich festzubeißen, zweifellos.

„ Wenigstens waren wir nicht auf dem Titel. Zu viel Werbung ist auch nicht gesund. Wie war‘s denn in der U-bahn? Gestern ging dir doch die Muffe bis zum Anschlag.“

Remke konnte nicht ganz folgen.

„ Ich, warum? Ich fahr doch immer mit der U-bahn. Wieso Muffe?“

„ Egal. Gestern hast du jedenfalls noch behauptet, man sticht dich ab im Gedränge, aber du lebst noch. Wenn wir doch nicht immer quer durch die Stadt tigern müssten. Das nervt unheimlich.“

Remke nickte mehrmals.

„ Wem sagst du das. Ich habe heute Morgen schon wieder eine Kerze gestiftet.“

Sie bogen um halb eins in die Prinzenstraße ein. Remke machte die Nummer ausfindig und Kimrod parkte den Wagen kurzerhand auf dem Gehsteig. Die Verkehrswachteln konnten sich ihre Verwarnungen sonst wo hinstecken. Sogar Remke hatte nichts einzuwenden. Die Wohnung lag im Keller eines dreistöckigen Mietshauses neuerer Bauart. Gar keine so schlechte Adresse. Dekorativer Efeu verlieh dem Gebäude einen gemütlichen Anstrich. Hier konnte man sich zu Hause fühlen.

„ Dieser Mustafa muss ganz schön Kohle stecken haben. Ich könnte mir das nicht leisten“, sagte Remke und klopfte anerkennend auf die kupferne Dachrinne.

„ Stimmt, aber lass uns mal machen. Ich will keine Wurzeln schlagen“, erklärte Kimrod. Sein Kollege drückte auf die Klingel. Es führte zwar nur eine schmale Steige hinunter ins Souterrain, doch alles war picobello sauber. Keine Schmierereien, kein Abfall, nichts. Remke donnerte mit der flachen Hand gegen die Tür. Wieder keine Reaktion. Jetzt wurde Remke laut.

„ Aufmachen, Polizei! Bei drei schieß ich das Schloss auf.“

Er griff tatsächlich nach seiner Pistole und spannte sie nachdrücklich. Nach einer Weile wurden Schritte hörbar. Eine verschlafene Stimme meldete sich gedämpft.

„ Was wollt ihr? Ich bin längst raus aus dem Geschäft. Heute ist Sonntag und ich habe keine Lust, mir irgendwelchen Quatsch anzuhören.“

„ Wir sind wegen Ihrer Schwester hier. Sie wissen doch, was passiert ist!“ schrie Kimrod und bedeutete Remke, die Waffe verschwinden zu lassen.

Mustafa ließ die Polizisten eintreten.

„ Eine geschmackvoll eingerichtete Wohnung. Muss ein hübsches Sümmchen gekostet haben.“

Mustafa ging nicht auf Remkes Bemerkung ein und bat die Beamten, Platz zu nehmen. Sie lehnten dankend ab.

„ Whisky, Wodka oder ein Bier?“ fragte der Hausherr anschließend.

„ Für mich Whisky. Mit Eis, wenn‘s geht“, gab Kimrod an.

„Dasselbe“, knurrte Remke kurz.

Hier stimmte doch was nicht. Von seiner Schwester hatte der Kerl noch kein Wort gesagt. Als ob sein Goldfisch eingegangen wäre. Kimrod stand interessiert vor dem riesigen Kaltwasserbecken, das vor Leben nur so wimmelte.

„ Ich handle nicht mehr mit Rauschgift. Sie können sich die Mühe sparen. Einmal Knast hat mir gereicht“, sagte Mustafa gelangweilt. Kimrod drehte sich um.

„ lhre Schwester wurde ermordet. Interessiert Sie das nicht?“

„ Ich bin im Bilde, keine Sorge. Was wollen Sie von mir? Sie müssen sich an diesen Stähler wenden, nicht an mich. Der hat sie auf die Straße geschickt, nicht ich.“

Mustafa goss sich nach. Er trank seinen Whisky ohne Eis. Diese Bullen waren wie üblich Bauern und checkten nichts.

„ Wo sind Sie beschäftigt?“ fragte Kimrod und widmete sich wieder dem Treiben der variantenreichen Gold- fischmutationen.

„ Mal hier, mal da. Import-Export. Ich habe den zweier Schein. Da kommt man gut durch, wenn man bis in den Irak runter blockert.“

„ Haben Sie eine Idee, wer Ihre Schwester ermordet haben könnte? Hatte sie Feinde? Zuhälter?“

Kimrod musterte den jungen Mann eindringlich. Aber da passierte nichts, kein Zucken, null Gefühl.

„ Woher soll ich das wissen. Ich sah sie zum letzten Mal vor zwei Jahren. Diese Schlampe, mit der sie immer zusammen war, ist Gott sei Dank auch mit drauf gegangen. Ein Glück, sonst hätte ich sie erledigen müssen. Die hat das alles ausgeheckt. Eine richtige Drecksau.“

Er leerte hastig sein Glas und schenkte sich nach. Remke hatte sich inzwischen im Bücherregal umgesehen. Mehrere Koranausgaben, auch im arabischen Original. Philosophische Texte, offensichtlich ein aufgewecktes Bürschchen.

„ Sind Sie sehr religiös und wollen vielleicht deswegen nichts mehr mit ihrer Schwester zu tun haben“, fragte Remke Mustafa.

„ Das geht Sie nichts an. Für Frauen wie meine Schwester gibt‘s eigentlich nur eine Strafe. Die hat sie bekommen. Mehr habe ich dazu nicht zu sagen“, antwortete Mustafa und zündete sich eine Zigarette an.

„ Ein guter Moslem trinkt doch keinen Alkohol und handelt nicht mit Drogen. So weit kann es mit Ihrer Lauterkeit also nicht her sein“, sagte Remke provozierend.

Mustafa stieß einen unverständlichen Fluch aus und nahm noch einen Schluck.

„ Aber für die Ungläubigen sind Kleider aus Feuer geschnitten; gegossen wird siedendes Wasser über ihre Häupter, das ihre Eingeweide und ihre Haut schmilzt. Und eiserne Keulen sind für sie bestimmt (Koran, Sure 22 ). Ihr könnt euch also auf einiges gefasst machen. Und nicht erst im Jenseits. Der Kampf wird auch hier ausgefochten. Ihr seid Dschahannams Brennstoff (Sure 21), mehr nicht.“

Mustafas Stimme war schneidend geworden. Man merkte, dass ihm die Koranzitate sehr viel bedeuteten.

„ Was für Brennstoff bitte? Ich kenne nur Koks und Kohlen.“

Remkes Kommentar war nicht sehr gelungen. Auch Kimrod schüttelte den Kopf.

„ Wir wollen uns hier nicht mit Zitaten bewerfen. Das ist ein Sport für alte Männer. Ich dachte mir einfach, Sie könnten uns behilflich sein. Es kann doch nicht in Ihrem Interesse liegen, dass der Mörder unbescholten durch die Gegend läuft.“

„ Allah wird ihn richten. Eure Strafen kenne ich. Zehn Jahre auf Staatskosten. Dreimal täglich warm essen, im Winter Heizung und ein Dach über dem Kopf. Wie viele auf dieser Erde wären froh darüber? Aber diese Sache wird nicht hingenommen. Diese Hakenkreuzler, die eure Regierung unterstützt, sind dafür verantwortlich. Und jetzt gehen Sie. Ich will alleine sein.“

Mustafa drückte die Zigarette auf seinem Handrücken aus, ohne einen Laut von sich zu geben. Kimrod führte ihn in die Küche und hielt ihm die Hand unters fließende Wasser.

„ Allah kennt bestimmt auch die Worte vergeben und verzeihen.“

Mustafa zog seine Hand zurück.

„ Sie hat nie bereut. Jetzt ist es zu spät dafür. Nun gehen Sie schon.“

„ Falls Sie es sich noch anders überlegen. Hier ist meine Nummer.“

Kimrod gab ihm einen vorbereiteten Zettel und verließ mit seinem Kollegen die Wohnung. Mustafa hatte das Wasser schon wieder abgestellt. Allah ist mit den Standhaften.

Der Ford war noch da. Nur der Außenspiegel fehlte und die hintere Stoßstange hing etwas weiter herunter als vorhin. Kimrod stieg ein und ließ den Motor an. Remke hatte vergessen, seine Tür zu verriegeln.

„ Hast du ein Glück. Wenn man uns das Funkgerät ausgebaut hätte, säßest du jetzt schön in der Scheiße. Du wärst einen halben Monatslohn losgeworden. Und Zefhahn hätte dich mit Katzenkacke erschossen“, sagte Kimrod schadenfroh.

Remke klopfte verächtlich gegen die veraltete Anlage.

„ Dieses Teil gibt es in jedem Supermarkt gratis, wenn man zehn Schachteln Waschpulver gekauft hat. Außerdem bist der Fahrer und für den Wagen verantwortlich. Dein Zefhahn besteht übrigens ausschließlich aus Katzenscheiße, auch wenn er in letzter Zeit auf den Hund gekommen ist. Wieso hat sich dieser Vogel eigentlich die Zigarette auf der Hand ausgedrückt? Der Aschenbecher stand doch gleich daneben. Wollte er testen, ob er für seine Tschanahama als Brennstoff geeignet ist? Du bist doch unser großer Bibelforscher. Was hatte das zu bedeuten?“

„ Wenn du erfahren würdest, dass deine Schwester gerade in der Hölle gelandet ist, würdest du vielleicht auch etwas die Kontrolle verlieren. Claudia war schon länger für ihn gestorben, nun ist auch ihre Seele den Bach runter gegangen. Den Ungläubigen die Hölle.“

Kimrod fuhr ein paar Meter auf dem Trottoir entlang und fädelte dann in den Verkehr ein. Remke legte seine Stirn in Falten.

„ Als Moslem darf man also mit Drogen handeln, mit allem was dazugehört, aber nicht auf den Strich gehen, und muss teuflische Christen in den siebten Himmel befördern. Das ist eine Logik, der ich nicht ganz folgen kann.“

„ Weil du eben ein Ungläubiger bist. Mit Logik hat das nichts zu tun. Ich stelle mir das so vor: Er handelt mit Drogen und erzielt damit enorme Gewinne. Wenn er wenigstens einen Teil davon für den heiligen Krieg opfert, ist die Sache wieder geritzt. Die Welt des Islams besteht aus zwei Etagen. Oben die Moslems, unten die Ungläubigen. Bis alle Ungläubigen vernichtet oder bekehrt sind, herrscht Krieg. Zumindest für die Fundamentalisten. Und im Krieg sind bekanntlich alle Mittel erlaubt, auch wenn das der Koran nicht eindeutig regelt. Claudia gab ihr Gehalt Stähler, der dadurch zu ihrem Zuhälter wurde. Da lag der Gute vielleicht gar nicht so daneben. Wenn man bedenkt, für null Leistung von einer Nutte Geld kassieren, das ist Förderung der Prostitution. Vielleicht kann man ihn damit endlich festnageln. Jedenfalls ist Stähler kein Mullah, sondern ein Mann, der Irrlehren propagiert. Das Geld wurde für eine dem Islam zuwiderhandelnde Geschichte investiert. Alles war folglich verdammenswert. Capito?“

„ Na ja, man kann‘s immer hinbiegen wie man es gerade braucht. Das hat unser Mustafa doch vorhin angedeutet. Er verdiene sich seine Kröten mit Fahrten in den Irak, beispielsweise. Was mag der unseren speziellen Freunden so liefern? Drogen sind passe.“

„ Was der transportiert? Waffen vielleicht, wenn sie nicht schon alles haben. Wäre fast mal wieder Zeit für einen neuen Schlagabtausch. Um einen Überblick zu gewinnen, was es Neues auf dem Markt gibt.“

 

Kimrod schaltete das Radio ein. Deutsche Schlager. Das war auch Remke recht. Ein Programm für die ganze Familie. Der Verkehr war immer noch ruhig, nur wenig Sonntagsfahrer, die die Überholspuren blockierten. Am Sockel der Siegessäule kreisten circa dreißig schwarz gekleidete Männer um das Denkmal. Sie schwangen ihre Fahnen und schmetterten großdeutsche Lieder. Ein rühriger Anblick. Kimrod ließ sein Fenster herunter und drehte eine Ehrenrunde. Die Hakenkreuzler grüßten unablässig und richteten ihre Blicke in den Himmel. Vielleicht wurden ihre Gebete erhört und der Führer inkarnierte. So inbrünstig wie seine Jünger hier ihre Freiluftmessen zelebrierten, wäre das kein Wunder gewesen; Heimkehr in sein Germania. Nicht nur böswillige Journalisten hatten sich schon gefragt, ob die Baupläne für das neue Berlin nicht doch von Hitler stammten. Oder zumindest von Speer. Zwei Größen der Gestaltung, die leider von den Wirrnissen der Zeit an der Verwirklichung ihrer architektonischen Vorhaben gehindert wurden. Bauherren, die zu Meistern der Zerstörung pervertierten. Ein schöner Gedanke.

„ Na grüße doch deine Freunde schön. Du brauchst dich vor mir nicht zu genieren. Nur hoch die Flosse“, sagte Kimrod und griff Remke unter die Achsel.

Remke kurbelte die Scheibe herunter und winkte freundlich. Die entrückten Recken würdigten ihn keines Blickes. Der Staat übersah inzwischen die ehemals streng verbotenen Insignien der Ultrarechten. Die lausbübisch veränderten Hakenkreuze, silbrig glänzenden Runen am Kragenspiegel... sollten sie doch. Man war eine gefestigte Demokratie und hatte derlei Spitzfindigkeiten nicht mehr nötig. Schließlich rührten auch die Antipoden mit Hammer und Sichel auf der Standarte ihre verrostete Werbetrommel.

Remke ging bereitwillig auf den Scherz seines Kollegen ein. Der kam ihm gerade recht.

„ Sieh dir diese hochgeschossenen Heroen des Abendlandes an. Blond, blauäugig, bebend vor Kraft und zupackender Stärke. Das wäre doch schönes Wachpersonal. Gefeit gegen unmännliche Gefühle wie Mitleid und Barmherzigkeit, gesintert von der hehren Flamme des arischen Nordens...“

„ Ja, ja, ich weiß schon, auf was du hinaus willst. Ganz so wie Wolf, der Fenriswolf, der am Tag der Götterdämm- erung seine Kette zerreißt und mit der Mitgardschlange die Welt verwüstet. Mein Wolf, du wolltest...“

„ Nein, das ist dein Komplex. An den Jungen dachte ich nicht, bewusst jedenfalls. Aber wer ist jetzt der Hakenkreuzler? Fenriskette, Mitgardschlange, das sind böhmische Dörfer für mich. Da kann ich dir nicht das Wasser reichen. Kommst du noch mit auf ein Bier?“

„ Danke, mir reicht‘s noch von gestern. So blau war ich schon lange nicht mehr. Ein anderes Mal gern.“

Sie erreichten den Steubenplatz gegen halb zwei. Remke stieg aus und Kimrod machte sich auf Parkplatzsuche. Sein Platz war belegt. Widerrechtlich abgestellte Fahrzeuge wurden zwar laut Schild kostenpflichtig entfernt, aber das lohnte die Mühe nicht. Nachher stellte sich heraus, dass kein Auto widerrechtlich parkte und er konnte die Kosten für die An- und Abfahrt des Abschleppdienstes berappen. Vielleicht hatte dieser Makler noch mehr Freunde, die er mit denselben Quadratmetern bedacht hatte. Kimrod fuhr so lange um den Block bis etwas frei wurde. Endlich kam eine junge Mutti mit zwei Kleinkindern und räumte nach langem Rangieren das Territorium. Kimrod zwängte sich in die Lücke und stellte die Parkuhr ein. Zwei Stunden waren erlaubt, ein Ticket war ihm fast sicher. Doch bei einem Dienstwagen konnte man sich immer herausreden. Die Verwarnungsgebühren übernahm im Zweifelsfall der Staat. Man berief sich darauf, in der Eile des Gefechts vergessen zu haben, wer am Steuer gesessen hatte. Kimrod machte sich auf den Heimweg. Es war doch noch ein schönes Stück zu laufen.

Emma war noch nicht zu Hause. Er ging in die Küche und schlug drei Eier in die Pfanne. Neben dem Brotkasten lag eine Notiz von Ingrid.

Habe noch viel zu tun mit dem Umzug und schleiche mich deshalb davon. Du hast so schön geschnarcht. Alles Gute, Paps, deine Maus.

Lieb, immerhin war sie nicht mehr böse auf ihn. Er zerkleinerte eine Zwiebel und hob die entstandenen Ringe unter die Eier. Im Kühlschrank lag eine welke Gurke. Die schlappe Frucht erinnerte ihn an ein gewisses Körperteil. Das grenzte schon an Verfolgungswahn....Das Kübisgewächs ließ sich gut schälen und lag satt in der Hand, ein ordentlicher Brocken. Es musste nicht immer alles bis in die letzte Faser steif sein. Der wahre Könner liebte doch mit lässiger Eleganz und glich mangelnde Härte mit Durchhaltevermögen aus. Diese schnellen, steil aufgerichteten Hundsruten standen einem Pubertierenden besser zu Gesicht als dem reifen Lover. Aber wenn sich gar nichts mehr rührte? Dann eben nicht.

Er hobelte die Scheiben mit Verve in eine kleine Schüssel und vervollständigte den Salat mit Essig und Öl. Ein bisschen zu viel Essig, doch das passte fast wieder zu dem abgelederten Schniepel, den er sich da zubereitet hatte. Die Eier waren auch so weit. Er aß gleich aus der Pfanne. Eine Scheibe Schwarzbrot mit Butter dazu und ein kerniges Menü war fertig. Moment, die Krönung, ein gekühltes Helles. Fast hätte er es vergessen. Nachdem er die Pfanne leer geräumt hatte, vertilgte er den Rest des Salats. So, noch einen kurzen Schluck zum Runterspülen und ab mit dem Geschirr in die Pfanne. Die Arbeit war getan, das Verlangen gestillt. Man konnte zum gemütlichen Teil übergehen. Er zündete sich eine Zigarette an und genoss die Friedlichkeit der Stunde. Sonntagnachmittage im Herbst hatten auch was für sich. Man saß da und ließ die Zeit verstreichen. Warum nicht?

Nachdem er die Kippe ausgedrückt hatte, legte er sich im Wohnzimmer aufs Sofa und widmete sich seiner Lektüre, einem Buch über die aufstrebenden Staaten Afrikas. Der Autor zeigte auf, was wo ging, hütete sich vor Verallgemeinerungen und hielt keine billigen Patentrezepte parat. Er erwies sich dabei als profunder Kenner der afrikanischen Geschichte, die bei ihm nicht erst mit dem Hissen der Kolonialflagge begann. Einige Grundmuster traten dabei öfters in Erscheinung: konkurrenzfähige Landwirtschaft, solides Handwerk und eine arbeitsplatzsichernde Kleinindustrie, die einheimische Rohstoffe verarbeitete. Das waren die Faktoren, die den Schwellenländern zwar nicht gleich zum Großmachtstatus auf dem Weltmarkt verhalfen, doch die sie zu ernstzunehmenden Partnern in der Region avancieren ließen. Wenn man sie ließ.

Von den ehemaligen Kolonialherren konnten folgende Errungenschaften übernommen werden: reger Austausch zwischen den Ökonomien, Abbau der Handelshemmnisse und Zölle, Freizügigkeit für Personen und Sachen und Beilegung aller Feindseligkeiten zwischen und innerhalb der Nationen. Das war natürlich leichter gesagt als getan. Wie lange und erbittert hatten die Europäer gerungen, um zu diesen Einsichten zu gelangen? Doch während etlicher Jahrhunderte und unter größten Opfern hatte man sie gezeugt und hochgepäppelt, diese Prämissen für das Prosperieren einer Gesellschaft. Nun sollte der schwarze Kontinent über Nacht dieselben Schritte vollziehen, unter denkbar ungünstigen Voraussetzungen.

Die Werkzeuge des modernen Imperialismus waren nicht mehr nur Kanonenboot und Nilpferdpeitsche, sondern auch Rohstoffpreise und Zinsschraube. Die Direktiven wurden nicht im Weißen Haus oder im Kreml, sondern an den Börsenplätzen und in den Vorstandsetagen der Großbanken ausgegeben. Zwei- bis dreistellige Außenstände, in Milliarden Dollar, waren die Regel und nicht die Ausnahme, die Rückzahlung fast immer Utopie. Doch darum ging es gar nicht. Praktisch und erwünscht war das Abhängigkeitsverhältnis, das sich daraus ergab. Wer nicht tilgen wollte, vorzugsweise in Naturalien, sprich Rohstoffe wurde vom Finanztropf abgehängt und boykottiert. Der Technologietransfer kam zu Erliegen. Die verkleidete Art von Sklaverei, die daraus erwuchs, konnte laut Verfasser nur durch Zusammenarbeit vor Ort abgeschafft werden. Erst wenn sich die Schuldner untereinander einig wurden, geschlossen Verhandlungen führten und Forderungen stellten, konnten sie ihr beklagenswertes Schicksal überwinden.

Kriege, Seuchen, Hungersnöte, das waren die Resultate dieser verfehlten Strategie, bei der die Afrikaner nur vorläufig die Hauptleidtragenden waren. Die Kassenbons, die den Industrieländern auf den Tisch flatterten, hießen ökologische Katastrophen, Migrationswellen, die gegen die durchlässigen Tore der Ersten Welt brandeten und Radikalisierung der unterentwickelten Staaten, die ihre Waffen immer unverhohlener gen Norden richteten.

Auch wenn nach dem Abholzen des Amazonasregenwaldes bis auf einen kläglichen Rest von zwanzig Prozent des ursprünglichen Bestandes noch keine neue Warmzeit begonnen hatte, kristallisierte es sich doch heraus, dass die Kapitäne des Kontors denkbar ungeeignet waren, die Geschicke so großer Gebiete von globaler Bedeutung zu bestimmen. Wer nur von Quartal zu Quartal dachte und arbeitete und Ökologie für eine lästige Erfindung verkrachter Spinner hielt, war überfordert bei der Entwicklung von Überlebensstrategien und misstraute jedem, dem nicht hauptsächlich Bilanzen zwischen den Ohren rotierten. Der Autor schlug sogar die Etablierung eines allmächtigen Kontrollrats vor, in dem wenige Experten wie auf einem Kriegsschiff die absolute Kommandogewalt inne hatten und den havarierten Riesen mit präzisen Anweisungen aus der Gefahrenzone bugsieren sollten. Ein Organ, dessen Skelett schon in Form der UNO vorhanden war. Man musste es nur noch mit Leben, sprich allgemein akzeptierter Autorität, ausfüllen.

Doch welcher Staat und welche Konföderation war bereit, zusätzliche Souveränität aufzugeben, auch wenn dies zum Wohle der Menschheit geschah? Und Sinn machte eine solche Institution auch nur, wenn sie von einem breiten Konsens getragen wurde. Und der war augenblicklich dank der weltweiten Wirtschaftskrise weiter entfernt denn je.

Die Erschöpfbarkeit der natürlichen Ressourcen, dieser Begriff fehlte noch in der Fibel der Ökonomen, die oft noch mit den Vokabeln des zwanzigsten Jahrhunderts hantierten. Wieder einer jener apokalyptischen Untergangsreißer, die auf die latenten Ängste der Wohlstandsbürger spekulierten und einem altbekannten Zustand einen effektvollen Horroranstrich verliehen? Kimrod wollte sich noch kein Urteil erlauben. Er hatte bislang kaum ein Drittel der Abhandlung bewältigt. Er wurde müde, legte das Buch beiseite und döste bis um halb vier vor sich hin. Keine Verpflichtungen, keine Bedürfnisse, nur passives sich treiben lassen. Fernöstliche Kontemplation. Praktisch, wenn man so gescheite Kinder hatte.

Kimrod rauchte später in der Küche eine Zigarette und studierte dabei den Programmkompass. Strahl Drei, sein Lieblingssender, brachte den ersten Teil einer australischen Endzeittrilogie. Er hatte den Film schon mehrmals genossen. Das war keine vergeudete Zeit, sondern Unterhaltung vom Feinsten. Handlung: Polizisten im faschistoiden schwarzen Lederdress bekriegten sich mit einer Motorradgang; Moral: Gegen Gewalt hilft nur Gewalt und Gewissensbisse sind nur dazu da, um überwunden zu werden; Sehenswert: die Weite und Teilnahmslosigkeit der australischen Steppe, die den stimmungsvollen Hintergrund für die Asphaltmassaker fernab europäischer Enge und Begrenztheit lieferte; Nachschlag: Die Desperados gerieten fast sympathischer als der einsame Held mit stierem Blick, weil sie konsequent die Arbeit ihrer Väter vollendeten, die ihnen nur Ruinen hinterlassen hatten. Die Polizei kämpfte für eine Ordnung, die schon längst nicht mehr existierte. Die Vollstrecker des Gesetzes verwandelten sich selbst in Höllenjockeys; Lieblingssätze: Für die Bullen sind wir nur Menschenmüll und Du hängst am Haken, Max und du weißt es.

Hing er tatsächlich am Haken? Zumindest finanziell , aber sonst, war der Beruf die einzige Erfüllung seines Daseins, konnte er ohne ihn nicht mehr weitermachen?

Die Kopie war alt und abgewetzt, das verlieh dem Spektakel zusätzliche Authentizität. Schrott, Sand, Gewalt, sah so die Zukunft aus? Nach dem Film ging er draußen noch ein paar Schritte. Es wurde abends zusehends frischer, der Sommer war unwiderruflich vorbei. Na ja, dann kam der Winter, das Frühjahr, immer dieselbe Leier, aber bald würde er es überstanden haben. Noch zwanzig, fünfundzwanzig Jährchen, eigentlich lächerlich wenig.

Er ging wieder ins Haus und las weiter. Um sechs kam Emma. Sie stellte sich sofort unter die Dusche und brauste ausgiebig. Diese harten Sitzungen... ob sie es mit mehreren getrieben hatte? Kimrod zwang sich, an etwas anderes zu denken. Sie würde stutzig werden, wenn er ständig vor sich hingrinste. Sie aß etwas anschließend und fragte von der Küche aus, ob er noch ein Bier wolle. Warum nicht, ein bisschen Dröhnung konnte nicht schaden. Den Rest des Abends verbrachte das Ehepaar wie üblich vor dem sündteuren TV-Gerät. Was blieb einem auch sonst übrig? Lesen war anstrengend und quatschen nervig. Kimrod ging um halb zehn ins Bett. Emma kam um elf nach. Sie war nackt und drängte sich gleich an ihn. Er hatte so etwas schon befürchtet, weil sie auf dem Sofa so verliebt getan hatte. Der wöchentliche Spießrutenlauf war fällig. Er entledigte sich seines Pyjamas und ließ sie gewähren. Schon lag sie auf ihm und kreiste mit dem Becken über seiner ungeladenen Kanone. Ihre Brüste tanzten einladend vor seiner Nase, doch es war sinnlos. Auch als ihr drahtiges Schamhaar immer fordernder gegen sein Geschlecht scheuerte, erfolgte keine Reaktion. Es war zum Verzweifeln. Jeder andere wäre allein beim Anblick dieses Körpers gekommen. Saftige Knospen auf vollen Titten, ein Arsch so rund und formvollendet wie zwei Fußbälle, eine Wespentaille, die Beine einer Ballerina und nirgends Fett oder Wabbel. Alles straff und glatt. Das schrie förmlich nach der Verschmelzung mit einem potenten Stier. Und dann das, tote Hose, nichts.

Sie rutschte von ihm herunter und ging ins Bad. Es war überstanden, die versuchte Vergewaltigung abgewehrt. Vielleicht wartete schon ein strammer Gummimax in ihrem Kosmetikschrank auf seinen Einsatz. Sie kam aber bald wieder zurück. Ging es ohne ihn schneller, war er nur noch ein Klotz an ihrem Bein?

„ Du solltest dich endlich einmal in Behandlung begeben. Dieser Zustand muss einen doch ganz krank machen.“

Sie war immer noch erregt, ein leichtes Tremolo lag in ihrer Stimme. Hoffentlich war der Vulkan schon ausgebrochen. Noch so eine Prozedur würde er nicht überleben. Angriff ist die beste Verteidigung.

„ Oder im Sexshop eine Salbe kaufen. Nach drei Tagen fault dir dann die Kappe weg. Nein danke. Ich kann mir keinen Seelenklempner leisten. Meine Kasse zahlt nicht einmal für Knoblauchdragees. Außerdem ist das alles Humbug. Wenn es nicht mehr geht, geht‘s eben nicht mehr. Dem Nachwuchs eine Chance“, sagte Kimrod sarkastisch.

„ Wie soll ich denn das verstehen? Meinst du, ich habe mich schon nach einem Nachfolger umgesehen, einem der sich mehr Mühe gibt? Du weißt genau, dass ich mir das so kurz vor den Wahlen nicht leisten kann. Man legt heute wieder Wert auf geordnete Verhältnisse. Aber du könntest es doch mal mit einer Professionellen versuchen. Vielleicht fehlt dir dieser Zug ins Vulgäre.“

Dass sie immer noch so sauer wurde. Diese Übung wiederholten sie schon zum x-ten Male, mit dem altbekannten Ergebnis. Er hatte doch Grund zum frustriert sein, nicht sie.

„ Gelegenheit hatte ich gestern mehrmals. Ich setze dein Einverständnis in Zukunft also voraus. Und jetzt lass mich bitte schlafen. Ich habe einen harten Tag vor mir.“

Emma knipste das Licht aus und rückte ihrem Gemahl nicht mehr auf den Leib. Zum Schluss organisierte er sich noch in einer Männergruppe.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

12.10 Montag

 

 

 

 

Die Woche begann vielversprechend. Auf das Hauptquartier der Camos war um fünf Uhr fünfundvierzig ein Sprengstoffattentat verübt worden. Maikovsky hatte sich schon vor Ort informiert und erstattete in seinem Büro vor versammelter Mannschaft Bericht.

„ Zwei Zimmer brannten komplett aus, etliche weitere Räume wurden schwer beschädigt. Es ist noch unklar, wie die Sprengsätze ins Haus gelangten. Man fand keine Spuren an den Türen. Die Täter müssen also aus dem Profilager kommen. Oder sie hatten Nachschlüssel. Gott sei Dank war das Haus noch leer, die Putzfrauen kommen erst eine Stunde später. Der Sachschaden dürfte beträchtlich sein. Mehrere Computer zerschmolzen, Videoeinrichtungen gingen hops. Hoffentlich sind die Jungs gut versichert.“

„ Eine warme Sanierung, das liegt doch auf der Hand. Wenn denen die Kohle ausgeht, fackeln sie ab.“

Zefhahn löste sich aus dem Gewimmel. Er ließ Kimrods Verdacht nicht gelten.

„ Nein, nein, das sind doch keine Bauern. Da steckt eher euer Mustafa dahinter. Was habt ihr denn erreicht?“

Zefhahn schob Kimrod auf den Gang hinaus. Die Luft wurde bedeutend besser. Bullrichs Zigarillos stanken bestialisch. Direktimport aus Weißrussland.

„Tja Chef, da war nicht viel. Der lässt sich nicht viel anmerken. Er sagte nur, dass der Tod seiner Schwester nicht ungesühnt bleiben würde. Sollen wir vorbei fahren und fragen, wo er die Nacht verbracht hat?“

„ Nein, da kommen wir nur vom Hundertsten ins Tausendste. Ihr konzentriert euch auf die beiden Mädchen. Da müssen wir möglichst bald auf eine Goldader stoßen oder wie man da sagt. Sie wissen jedenfalls, was ich meine. Unseren Kritikern den Wind aus den Segeln nehmen. Dann kommt alles andere von ganz allein. Konkret gesprochen heißt das Folgendes: Ihr knöpft euch jetzt sofort einen dieser Hakenkreuzler vor. Er heißt Sven Ohlins und wohnt in der Jungfernheide, Geitelsteig 30. Eine lange Latte von Vorstrafen. Körperverletzung, Landfriedensbruch, Bildung verfassungsfeindlicher Vereinigungen. Ein ganz übler Bursche. Dem wäre so ein Ritualmord ohne weiteres zuzutrauen. Er arbeitet im Flughafen. Wenn er nicht zu Hause ist, schnappt ihr ihn euch dort. Falls er kein Alibi hat, nehmt ihr ihn euch vor. Er hat noch Bewährung. Wenn er nicht kuscht, durch den Wolf drehen. Ich gebe euch volle Rückendeckung. Diese Bande ist lange genug mit Samthandschuhen angefasst worden. Remke hat alles in seinem Notebook. Und jetzt los, diese Kerle dürfen nicht mehr zur Ruhe kommen. Wäre doch gelacht, wenn wir mit denen nicht fertig werden.“

Zefhahn verschwand im Fahrstuhl. Wulke verlangte nach ihm. Ja, es brannte an allen Ecken und Enden. Die Stunde der Bewährung war gekommen. Kimrod schloss sich wieder seinen Kollegen an, die Maikovskys Vortrag über sich ergehen ließen. Dieser referierte inzwischen über die neuen Dienstfahrzeuge der Camos.

„ Zwanzig pechschwarze Audi Quattros. Keiner unter hundertfünfzig PS. Hinter den Sitzen Gewehrhalter für die Mossbergs. Sicherheitsverglasung rundum, schusssichere Reifen. Sie steigen jetzt verstärkt in den VIP-Transport ein. Vielleicht könnt ihr mich eines Tages auch im Fond von so ‘ner Karre vorfinden, nach meiner längst überfälligen Entdeckung.“

Endlich ging ihm die Luft aus. Wenn man ihn nicht ausreden ließ, brachte er es fertig, seinen Sermon über den Computer auf alle Schreibtische zu verteilen. Er war ein begnadeter Hacker und man tat deshalb gut daran, es nicht darauf ankommen zu lassen.

Kimrod und Remke zogen sich in ihr bescheidenes Domizil zurück, von allen treffend Besenkammer genannt, da sein Fassungsvermögen mit zwei Schreibtischen erschöpft war. Kimrod schenkte sich eine Tasse Kaffee ein und zündete sich eine Zigarette an. Das war wirklich mal eine erfreuliche Nachricht. Endlich bekam dieser Totsch sein Fett ab. Wenn dieser Mustafa auch mit drinsteckte, dann alle Achtung. Remke wusste seine gute Laune zu deuten.

„ Da grinst sich einer einen ab. Du bist mir ja wirklich ein feiner Polizist. Und wenn deinem Sohn was passiert wär? Komm, lass uns abhauen, sonst fällt diesem Komiker wieder was Neues ein.“

Er ließ es offen, ob er damit Maikovsky oder Zefhahn meinte.

Über Nacht war ein kalter Ostwind aufgekommen. Dichte Wolken verdrängten den Hochnebel. Sie erreichten die Wohnung von Ohlins um zehn Minuten nach acht. Vielleicht schlummerte der braune Dreckspatz noch im Nest. Kimrod machte sich keine großen Hoffnungen. Ein kleiner Schläger, der sich mit aufgeschnappten Parolen wichtig machte, mehr nicht.

Remke klingelte. Das war seine Domäne. Er würde auch nicht vor einer hochgezogenen Zugbrücke kapitulieren. Das Gebäude, ein schmaler, hoher Block, wirkte wenig einladend. Bei den permanenten Anwaltskosten und Geldstrafen war wohl nicht mehr drin. Anstatt des rauflustigen SA-Verschnitts erschien die Hausmeisterin. Sie baute sich stilgerecht mit Putzeimer und Lockenwicklern im Treppenhaus auf. Die Polizisten brauchten sich nicht vorzustellen.

„ Ich rieche euch fünf Kilometer gegen den Wind. Immer hacken sie auf dem Jungen herum. Dabei ist das ein anständiger Kerl, der dafür gerade steht, was er denkt. Und das schmeckt dieser Bagage nicht, diesem ganzen Zeugs, das unser schönes Deutschland ständig in den Dreck zieht. Sie können gleich wieder kehrt machen. Der Junge ist nicht da. Und ich werde mich hüten, ihm euch Bluthunde auf den Hals zu hetzen.“

„ Sie werden doch. Wir haben einen Durchsuchungsbefehl. Wir stellen die Hütte so lange auf den Kopf, bis er auf der Matte steht. Sie können Ihren Ruhestand glatt um zwei Jahre verschieben, so sieht‘s danach hier aus.“

Remkes Bluff zeigte Wirkung. Die Concierge ließ ihren Lappen auf die Fliesen klatschen.

„ Er ist im Park, am Wildgehege. Wenn er Spätschicht hat, macht er da immer seine Übungen. Ein großer Kerl. Kurze, braune Locken und breite Schultern mit diesen Tätowierungen drauf.“

„ Danke, wir kennen ihn. Wollen Sie ein Bild von ihm haben?“

Remke klappte vorfreudig seine elektronische Spickkladde auf. Die Hausmeisterin wich einen Schritt zurück.

„ Ich kenne den Jungen. Wehe Sie fassen ihn mir wieder an. Er ist doch noch ein halbes Kind.“

Remke bückte sich und drückte ihr den Putzlumpen in die Hand. Ihr mit Gold gespickter Mund öffnete sich immer weiter. Die Kommissare machten sich zu Fuß auf den Weg. Die Luft war seit langem endlich wieder erfrischend und bekömmlich.

„ Das bewundere ich an dir so, Otto. Du weißt unsere Institutionen immer mit Respekt zu behandeln. Bis auf Zefhahn vielleicht, aber das ist nur ein Schönheitsfehler“, bemerkte Kimrod.

„ Die deutsche Hausmeisterin waltet sein Generationen treu über den ihr anvertrauten Bereich. Unzählige Mieter hat sie an ihren großherzigen Busen gedrückt und vor den Unbilden der Straße bewahrt. Ihrer Umsicht und Fürsorglichkeit ist es zu verdanken, dass die Keimzelle unseres Volkes von Anfang an auf fruchtbarem Nährboden gedeihen kann.“

„ Schon gut, Herr Reichsherdbuchwart. Sven Ohlins, das ist doch kein deutscher Name. Hat er sich den zugelegt oder ist er ihm verliehen worden? Was sagt denn HASSSO dazu?“

„ Ach weißt du, heutzutage mit dem neuen Namensrecht kann doch jeder heißen wie er will. HASSSO hat übrigens ein paar hundert Namen ausgespuckt, allein unter der Rubrik rechts außen. Da wirst sogar du zum Opa drüber, bis die alle abgehakt sind. Und das alles mit vier Mann. Ich weiß nicht, wie sich das unsere Oberpfeife, wieder vorgestellt hat. Ohlins, unser Däne, soll Chef der Kampfgruppe Frundsberg sein. Kannst du damit was anfangen?“

„ Nein, das ist aber wahrscheinlich so alter Nazikram. Wir können ihn ja fragen“, schlug Kimrod vor.

 

Ohlins befand sich an dem von der Hausmeisterin angegebenen Platz. Er hing an einer Reckstange und machte Klimmzüge. Ohlins war nur mit einem Unterhemd und kurzen Hosen bekleidet. In der Tat ein kerniger Bursche. Seine Arme und Schultern waren reich bebildert. Panzer, Totenköpfe, Blutschwälle, Stacheldraht, Runen, ein wahres Schlachtfeld. Die Tätowierungen waren mehrfarbig und von hoher Qualität, keine billigen Knaststiche. Vor dem Turner wachte ein schwerer Molosser. Die Kriminalbeamten identifizierten ihr Opfer schon aus der Ferne. Remke brauchte keine Reproduktion auf dem Display abzurufen. Der Hund witterte die Gefahr instinktiv. Seine Nackenhaare sträubten sich und ein tiefes Grollen entwich seiner Kehle. Heute hatte auch Kimrod seine SIG eingesteckt. Eine Vorsichtsmaßnahme, die sich bereits bezahlt machte. Ohlins gab seinem vierbeinigen Bodyguard ein kurzes Kommando und winkte die sich vorsichtig nähernden Gestalten heran.

Schon wieder Staatsbesuch. Ohlins zog sich nach oben. Nur nicht aufregen. Zweiundzwanzig, dreiundzwanzig. Eichmann blieb misstrauisch. Wehe wenn die seinem Herrchen zu nahe kamen. Vierundzwanzig, fünfundzwanzig, einen noch, sechsundzwanzig. Ah, das tat gut. Ohlins löste seinen Griff und stellte sich neben Eichmann, der sprungbereit auf seinem Hinterteil Platz genommen hatte. So, jetzt konnten sie kommen. Der Hund bewies einmal mehr seinen Wert.

„ Los, mach schon, Otto. Darauf wartet der doch nur, dass wir uns wegen dem Köter bepinkeln“, sagte Kimrod mit gedämpfter Stimme und ging mit gutem Beispiel voran. Er näherte sich dem imposanten Duo bis auf ein halbes Dutzend Schritte.

„ Der tut nix, wenn ihr schön brav bleibt.“

Ohlins legte seine Hand auf Eichmanns imposanten Schädel und grinste frech. Remke zog seine Pistole und lud durch.

„ Platz Eichmann!“

Der Hund befolgte den Befehl seines Herrchens augenblicklich und legte sich auf den Bauch. Seine Augen folgten weiterhin jeder Bewegung der Störenfriede.

„ Wenn ihr auf meinen Hund schießt, erlebt Berlin noch heute einen Aufstand. Und euch beide verfüttere ich an die Wildschweine. Wenn sie Bullenfleisch überhaupt annehmen.“

Kimrod ging nicht auf die Provokation des Rechtsradikalen ein. Er überwand sich und trat dem Schläger direkt gegenüber, um ihm seinen Ausweis zu zeigen. Eichmann konzentrierte sich auf Remke, der so vorsichtig heranschlich, als ob er ein Minenfeld zu überqueren hätte. Seine Waffe hielt er schussbereit in der rechten Jackentasche verborgen. Ohlins überflog das Dokument kurz und nickte.

„ Sie sind Wolfs Vater. Freut mich, er ist ein guter Bekannter von mir. Was habt ihr denn auf dem Herzen? Mir wird schon langsam kalt, ich brauche Bewegung.“

„ Meinen Sohn lassen wir heute ausnahmsweise aus dem Spiel. Ich will nur eins wissen. Wo waren Sie in der Nacht von Freitag auf Samstag?“

„ Erst auf ein paar Bierchen in der Kneipe und dann zu Hause. Leider alleine, meine Freundin macht gerade Urlaub.“

„ In der JVA höchstwahrscheinlich!“

Auf Remkes Bemerkung reagierte nicht nur Ohlins verärgert. Auch Eichmann liftete seine fleischigen Lefzen. Dieser Mann mit der Hand in der Tasche wollte seinem Herrchen nichts Gutes, das war klar. Und er roch auch so komisch. Irgendein chemisches Zeug, das einem die Nase verbog.

„ Was ist das denn für eine Knallcharge? Euer Mann fürs Grobe? Bloß weil es bei ihm nur für eine aufblasbare Gespielin gereicht hat, glaubt er, meine Lebensgefährtin durch den Dreck ziehen zu dürfen. Ich muss mir so was nicht bieten lassen!“

Ohlins fing an, auf der Stelle zu laufen. Für ihn war das Gespräch beendet.

„ Warum wollen Sie eigentlich gar nicht wissen, weshalb wir Sie um diese kleine Auskunft gebeten haben? Gehört der Umgang mit der Polizei schon so zu Ihrem Alltag?“

Kimrod ahnte zwar, dass hier nichts mehr zu holen war, doch was blieb ihm schon anderes übrig. Solche Typen waren auch durch kein mehrstündiges Verhör einzuschüchtern. Entweder es kam gleich was oder es kam nichts.

„ Vielleicht ist am Wochenende eine Brücke in Hinterindien eingestürzt. Wir hatten da natürlich unsere Hände mit im Spiel. Soll ich das Geständnis gleich unterschreiben? Was weiß denn ich, was ihr uns andauernd anhängen wollt? Wahrscheinlich bald auch noch, dass wir nicht SPD wählen gehen“, antwortete Ohlins und drehte eine kleine Runde um die Polizisten herum. Eichmann blieb brav liegen.

„ Da könnt ihr schon recht haben. Viel trauere ich denen bestimmt nicht nach. Nicht nur weil sie türkisches Blut in sich haben. Aber alles zu seiner Zeit. Erst muss die Macht erobert werden. Dann kommt die Nacht der langen Messer. Wir haben Zeit. Ist aber schön, wenn sich so etwas von allein erledigt. Wie gesagt, ich war zu Hause. Fragen Sie nur Klärchen, die Hausmeisterin. Die hält rund um die Uhr Wache. Da schlüpft keiner durch.“

„ Lass dich doch von dieser Vorstadtvisage nicht verarschen. Wir werden seine Angaben genauestens überprüfen. Vielleicht langt‘s auch für einen Durchsuchungsbefehl. Dann kipp ich seinen ganzen Mist auf die Straße und gieße Benzin drüber. Und seinem Köter stecke ich eine Dynamitstange in den Arsch.“

Remke ließ seinen Worten Taten folgen. Er versetzte Ohlins einen mittelprächtigen Stoß vor die Brust. Ohlins wollte sofort zum Gegenschlag ausholen, doch Kimrod ging dazwischen. Remke war dem Hünen nicht ansatzweise gewachsen und würde bald seine Pistole einsetzen müssen. Das bedeutete nur einen Haufen Ärger und musste unbedingt verhindert werden, auch wenn diesem Dumpfmichel ein Denkzettel nicht geschadet hätte. Ohlins steckte schnell zurück.

„ Aber nur weil du Wolfs Vater bist. Erst dumme Fragen stellen und dann auch noch handgreiflich werden. Nur weil ihr wisst, dass ich noch Bewährung habe.“

Eichmann sprang kläffend um die Streitenden herum. Wenn ihm sein Herrchen doch nur erlaubte, an dem Handgemenge teilzunehmen. Ein kurzer Wink und diese Kameraden würden ihr blaues Wunder erleben.

„ So, Otto, das reicht schon. Wir verabschieden uns. Viel Spaß noch.“

Kimrod zerrte seinen Kollegen von Ohlins weg und achtete darauf, dass dessen Hand in der Tasche blieb. Ohlins setzte seine Boxübungen verbissen fort. Wieder einmal typisch, wegen zweier Kanakenschnallen Steuergeld verpulvern. Aber nicht mehr lange. Der Tag der Abrechnung nahte unaufhaltsam.

Erst als die Polizisten wieder auf der Straße angelangt waren, gab Kimrod Remke frei.

„ Nun lass doch! Ich bin doch kein Berserker, den man nur in der Zwangsjacke unter die Leute lassen darf. Schön langsam verstehe ich dich. Wenn sich die Camos mit diesem Gesindel einlassen, dann Gute Nacht“, schimpfte Remke weiter.

Sie gingen zurück zum Wagen und hielten eine Lagebesprechung ab.

„ Ein paar hundert Pappenheimer von rechts. Da muss es doch ein Raster geben, das man auf diesen Wust legen kann und dadurch neunzig Prozent wegfallen. Dieser HASSSO muss das doch draufhaben. Sonst wäre das keine Hilfe, sondern nur eine Arbeitserschwernis“, meinte Kimrod etwas verzweifelt.

Er hatte von diesen computergestützten Fahndungsmethoden nie viel gehalten. Schließlich wurden doch keine Viren, sondern Wesen aus Fleisch und Blut gejagt. Und einem Rechner auszudeutschen, was mit psychologischem Moment gemeint war, hatte noch niemand fertiggebracht.

Remke klappte den Datenträger auf und gab eine Zahlenkombination ein.

„ Der Schlüssel. Wenn das Ding einmal in falsche Hände gerät. Wird dreimal hintereinander der verkehrte Code eingetippt, ist Sense. Nur der Speicher bleibt erhalten, aber man kann nichts abrufen bis vom Fachmann ein neuer Code programmiert wird. Das Beste an dem Ding ist das hier.“

Remke zog eine Teleskopantenne aus dem Gehäuse und hielt sie aus dem Wagen.

„ Wenn es blinkt, sind Neuigkeiten unterwegs. Per Funk. Man ist damit also immer up to date. Was HASSSO erschnüffelt, bekommen wir postwendend nachgeschickt. Da nichts blinkt, ist auch nichts unterwegs. Wir müssen praktisch nie mehr zurück ins Präsidium.“

„ Das hört sich nicht schlecht an. Ich kann mit diesem Mäusekino jedoch nicht viel anfangen. Da bekommt man Kopfschmerzen allein vom Hinsehen. Kann man das nicht ausdrucken? Das wäre doch ganz was anderes als dieses Geflimmer.“

„ Na hör mal, das ist ein Hochleistungsmonitor mit was weiß ich wie vielen Millionen von Pixeln. Du brauchst wahrscheinlich eine Brille. Das Alter dazu hättest du ja. Drucken kann man nur zu Hause. Sonst könnte man das Ding schlecht überallhin mitnehmen. So weit sind die noch nicht. Also was ist, wollen wir Klärchen noch einmal interviewen? Ob dieser Idiot wirklich die Nacht im Bett verbracht hat?“

Kimrod schüttelte den Kopf.

„ Die stecken doch alle unter einer Decke. Wahrscheinlich darf ihm diese Vettel einmal im Monat den Schwanz abstauben und tut deshalb alles für ihn. So kommen wir nicht weiter. Am liebsten würde ich in die Zentrale zurück fahren und alles noch einmal durchackern. Mit meinem Gehirn als Sieb und nicht mit supraleitenden Windungen, die so viel anhäufen, dass man den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht.“

„ Das dauert aber, mein lieber Schwan. Ich will nicht mit leeren Händen heimkommen. Wo wir schon mal entronnen sind. Nein, ich habe eine Idee. Wir hüpfen einfach eine Sparte weiter...hier, prima, Olaf Bremser, Gorgasring siebzehn. Das ist hier gleich in der Nähe, Haselhorst.“

„ Und was haben wir bei dem zu erwarten? Auch ein Hakenkreuzler?“

„ Nein. Zweimal schwere Körperverletzung, einmal mit Todesfolge. Bekam acht Jahre und saß insgesamt zwölf. Exhibitionismus, Kinderpornographie, versuchte Vergewaltigung. Der hat schon alles durchprobiert. Vielleicht erwischen wir ihn dabei, wie er sich gerade von seinem Cockerspaniel einen blasen lässt.“

„ Wieso, hat er einen?“ hakte Kimrod amüsiert nach.

„ Einen Spaniel oder einen Wurmfortsatz? Nein, war nur ein Scherz. Ich wollte dich nur vorbereiten.“

„ Irgendwie kommt mir der Name auch bekannt vor. Wäre möglich, dass ich schon einmal das Vergnügen hatte. Aber den nehmen wir auf alle Fälle. Hat wohl schon öfters mit Nutten zu tun gehabt?“

„ Fast ausschließlich. Darum kam er immer so billig davon. Vielleicht ist er jetzt endgültig durchgeknallt und hat in der Grenzallee Nägel mit Köpfen gemacht.“

„ Na denn los.“

Kimrod schnallte sich an und startete. Wenig später stoppte er vor einem Kiosk in der Nonnendammallee. Remke stieg aus und besorgte die Taz und Proviant. Kimrod hatte ihn mit dem Erwerb des Blattes beauftragt, weil die Redaktion nicht vor hohen Tieren Halt machte und natürlich wegen der Zollner, die so unliebsam am Sonntag Morgen überrascht worden war.

Kimrod parkte auf einer Bushaltestelle und wurde prompt von einem BVG-Chauffeur angehupt, der auf seine älteren Rechte pochte. Und Remke tauchte einfach nicht wieder auf. Kimrod schlich ein paar Meter weiter. Der nachfolgende Verkehr war sehr dicht und staute sich augenblicklich hinter dem Hindernis. Lange würde er sich nicht halten können. Fast jeder, der sich vorbeigequetscht hatte, grüßte ihn mit eindeutigen Gesten. Endlich kam Remke um die Ecke gerannt. Wenigstens hatte er zwei Bier untergeklemmt. Das war zumindest eine Teilwiedergutmachung. Kimrod nahm den Fuß von der Kupplung, noch während Remke am Einsteigen war. Remke verlor eine Büchse.

„ Jetzt halt an, du Pistenschreck. Die werden dich schon nicht gleich einen Kopf kürzer machen. Wenn man keine Nerven dazu hat, sollte man nicht Auto fahren. Das schöne Bier“, jammerte Remke.

Kimrod ging kurz auf die Bremse. Remke ließ nun alles kurzerhand auf die Bodenwanne fallen und griff sich mit einer flinken Handbewegung die davonrollende Dose. Kimrod scherte überhastet ein und wäre beinahe von einem Mercedes gerammt worden, der gerade im Begriff war, vorbeizuziehen. Der Daimlerpilot blieb für mindestens zehn Sekunden auf seiner Doppelfanfare. Kimrod wurde tatsächlich etwas nervös und fand den ersten Gang nicht auf Anhieb, den er einlegen wollte, weil er erneut abgebremst hatte.

Remke stellte das richtige Übersetzungsverhältnis mit einem gekonnten Handkantenschlag her und drohte, die unter Druck stehende Bierbüchse im Wageninneren zu öffnen, wenn sie nicht schleunigst diesen Ort des Unglücks verließen. Doch Kimrod war schon wieder die Ruhe selbst. Er fuhr an und beachtete die Gestalt in der schwäbischen Nobelkarosse nicht weiter, die noch immer wild mit den Armen gestikulierte und inzwischen dunkelrot angelaufen war.

„ Na Gott sei Dank. Ich kam mir schon vor wie in der Fahrschule. Dabei wolltest du doch Rennfahrer werden“, sagte Remke und riss seine Dose auf. Nachdem er einen tüchtigen Schluck genommen hatte, schüttelte er die havarierte Büchse noch einmal und hielt sie Kimrod unter die Nase.

„ Was gibt es denn zu mampfen? Doch hoffentlich keine Fischsemmeln?“ äußerte der Kriminalhauptkommissar abweisend.

Kimrod konnte dieses Produkt deutscher Esskultur nicht ausstehen, weil er von seiner Frau mit Insiderberichten aus den Lebensmittelinstituten eingedeckt wurde. Wenn man zu genau wusste, was wo drin war, konnte einem schnell der Appetit vergehen. Nur schade, dass die Wissenschaftler so gut wie nie Alternativen anboten. Von irgendwas musste man sich schließlich ernähren. Das war auch Remkes Standpunkt. Er biss kraftvoll in sein Heringsbrötchen und verteilte dabei die anfallenden Brösel nicht ohne Vorsatz bis zum Armaturenbrett vor.

Punkt neun Uhr erreichten sie den Gorgasring. Sie machten die Adresse ausfindig und parkten. Remke ließ sein Fenster herunter und bat Kimrod um eine Zigarette.

„ Dein Bier dürfte sich inzwischen auch wieder beruhigt haben. Hier ist deine Wurstsemmel. Ich habe da übrigens eine nette Sendung gesehen neulich. Du weißt schon, die immer so Skandale aufdecken. Bei einer bekannten deutschen Firma haben die da Mäuschen gespielt, so mit versteckter Kamera. Uralte Rinderfüße, Häute, Sehnen, Fischmehl, abgestandene Marinaden, jede Menge Parasiten. Alles in einen Topf und Volldampf. Markenqualität aus deutschen Landen. Da ist sogar mir der Hunger vergangen.“

Kimrod öffnete die Dose ganz vorsichtig. Nur noch eine kleine Schaumkrone blubberte aus der Öffnung. Die Operation war gelungen. Er gab Remke die Lightsschachtel und nahm einen tiefen Schluck. Mann, das war gut. Kein Wunder, dass es so viele Alkoholiker gab.

„ Nun rück schon das Blättle raus. Wetten, dass mein Name fällt in einem der Berichte?“

Remke ging nicht auf den Vorschlag Kimrods ein. Er steckte sich eine Zigarette an und reichte seinem Chef wortlos die Zeitung rüber. So nannte er ihn zumindest immer, wenn Kimrod einen Bock geschossen hatte. Die Taz trumpfte mit einer Titelstory auf. Dieser Bremser lief ihnen nicht davon. Kimrod las laut vor: Überschrift:

Wer Gewalt sät.

Dieselben Instanzen, die sich heute heuchlerisch in den Mantel der Trauer hüllen, haben noch gestern vor einer Überfremdung der Gesellschaft gewarnt und zur Diffamierung von Minoritäten aufgerufen. Die zu erwartenden Stellungnahmen des Regierenden Bürgermeisters und seines Innensenators können vor so viel falschem Mitleid triefen wie sie wollen. Wer ihre Äußerungen zu den jüngsten Unruhen im August im Gedächtnis behalten hat, weiß woher der Wind weht. Wer der Ghettobildung den Weg bereitet und die ausländischen Mitbürger vom öffentlichen Leben ausschließt, braucht sich nicht zu wundern, wenn auf den Straßen Blut fließt und bürgerkriegsähnliche Zustände herrschen. Die Abscheu erregende Doppelzüngigkeit der Kollegen von der Boulevardpresse muss in diesem Zusammenhang nicht eigens erwähnt werden. Monotone, auf die niedrigsten Instinkte abzielende Propaganda, ruft Elemente auf den Plan, die am besten hinter dicken Anstaltsmauern aufgehoben wären. Der Terror hat Dimensionen angenommen, die vielleicht nur noch mit den Verhältnissen im Hakenkreuzdeutschland vergleichbar sind. Das abgetrennte Haupt eines bedauernswerten Geschöpfes wird dazu benutzt, eine Kämpferin für Freiheit und volksnahe Demokratie mundtot zu machen. Wir lassen uns aber nicht einmal mit solchen Mitteln an der Ausübung unseres Berufes hindern. Die Pressefreiheit ist in einem Staat, den die beiden Mammutparteien monopolartig beherrschen, unverzichtbarer denn je. Jetzt erst recht...

 

Remke flüchtete ins Freie. Der brachte es fertig, den ganzen Sermon herunterzubeten. Remke ließ den Blick über die tristen Häuserzeilen schweifen. Zweistöckige Reihenhäuser in Fertigbetonbauweise. Jedes Abteil vielleicht vier Meter breit. Sporadisch eingestreutes Grün in Form kümmernder Koniferen. Sogar die robusten Weißdornbüsche schafften es nicht über ihr Bonsaimaß hinauszuwachsen. Bei dem gelblichen Schutt kein Wunder, in den die Pflanzen ihre Wurzeln treiben mussten. Die ganze Gegend wirkte lebensfeindlich, marode, obwohl die Gebäude bestimmt noch keine zehn Jahren zählten. War da nicht doch etwas dran, dass kranke Verhältnisse kranke Charaktere produzierten? Ein Schwein wie Bremser nur ein Opfer seiner Umwelt? Nein, man musste sich auch zusammenreißen können. Irgendeine Ausrede ließ sich sonst fast immer finden.

Remke drückte den Klingelknopf. Kimrod genoss inzwischen seine Lektüre. Auf der dritten Seite fand sich ein schönes Foto von Günter Loschmitz, dem Oppositionsführer im Abgeordnetenhaus und Aspiranten auf den Sessel des Regierenden. Hand in Hand mit Kai Dorn, dem berühmt berüchtigten Halbweltkönig. Aufgenommen in einem von Dorns Läden. Loschmitz war zwar laut Presseberichten glücklich verheiratet, doch er tauchte des Öfteren ins Milieu ab, um sich ganze Wochenende zu besaufen und mit den Kiezgrößen zu renommieren. Seiner Popularität tat das keinen Abbruch. Ein leutseliger Volksvertreter, der Manns genug war, auch auf diesem Parkett zu bestehen. Wer sich nur mit Bachkantaten vergnügte, war suspekt und wusste nichts von den Sorgen des kleinen Mannes.

In dem Artikel wurde die Verflechtung von Politik und organisierter Kriminalität angedeutet. Sehr gut auf jeden Fall, dass auch die Sozis mit drin steckten. Vielleicht hatte der joviale SPD-Kapitän auch schon auf der Matratze mit den beiden Mordopfern Bekanntschaft gemacht. Ein entgleister Herrenabend, warum nicht? Bei den Genossen schien das ja gang und gäbe zu sein. Hatte ihm nicht auch Emma vorgeschlagen, eine anerkannte Samentherapeutin zu konsultieren? Das konnte in der Tat lustig werden. Ingrid durch Stähler, Wolf durch Totsch, Emma über Loschmitz und er selbst mit der Soko. Die ganze Familie in einem Boot und mittendrin in einem brisanten Kriminalfall. Manchmal passte aber auch alles. Aber dieser Loschmitz war die Prise, die die Suppe wieder schmackhaft machte. Vielleicht konnte man auch einmal so einen Zwölfender erlegen und in die Trophäensammlung einreihen.

Remke kam zurück. Er schnippte seine Kippe in den Rinnstein und öffnete die Tür.

„ Fehlanzeige. Der Bruder hat sich verdünnisiert. Seine Alte hat keine Ahnung, wann er wiederkommt.“

„ Wir warten“, antwortete Kimrod knapp.

Remke begann, draußen auf und ab zu gehen. Kimrod las weiter. Um zwanzig nach neun kam eine Gestalt im fleckigen Jogginganzug anmarschiert. Er zog einen Handwagen hinter sich her, in dem sich ein Kasten Bier und zwei Kanten Toastbrot befanden. Remke nahm ihn in Empfang.

„ Na Meister, gibt‘ s wieder Nachschub? Hauptsache, es schmeckt noch.“

Er zeigte dem Verblüfften seine Polizeimarke auf fragte, ob er für die Nacht von Freitag auf Samstag ein Alibi habe. Bremser begann, etwas nervös zu werden.

„ Woher kennen Sie mich überhaupt? Ich meine, ich bin doch nicht bei allen Bullen...“

Remke legte sich warnend den Zeigefinger auf den Mund.

„ Ich habe bereits mit Ihrer Bekannten... nein, nur ein paar Worte gewechselt. Sie sagte mir, dass Sie beim Einkaufen wären. Ihr Alibi hat sie auch bestätigt. Ich will es nur noch einmal von Ihnen hören. Also?“

Bremser nahm wieder etwas Farbe an.

„ Ich war zu Hause. Meine Frau kann es bestätigen. Ich war schon seit zwei Jahren in keiner Kneipe mehr. Wenn ich lüge, soll mir die Hand abfaulen.“

Remke musterte schelmisch seine vergilbten Finger, die vom Halten des Handwagens noch leicht verkrümmt waren.

„ Viel geht nicht ab, aber jetzt brauchst du nicht mehr deine Tentakel bemühen, wenn Not am Mann ist. So eine Muschi hat schon was für sich, auch wenn sie in so einem Gestell wie bei deiner Alten eingebaut ist.“

Kimrod drückte auf die Hupe. Er war der Unterhaltung mit einem Ohr durch sein geöffnetes Fenster gefolgt. Remke überspannte den Bogen wieder mal ein bisschen.

„ Na gut, Meister. Für heute lassen wir es gut sein. Aber wir behalten dich im Auge. Viel Spaß noch“, sagte Remke zum Abschied.

Er konnte der Versuchung nicht widerstehen und griff sich eine Flasche Bier aus dem Träger. Bremser senkte den Kopf und zog den Wagen vor die Haustür. Alles runterschlucken, auf nichts einlassen. Er hatte seine Lektion zweifellos gelernt.

Remke nahm das Notebook aus seiner Tasche und tippte ein paar Bemerkungen ein. Kandidat zwo erledigt. Über Funk gab‘s auch keine Neuigkeiten. Jetzt war wieder der Chef am Zug. Remke stieg ein und präsentierte stolz die Konterbande.

„ Sonst säuft mir der zu viel. So was zementiert doch alte Freundschaften. Die ehemaligen Gegner trinken aus demselben Pott. Schwamm drüber, Genosse. Trink.“

Kimrod hatte zwar seine Dose noch nicht leer, aber er nahm trotzdem einen Schluck. Süffiges Pils, von Bier schien Bremser etwas zu verstehen. Von Polizeiarbeit weniger, sonst hätte er sich von Remke nicht so einschüchtern lassen. Das gehörte mit zum Spiel. Ein paar Tiefschläge anbringen und die Reaktionen des Probanden abwarten. Manchmal kam etwas dabei heraus, manchmal auch nicht. Bremser hatte im Knast nur kuschen gelernt. Diese Staatsfritzen saßen immer am längeren Hebel. Wenn der wüsste. Ein guter Anwalt konnte ein Anklage abbiegen, nur weil sich die ermittelnden Beamten unkorrekt verhalten hatten. Man musste vorsichtig sein. Die Presse stürzte sich ebenfalls mit Vorliebe auf zu grob vorgehende Polizisten.

Dieser Ohlins schien da besser informiert zu sein. Er hätte Remke glatt vermöbelt, weil er ihm dumm gekommen war. Nicht vorzustellen, wenn ihm Remke eine Kugel ins Knie verpasst hätte. Man musste dem Guten Zügel anlegen.

„ Otto, bei aller Liebe, du darfst nicht so rangehen. Erst die Keilerei mit diesem Rabauken, jetzt die Attacken unter die Gürtellinie bei diesem Schwachkopf. Ab und zu mag das die richtige Taktik sein, und, nebenbei gesagt, mich kotzen diese Typen genauso an, doch ich habe keine Lust jede Befragung mit entsicherter Maschinenpistole vorzunehmen, weil du die Kunden mit Beleidigungen bis zur Weißglut reizt. Ein bisschen mehr piano bitte. Ruhig mal ab und zu eine vor den Latz knallen, aber auch zurückhalten, wenn es die Lage erfordert.“

„ Ich bin ein paar Jährchen länger im Geschäft wie du. Auch wenn du einen höheren Rang hast, ich weiß sehr genau was ich tue und ich werde meine Methoden bestimmt nicht mehr ändern. Einmal hü, dann wieder hott. Mach ihn fertig, aber nicht zu flott. Da soll sich noch einer auskennen. Soll ich den Nächsten rauspicken?“ fragte Remke unwirsch und klappte das Notebook auf.

Kimrod schaltete das Radio ein. Es war gleich halb. Zeit für die Kurznachrichten.

„ Lass deinen Gameboy nur mal stecken. Nur immer das präsentiert zu bekommen, was dieser HASSSO hervorgewürgt hat, geht mir gegen den Strich. Irgendwer muss das Zeug auch eingeben. Das ist auch eine Art Zensur. Und das ist das Letzte, was wir gebrauchen können. Wäre nicht zum ersten Mal, dass uns die Redakteure um eine Nasenlänge voraus sind“, sagte Kimrod.

Remke steckte den elektronischen Gehilfen wieder weg. Na gut, dann eben nur noch Dienst nach Vorschrift. Den Anweisungen der höheren Dienstgrade ist immer Folge zu leisten, Eigenmächtigkeiten sind zu unterlassen. Das konnte er haben. Die Nachrichtenfanfare ertönte. Kimrod hatte den richtigen Sender erwischt.

„ Soeben wurde gemeldet, dass in den Räumen des Sicherheitsunternehmens, die heute Morgen teilweise durch einen Anschlag verwüstet worden sind, ein Bekennerschreiben der Toten Brigaden aufgefunden wurde. Der Brief befand sich in einem feuerfesten Stahlzylinder und entging dadurch der Vernichtungskraft der Feuersbrunst, die erst durch den Einsatz mehrerer Löschfahrzeuge eingedämmt werden konnte. Die Toten Brigaden waren zuletzt vor achtzehn Monaten in Erscheinung getreten, als sie vergeblich versuchten, den Industriellensohn Horst Köplich zu entführen. Nach dem Scheitern dieses Verbrechens war man von einer entscheidenden Schwächung der Terrororganisationen ausgegangen, da zwei zum Führungskader gehörende Bandenmitglieder durch den heldenhaften Einsatz der Grenzschutzsondertruppe GSG 9 überwältigt und verhaftet werden konnten. Über den Inhalt des Schreibens ist zur Zeit der Ausstrahlung noch nichts bekannt. In Tokio fragten gestern...“

Kimrod schaltete das Gerät ab.

„ Gut, jetzt kann es losgehen. Ich weiß, warum die Brigaden gegen Totsch losgeschlagen haben.“

Remke zeigte sich nicht überrascht von dieser Erklärung seines Kollegen.

„ Und, wer weiß das nicht? Die Linken bezeichnen Totsch als Hakenkreuzler, der eine Gefahr für die Demokratie ist. Ist doch nicht zum ersten Mal, dass es deswegen zu Auseinandersetzungen gekommen ist.“

„ Aber nicht von Seiten der Brigaden. Claudia Luper hatte einen Freund, der die Brigaden unterstützte. Habe ich dir davon nicht schon gestern erzählt?“

„ Nicht dass ich wüsste. Wir waren nur schnell bei diesem Mustafa. Du hast mir nur von den Camos am Teufelsberg erzählt, glaube ich zumindest. Woher hast du denn diese Neuigkeiten?“

„ Von Ingrid. Claudia soll das Stähler offenbart haben, bei einer Art Beichte. Sieh mal nach, ob das dein HASSSO auch intus hat?“

„ Da brauche ich nicht nachzusehen. Ich habe doch heute Morgen noch mal alles überprüft. Von Toten Brigaden keine Spur.“

Kimrod fuhr los. Die verwüsteten Büros interessierten ihn sowieso. Jetzt hatte er einen Grund dafür, sich zum Schauplatz des Attentats zu begeben.

„ Terroristen et cetera, das läuft über das BKA und den Verfassungsschutz. Die wollen sich nicht gerne in die Karten schauen lassen und hüten eifersüchtig ihre Geheimnisse. Da beißt sich sogar dein HASSO die Zähne aus.“

„ Mein HASSSO? Als ob ich den Quark erfunden hätte. Aber eins musst du mir noch erklären. Warum bekommt Totsch die Bomben ab? Er hat doch die Mädchen nicht ermordet.“

„ Bist du sicher? Jetzt ist alles möglich.“

Remke nahm einen tiefen Schluck und tippte sich unauffällig an die Stirn. Manchmal konnte er seinem Juniorpartner wirklich nicht mehr folgen.

Kimrod gab Gas. Er wollte möglichst schnell den Stadtring erreichen. Wie hieß doch die alte Bauernregel: Der Täter kehrt fast immer zum Tatort zurück. Er hätte sich gleich auf seine Nase verlassen sollen, die ihm sagte, dass die Prostituiertenmorde nur die Spitze des Eisbergs waren und ein Paukenschlag dem nächsten folgen würde. Dieses sture Vorgehen nach Schema F war Zeitverschwendung. Nur wer flexibel auf die veränderten Umstände reagierte, konnte am Ball bleiben und Licht ins Dunkel bringen.

Kimrods Eile war umsonst. Kurz nachdem sie in den Stadtring eingebogen waren, blockierte ein endloser Militärkonvoi die Fahrspuren. Ein MAN-Dreiachser hinter dem anderen. Ungefähr nach jedem zehnten Lastwagen gepanzerte Manschaftstransportfahrzeuge. Eine ganze Division schien verlegt zu werden. An ein Überholen der olivgrünen Trucks war nicht zu denken, da sich die Allradlaster untereinander Wettrennen lieferten und ohne Vorwarnung auf die linke Spur ausscherten. Immer wieder kam es zu abrupten Stopps. Man konnte dann einen Blick auf die aufgesessenen Infanteristen erhaschen, die schwer bewaffnet und vermummt auf den Planen verblendeten Ladeflächen kauerten. Remke glaubte mehrmals, asiatische Gesichtszüge ausmachen zu können. Diese Möglichkeit war gar nicht so abwegig. Die deutsche Armee kooperierte sehr eng mit den russischen Streitkräften. Gemeinsame Manöver, Technologietransfer, Bereitstellung von Übungsplätzen in den Weiten der russischen Steppe. Manche wollten auch von deutschen Atomraketen wissen, die man für harte Devisen von der Regierung in Moskau erworben hatte. Doch das waren nur Gerüchte.

Die Ausbeutung und Nutzbarkeitmachung der sibirischen Bodenschätze und Landschaften war eine Herausforderung, die die Kräfte des russischen Bären noch immer überstieg. Deutsche Ingenieurkunst gepaart mit der Zähigkeit der Russen. Das war die Kombination, die, natürlich neben dem erforderlichen Kapitaleinsatz, den Erfolg der Operation ermöglichen sollte. Doch die Konkurrenz war groß. Es galt, die nordamerikanischen Bergbaukonzerne und die finanzstarke chinesische Schwerindustrie auszustechen. Dass die dazu getroffenen Vereinbarungen zwischen Berlin und Moskau weit über das rein Wirtschaftliche hinauszielten, wurde allgemein angenommen. Es war von einer Restauration des alten Sowjetimperiums die Rede, die von einem außenpolitisch wiedererstarkten Deutschland toleriert und durch den Einsatz von Bundeswehreinheiten in Zentralasien gefördert werden sollte.

Man hatte die Lehren der Vergangenheit noch nicht vergessen. In Afghanistan war die Tüchtigkeit der islamischen Kämpfer nachdrücklich unter Beweis gestellt worden, doch eine neue Generation tatendurstiger deutscher Offiziere scheute auch vor risikoreichen Unternehmungen nicht zurück und brannte darauf, ihre Fähigkeiten zu erproben ohne von kleinkarierten Zivilisten gegängelt zu werden, wie es oft genug bei Blauhelmaktionen der Fall war. Fand heute schon die Generalprobe statt, mitten in Berlin?

 

Kimrod unterließ jegliche Tempovorstöße und nahm das Gekrieche gleichmütig hin. Schließlich hatten sie es doch noch geschafft. Gerade als sie erleichtert in die Ausfahrt einscherten, preschte ein Volkswagenpickup der Camos an ihnen vorbei. Der Wagen war schwarzweiß im Zebradesign lackiert. Drei mit Schrotflinten behängte Männer standen hinter der Kabine auf der offenen Pritsche und hielten sich lässig an dem Überrollbügel fest. Sie waren anscheinend auch in Richtung Hauptquartier unterwegs. Kimrod versuchte sich dranzuhängen, doch der Pickup wurde zu halsbrecherisch pilotiert. Das war die Sache nicht wert. Kimrod befestigte seine Kojaklampe auf dem Dach und klebte das Polizeischild hinter die Scheibe.

„ So bekommen wir wenigstens einen Parkplatz. Jetzt ist es gleich zehn. Wenn wir einen Umweg gemacht hätten, wären wir auch nicht schneller gewesen. Ich schau mal, ob ich mich hier irgendwie dazwischen schummeln kann. Da vorne links geht‘s zur Dahlmannstraße weg. Zur Not kann ich dahinein ausweichen.“

Kimrod ordnete sich ein und bog ab. Nur noch ein kleiner Vorplatz auf dem Trottoir war mit Plastikbändern abgesperrt. Kimrod fuhr ein Stück in die Sperrfläche hinein und wartete kurz ab, ob sein Verhalten beanstandet wurde. Als dies nicht der Fall war, folgte er Remke, der gerade versuchte, sich Zutritt in den Bürokomplex zu verschaffen. Von der Polizei war nichts mehr zu sehen. Die Camos schienen die Aufklärung selber in die Hand genommen zu haben. Zwei mit Schlagstöcken ausgerüstete Camos hatten sich vor den zerborstenen Glastüren postiert. Sie waren instruiert, niemanden ohne Sonderausweis einzulassen. Remke gab auf. Im ersten Stock, wo die Detonation augenscheinlich erfolgt war, drang noch immer etwas Qualm aus den zerstörten Fenstern, die von Rußschwaden umrahmt wurden. Kimrod registrierte das Ausmaß der Schäden mit unverhohlener Befriedigung. Er zündete sich eine Zigarette an und grinste.

„ Ein bisschen könntest du dich schon zusammenreißen. Wenn uns hier jemand sieht...zwei Beamte, die sich vor Lachen auf die Schenkel klopfen. Auch wenn dieser Totsch nicht gerade dein Freund ist. Wen haben wir denn da...“, sagte Remke und schüttelte dem kräftig gebauten Camo die Hand, der aus dem Hauptquartier marschiert kam.

„ Wolf, mein Junge. Ich hoffte schon, dich hier zu treffen. Na, jetzt hat er schon eine Wumme am Gürtel.“

Kimrod registrierte den Holster an der Hüfte seines Sohnes mit Unbehagen. Emma hatte ihm doch gesagt, dass er erst den Schein machen müsste. Egal, ändern würde das auch nichts mehr. Einen Hauch von Krieg hatte er auf jeden Fall schon mitbekommen. Kimrod gab seinem Sohn ebenfalls die Hand.

„ Kommt mit, Kinder, dort um die Ecke ist ein kleines Café. Irgendwie habe ich plötzlich Appetit auf was Süßes. Ich lade euch natürlich ein.“

Wolf konnte sich nicht recht entschließen.

„ Ich hab eigentlich gar keine Zeit. Dort oben kohlt noch alles vor sich hin. Wenigstens bekommen wir jetzt eine neue Einrichtung. Auf eine Tasse aber nur.“

Das Stehcafe in der Dahlmannstraße war nett und gemütlich. Die Getränke gab es aus dem Automaten, das Gebäck an der Theke. Remke lud sich zwei speckige Quarktaschen auf. So eine Gelegenheit kam nicht alle Tage. Der Rentner in spe scheute sich fast, an ihr rundes Tischchen zurückzukehren, weil Vater und Sohn so idyllisch nebeneinander standen.

„ Wie aus dem Poesiealbum. Der Filius kehrt nach Jahren der Emigration in den trauten Schoß der Familie zurück. Schade, dass ich keine Kamera dabei habe“, sagte Remke und schob seinen Kostenabschnitt unauffällig auf Kimrods Tablett.

„ Und der Hausfreund präsentiert die Rechnung. Außerdem sind wir allenfalls eine Rumpffamilie. Die Hauptaktionäre fehlen. Ich zahle am besten sofort. Nachher wird‘s mir zu viel“, erwiderte Kimrod.

Er stellte sich an der Kasse an und überlegte, inwieweit ihm Wolf weiterhelfen könnte. Dieser Stahlzylinder zum Beispiel. Warum ging der Brief nicht wie üblich bei einer Agentur oder Redaktion ein? Kimrod beglich den Betrag und ließ sich eine Quittung geben. Wer klatschen will, muss zahlen.

Wolf ließ sich gerade über die Vorteile seiner Jacke aus, die schwer entflammbar war und einen gewissen Schutz gegen Messerstiche bot.

„ Außerdem ist es unser unverwechselbares Kennzeichen. Da weiß jeder, wie er dran ist.“

„ Zweifellos.“

Kimrod tippte auf den Holster.

„ Muss das sein, hier drin, vor allen Leuten?“

„ Du hast deine auch um“, sagte Wolf und griff seinem Vater mit der Fertigkeit des Insiders unter die Achsel. Oder willst du meinen neuen Waffenschein sehen?“

Kimrod verneinte. Da war sowieso nichts mehr zu retten.

„ Wir sind eigentlich wegen etwas anderem hier. Zwei Callgirls wurden ermordet.“

Wolf nickte verstehend. Er hatte von der Sache flüchtig gehört.

„ Eine von ihnen hatte einen Freund, der die Toten Brigaden unterstützte oder mit ihnen sympathisierte. Deshalb sind wir hier. Diese Information kommt von deiner Schwester, die der Reverend auf den Plan gerufen hat. Sie soll die Morde aufklären, weil Claudia Luper ein Gemeindemitglied war. Der Reverend lässt niemand ihm Stich, auch im Jenseits nicht. Ingrid darf da nicht mit hineingezogen werden. Hier wird mit harten Bandagen gekämpft. Mit dem Gebetbuch kann man keine schwerbewaffneten Terroristen zur Strecke bringen“, sagte Kimrod mit Nachdruck.

Wolf stellte seine Tasse energisch auf den Tisch. Als Waffenführer hatte er einen strammen Sprung nach oben gemacht in der Hierarchie der Truppe. Totsch vertraute ihm, sonst hätte er ihn nicht für die Prüfung zugelassen. Dieses Vertrauen galt es zu rechtfertigen, bei Bedarf auch mit unnachgiebiger Härte. Sein Vater wollte ihn ausquetschen, so viel war klar. Erich Totsch, der ihm vor zwei Wochen auf einer Kameradschaftsfeier das Du angeboten hatte, wollte unbedingt vermeiden, dass ohne vorherige Rücksprache mit ihm etwas nach draußen dringen sollte. Interviews waren vorher abzusprechen und neugierige Fragen zu streichen. Strengste Bestrafung bei Zuwiderhandlung. Das bedeutete meistens Degradierung und Ausschluss. Und das war das Schlimmste, was einem echten Camo passieren konnte. Da durfte man auch auf keine Familienbande Rücksicht nehmen.

„ Du glaubst also auch, dass die Brigaden in die Prostituiertenmorde verwickelt sind?“ fragte Kimrod seinen Sohn, der nervös an den Knauf seines Revolvers tippte.

„ Ach, diese Nutten sind mir eigentlich egal. Das fällt nicht in meinen Aufgabenbereich. Aber Ingrid soll sich auf alle Fälle raushalten. Ich glaube, ich muss jetzt wieder. Wir ersticken wirklich in Arbeit momentan“, antwortete Wolf.

„ Eine Frage noch. Was stand in dem Bekennerbrief?“

Kimrod legte seinem Sohn die Hand auf den Unterarm. Warum war der nur so nervös? Plötzlich straffte sich Wolfs Haltung. Totsch kam durch die Tür spaziert. Ein schmaler, feingliedriger Mann, vielleicht Ende vierzig. Oder aber auch zehn Jahre jünger. Bei diesen Sportlernaturen konnte man das nie so genau sagen. Glänzend schwarze, akkurat gescheitelte Haare und ein eher durchschnittlicher Gesichtsausdruck. Das sollte der berüchtigte Camochef sein, der sein Handwerk beim französischem Geheimdienst gelernt hatte, unbestätigten Gerüchten zufolge?

Kimrod kannte seine Physiognomie nur aus der Zeitung. Er hatte da immer viel brutaler und rücksichtsloser gewirkt. Nun, in der Realität, fast die Züge eines Poeten. Wie man sich täuschen konnte. Totsch stellte sich vor und schüttelte beiden Polizisten eigentümlich die Hände. Seine Finger arbeiteten sich vor bis ans Handgelenk und versuchten dort, die schmalste Stelle des Unterarms zu umschließen. Das ging besonders bei Remke daneben, dessen fleischige Extremitäten zu voluminös für derartige Liebkosungen waren. Wolf brachte ihm unaufgefordert einen Espresso.

„ Zum Wohl, die Herren.“

Totsch nahm nach diesem Trinkspruch sein Tässchen mit spitzen Fingern auf und nippte ein wenig an seinem Gebräu. Fast etwas affektiert, wie bei einer Tunte. Kimrods Lippen kräuselten sich unwirklich. Ältere Herren, die sich gerne mit Knaben umgaben, waren immer gewissen Verdächtigungen ausgesetzt. Der Eindruck konnte aber auch täuschen. Vielleicht war er zu voreingenommen. Das hieße, dass Wolf vielleicht zu den Erwählten gehörte, die dem Meister nach Dienstschluss zu Willen sein mussten, oder durften. Nein, das war unfair. Dann konnte man jeden Fußballtrainer an den Pranger stellen.

„ Was führt Sie eigentlich her? Ich dachte, die Kollegen wären fertig“, sagte Totsch und zündete sich eine Zigarette an, die er einem vergoldeten Etui entnommen hatte. Kimrod, dem er das protzige Behältnis etwas herablassend unter die Nase hielt, griff zu und steckte sich das Luxusstäbchen an, obwohl noch eine von seinen Lights im Aschenbecher glimmte. Remke kannte die Marke. Das war nur etwas für Schauspieler. Viel zu stark parfümiert. Kimrod erklärte Totsch, warum sie hier waren.

„ Ach, und jetzt wollen Sie wissen, was uns diese Scheißer geschrieben haben. Das konnte Ihr Sohn nicht wissen. Ich wollte nicht, dass zu viele eingeweiht werden. Aber es war eigentlich gar nichts Besonderes, der übliche Stuss. Militärisch-industrieller Block, Unterstützung durch faschistoide Elemente, Kampf muss wieder aufgenommen werden. Von Ihrer Luper keine Spur, tut mir leid. Ihr Chef, dieser Zefhahn, ist gerade eben abgedampft. Hat Sie der nicht informiert?“ fragte Totsch mit säuselnder Stimme.

Er blies den Rauch aus seiner Nase und fuhr geschäftig mit der Zunge im Mund hin und her.

„ Nein, da haben wir uns wohl um ein paar Minuten verpasst. Sie kennen das, Leerlauf in deutschen Amtsstuben“, antwortete Kimrod.

Totsch nickte verstehend. Der Mann schien Mutterwitz zu haben. Kein Wunder, bei dem vielversprechenden Sohn.

„ Hier, meine Karte. Wenn Sie sich mal verändern wollen. Wir können tüchtige Leute immer gebrauchen. Nichts ist durch Erfahrung zu ersetzen.“

Totsch warf seine Visitenkarte auf Kimrods Tablett und verabschiedete sich. Wolf wollte sich gleich anschließen, doch sein Vater hatte noch ein Anliegen.

„ Rede deiner Schwester noch einmal ins Gewissen. Unter Geschwistern geht das oft leichter. In mir sieht sie nur den Bullen, der sie bevormunden will.“

„ Mache ich, Vater. Ich sehe das genauso. Übrigens gut, dass du mich aufgehalten hast. Hier sind zwei Karten für das Montagsmassaker. Du weißt schon, Catchen, ab zwanzig Uhr in der Deutschlandhalle. Heute gibt es einen Bungeefight. Ich kann leider nicht wegen dieser Sache hier. Wir rechnen natürlich damit, dass noch weitere Anschläge verübt werden. Auf Gebäude, zum Beispiel, die von uns überwacht werden. Und das sind nicht wenige. Viel Spaß beim Massaker.“

Wolf verließ eilig das Café. Totsch schien ihm beigebracht zu haben, was Pflichterfüllung bedeutete.

„ Jetzt weiß ich auch, warum man sagt, dass man seine Idole besser in der Vitrine verstauben lässt. Bei Licht besehen, bröckelt der Glanz“, meinte Remke desillusioniert und untersuchte die Karten.

„ WCW, Wrestling der Superlative. Montagsmassaker in der Deutschlandhalle. Main Event,12.10, Bungeefight. Kannst du damit was anfangen?“ fragte Kimrod und fischte ein zweites von Totschs Räucherstäbchen aus der Handfläche. Remke pfiff anerkennend.

„ Und das will ein Sicherheitsexperte sein. Oder hat er deswegen so säuerlich gegrinst, weil er einen Kripomann beim Stehlen erwischt hat?“

„ Was heißt schon stehlen? Ich wollte ihn nur auf die Probe stellen. Ich bin mir sicher, dass er nichts gemerkt hat. Hast du sein Parfüm gerochen? Also ich brauche jetzt noch einen Kaffee. Da geht man ja die Wände hoch.“

Kimrod füllte seine Tasse und erstand noch eine Nussecke. Er konnte es sich leisten, da er eher zu wenig als zu viel wog. Remke bearbeitete schon wieder seine Chipdatei. Kimrod hatte ihm auch noch einen Kaffee mitgebracht. Die Spesenfritzen wurden nur bei besonders kleinen Beträgen stutzig. Wenn man ordentlich auf den Putz haute, kam man mit seinem Antrag viel eher durch. Arbeitsessen mit Totsch, das hörte sich doch nicht schlecht an.

„ Ah, vielen Dank. Wie geht‘s jetzt weiter?“ fragte Remke und schielte auf Kimrods Gebäck.

„ Deinen automatischen Detektiv kannst du für heute wegpacken. Oder sind Neuigkeiten eingetroffen?“ sagte Kimrod.

Remke schüttelte den Kopf. Nur einen Happen, das konnte er ihm doch nicht ausschlagen. Kimrod teilte die Ecke und steckte sie Remke in den Mund.

„ Sonst noch einen Wunsch? Schlimmer wie ein Säugling. Also, jetzt lass ich mal meine Schaltungen krachen. Hier schräg gegenüber ist doch die Landesvertretung des Deutschen Blocks für Berlin. Diesen feinen Herren werde ich auf die Finger klopfen. Die sind jetzt bestimmt über jeden Polizisten froh, der sie vor den bösen Terroristen schützt. Anschließend statten wir der Charité einen Besuch ab. Ich würde mir die Leichen gerne persönlich anschauen.“

Remke schluckte. ,

„ Jetzt haben sich meine Gedärme verknotet. Ist das wirklich notwendig?“

„ Ich denke schon. Es ist immer von Vorteil, wenn man sich vor Ort informieren kann. Vielleicht hat der Doktor etwas gefunden, was ihm zu unwichtig erschien, um in seinem Befund erwähnt zu werden. Aber lass dir ruhig Zeit. Es läuft uns nichts davon.“

Remke nickte und legte seinen linken Arm auf den Tisch. Er zog ganz langsam den Ärmel seiner Jacke zurück.

„ Jetzt weiß ich, warum mich Totsch so komisch angefasst hat. Meine Uhr ist weg.“

Kimrod war nicht sonderlich überrascht. Diese Prominenten hatten fast immer irgendwelche Marotten. Remke grinste und zog seine Swatch aus der Hosentasche.

„ Reingefallen. Dem traust du wohl alles zu. Aber warum zum Teufel gibt dir einer so verdreht die Flosse?“

„ Wahrscheinlich hat es ihm sein Imageberater empfohlen. Wichtiger erscheint mir, dass die Camos die Bombe nicht selber gelegt haben. Wolf wusste mit Sicherheit nichts von einer solchen Aktion. Er kann schlecht lügen. Und Totsch wirkte zwar etwas angespannt, doch nicht so wie einer, der gerade ein dickes Ding gedreht hat“, sagte Kimrod.

„ Hattest du ihn tatsächlich im Verdacht?“

„ Ja, aus mancherlei Gründen. Erstens Geld von der Versicherung, dann die Geschäftsankurbelung. Denn wo Attentate verübt werden, sind kompetente Sicherheitsleute gefragt und drittens die Vernichtung von Beweismaterial. Vielleicht hatte sich das Finanzamt angekündigt.“

„ Na von dir möchte ich nicht verfolgt werden. Einem, der immer um dreizehn Ecken denkt, ist alles zuzutrauen. Gib mir doch diesen Aromaspender von Totsch. Ich will jetzt doch mal den Duft der großen weiten Welt schmecken.“

 

Kurz nach elf verließen die Kommissare das Café. Sie überquerten die Straße und machten das Parteibüro ausfindig, das sich hinter einem Copyshop in einer Einkaufspassage befand. Die Polizisten verweilten kurz vor dem großzügig dimensionierten Schaufenster, das Devotionalien der nationalen Rechten beherbergte. Flaggen, Bierkrüge mit altdeutscher Inschrift, Tonträger mit volkstümlicher Musik. Eigentlich nichts Außergewöhnliches. Die mit weißem Mobiliar ausgestattete Vertretung maß etwa fünf auf sechs Meter. Zwei Schreibtische, einer von einer ansehnlichen Sekretärin besetzt, und üppig wuchernde Topfpflanzen, die vor einer Regalwand standen, setzten die Akzente in dem angenehm klimatisierten Raum. Hier arbeitete man bestimmt gern.

Hinter dem zweiten Schreibtisch gab Dr. Kaltenbrunn Befehle über die separate Tastatur in einen geschäftig summenden Computer ein. Er hatte die beiden Männer schon vor der Auslage bemerkt. Aber es war nie verkehrt wenigstens so zu tun, als ob man sich vor Arbeit kaum retten konnte. Die Mitgliedszahlen stagnierten, die Prognosen für die Wahlen waren alles andere als rosig. Wo es doch in Berlin vor Migranten nur so wimmelte. Die Straßen wurden nach Einbruch der Nacht unsicher, der Drogenhandel florierte. Und dazu noch die große Koalition. Man mochte meinen, dass das ausreichte, um frischen Wind in die Bewegung zu bringen. Doch mehr als ein laues Lüftchen hatte sich bis jetzt noch nicht geregt. Diese beiden Schwerenöter sahen nicht sehr vielversprechend aus. Aber man konnte nicht mehr wählerisch sein. Dr. Kaltenbrunn erhob sich gravitätisch und begrüßte die Ankömmlinge.

„ Ich heiße Dr. Kaltenbrunn. Sie dürfen sich gerne ein wenig umsehen. Beitrittsformulare sind hier mit dabei.“

Dr. Kaltenbrunn drückte den inkognito auftretenden Beamten einen Wust von Prospekten in die Hände und setzte seine Arbeit fort. Nur nicht zu aufdringlich werden, das schreckte nur ab. Remke stellte sich so hin, dass er über das Infomaterial hinweg die Sekretärin beobachten konnte. Immer wenn sie sich nach vorne beugte, um etwas in die Ablage zu schieben, gab ihre Bluse den Blick auf den Ansatz zweier stattlicher Brüste frei. Oder kamen die Pflaumen nur durch den schwarzen BH so ansehnlich heraus? Remke blätterte rasch um. Hatte sie ihn ertappt? Nein, sie wollte nur ihren Augen etwas Ruhe gönnen. Nun komm schon, Mädchen, weg mit dem Wisch. Ja, mein Gott, da war nichts ausgepolstert, ein Bild für Götter. Dieser Doktor war zu beneiden. Der bestellte mit Sicherheit diesen Acker. Da konnte keiner nein sagen. Verdammt, jetzt hob sie wieder das Köpfchen.

In jede fünfte Straftat ist ein Ausländer verwickelt. Wo, in Istanbul? Remke mimte wieder den interessierten Anwärter und vertiefte sich in das Propagandamaterial. Nach einer kleinen Ewigkeit ging das Spiel von vorne los. Diese Dinger waren wirklich waffenscheinpflichtig. Hoffentlich vergrub sich der Boss noch länger in seine Bildbände, die er in rascher Abfolge aus dem Regal zog. Kimrod war war schnell fündig geworden. Signal, Das Schwarze Korps, Deutsche Geheimwaffen. Lauter druckfrische Reproduktionen, die dem geneigten Betrachter mittels hochwertiger Abbildungen mit der Welt des Dritten Reichs vertraut machten. Es fand sich auch ein Bändchen über Branninger, den Gründervater der Partei und Frontkämpen, dem durch seine provinzielle Prägung der große Erfolg versagt geblieben war. Kimrod hatte irgendwann einmal ein paar Absätze über den Mann und seine Zeit gelesen. Es ging unter anderem darum, wer als tapferer Recke galt und wer als Schwein. Zugehörigkeiten zu Verbänden und Einheiten wie allgemeine SS und die Waffen SS. Die einen als Wachpersonal im Lager, die anderen als Eliteeinheit an der Front. Eine Diskussion, die eigentlich niemanden mehr interessierte. Gerechte Kriege gab es schon längst nicht mehr. Und für die Opfer dürfte es auch keinen Unterschied gemacht haben, ob sie von Schergen mit silbernen Totenkopfabzeichen an den Kragenspiegeln oder von heroischen Viktoriakreuzträgern ins Jenseits befördert oder zu Krüppeln gemacht wurden. Helden- und Totengedenkfeiern wurden allenfalls noch von verschrobenen Käuzen oder von randalefreudigen Jugendlichen frequentiert. Die großen Gemetzel fanden nun woanders statt und standen den Vorbildern während der Weltkriege in nichts nach. Hunderttausende innerhalb weniger Wochen bestialisch abgeschlachtet, die Bilder via TV portionsgerecht ins Wohnzimmer geliefert. Wem stand da noch der Sinn nach antiquierten Soldatenfriedhöfen? Wenn den Funktionären nichts Besseres einfiel als diese ausgelutschten Kamellen, brauchten sie sich über mangelnde Nachfrage nicht zu wundern. Die Jugend druckte doch längst ihre eigenen Magazine. Die Hitlerbüste im Schrein des minderjährigen Aktivisten war schon längst angestaubt und wurde nur noch vollständigkeitshalber aufbewahrt. Einer unter vielen. Mehr nicht.

Kimrod machte sich Notizen, vor allem über den Rechner auf dem Tisch des Doktors und die Zahlen, die über den Bildschirm flimmerten. Vielleicht konnte Maikovsky etwas damit anfangen und ins System eindringen. Er war auf diesem Gebiet eine Klasse für sich. Warum der nicht umsattelte? Für den Polizeidienst war er nur bedingt geeignet und sein Talent verkümmerte ungenutzt. Remke war wieder in seinem Metier. Der alte Bock genierte sich doch nicht, die dralle Tippse abzuspannen. Oder war das normal für jeden Mann, dessen Säfte nicht nur oberhalb der Gürtellinie zirkulierten? Anstatt dass er den Doktor beschäftigen oder ablenken würde. Das war typisch. Wenn ihm etwas nicht schmeckte, schaltete er auf stur. Aber es wurde sowieso Zeit. Oder machten Ärzte erst um eins Mittag?

Kimrod ließ seinen Block geräuschlos in die Innentasche seiner Jacke gleiten und hüstelte leicht. Remke ging wieder auf Tauchstation. Doktor Kaltenbrunn erhob sich.

„ Haben Sie etwas Passendes gefunden? Wir haben selbstverständlich noch mehr vorrätig. Das ist nur eine kleine Auswahl. Man will nicht gleich zartbesaitete Besucher verprellen.“

Kimrod strich über eine Pflanze. Die waren gar nicht echt. Dabei sahen sie so lebendig aus.

„ Ja, ich habe mir einen ersten Überblick verschafft. Sehr beeindruckend. Mein Sohn würde begeistert sein. Schade, dass nur noch wenige Menschen etwas für Traditionen und Geschichte übrig haben. Ihre Partei könnte da ein dankbares Betätigungsfeld finden. Bevor die Burschen verlottern und Unfrieden stiften. Oft genügt ein kleiner Anstoß. Die Wurzeln sind doch gesund. Man muss diese jungen Eichen nur zurechtstutzen...“

Jetzt räusperte sich Remke. Er gab dem Doktor noch einmal die Hand und verstaute die Broschüren in seiner Jacke.

„ Äh, ich glaube, wir müssen wieder. Die Pflicht ruft. Kommst du, Max?“

Kimrod kratzte sich gedankenverloren an der Nase und steckte auch ein paar Zettel ein.

„ Meine Stimme ist Ihnen sicher. Deutschland ist lange genug von Verrätern ausgeplündert worden. Doch der starke Stamm biegt sich nur, er wird nicht brechen. Leben Sie wohl, Herr Doktor. Sieg Heil.“

Kimrod klopfte sich mit der geschlossenen rechten Faust auf die Brust.

Der Doktor lächelte schief. Der trug aber plötzlich dick auf. Aber gesunde Anschauungen, zweifellos. Die Sekretärin erhörte Remkes Stoßgebete und präsentierte zum Abschluss noch einmal ihr aufreizendes Dekolleté. Remke verharrte für einige süße Augenblicke vor ihrem Schreibtisch. Aber es half nichts. Bevor der Chef wieder zu salbadern anfing. Also raus. Kimrod kam Gott sei Dank gleich nach. Das war überstanden.

„ Ich dachte schon, der engagiert dich gleich vom Fleck weg als Generalsekretär. Mit Verlaub gesagt, das Schwafeln liegt bei euch doch in der Familie. Das wurde sogar diesem Heini zu viel. Wahrscheinlich hat er in Wirtschaftspolitik promoviert. Am Tresen sind alle gleich, der Wirt wird von den Säufern reich. Aber dieses raffinierte Luder, eine Wucht. Ihre Glocken, so prächtig und voll. Wenn man die zum Klingen bringen würde...“

„ In deiner Gedächtniskirche. Es ist schon was Wahres dran. Kinder und alte Männer sind albern. Los, da drüben rührt sich scheinbar was“, sagte Kimrod und hetzte über den Damm.

Remke konnte nicht viel erkennen. Mehrere Passanten schlichen an der Zentrale der Camos vorbei. Vor dem Eingang des Verwaltungsgebäudes wuchs ein großer Schutthaufen an. Untere Dienstgrade trugen in sperrigen Wannen verkohlte Trümmer aus den verwüsteten Räumen. Der Aufzug schien ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen worden zu sein, so dass alles durch das Treppenhaus transportiert werden musste. Totsch unterhielt sich etwas abseits mit drei sonnenbebrillten Herren in eleganten Anzügen. Kimrod erkannte außerdem Ilona Zollner, die hinter den Männern auf ihr Chance wartete. Doch Totsch würdigte sie keines Blickes.

„ BKA. Die Vögel kenne ich, immer picobello herausgeputzt. Pfui Deibel“, erklärte Remke, der hinter Kimrod aufgetaucht war.

Und von Typologie verstand er etwas. Kimrod zündete sich eine Zigarette an und winkte. Die Journalistin verschob ihr Vorhaben und stöckelte über das verdreckte Trottoir heran.

„ Eigentlich auch nicht schlecht. Wer auf stramme Waden steht“, sagte Remke grinsend.

Kimrod stieß resignierend Rauch aus. Ging das schon wieder los. Die Journalistin wechselte ein paar Worte mit einem der schuftenden Camos und begrüßte dann die Kommissare.

„ Na, das ist ein Zufall. Sie glauben wohl auch, dass der Anschlag mit den Morden zusammenhängt. Nicht nur wegen Claudia Lupers Freund. Bei meinen Nachforschungen im Milieu sind sehr viele Merkwürdigkeiten ans Tageslicht getreten. Die beiden Callgirls bedienten zuletzt vornehmlich hohe Tiere aus Politik und Wirtschaft. Loschmitz ist nur ein Name unter tausend anderen. Versuchen Sie in der Richtung Ihr Glück. Es lohnt sich mit Sicherheit.“

Totsch hatte sich von den Bundespolizisten gelöst und ging in die Zentrale zurück. Ilona Zollner wünschte den Kriminalbeamten viel Erfolg und nahm die Verfolgung auf. Totsch galt als medienscheu. Aber alles hatte doch seine Grenzen, nach so einem Ereignis. Kimrod sperrte den Ford auf und startete. Remke hatte nicht gleich geschaltet und stellte noch immer Betrachtungen über die weibliche Anatomie an. Titten oder Beine, so leicht wie diese Zollner oder... Moment, der saß schon wieder im Auto.

„ Los, mach schon. Wir fahren jetzt zum Kastrieren. Ein kurzer, schmerzloser Eingriff. Du wirst dich hinterher viel besser fühlen. Du benutzt deinen Otto nur noch zum Wasser lassen. Kein steifes Laken mehr, deine Olle bekommt einen Vibrator zu Weihnachten und die Welt leuchtet für dich in neuen Farben. Du kaufst dir einen Malkasten und musst nicht mehr Groschen auf den Boden fallen lassen, um kleinen Mädchen unter den Rock linsen zu können“, sagte Kimrod und stieß zurück in die Dahlmannstraße.

Remke geruhte endlich einzusteigen. Nur mittelprächtiger Verkehr, aber auffallend viele Streifenwagen und vereinzelt Gefährte aus dem Fuhrpark der Camos waren unterwegs. An einer Ampel kam neben Kimrod ein metallic-schwarzer Quattro zum Stehen. Der Chauffeur trug die charakteristisch gesprenkelte Jacke und telefonierte emsig. Bis auf die Gewehrhalter stimmte alles mit Maikovskys Beschreibung überein. Sieh an, sieh an, da machten welche die ganz dicke Kohle.

Zehn Minuten vor zwölf erreichten sie den Parkplatz der Großklinik.

„ So, mein Junge, gleich ist es überstanden. Ich denke, örtliche Betäubung wird ausreichen“, sagte Kimrod und stieg aus.

Remke machte keine Anstalten, ihm zu folgen.

„ Geht das schon wieder los. Du kommst mit, und wenn ich dich reinschleifen muss. Jedes Mal, wenn es unangenehm wird, beruft sich der Herr auf seine Tage“, schimpfte Kimrod über den Wagen hinweg.

Remke gab kleinlaut nach.

„ Aber nur, wenn wir vorher noch was Essen gehen. Die haben doch hier bestimmt eine große Kantine.“

Remke hievte seinen Körper aus der Rostlaube und verriegelte die Tür. Hier wurde bestimmt viel geklaut. Diese verdammten Krankenhäuser mit ihrem ätzenden Desinfektionsgeruch. Da ging doch keiner freiwillig rein.

Sie brauchten einige Zeit, um einen Informationsschalter ausfindig zu machen. Das junge Mädchen, das gerade Dienst hatte, war aber sehr verständnisvoll. Nachdem Kimrod seinen Ausweis vorgezeigt hatte, telefonierte sie ausgiebig und machte sich nebenbei Notizen. Als sie die Gespräche beendet hatte, überreichte sie Kimrod einen Spickzettel.

„ Hier steht alles Wichtige drauf. Professor Malawi ist im OP-Saal beschäftigt. Vielleicht noch eine halbe Stunde. Die Leichen befinden sich in einem provisorisch eingerichteten Neubauflügel. Wenn Sie zum Parkplatz zurückgehen einfach links, das dritte Gebäude. An den Türen sind noch keine Beschriftungen angebracht. Sie können es eigentlich gar nicht verfehlen. Der Professor weiß Bescheid. Danke.“

Sie drehte sich um und wieselte weiter über die Tastatur ihres PCs. Remke leckte sich die Lippen.

„ Einmal darf ich noch. Die eifrigen Finger der Kleinen haben mich da auf eine Idee gebracht. Zuerst die Titten aus dem Repbüro, dann die Zollner, nur Strapse, schwarze Strumpfhalter und ihre Pfennigabsätze, die sich bei jeder Bewegung zentimetertief in meine Haut eingraben. Ich liege nur auf dem Rücken und sehe nur ihre prächtigen Stelzen, die in ein flammrotes Vlies münden. Sie geht so lange auf mir spazieren bis es mir kommt. Zum Schluss die Kleine hier. Für ihre hurtigen Pfötchen kein Problem.“

Kimrod war ein paar Schritte vorausgeeilt und versuchte aus den verwirrenden Beschilderungen schlau zu werden.

„ Hier! Dort ist was für dich.“

Er deutete nach oben auf eine Holztafel, die mit einem roten Kreuz bemalt war. Daneben stand Notaufnahme. Remke grinste kurz und schloss auf.

„ Ich weiß auch nicht, was los ist. Vielleicht liegt‘s am Wetter. Mein Granatsplitter rührt sich auch schon wieder...“

„ Wenn dein Stehvermögen nur halb so groß wäre wie deine Klappe, hättest du als Pornodarsteller eine glänzende Karriere gemacht. Hier riecht es übrigens nach Bratwurst. Du wolltest doch noch was einschmeissen bevor wir unsere Mädels besuchen.“

Nach einer langen Biegung tauchte in der Tat ein Kiosk auf, kurz vor dem Ausgang. Remke orderte zwei Currywürste und Bier. Obwohl striktes Rauchverbot herrschte, zündeten sich die Polizisten Zigaretten an. Wer erwischt wurde, bekam Hausverbot, laut Klinikordnung. Sie öffneten ihre Pilsflaschen und prosteten sich zu. Der Betreiber der Bude machte die Würste fertig und warnte vor den Folgen des Rauchens.

„ Sehen Sie mich an. Hab schon zwei Infarkte hinter mir. Alles nur wegen der Qualmerei. Aber machen Sie doch was Sie wollen. Sechs Euro, bitte.“

Remke zahlte und ließ sich eine Quittung ausstellen. Kimrod spülte genießerisch jeden Bissen Wurst mit einem Schluck Bier hinunter. Stehvermögen, tja, das leidige Thema. Kimrod brachte es nicht einmal fertig, mit Remke über seine Potenzstörungen zu sprechen, seinem besten Freund. Mit gutem Grund. Die alte Plaudertasche würde es allen unter die Nase reiben, die es wissen wollten. Und auch den anderen. Ob dieser Malawi auch bei Männern Bescheid wusste? Es gab doch neuartige Implantate, die den echten Schwellkörpern nachempfunden waren und ähnlich funktionierten. Oder die elektromagnetischen Massagen. Man musste sich nur trauen.

Remke stellte rülpsend seine leere Flasche zurück. Der Chef träumte schon wieder. Dem konnte abgeholfen werden.

„ Hallo, aufwachen! Jetzt kannst du deinen nekrophilen Neigungen nachgehen.“

Kimrod trank aus und erklärte:

„ Das ist nicht von mir. Ich bin für Perversitäten aller Art offen, aber das geht zu weit. Ich fresse zwar tote Schweine, aber vorher vögeln möchte ich sie nicht.“

Sie gingen weiter, immer der Beleuchtung nach. Der Professor, ein Inder mit Gandhibrille, höchstens vierzig, wartete schon. Er kam den Polizisten entgegen und begrüßte sie herzlich.

„ Herr Kimrod, Herr Remke, es ist mir ein Vergnügen. Wer interessiert sich schon für unsere Arbeit? Oder wollen Sie lieber mit Ihrem Dienstgrad angesprochen werden?“

„ Nein, das ist absolut in Ordnung so“, antwortete Kimrod.

Sie hatten Mühe, mit dem Mediziner Schritt zu halten. Schon standen sie in einer Halle, die bis auf einem rollbarem Sektionstisch und zwei hohe, teilweise verglaste Kästen leer war. Der Professor dirigierte sie auf die seltsamen Behälter zu.

„ Es tut mir sehr leid, aber es ging nicht anders. Kein Platz, keine Zeit. Ich habe Samstag und Sonntag hier durchgearbeitet. Diese Behälter sind Hibernierungsmaschinen. Man kann den menschlichen Körper darin praktisch unbegrenzt aufbewahren. Natürlich nach dem Exitus. Manche meiner Kollegen glauben, die Unsterblichkeit sei in greifbare Nähe gerückt. Das ist meiner Meinung nach noch ein weiter Weg dahin. Ich will Sie auch nicht mit technischen Details langweilen. Sie sind wegen der Mädchen hier. Bitte.“

Der Professor winkte die Beamten näher heran. Remke kam dieser Aufforderung nur sehr ungern nach. Er erwartete freiliegende Gedärme und dergleichen. Man sah jedoch außer den Köpfen nichts. Sogar Susanne Roschmanns Haupt war wieder da, wo es hingehörte. Es saß wie angewachsen auf dem Hals. Der Rest wurde von weißen Leintüchern verhüllt. Die Gesichter waren gründlich gereinigt und geschminkt worden. Sie wirkten deswegen streng und steril, als ob die Mädchen an Bord eines Raumschiffs fernen Galaxien entgegenjagten. Man musste nur auf ein Knöpfchen drücken und sie würden sich erheben. Nie im Leben käme man darauf, dass die beiden zu Tode gequält worden waren. Malawi dozierte weiter.

„ Der linke Corpus weist Spuren schwerster Gewaltanwendung auf; mehrere Messerstiche in die linke Brusthälfte. Dann bei allen beiden gleich, Perforationen und Muskelrisse im Scheidenkanal bis in den Uterus hinauf. Wahrscheinlich vorgenommen durch einen rotierenden Holzbohrer, Größe 13 mm. Der Kopf des rechten Corpus wurde mit einer Taschensäge abgetrennt.“

„ Taschensäge? Fuchsschwanz, Laubsäge?“

Kimrod hakte nach. Vielleicht wurde dieser Punkt noch wichtig.

„ Nein, nein, ich meine eine Drahtsäge. Ein vielleicht fünfzig Zentimeter langer Draht aus hochwertigem Stahl, in den Sägezähne eingearbeitet sind. An beiden Enden sind Griffe angebracht, an denen man abwechselnd zieht. So.“

Der Professor streifte sein Stethoskop ab und legte den Horchschlauch um Remkes Oberschenkel. Remke war kitzlig. Als der Professor Sägebewegungen nachahmte, geriet ihm das bearbeitete Bein außer Kontrolle. Malawi wurde von Remkes Kniescheibe in der Kinnpartie getroffen. Er wankte zwei Meter zurück und nahm nach einer kurzen Erholungspause sein Stethoskop in Empfang, das Kimrod für ihn aufgehoben hatte. Damit war die Leichenschau wohl beendet. Remke begriff erst jetzt, was er angerichtet hatte. Er hörte abrupt zu kichern auf und rieb verlegen seine Schuhe aneinander. Doch der Professor war hart im Nehmen.

„ Wo waren wir stehengeblieben? Ach ja, Taschensäge. Sie wissen inzwischen, was ich meine?“

Kimrod nickte.

„ Gut. Wir fanden außerdem keine Spermaspuren oder Fremdkörperpartikel. Das wäre alles.“

„ Diese Kisten hier dienen also nur zur Aufbewahrung, damit die Körper nicht in Verwesung übergehe“, stellte Kimrod fest und studierte noch einmal die Gesichter. Er wollte wissen, was die Mädchen zuletzt empfunden hatten. Erschrecken, Erstarren, Hass, Raserei, oder waren beide vorher betäubt worden? Malawi schien seine Gedanken gelesen zu haben.

„ Wir haben eigentlich nicht viel verändert. Nur das Blut abgewaschen und ein wenig retuschiert. Ich habe mich auch gewundert. Es gibt allerdings Arten der Betäubung, die man hinterher nicht feststellen kann. Wir haben jedenfalls keinerlei giftige Substanzen nachweisen können. Theoretisch könnten die Angehörigen jetzt die Identifizierung vornehmen. Wir, oder vielmehr meine Kollegen, wollen die Hibernierungsautomaten zurück haben, die wir tatsächlich nur zum Kühlen benötigen.“

„ Das kann noch dauern. Eine Frage noch, Professor. Auf was für einem Gebiet sind Sie Experte, außer der Gerichtsmedizin?“

„ Gynäkologie. Wenn Sie weitere Fragen haben, stehe ich Ihnen selbstverständlich zur Verfügung. Sie hätten gestern kommen sollen, da konnte man in den Innereien lesen wie in einem offenem Buch. Schade.“

Remke war bereits an die frische Luft entwichen. Kimrod ließ sich noch eine Visitenkarte geben. Er hatte sich mehr erhofft. Die Mädchen waren auch tot noch schön. Waren Sie wirklich so gestorben? War der Mörder ein guter Bekannter oder Stammkunde, dem die Mädchen vertraut hatten? Bis zum bitteren Ende? Remke, der Feigling, war Richtung Parkplatz verschwunden. Hibernierungsmaschinen, was zum Teufel kochten die da drinnen wirklich aus? Versuche mit Leichen oder gar Lebendigen, in Frankensteinmanier? War Remkes Hast berechtigt, alle Mann an Deck, in Sektion C wurden zwei guterhaltene Organträger gesichtet, fertig machen zum Sezieren?

Remke wirkte entspannt, als Kimrod am Parkplatz eintraf.

„ Na, du alter Nekromane. Ist dir jetzt wieder wohler?“ fragte Kimrod ihn.

„ Es ist geschafft. Und alles noch dran. Wie geht‘s weiter?“

„ Zurück zu den Schneewitchensärgen. Malawi hat dir ein interessantes Angebot zu machen. Wenn du dich schockfrosten lässt, wird deine Pension verdoppelt. Man spürt nicht das Geringste und es regt ungemein an.“

Kimrod grinste breit. Der saß.

„ Dummsülzer. Ich will wissen, was als Nächstes auf der Speisekarte steht. Nun mach schon“, stieß Remke ungeduldig hervor.

„Tante Berta. Sie weiß bestimmt etwas über die Mädchen. Vielleicht hat sie schon Sehnsucht nach dir“, antwortete Kimrod.

„ Jetzt wandern aber bei dir die Eier in Gehirnnähe. Und sich über mich beschweren.“

Sie stiegen ein und fuhren los. Kimrod fielen die zahlreichen auswärtigen Kennzeichen auf. Viele Kleinbusse und Importwagen, meist älterer Bauart. Normalerweise ein Anzeichen für eine geplante Großdemonstration. Kimrod deutete auf den Aufkleber am Heck eines Brandenburgers Transits.

„ Kannst du das lesen? Schlag Staat in Stöcke braucht das Land. Kann das stimmen?“ Remke grunzte unwillig.

„ Ist mir egal. Immer wenn denen der Pelz brennt, machen sie bei uns Radau. Gottverdammte Zuwanderer.“

 

Im Radio fand Kimrod jedoch keinen Hinweis auf die offensichtlich angesetzte Veranstaltung. Obwohl inzwischen fast sämtliche Straßenzüge über eine eigene Rundfunkstation verfügten, die jeden Hundefurz in den Straßennachrichten breittraten. Um viertel zwei parkte Remke den Wagen in der Eisenbahnstraße. Hier war Gott sei Dank weniger los. Von aufrührerischen Untertanen keine Spur. Das Viertel erwachte während der Woche erst nach Einbruch der Dunkelheit. Dann aber richtig. An jeder Ecke bekam man drei bis vier eindeutige Angebote, zu erstaunlich erschwinglichen Preisen. Der heißeste Renner waren die Chinesinnen, die allen Zoll- und Asylschranken zum Trotz in die Republik strömten und die bäurischen Langnasen mit asiatischer Raffinesse bedienten.

Das Mirage war noch geschlossen. Kimrod stemmte einen der Fensterläden auf und klopfte einen bestimmten Takt. Kurz darauf öffnete sich die massive Pforte. Tante Berta steckte ihren Kopf heraus und peilte die Lage.

„ Los, macht schnell. Es soll euch keiner sehen.“

Die Polizisten wischten durch den Eingang und verdrückten sich in eines der Separees. Tante Berta klemmte eine Flasche Johnny Walker unter und setzte sich gewichtig zu ihnen an den Tisch. Sie füllte die bereitstehenden Gläser und eröffnete die Runde.

„ Ich habe euch schon erwartet. Heute geht‘s rund. Totsch war nur der Anfang.“

Schon war das Glas leer. Sie leckte sich genießerisch die Lippen und sorgte für Nachschub. Kimrod hielt vorsorglich die Hand über seinen Becher.

„ Langsam. Das geht uns nichts an. Ich bin nicht der Innensenator...“

„ Aber bald, wenn du so weiter schwafelst. Erzähl uns doch was über die beiden Kleinen. Sei brav, Schätzchen...“, sagte Remke und zwickte Tante Berta in die Seite. Remkes Annäherungsversuch wurde unsanft abgewehrt. Seine Hand landete hart auf dem Tisch. Tante Berta war auf Kriegspfad und nicht zu Scherzen aufgelegt.

„ Aber nur weil ihr es seid. Ich kenne die beiden schon seit zwei Jahren. Sie haben hier auf der Straße angefangen und sich hoch gearbeitet. Zuletzt nur noch Stammkunden der oberen Kategorie. Dieser Loschmitz wurde auch öfters in ihrer Nähe gesehen. Und auch andere. Ich kenne die alle Gott sei Dank nicht näher. So was spricht sich dann rum. Mund zu Mundpropaganda. Sie arbeiteten hauptsächlich in ihrem Apartment, meistens zu zweit. Die haben hier eine Menge gelernt und viel Geld verdient. Vielleicht zu viel. Sie wurden zum Schluss ziemlich immer abgehobener. Nur noch Schickimicki und so. Na ja, Hochmut kommt vor dem Fall. Ich konnte die Mädels trotzdem gut leiden.“

Die Tränen, die über ihre Wangen kullerten, waren echt. Die Mädchen hatten den gleichen Beruf ausgeübt wie sie früher. Das reichte. Jetzt war Rache angesagt.

„ Ihr seid bei mir eigentlich verkehrt. Sie traten gelegentlich noch in der Safaribar auf. Aber nur so zum Spaß. Nötig hatten die es schon lange nicht mehr.“

Remke tätschelte ihr die Hand.

„ Na, Kopf hoch. Du kommst schon drüber weg. Nimm erst noch Einen.“

Sie befolgte seinen Rat und räumte danach die Flaschen weg.

„ Ihr müsst jetzt gehen. Um drei geht die Demo los. Ich will bereit sein.“

Kimrod nickte. Er konnte das gut verstehen. In ihrem Beruf zu viel mit der Polizei zu tun haben, war nicht ratsam. Sie hatte getan, was sie konnte.

 

Die Safaribar lag einen Katzensprung weiter, in der Zeughofstraße. Es war eigentlich mehr ein Privatclub als ein öffentliches Etablissement. Nur wer vom Rat der Weisen, so nannten die altgedienten Clubmitglieder ihren erlauchten Vorstand, für würdig befunden wurde, durfte eine Eintrittskarte lösen. Bei Wohlverhalten gab es dann später das begehrte Jahresticket und die lebenslängliche Permission. Auch hier war noch alles zu. Nur gedämpfte Musik drang auf die Straße. Die Polizisten hatten sich Zigaretten angezündet und beratschlagten sich.

„ Wie kommen wir rein? Für die sind wir doch nur bessergestellte Sozialhilfeempfänger. Kommt wieder, wenn ihr es euch leisten könnt. Beglückt so lange eure Trampel zu Hause. Viel Spaß. Mehr wird da nicht zu holen sein“, meinte Remke pessimistisch.

Kimrod war zuversichtlicher.

„ Wir haben keinen Durchsuchungsbefehl. Aber wir können jederzeit einen bekommen. Zefhahn hat es mir zugesichert.“

Er hatte seine Stimme gehoben und deutete auf die Austrittsklappe der Klimaanlage zu, die im warmen Luftstrom flatterte. Remke stand auf der Leitung. Kimrod sagte ihm ins Ohr: Feind hört mit. Endlich war der Groschen gefallen.

„ Und was Zefhahn sagt, hält er auch. Auf unseren Kriminalrat ist in solchen Situationen hundertprozentig Verlass“, pflichtete Remke seinem Kollegen bei.

„ Dann wollen wir mal“ , fuhr Remke fort und drosch gegen die Tür, die sofort aufgestoßen wurde.

Zwei muskelbepackte Kerle mit Schnauzer und Dackelblick, Typ Sunillude, sprangen auf die Straße. Remke war vorbereitet. Schon starrten die Jungs in die Mündung seiner Sauer.

„ So, und nun sachte. Wir hätten ein paar Fragen an den Chef. Schießübungen waren letzte Woche dran. Wiederholungen gefallen nicht“, sagte Kimrod und entschärfte damit die Situation. Einer der Türsteher kannte Remke flüchtig und nickte seinem Partner zu.

„ Geht in Ordnung. Das sind Bullen. Gib oben Bescheid.“

Der Angesprochene entfernte sich eilig.

„ Ihr müsst so lange draußen bleiben. Ohne Karte kommt mir keiner rein“, erklärte der zurückgebliebene Supermann.

Er wollte damit Remke einschüchtern, der seine Waffe wegsteckte und sich langsam auf die Tür zubewegte.

„ Bist wohl der Oberschlaumeier hier. Ihm kommt hier keiner rein. Ich habe in dieser Klitsche schon mein Bier getrunken, als du dir noch die Scheiße von den Strampelhosen gekratzt hast. Richte Strelen einen schönen Gruß aus. Wenn er sich nicht mit uns unterhalten will, wird die Bude ausgeräuchert.“

Remke wusste, dass das nur eine leere Drohung war. Hier verkehrte zu viel Kapital. Da rannte sich auch Wulke persönlich den Kopf ein. Doch wenn Strelen nur halb so schlau war, wie er sich gab, ging er nicht auf Konfrontationskurs, da Polizei vor der Tür hundertprozent schädlicher war, als sie im Haus zu haben. Remkes Vermutung bestätigte sich nach einer kurzen Verschnaufpause. Der Hausherr rauschte durch die Phalanx seiner Bediensteten und trat den Polizisten mit seinem berühmten schiefen Lächeln entgegen. Die Bodyguards zogen sich widerwillig zurück. Wer ließ sich schon gerne von Staatsfritzen anpfeifen.

„ Tag, die Herren. Lassen Sie uns die Sitzung an einen angenehmeren Ort verlegen. Die Cabarettruppe hat gerade Pause. Wir können uns also folglich ungeniert in einer der Nischen unterhalten. Bitte.“

Remke konnte sich einen Kommentar zur bigottisch vorgetragenen Einladung des Bordelliers nicht verkneifen. Da konnte der Chef noch so grimmig dreinschauen.

„ Halt, Meister. Erst wolltet ihr nicht, jetzt treten wir auf die Bremse. Sie können nachts in Ihrem dreckigen Loch abfüllen, wen Sie wollen, doch ich weigere mich, da...“

Kimrod schaltete sich ein. Es half ja doch nichts, weil alles wieder an ihm hängen bleiben würde.

„ Halt‘s Maul, Otto. Wir müssen hier arbeiten und haben keine Zeit für Straßengeklöne. Lass deinen Sermon ab, wo du willst, aber nicht hier. Wir dürfen uns nicht den geringsten Fehler erlauben. Ich...“

Strelen war ein Mann der Tat und zog die beiden Beamten mit einem geschickten Griff hinter die Schwelle seiner Pforte. Kimrod unterstützte ihn dabei, so gut er konnte, denn eine Schlägerei auf offener Straße war das Letzte, was ihm heute noch abging. Nach einem kurzem Gerangel, beruhigte sich auch Remke wieder.

„ Der war nicht von schlechten Eltern. Wo haben Sie denn das gelernt? Beim Bund?“ fragte Kimrod schelmisch.

„ Nein, bei den Pfadfindern. Was wollen Sie denn von einem der ehrbarsten Bürger der Stadt? Geld, Frauen, Rauschgift, vielleicht sogar eine Mietsenkung?“

Strelen setzte wieder sein Grinsen auf. Diesmal blieb Remke die Antwort schuldig, weil ihm ausnahmsweise nichts einfiel. Kimrod ging hinter die Theke und räumte drei Lagen Sektschwenker aus einem verspiegelten Regal. Strelen ließ ihn gewähren. Dem Rüpel würde nach einer gepfefferten Dienstaufsichtsbeschwerde schon noch das Lachen vergehen.

„ Sie Knallcharge. Das kann Ihnen die Pension kosten. Nicht mit mir, Bürschchen. Ich habe mich nicht nach oben gekämpft, um vor einem A 10 Arsch zu buckeln.“

Strelen schaltete aber rasch um. Er wurde sichtlich versöhnlicher.

„Na gut, geschenkt. Aber nur wegen Otto.“

Remke nickte grimmig. Strelen zündete sich eine dicke Zigarre an, Typ Zeppelin.

„ Zur Beruhigung. Also?“

Kimrod holte tief Luft.

„ Die Nuttenmorde. Die Mädchen waren eine der Attraktionen Ihres Programms. Was wissen Sie?“

Strelen zuckte harmlos mit den Schultern.

„Was ich weiß? Hä, hä, das würdet ihr Strauchdiebe wohl gerne in Erfahrung bringen? Ich kannte die Mädchen gut, aber das ist auch schon alles.“

Remke fasste Kimrod am Arm.

„ Komm, ich kenne ihn. Wenn er nicht will, müssen wir uns damit abfinden. Nichts wie raus hier. Es stinkt.“

Strelen würdigte die zornig nach draußen eilenden Beamten keines weiteren Blickes. Zwei Staatskasper, mehr nicht. Warum sich aufregen. Die waren doch genauso viel wert wie ein korrodierter Groschen in der Pissoirrinne. Er rauchte seine Havanna genüsslich zu Ende.

Es war auf den Punkt zwei Uhr, als die Polizisten ihr Fahrzeug erreichten. Ausnahmsweise war nichts beschädigt, auch kein Gruß von den Rinnsteinegeln, dem gefürchteten privaten Verkehrsüberwachungsverein, der gern und immer erbarmungslos zuschlug. Kimrod setzte die Fuhre in Bewegung.

„ Wir haben noch ein bisschen Zeit. Lass mich überlegen. Wo stehen wir am günstigsten? Nun spuck schon aus.“

„Keine Ahnung. Vielleicht am Mariannenplatz. Der Boss bist immer noch du.“

Kimrod hielt sich an den Ratschlag seines Kollegen. Er sollte angeblich etwas von Strategie verstehen, wahrscheinlich aber nur beim Skat. Sie parkten den Wagen an einer günstigen Stelle und warteten auf die ersten Demonstrationsteilnehmer, die dann auch gegen vierzehn Uhr fünfundvierzig pünktlich eintrafen. Remke musterte die Gestalten angewidert. Langhaarige Müslidioten, Emanzen, Grüne, Autonome, organisierte Schnallen und der übliche Tross von Schaulustigen, die bei jedem Aufmarsch mitmischten.

 

Um drei verließen die Polizisten ihren Wagen und reihten sich unauffällig in den Demonstrationszug ein. Neben ihnen unterhielt sich ein grell geschminktes Pärchen über die Morde.

„ Meiner Meinung nach steckt die Regierung ganz dick mit drin. Die Mädchen verkehrten doch ausschließlich in Jetsetkreisen. Nicht nur Loschmitz hat aus diesem Brunnen getrunken. Diese Staatsschweine sind doch alle gleich. Hoffentlich melden sich unsere Genossen aus dem bewaffneten Untergrund tatkräftig zurück. Für jeden abgemurksten Politiker spende ich zehn Euro für die Welthungerhilfe“, gab der androgyne Teil des nicht genau identifizierbaren Paares bekannt.

Remke schluckte schwer. Kimrod gab ihm einen leichten Rempler in die Nieren. Sie ließ sich zurückfallen.

„ Wir sind absolut inkognito hier. Du weißt, was du mit einem verkehrten Wort anrichten kannst“, sagte Kimrod leise.

„ Ja, ja, schon gut. Ich bin nicht bekloppt. Aber diese linken Weltverbesserer sind die Schlimmsten. Von denen dürfte mir keiner ohne Aufsicht unterkommen. Lauter Geschmeiß!“

Gott sei Dank begannen weiter vorne die ersten einen Schlachtruf zu skandieren, so dass Remkes Ausfälle ohne Echo verpufften.

„ Sperrt die Mörder ein! Sperrt die Mörder ein!“

Sofort brüllten alle mit. Sogar Remke ließ sich nicht zweimal bitten.

„ Wenn uns nur Zefhahn sehen, beziehungsweise hören könnte“, brüllte Kimrod in einer Kampfpause seinem Kollegen ins Ohr.

„ Hängt den Kanzler auf! Hängt den Kanzler auf!“

Auch dieser Vorschlag eines mit Stahlprügeln ausgerüsteten Blocks wurde sofort freudig aufgenommen. Schon flogen die ersten Steine. Schaufenster barsten, Autos gingen in Flammen auf. Die Polizei besaß nicht den Hauch einer Chance, diesem Inferno ein Ende zu setzen, trotz der grossen Masse der eingesetzten Beamten und Werfer. Pausenlos heulten Martinshörner. Autonome mit Rotkreuzbinden versuchten vergeblich, dem Heer der Verwundeten Herr zu werden. Wer umkippte, blieb liegen. Blutende mussten sich selbst verbinden.

 

Die Ausschreitungen verebbten erst nach zwei Stunden. Wer noch nicht genug hatte, machte anderenorts weiter. Gelegenheiten gab es genug. Es ging schon lange nicht mehr darum, für oder gegen was demonstriert wurde, sondern nur um Krawall. Zerschlagen, brandschatzen, plündern, prügeln und töten. Das waren die Leitsprüche der staatsverachtenden Randalierer, die Verluste in den eigenen Reihen gerne in Kauf nahmen und denen kein Anfahrtsweg zu weit war. Wo gehobelt wird, fallen Späne. Nach diesem Prinzip gingen auch die Einsatzleiter der Sicherheitskräfte vor. Totschs Truppe feierte an diesen Tagen fröhliche Urstände. Die Camos schossen da auch schon mal scharf. Warum nicht, diese Anarchisten legten es doch direkt darauf an. Nur tüchtig draufhalten, ganz so wie es der Werferfahrer vor dem Olympiastadium unverblümt geschildert hatte.

Kimrod verlor Remke bald aus den Augen, aber sie hatten sich für siebzehn Uhr verabredet, am Mariannenplatz. Remke traf rechtzeitig ein, trotz der noch immer wild aufflackernden Rückzugsgefechte. Er war eben ein Kämpe alter Schule und durch nichts aus der Ruhe zu bringen.

„ Na, wie stehen die Aktien? Wie viel hast du heute umgepustet?“ fragte ihn Kimrod gut gelaunt.

Das Schlimmste war wohl überstanden. Oder auch nicht, denn Kimrod war sich darüber im Klaren, dass auf dem politischen Parkett andere Spielregeln galten. Wenn man sich bei diesen aalglatten Typen verhaspelte, konnte man ungemein hart auf dem Bauch landen. Und wer tat das schon gerne?

Sie stiegen ein und fuhren los. Der Wagen war bis auf ein paar zusätzliche Dellen heil davongekommen. Logischerweise, Schrott reizte auch die tatfreudigsten Vandalen nicht. Die Polizisten erreichten ihr Ziel, das Büro des sozialdemokratischen Oppositionsführers Günter Loschmitz, um halb sechs. Loschmitz residierte im zwanzigsten Stockwerk eines hypermodernen Wolkenkratzers, in den man nur nach einer aufwendigen Sicherheitskontrolle Zutritt erlangte. Remke war sofort wieder auf hundertachtzig.

„ Nimm die Finger weg, du Komiker. Ich bin ein Kriminaler und keine Schwuchtel, die jeder Trottel begrapschen darf.“

Der Wachmann, ausnahmsweise kein Camo, setzte seine Arbeit unbeeindruckt fort. Er wusste, dass er ein paar Scheine mehr im Monat machte als dieser Schimanskiverschnitt und blieb dementsprechend gelassen.

„ Los komm, Otto, wir haben schon genug Zeit verplempert. Sonst geht uns dieser Parteifatzke noch durch die Lappen“, befahl Kimrod knapp.

Nachdem sie die Kontrollen passiert hatten, fuhren sie mit dem Aufzug nach oben. Dort erwartete sie ein weiterer Privatsheriff, der die Polizisten nach einer kurzen Gesichtskontrolle entließ. Er war wahrscheinlich per Funk vom Anrücken der Konkurrenz informiert worden.

„ So, jetzt sind wir also da. Wir hätten den Pinscher fragen sollen, wo sich Loschmitz gerade aufhält. Bis wir alle Zimmer durch haben, ist längst Dienstschluss“, sagte Kimrod besorgt.

„ Typisch Beamter. Um fünf werden die Ärmel zugeknöpft. Und mir macht er immer Vorwürfe von wegen Dienstauffassung“, schimpfte Remke.

„ Ja, ja, du bist der coole Supercop und ich der biedere Stundenschieber, der jeden Schritt stur nach Vorschrift unternimmt. Aber wie finden wir jetzt heraus, wo sich die Assel versteckt hält.“

„ Warum Assel? Wir sind doch nicht im Keller. Außerdem habe ich ihn schon. Dort drüben links. Das Brett...“

Remke deutete auf eine mit Hier schläft der Chef Schild behängte Tür schräg gegenüber. Der Tip war gut. Gleich nachdem sie geklopft hatten, wurden sie von einer gut gebauten Brünetten in Empfang genommen. Remke übernahm die Verhandlungen.

„ Guten Tag, schönes Kind. Wir würden uns gerne mit Ihrem Boss unterhalten. Natürlich nur, wenn Sie nichts dagegen haben. Was haben Sie übrigens heute Abend vor? Ich würde mich freuen, wenn Sie...“

Die Sekretärin reagierte barsch.

„ Mit Ihnen bestimmt nichts. Herr Loschmitz ist für euch nicht zu sprechen. Er hat mit den Morden nichts zu tun und verweigert jegliche Stellungnahme.“

„ Sein Pech. Ich bin mir sicher, dass eine rasche Aufklärung des Falls nur in seinem Interesse liegen kann. Wir wissen, dass Loschmitz häufig in der Safaribar verkehrte. Wir verfügen über gute Kontakte zur Presse. Die Zeitungen würden sich schwer wundern, wenn Sie mit uns nicht zusammenarbeiten. Und jetzt lassen Sie uns durch. Herr Loschmitz hat schon lange genug gepennt.“

„ Sie Schwein!“

Kimrod schob die Vorzimmerdame rigoros zur Seite und betrat ohne anzuklopfen das Büro des Politikers. Loschmitz telefonierte gerade. Kimrod hielt ihm seinen Ausweis unter die Nase und unterbrach die Verbindung.

„Was fällt Ihnen ein, Sie Flegel. Ich habe gerade mit dem Finanzminister gesprochen. Das wird Sie Ihre nächste Beförderung kosten. Wo kämen wir denn da hin?“

„ Ist schon gut, Meister. Sie brauchen sich gar nicht aufzuregen, nur ein paar Fragen beantworten. Wo waren Sie in der Nacht von Freitag auf Samstag?“ wollte Kimrod wissen.

„ Auf einer Ausstellung. Kulturprogramm, nichts Aufregendes. Aber was geht Sie das an? Sie glauben doch nicht, dass ich mit den Morden etwas zu tun habe? Ihre Frau wird sich freuen, Sie Nestbeschmutzer.“

Loschmitz zündete sich eine Zigarette an und lächelte süffisant. Vielleicht konnte man diese Pfeife auf die Tour mundtot machen.

„ Meine Frau lassen Sie gefälligst aus dem Spiel. Es geht rein um Sie. Also?“

„ Ich war in der Galerie Brusberg. Ganz offiziell, alte Meister. Sie können es jederzeit nachprüfen, mit anschließendem Sektempfang. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte. Es gibt noch Leute, die sich ihr Geld verdienen müssen.“

„ Wir werden Ihre Angaben selbstverständlich überprüfen. Bis bald.“

Die Polizisten verließen das Büro und reihten sich in die Schlange vor dem Aufzug ein.

„ Jetzt erst Büroschluss? Ich dachte, spätestens um vier werden die Bleistifte fallengelassen“, wunderte sich Remke.

„Tja, der Wahlkampf. Jede Stimme ist bares Geld wert. Da machen die Herrschaften mobil. Bin ich froh, wenn wir hier raus sind“, erklärte Kimrod angewidert.

Die abgespannten Monitorvisagen der Angestellten sprachen Bände. Hier wurde in der Tat gearbeitet, natürlich für das Wohl des Bürgers.

„ Eigentlich müsstest du den Fall abgeben. Ich meine wegen Befangenheit. Zwei Genossen pinkeln sich nicht gegenseitig ans Bein. Du verstehst, was ich meine“, sagte Remke.

„ Geht das schon wieder los. Wir ermitteln gegen Loschmitz und nicht gegen meine Frau. Außerdem kennen sich die beiden kaum.“

Kimrod schüttelte angewidert den Kopf. Otto konnte einem manchmal ungemein auf die Nerven gehen. Die Beamten verließen das Hochhaus und gingen zurück zu ihrem Wagen. Kein Strafzettel, wenigstens etwas.

„ Ich fahre zurück ins Präsidium. Deinem HASSSO auf die Finger klopfen. Kommst du mit?“ fragte Kimrod seinen Kollegen.

„ Nein, danke mir reicht‘s für heute. Unser HASSSO hat außerdem immer die Nase vorn. Wann begreifst du das endlich?“

Kimrod ließ sich auf keine weiteren Diskussionen ein. Er war von seinem Vorhaben, die Liste der Verdächtigen eigenhändig durchzuforsten, durch nichts abzubringen. Es wäre doch gelacht, wenn der Riecher eines erfahrenen Praktikers weniger taugte als der Spürsinn kalter Leiterplatten.

Sie kamen um fünfzehn Minuten im Präsidium an. Remke verabschiedete sich und wünschte seinem Juniorpartner einen erholsamen Feierabend, natürlich nicht ohne dabei dreckig zu grinsen. Kimrod knurrte ihm leise ein paar Flüche hinterher und machte sich an die Arbeit. Die meisten Büros waren schon verlassen, nur noch im Keller brannte Licht. Die Spurensicherung machte wieder einmal Überstunden oder Zefhahn ließ den Nachwuchs beim Nahkampftraining schwitzen. Eine Übung, die er ab und an eigenhändig leitete. Kimrod konnte sich also ungestört an die Arbeit machen. Er begann bei den Rechtsradikalen, genauso wie heute früh. Es stellte sich jedoch bald heraus, dass HASSSO tatsächlich ausschließlich auf das vorhandene Material zurückgegriffen und nur die gröbsten Abweichler nach unten und oben ausgesiebt hatte. Dasselbe Bild bei den Sexualverbrechern. Nur Altersheim- und JVAinsassen waren nicht berücksichtigt worden. Und etwas anderes als die Computerdatei war eben nicht vorhanden, Punktum. Nach einer Stunde vergeblichen Wühlens gab Kimrod entnervt auf. Remke hatte wieder einmal Recht behalten. Otto und sein gottverdammter Elektronikschnüffler, zum Teufel mit ihnen. Kimrod betäubte seinen Frust mit zwei schnellen Pils in einer nahegelegenen Kneipe und fuhr anschließend nach Hause. Emma hatte ihm ein paar belegte Brote zurechtgemacht und eine kleine Notiz auf dem Küchentisch hinterlassen: Komme erst spät heim, das Übliche. Kimrod stärkte sich und machte es sich im Wohnzimmer gemütlich. Irgendwas drückte da an der rechten Poseite. Ach ja, richtig, die breitbauenden Wrestlingkarten. Es blieben nur noch zehn Minuten bis zum Beginn der Show. Kimrod machte sich wieder ausgehfertig und rief bei Remke an, denn Wolf hatte ihm zwei Karten geschenkt.

„ Hallo, du schon wieder. Nein Danke, kein Bedarf. Da ist doch sowieso alles nur gestellt. Gute Nacht.“

Zack, Ende der Vorstellung. Remke hasste fast alles, was über den großen Teich nach Europa kam, und dieses warm angehauchte Geschubse erst recht. In nichts vergleichbar mit einem guten, ehrlichen Boxkampf alter Schule. Na gut, diese Pflichtübung war erledigt, nun konnte der Spaß beginnen. Kimrod kannte das Proficatchen nur vom Fernsehen her. Diese Sportart wurde jedoch erst aus der Nähe besehen interessant. Der Bildschirm vermittelte nur einen Bruchteil von der Wucht und Eleganz der Gladiatoren. Wenn man etliche Kämpfe konsumiert hatte, begann man zu ahnen, was in den Athleten steckte und was sie zu leisten vermochten. Da war fast nichts abgesprochen oder angetäuscht, es ging knallhart zur Sache und nicht umsonst verschwanden einige Wrestler nach ihren Fights für Wochen oder Monate im Sanatorium. Oder ganz woanders. Die austrainierten Körper konnten natürlich Schläge und Stürze ab, die den Otto Normalverbraucher in den Rollstuhl gezwungen hätten, doch aus Stahl waren die Catcher auch nicht und die gellenden Schreie dienten nicht ausschließlich zur Einschüchterung des Gegners. Der Schmerz musste sich Luft machen, denn immer wieder drosch der Attackierende auf das angeschlagene Gelenk.

 

Kimrod traf kurz vor acht ein. Die Halle war bereits brechend voll, trotz des horrenden Eintrittspreises von fünfunddreißig Euro. Er verhökerte das zweite Billett an ein paar geschminkte und kostümierte Kids, die Paintos nahmen sich wie Chorknaben daneben aus, und stürzte sich ins Getümmel. Die Tribünen waren um einen pinkfarbenen Ring aufgebaut und bis auf den letzten Quadratzoll mit tobenden und kreischenden Fans besetzt. Ein Tagteamkampf, zwei gegen zwei, wobei jeweils nur ein Mann pro Abteilung im Ring stehen durfte, eröffnete den Reigen. Die Paarung hieß Donnerduo gegen die Crushercracks, die amtierenden Weltmeister in dieser Disziplin. Die Cracks dominierten von Anfang an den Gegner und ließen den etwas tollpatschig agierenden ersten Mann, Frank, keine Chance zum Wechsel. Denn der ausgeruhte, kampfhungrige Partner, der hinter den Seilen in der Ecke ausharren musste, durfte nur dann in den Ring, wenn sein Kamerad es schaffte, seine aufgehaltene Hand zu berühren.

Schließlich schaffte es Frank doch noch auf allen vieren bis in die Ecke seines Kollegen, der nach dem erlösenden Touch voller Elan in den Ring stürmte, aber am Ausgang des Kampfes bestanden bald keinerlei Zweifel mehr. Zwei harte Dropkicks, dann die Beinschere und schon war der Spuck vorbei. Die Cracks waren und blieben die amtierenden Champions. Ein Refight war so gut wie ausgeschlossen, denn die Donners hatten ihre Haut zu billig zu Markte getragen. Die Fans wollten Wrestler sehen, die sich bis zur totalen Erschöpfung bekriegten und erst aufgaben, nachdem alle Reserven vergebens mobilisiert worden waren. Die wahren Helden kämpften auch mit bandagierten und geschienten Extremitäten, schrien mitunter bei jeder Bewegung, aber die Glorie des zu verteidigenden oder erkämpfenden Gürtels, ließen sie alle Schmerzen und Qualen und vergessen. Durchbeißen und durchhalten, auch wenn‘s weh tat. Die Message war klar und deckte sich vollkommen mit dem amerikanischen Mythos des einsamen Helden, der sich trotzig gegen die übermächtigen Bösewichte durchsetzte und überall selbstlos in Aktion trat, wenn die Freiheit oder eine andere Ikone der US-Gesellschaft bedroht war.

Nach dem Tagauftakt folgte eine Handvoll eher durchschnittlicher Fights. Alte Haudegen erteilten Grünschnäbeln Nachhilfeunterricht und drittklassige Provinzgrößen wähnten sich noch immer in ihrer angestammten Heubodenheimat. Alles nichts Besonderes und Wrestlingfastfood. Doch der guten Stimmung tat das keinen keinen Abbruch. Die Fans beklatschten begeistert jeden Move und buhten lautstark, wenn der Schurke im Vorteil war. Eigentlich kein Wunder bei einem Durchschnittsalter von höchstens sechzehn.

Kimrod begann in seinen Kindheitserinnerungen zu kramen, aber außer Fußball kam nichts zum Vorschein. Das war eine total andere Welt hier. Brutalität und Prügel wurden wie bei Comixfiguren als selbstverständlich und doch nicht ganz ernstzunehmend akzeptiert. Hier konnte ungestört Dampf abgelassen werden, hier war noch alles in Ordnung. Gut und böse klar getrennt, gebräunte Bodybuildingkörper und skurrile Manager, die bisweilen tatkräftig und außerhalb der Legalität ins Geschehen eingriffen. Was wollte man mehr?

Die Regeln waren tatsächlich nur da, um nicht beachtet zu werden. Die Referees sahen nur das, was sie sehen wollten und so mancher Kampf wurde durch eine unerlaubte Aktion entschieden. Wenn wirklich Not am Mann war und einer der Wrestler von seinem wütenden Gegenüber ernsthaft verletzt zu werden drohte, eilten die pausierenden Kollegen herbei und lenkten den Rasenden wie die Clowns beim Stierkampf von ihrem Opfer ab. Endlich begann der Hauptkampf, der Bungeefight. Die Lichter erloschen und die beiden Kontrahenten wurden mit ihrer Auftrittsmusik zur Begleitung ganz langsam von der Decke herab an den elastischen Seilen hängend in den Ring hinuntergelassen. An allen vier Eckpfosten waren inzwischen circa vier Meter hohe mit Sprossen versehene Verlängerungen angebracht worden. Kimrod rätselte, was es damit auf sich hatte, doch er wurde bald aufgeklärt. Kaum hatten die Wrestler festen Boden unter sich, bewegten sie sich im Kängaruhstil auf die Pfosten zu. Jimmy Hurricane, der Favorit, machte seinem Namen alle Ehre. Mit einem mächtigen Satz und der Unterstützung des vorgespannten Seils enterte einen Pfahl und kletterte hurtig nach oben. Sein Gegner, ein maskierter Asiate, verfehlte sein Ziel im ersten Anlauf und verhedderte sich in den Seilen. Er musste sich neu orientieren. Jimmy witterte seine Chance. Er ging in die Knie und katapultierte sich mit seinen mächtigen Oberschenkeln auf den Asiaten zu, der erst jetzt wieder frei kam und der Attacke völlig schutzlos ausgeliefert war. Hurricane landete einen Volltreffer mit der rechten Ferse an der Schulter des Asiaten.

Während Hurricane in Siegerpose locker zurück pendelte, wurde der Maskierte in hohem Bogen über die Begrenzungsgitter hinweg in die Zuschauer hineingeschleudert. Doch die Kids fingen ihn locker ab und nach einer kurzen Erholungspause musste sich der angeschlagene Wrestler in den Ring zurück begeben. Die Schmähungen der Fans ließen keine Zweifel aufkommen. So billig sollte der Knabe sich nicht davonstehlen. Hurricane lauerte schon wieder auf seinem Horst, bereit zu einem neuen Anschlag aus der Luft. Doch der Asiate war zäh und wiederholte seinen Fehler nicht. Er hüpfte vorsichtig hinter den Eckpfosten und hangelte sich in dessen Deckung nach oben. Hurricane nahm erneut Maß.

Nach einem Zwischenschritt auf der Ringmitte, die Gummiseile verliehen seinem Move enorme Schwungkraft, flog er auf den vorgewarnten Gegner zu, der diesmal schneller war und dem Kickversuch ausweichen konnte. Hurricane war jedoch ein alter Fuchs und entwickelte blitzschnell eine neue Strategie. Nachdem er den höchsten Punkt seines Sprungs erreicht hatte, vollzog er eine Hundertachtziggraddrehung um die eigene Körperachse und kam mit dem Oberkörper voran zurück. Als er an seinem Kontrahenten vorbeipfiff, schnappten seine muskelbewehrten Pranken nach dem Hals des Asiaten, der nur halbherzige Abwehrversuche mit der verbotenen geschlossenen Faust unternahm. Hurricanes Aktion misslang allein deshalb teilweise, weil der Körper seines Opfers zu glitschig war. Die schweißgetränkte Haut des Asiaten, es war nicht allein die Angst, die diese Reaktion bewirkte, unter den zahllosen Scheinwerfern entwickelte sich schnell eine mörderische Hitze, ließ eine Hand Hurricanes vollständig abgleiten, so dass er den Maskierten nur mit halber Kraft mit sich reißen konnte. Aber immerhin, der Asiate wurde erneut schwer getroffen und blieb benommen im Ring liegen. Was Hurricane mit ihm angestellt hätte, wenn sein Vorhaben vollständig gelungen wäre, wurde beim nächsten Angriff beantwortet.

Hurricane kam erneut von ganz oben herangesaust, ging kurz vor der Landung in die Knie und schaffte es mit einem fantastischen Move, den Körper des noch immer halb Betäubten mit sich nach oben zu nehmen. Hurricane zog nun eine sehenswerte Nummer ab. Er hatte den Asiaten lässig wie eine Campingmatte unter den rechten Arm geklemmt und pendelte zwischen den zwei diagonal gegenüberliegenden Sprungpfosten hin und her. Er entwickelte dabei ein immer höheres Tempo, so dass der Maskierte, als er ihn schließlich fallen ließ, mit enormer Wucht auf die Bretter knallte, die zumindest in Jimmys Leben die Welt bedeuteten. Die Halle verwandelte sich in ein Tollhaus. Genau das wollten die Fans sehen. Keine Gnade für den Unterlegenen. Der Asiate benötigte geraume Zeit, um überhaupt wieder ein Lebenszeichen von sich zu geben. Der strahlende Sieger stand jedoch bereits fest. Hurricane wiederholte seine Sturzkampfbombernummer noch ein paar Mal, doch die Luft war raus aus dem Fight. Der Maskierte blieb passiver Statist. Jimmy hätte seine Übungen genauso gut mit einem Kornsack vornehmen können. Schließlich war es irgendwann überstanden. Hurricane schulterte seinen Sparringspartner und verabschiedete sich strahlend von seinen Anhängern. Ein echter Profi eben.

Die Show war zu Ende. Gott sei Dank, Kimrod konnte noch immer nicht verstehen, warum sich hier drin alle außer ihm so enthusiastisch gebärdeten. Wegen den paar Ohrfeigen so aus dem Häuschen zu geraten...nein, so weit war er noch nicht. Vielleicht verhielt es sich aber tatsächlich so wie beim Fußball. Nur wer selber mal gespielt hatte oder seit Jahrzehnten die Szene verfolgte, gewann Gefallen an der Sache und war durch nichts mehr von seiner Vorliebe abzubringen. Das konnte hinhauen, da die Kids doch spätestens bei der Einschulung mit Kampfsportarten Bekanntschaft machten.

Kimrod fuhr nach Hause und legte sich schlafen. Emma kam erst gegen ein Uhr nach Hause. Wie das diese Frau nur aushielt? Fast tagtäglich Sitzungen und Versammlungen, neben ihrem Job, neben dem Haushalt? Oder steckte tatsächlich ein anderer Kerl dahinter? Wenigstens unternahm sie diesmal keine Annäherungsversuche. Man konnte jeder Sache etwas Positives abgewinnen.

 

 

 

 

 

 

13.10 Dienstag

 

 

 

 

Der Tag begann, genauso wie sein Vorgänger, mit einem Paukenschlag. Ein paar Minuten nach Dienstbeginn trommelte Zefhahn seine Mannen zusammen.

„ Morgen, Morgen, die Herren. Jetzt fängt die Sache an, interessant zu werden. Vor einer knappen Stunde wurde Reverend Stähler angeschossen...“

„ Schade. Warum nur angeschossen?“

„ Nein, Remke, das ist nicht der Zeitpunkt für dumme Scherze. Ich wollte mit meiner Formulierung nur zum Ausdruck bringen...äh, Kimrod, Ihre Tochter wurde nicht verletzt, bevor ich es vergesse.“

Kimrod schluckte, aber immerhin.

„ Gut, es wird also ernst. Der Reverend besitzt großen Einfluss in maßgeblichen Kreisen. Da wird man uns ganz schön auf die Finger schauen. Was für Totsch galt, vielleicht war es ja doch nur ein selbstinszenierter Lausbubenstreich, muss nun vollständig ausgeklammert werden. Zwei Zufälle sind einer zu viel. Meine Herren, es brennt. Kimrod, Sie begeben sich augenblicklich zur Villa Schönborn. Wenn diese Sauereien nichts mit unseren Morden zu tun haben, lasse ich mich umtaufen. Und ihr beiden anderen bleibt vorerst hier. Wir müssen noch einiges klären.“

Remke befand sich schon draußen auf dem Gang. Kimrod folgte ihm.

„ Ach, hier bist du. Ich dachte, du wolltest mal wieder deine Papiere abholen.“

„ Viel geht weiß Gott nicht mehr ab. Man darf bald überhaupt nichts mehr sagen. Lass uns bloß verschwinden von hier, sonst spreng ich den Saftladen noch in die Luft.“

„ So kenne ich dich, Otto. Warum habt ihr eigentlich damals den Krieg verloren? Ich meine, wenn man dich so reden hört...“

Remke beförderte seinen Vorgesetzten mit einem kräftigen Schubs in den Fahrstuhl. Es konnte losgehen. Sie erreichten die Villa um viertel nach acht. Kimrod hatte sich Zeit gelassen.

„ Weißt du, Otto, allzu viele Köche verderben den Brei. Wenn du dir hier die Nummern ansiehst, verstehst du sofort, was ich meine.“

Die Kommissare kannten die Fahrzeuge von der Konkurrenz, Geheimdienst und Staatsschutz, ziemlich genau. Zu oft trat man sich neuerdings gegenseitig auf die Füße. Kompetenzstreitigkeiten. Immer mehr Täter wurden auch von den Bundesbehörden beansprucht, und der zusehends undurchsichtigere Bandendschungel in Berlin. Da flogen oft ganz schön die Fetzen. Wer da mithalten wollte, musste mit allen Wassern gewaschen sein und durfte sich keine Fehler erlauben. Es war schon passiert, dass sich der vermeintliche Großdealer als Undercoveragent aus Wiesbaden entpuppt hatte und man verlegen vor dem angeschossenen Kollegen auf das Eintreffen der Reporter wartete.

Die Villa Schönborn, es war eigentlich mehr eine Residenz, befand sich direkt am nördlichen Ufer des Hundekehle Sees, gänzlich abgeschottet von einer über vier Meter hohen Mauer. Kimrod stellte den Wagen direkt vor dem schmiedeeisernen Tor ab.

„ Ich habe nicht vor, allzu lange zu bleiben. Sieh dir nur diese Visagen an. Tout Berlin gibt sich die Hand.“

Remke nickte.

„ Ich kann dich gut verstehen. Vielleicht klappt‘s beim nächsten Mal. Auch ein Stähler ist nicht unsterblich. Dort hinten steht übrigens Ingrid. Sie kann uns bestimmt weiterhelfen.“

Die Polizisten bahnten sich einen Weg durch das Heer der Schaulustigen und Offiziellen. Die Tuschelnden ver-stummten als die Beamten passierten. Na immerhin etwas. Remke registrierte das mit Befriedigung. So ganz abgeschrieben war man nun doch nicht. Ingrid wandte sich von zwei streng blickenden Damen ab und begrüßte ihren Vater.

„ Hallo, du kommst erst jetzt?“

„ Ja, du weißt ja, bei so einer Aktion spielen wir nur die zweite Geige. Was war nun los?“

Ingrid wirkte ziemlich gefasst. Aber das konnte täuschen. Man sah ihr nicht immer an, was wirklich in ihr vorging. Besorgt war sie bestimmt.

„ Tut mir leid, Vater. Ich habe eigentlich nichts mitbekommen. James kam von einer Sitzung zurück. Der Täter muss durch das Tor geschossen haben. Ich war leider noch im Haus. Kein Knall, keine quietschende Reifen. James wollte sich erst gar nicht helfen lassen, aber ich habe sofort den Notarzt verständigt. Ich weiß, wie heimtückisch manche Geschosse wirken können.“

„ Aber nicht von mir“, sagte Remke, der sich mit HASSSO bewehrt unbemerkt genähert hatte.

„ Max, es tut sich was im Äther. Ich kann ihn kaum noch unter Kontrolle halten.“

„ Gut, gut, wir machen uns sofort auf den Weg. Geh schon mal vor. Ich komme gleich nach.“

„ Immer auf Achse, ihr Polypen. Aber ich habe auch noch jede Menge zu tun. Die ganzen Leute, du weißt wie das ist“, entschuldigte sich Ingrid und drückte ihrem Vater noch einmal die Hand, bevor sie in der Menge verschwand.

Kimrod schloss sich Remke an, der sich zielstrebig Richtung Ausfahrt vorarbeitete.

„ Erst draußen. Ich will vermeiden, dass diese Aasgeier auch nur ein Sterbenswörtchen mitbekommen“, flüsterte Remke seinem Kollegen hastig ins Ohr.

Die Menge teilte sich nicht nur scheinbar etwas langsamer. Immer mehr Neugierige strömten heran und wollten die Sensation aus nächster Nähe genießen. Schließlich hatten die beiden Beamten es doch noch geschafft. Sie stiegen in den Wagen ein und fuhren langsam los. Remke konnte sich endlich Luft machen.

„ Ein neuer Knaller. Bremser soll doch mit drinhängen. Wir müssen uns beeilen.“

Kimrod trat aufs Gas.

„ Wo war das, dieser Bremser? Ich bin ganz erschlagen von deinem verdammten HASSSO. So ein Tempo bin ich von dir nicht gewohnt.“

Remke packte das Utensil verärgert ein.

„ Ja, ja, dann sage ich eben nichts mehr. Aber du weißt, wo es hingeht. Pass auf...“

Sie rammten beinahe einen rechts überholenden Porsche. Kimrod konnte gerade noch das Schlimmste verhindern. Ein kurzes Fanfarenduell und die Sache war ausgestanden. Kimrod atmete kurz durch und bot Remke eine Zigarette an.

„ Danke, das kostet mich wieder ein paar Monate meiner Rente.“

Als sie die Autobahn erreichten, beruhigte sich der Verkehr wieder. Doch das in Richtung Schauplatz noch immer Andrang herrschte, machte sich fast bis zur Ausfahrt bemerkbar. Punkt halb neun parkten sie vor Bremsers Wohnung.

„ Du bleibst sitzen. Er wird freiwillig mitkommen.“

Remke hielt sich an die Anweisung seines Chefs. Wenig später begleitete Kimrod Bremser zum Wagen hinunter. Bremser machte einen gefassten Eindruck. Kimrod hatte ihm Handschellen angelegt.

„ Habe ich doch Recht behalten. Man muss denen nur Respekt beibringen“, sagte Remke und öffnete für den Verhafteten die Rücktür. Kimrod antwortete nicht und fuhr los. Auf dem Präsidium kümmerte sich kein Mensch um die Ankommenden. Kimrod schob Bremser in sein Büro.

„ So, nun sind wir ungestört. Was haben Sie zu dem Vorwurf zu sagen, mit einer Prostituierten in Kontakt geraten zu sein, die kurz darauf ermordet aufgefunden wurde? Die Morde in der Nacht von Freitag auf Samstag, letztes Wochenende?“

Der Verdächtige blieb stehen, obwohl ihn Remke auf einen Stuhl zu drücken versuchte. Bremser blieb stumm. Kimrod zündete sich eine Zigarette an und gab Remke ein Zeichen. Remke verschwand und kam fünf Minuten später mit HASSSO und einer Anweisung des Staatsanwalts zurück.

„ Wir dürfen“, sagte Remke und las Bremser den Haftbefehl vor. Bremser schwieg weiter.

„ Gut, dann eben nicht. Wir können auch anders“, erklärte Kimrod und verließ das Büro. Er versuchte, den Staatsanwalt persönlich zu erreichen. Ihm wurde klar, dass mit dem Kerl so nichts anzufangen war. Doch der Staatsanwalt wollte telefonisch keine weiteren Anweisungen geben. HASSSO habe gesprochen. Als Kimrod ins Büro zurückkam, erwartete ihn außer Bremser noch ein Arzt.

„ Nur rein damit. Ich will wissen, wo Sie in der Nacht von Freitag auf Samstag gewesen sind“, brüllte Remke.

Der Arzt wandte den Blick auf Kimrod.

„ Machen Sie, was Ihnen dieser Komiker sagt. Ich bin heute tatsächlich wieder einmal vollkommen überflüssig“, sagte Kimrod frustriert.

Kimrod wusste, was er aufs Spiel setzte. Diese Mittel wirkten zwar hübsch beruhigend, doch sie waren nachweisbar. Bremser setzte sich nicht zur Wehr, als ihm der Doktor das Injektionsgerät zwischen die Schulterblätter drückte. Zwei Minuten später kippte er um.

„ So, jetzt könnt ihr machen, was ihr wollt. Ich habe meine Pflicht und Schuldigkeit getan.“

Der Mediziner verließ das Büro.

„ Und jetzt heißt es warten. Er wird bald etwas gelöster sein.“

Remkes Prognose erfüllte sich. Bremser entspannte sich.

„Es bleibt dabei. Ich war zu Hause.“

Kimrod wusste, was er damit meinte. Weiter durften sie nicht gehen. Remke entließ Bremser mit einer wegwerfenden Handbewegung. Bremser verließ das Präsidium ziemlich angeschlagen. Dass er nur auf Grund der Anzeige einer Nutte verhaftet worden war, hatte ihm niemand erzählt. Die Unterwelt wollte schließlich wieder ungestört ihren Geschäften nachgehen können. Da kam ihnen ein Typ wie Bremser gerade recht.

Die Beamten schreckten auf. Besonders Kimrod, da sich HASSSO erneut meldete. Remke schaltete auf Empfang.

„ Die Safaribar.“

Er deutete auf das Telefon. Kimrod hob ab und schaltete den Lautsprecher ein.

„ Hier DJ Leo. Wir spielen gerade Hartgasttracker. Wenn Sie unbedingt mithören wollen.“

„ Ja, du Arschloch. Wir sind‘s, deine Steuereintreiber. Max und Moritz.“

Der Discjockey von der Safaribar. Kimrod wollte den Kerl nicht verprellen.

„ Bleib du dran mit deinem Strelen.“

„ In einer viertel Stunde an der Spree, unter der Jannowitzbrücke. Falls Sie dabei sein wollen, wenn mal wieder was unterm Parkett abläuft, gehen Sie hin. Viel Spaß beim Suchen. Haltet aber bitte die Nebelwerfer bereit. Wir machen auch mit.“

Remke nickte. Wenn der sich nicht auskannte.

„ Es bleibt dabei. Wenn, dann sind wir es nicht gewesen. Die Bullen.“

Kimrod wusste, dass im V-Fall alles an ihm hängen blieb.

„ Jetzt drück schon drauf. Dein Schätzchen lässt dich auch heute nicht im Stich. Ich bin so richtig schön sauer“, sagte Kimrod gereizt.

Er wusste nur zu gut, dass mit dem derzeitigen Stand der Technik alle Datentransfers mitgeschnitten werden konnten, natürlich auch vom Feind. Aber was blieb ihnen anderes übrig nach der Pleite mit diesem Bremser. Die Zeit war nicht auf ihrer Seite.

„ Ich kenne diesen Leo nur flüchtig. Der ist zwar nur auf Kohle aus, doch sonst ein senkrechter Kerl. Die Chance, diesem Strelen endlich ein Bein stellen zu können, lasse ich mir nicht entgehen“, äußerte Remke verbissen.

Kimrod drückte seine Zigarette aus.

„ Gut, in einer viertel Stunde. Wir werden es schaffen. Du kannst gleich mit dem Beten anfangen. Ich will endlich wissen, was hier überhaupt gespielt wird. Abmarsch.“

Die Straßen waren nicht besonders belebt. Kimrod befestigte den Kojak trotzdem auf dem Dach. Er wollte auf keinen Fall zu spät kommen. Fünfzehn Minuten nach neun parkten sie den Wagen ein paar hundert Meter unterhalb der Brücke. Es blieben noch genau hundertachtzig Sekunden. Nebel war aufgekommen.

„ Sauwetter. Ich kann mich zwar dunkel an die Visage von diesem Fuzzi erinnern, aber ich will Sicherheitsabstand einhalten. Außerdem maskieren sich diese Diskotrottel fast täglich neu. Es könnte sein, dass wir dem Verkehrten in die Arme laufen.“

Remkes Bemerkung schien bei seinem Chef nicht auf fruchtbaren Boden zu fallen. Kimrod hielt schnurstracks auf die Brücke zu. Er hatte heute schon zu viel riskiert, um sich mit solchen Lappalien beschäftigen zu können. Kurz darauf löste sich eine Gestalt aus dem Schatten des mächtigen Stützpfeilers.

„ Leo.“

Remke erkannte den DJ sofort an den massiven Umrissen.

„ Aber halte bitte die Schnauze. Ich führe die Verhandlungen“, sagte Kimrod gedämpft.

Leo schüttelte Remke zur Begrüßung die Hand.

„ Alte Truppe. Wie geht‘s, wie steht‘s? Wenn ihr ein paar Mäuse mitgebracht habt, kann die Post abgehen.“

„ Ich habe gerade einen Maulkorb verpasst bekommen. Du musst mit diesem Herren vorlieb nehmen.“

Remke deutete auf Kimrod, der nervös nach allen Seiten sicherte. Die Sichtweite betrug höchstens sechzig Meter. Kimrod winkte Leo näher heran.

„ Vor allem eins. Sprecht bitte leise. Wir dürfen auf keinen Fall...“

Plötzlich kippte Leo um. Die Kommissare ließen sich sofort auf den Boden fallen und robbten hinter den Körper des Diskjockeys. Kimrod strich mit seiner rechten Hand über die Stirn der Leiche. Das groschengroße Einschussloch befand sich genau unterhalb des Haaransatzes.

„ Blattschuss. Über eines bin ich mir jetzt wenigstens im Klaren. Wir beide allein sind ein paar Nummern zu klein für diesen Fall. Der Sniper wollte nur diesen Singvogel zum Schweigen bringen. Lass uns von hier verschwinden.“

Kimrod stand auf und klopfte sich den Schmutz von der Kleidung. Remke löste sich nur widerwillig aus der Deckung.

„ Du hast Nerven. Und wenn wir auch gleich den Abgang machen? Ich bin doch nicht lebensmüde.“

„ Aber vereidigt. Im Übrigen sind wir zu unbedeutend für solche Kaliber. Auf alle Fälle will ich mir nichts nachsagen lassen. Wir machen bei Loschmitz weiter.“

 

Die Polizisten gingen zum Wagen zurück und fuhren zu Loschmitzs Büro. Diesmal wurden sie erst gar nicht hereingelassen. Der Leiter der Wachdienstmannschaft teilte ihnen mit, dass der Politiker im Reichstagsgebäude zu tun habe. Kimrod ließ sich auf keine Diskussionen ein und vertraute ausnahmsweise dem Schwarzrock. Remke war während der Fahrt pausenlos mit seinem Tausendsassa beschäftigt. Er informierte die Zentrale über die Vorfälle unter der Brücke und wollte sich mit Zefhahn kurzschließen, da sich der Junior seiner Meinung nach vergaloppiert hatte. Denn sich zu nahe an Politfritzen heranzumachen, war gefährlich. Das Parlament war wie immer abgeriegelt.

„ Gottverdammte Bannmeile. Diese kleinen Schweine vermehren sich wie die Karnickel. Bei dem Scheißwetter profitieren sie sogar von ihren verfluchten Jacken“, schimpfte Kimrod und parkte den Wagen vor einer Sackgasse. Remke folgte seinem Vorgesetzten vorsichtig. Vor der Höhle des Löwen saßen nicht nur die eigenen Bleispritzen locker. Doch nachdem Kimrod einem Grenzschützer seinen Ausweis unter die Nase gehalten hatte, wurden sie nicht mehr belästigt. Sogar die Camos stellten sich ihnen nicht in den Weg, als sie das Gebäude betraten. Ein Kollege von der Kripo nahm sie in Empfang und führte sie in die Kommunikationszentrale.

„ Hier bitte. Macht, was ihr wollt. Mehr kann ich wirklich nicht für euch tun. Wir sind nicht in eurem Präsidium.“

Der Beamter verschwand wieder nach draußen. Er kannte keinen der beiden persönlich, aber immerhin hatten sie wahrscheinlich dieselbe Ausbildung durchlaufen. Was die nur hier drin wollten? Die hohen Herren leisteten sich zwar ab und zu einen Ausrutscher, schließlich waren sie auch nur Menschen, doch mit diesen Flittchengeschichten hatten sie doch mit Sicherheit nichts zu tun. Kimrod wandte sich an eine Sekretärin.

„ Machen Sie mir eine Verbindung zu diesem Loschmitz. Er soll sich im Haus aufhalten.“

Die Regierungsangestellte überlegte kurz und nahm dann den nächsten Hörer in die Hand. Remke musterte inzwischen die Damen, die in dem Großraumbüro für den Informationsfluss sorgten. Viele schöne Gewächse darunter. Jung müsste man noch mal sein.

Die Sekretärin hatte ihr Gespräch beendet.

„ Herr Loschmitz ist heute für niemanden mehr zu sprechen. Ende der Durchsage.“

Kimrod hatte eigentlich nichts anderes erwartet. Er erinnerte sich an das Zusammentreffen mit diesem Schneider am Teufelsberg. Vielleicht konnte der ihm ein paar Türen öffnen.

„ Gut, liebe Frau, dann funken Sie bitte Burkhard Schneider an, Staatssekretär im Kanzleramt. Der Mann kennt mich. Sagen Sie ihm, wenn er nicht kommt, lass ich seinen Chef verhaften.“

Die Sekretärin holte tief Luft und telefonierte wieder. Kimrod hatte sich in Schneider nicht getäuscht. Der Staatssekretär traf wenige Minuten später in der Kommandozentrale ein und führte die Beamten in sein Refugium, ein schalldichtes und abhörsicheres Abteil im Souterrain.

„ So, die Herren. Sie kenne ich bereits, Herr Kimrod. Deshalb müssen Sie mir Ihren Adlatus nicht näher vorstellen. Also, wo brennt der Hut?“

Schneider ließ sich hinter seinem Schreibtisch nieder und klopfte ungeduldig auf den Tisch. Remke griente. Endlich schien der Chef seinen Meister gefunden zu haben. Mit diesem Terrier war bestimmt nicht gut Kirschen essen. Kimrod ließ sich in einen mit Leder bespannten Sessel fallen.

„ Gut, Wiederholung vierhundertfünfundsechzig, die Prostituiertenmorde. Loschmitz soll mit drinhängen. Ihr steckt doch alle unter einer Decke. Können Sie mir weiterhelfen? Eines verspreche ich Ihnen nämlich. Ich werde nicht eher ruhen, bis dieser Saustall ausgemistet ist.“

Schneider schüttelte den Kopf.

„ So geht das nicht, mein Lieber. Wir lassen uns nicht erpressen. Wenn Sie mit uns ins Geschäft kommen wollen, müssen Sie auch was investieren. Als Erstes verschwindet Ihr Genosse. Ich verhandle nur mit Ihnen allein. Ich lasse ihn nach draußen führen.“

Ein Camo tauchte auf und begleitete Remke bis zur nächsten U-Bahnhaltestelle. Der Kriminaloberkommissar war einerseits froh, den Fängen dieser beiden Scharfmacher entronnen zu sein, andererseits machte er sich Sorgen um Max, dessen Prophezeiungen sich nun endgültig bewahrheitet zu haben schienen. Vielleicht wurde tatsächlich eine Staatsaffäre daraus.

Im Reichstagskeller wurden die Verhandlungen fortgesetzt. Schneider bot Kimrod Zigaretten an.

„ Danke, ich habe meine eigenen. Was haben Sie in petto?“

„ Alles!“

Schneider sprang auf.

„ Ich mache Sie jetzt zum Geheimnisträger. Wenn ich fertig bin, werden Sie in einer völlig veränderten Welt leben. In einer Welt, in der alles möglich ist. Und jetzt passen Sie gut auf. Was sagt Ihnen LARVEN?“

Kimrod blieb stumm. Er war doch kein Insektenforscher. Schneiders Atmung beschleunigte sich. Es war nichts anderes zu erwarten bei einem Kripostümper.

„ Linearaufzuchtsreaktorversuchseinrichtung Nord. L-A-R-V-E-N. Hat es Kling gemacht? Ja, gut, das braucht seine Zeit. Wir züchten Menschen. Wir, das ist eine Organisation, die aus Politikern, Militärs und Wissenschaftlern be-steht. Wobei das Primat natürlich bei der Politik liegt. So ganz wie im richtigen Leben. Die Betonung liegt auf züchten. Der Embryo reift innerhalb von zwei Jahren zum Imago, sprich Erwachsenen, heran. Wir machen das, um uns vor Anschlägen und Mordkomplotten zu schützen. Ihnen brauche ich nicht zu erzählen, wie gefährlich Führungskräfte heutzutage leben. Wir sind gezwungen, uns abzusichern. Wir machen das mit diesen Schossern, die bei Bedarf als Doppelgänger eingesetzt werden. Diese Ersatzmänner lernen innerhalb von zwölf Monaten genauso viel wie unsereins in zwanzig Jahren. Bleiben aber trotzdem immer nur Ersatz, ich meine Doubles. Bei näherer Inaugenscheinnahme fällt die Maske natürlich sofort, wenn man das betreffende Original näher kennt.

Die Wissenschaftler werden von Konzernen bezahlt, von denen auch der Großteil der finanziellen Mittel stammt. Das Ganze soll sich also auch rechnen. Nun gut, grau ist alle Theorie. Wir fahren ins Labor. Vorher muss ich Sie aber noch vereidigen. Sie werden Offizier beim Staatsschirm und unterstehen damit direkt dem Innenministerium. Anschließend meine ich...“

Kimrod zögerte keine Sekunde. Wenn es der Wahrheitsfindung diente, warum nicht? Auch wenn Schneider ein wenig dick auftrug, blieb noch genug übrig, um sich an den Krümeln schadlos zu halten.

Schneider trug die Eidesformel vor und Kimrod sprach ihm nach. Dass seine Mundwinkel dabei zuckten, konnte er nicht ganz verhindern. Irgendwie lächerlich war die Prozedur schon, besonders an diesem Ort. Staatsschirm, diese neue Abteilung operierte doch fast ausschließlich unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Und jetzt sollte er selber Mitglied werden, gleich als Offizier? Armes Deutschland. Fing der ganze Zirkus schon wieder von vorne an? Straßenschlachten, Geheime Staatspolizei, und vor allem Schosser?

Nachdem die Zeremonie abgeschlossen war, verließen die beiden Männer den Reichstag, mit zwei Camos als Eskorte. Ein gepanzerter Daimler mit uniformiertem Fahrer erwartete sie kurz vor dem Ende der Bannmeile.

„ Es geht los, Harry, Richtung Biesenthal. Drück drauf“, instruierte Schneider den Chauffeur zackig.

Kimrod stellte keine weiteren Fragen und genoss die Fahrt. Der massive Wagen schluckte alle Unebenheiten und ließ einen den schlechten Zustand der Straßen völlig vergessen. Auf den Nebenstrecken machte sich das Loch im Staatssäckel noch mehr bemerkbar als in der Metropole. Schlechte Bausubstanz, schlampig ausgeführte Arbeit, aber man gewöhnte sich daran. Es einmal nicht spüren zu müssen, war freilich Luxus.

Der Ort Biesenthal war ebenfalls von dichten Nebelschwaden verhangen. Ein idyllischer Platz für Frankensteins Experimentierküche, wenn ihm Schneider nun doch keinen Bären aufgebunden hatte und diese Genmonster tatsächlich existierten. Sie passierten die Siedlung ohne anzuhalten und stoppten erst mitten im Wald vor einer plötzlich aus dem Boden wachsenden Militärstreife. Die grimmig dreinblickenden Soldaten waren mit Sturmgewehren neuester Bauart bewaffnet und gaben den Weg erst frei, nachdem sich Schneider ausgewiesen hatte. Wenige Minuten später erreichten sie ihr Ziel.

 

„ So, Kimrod, wir sind da. Wir haben uns für diesen Ort aus rein sicherheitstechnischen Überlegungen entschieden. Keine neugierigen Spaziergänger, keine getarnten Zeitungsfritzen. Die ganze Anlage ist mit hohen Stahlgittern umgeben, die bei Bedarf unter Strom gesetzt werden können. Das Militär ist nur pro forma Betreiber, die Karten mischen natürlich wir. Nun kommen Sie schon, wir lassen den Wagen draußen. Hier kommt sowieso niemand an uns ran“, sagte Schneider und verließ schwungvoll den Wagen.

Er zückte eine weitere Karte und steckte sie in einen Schlitz neben dem Tor. Ein paar Sekunden später öffnete sich ein Flügel lautlos. Schneider ging voraus und winkte Kimrod heran. Außer ein paar billig wirkenden Baracken war noch nichts zu erkennen. Die ganze Umgebung verbreitete eine düstere Atmosphäre, so dass fast auch die letzten durchbrechenden Lichtstrahlen absorbiert wurden. Soldaten waren keine mehr zu sehen. Schneider führte Kimrod in eines der Gebäude.

„ Jetzt erschrecken Sie nicht. Es ist alles nur halb so schlimm wie es aussieht. Moderne Gentechnologie, mehr nicht.“

Schneider betätigte einen verborgenen Knopf. Die unverputzte Wand teilte sich und ein Aufzug wurde sichtbar. Kimrod griff unbewusst zu seiner Zigarettenschachtel. Schneider wählte schon die gewünschte Etage an und rief:

„ Nun machen Sie schon. Wir sind nicht mehr bei der Kripo.“

Der Kommissar riss sich zusammen und betrat den Lift, der höchstens für vier Personen konstruiert war. Kimrod zählte mit, als sie nach unten fuhren. Bei neunundzwanzig stoppte die Kabine, mit zwanzig hatte er angefangen. Die unbekannte Größe war die Beschleunigung. Es war ziemlich rasant nach unten gegangen. Kimrod wollte Schneider nicht zu sehr mit neugierigen Fragen auf den Wecker fallen. Das beste Bild machte man sich bekanntlich immer selber.

„ Wir befinden uns jetzt exakt fünfzig Meter unter der Erde. Zwar nicht atombombensicher, aber immerhin. Es steht auch einiges auf dem Spiel“, sagte Schneider und betrat einen röhrenförmigen Gang. Nach einer starken Biegung mündete der weißgetünchte Stollen in ein Labor. Der Aufzuchtraum maß etwa zwanzig mal dreißig Meter. Mehrere Wissenschaftler und Assistenten betätigten sich vor waschmaschineähnlichen Gebilden. Schneider führte Kimrod vor eine der Apparaturen.

„ Im Inneren des Reaktors können Sie einen sechs Monate alten Embryo ausmachen. Er ist gut vierzig Zentimeter groß und schon sehr kräftig. Sie wiegen in dem Alter im Durchschnitt achtzig Pfund. In den Reaktoren herrscht eine spezielle Atmosphäre, die den Kindern eine optimale Entwicklung garantieren.“

„ Kindern? Ich dachte, es handelt sich um Klone, um künstliche Existenzen.“

Kimrods Einwand löste bei Schneider ein kurzes Meckern aus. Der an einem Rechner stehende Bioingenieur rückte einen Schritt zur Seite.

„ Kinder, was glauben Sie denn? Dass wir unseren VIPs die Bälger stehlen und hier hochpäppeln? Natürlich sind es Klone, die mit der Erbinformation eines Menschen gezeugt werden. Das nötige genetische Material befindet sich in jeder x-beliebigen Körperzelle. Wir bevorzugen Blut. Es lässt sich am besten aufbereiten.“

„ Aufbereiten? Es muss also nachbehandelt werden...“

Kimrod schob seinen Kopf ganz nahe an das Bullauge heran. Tatsächlich, in einer Ecke schlummerte friedlich ein gedunsen wirkender Knabe, dessen Kopf aber eher zu einem Fünfzehnjährigem passte. Schneider verfolgte amüsiert die Studien des Kommissars.

„ Soll ich ihn wecken lassen? Das wird ein neuer Außenminister, falls wir mit unseren Wahlprognosen richtig liegen. Bald kann mit der Schulung begonnen werden. Wie das Ganze dann im Einzelnen abläuft, weiß ich selbstverständlich auch nicht. Aber unsere Gelehrten haben alles im Griff. Ich glaube, das genügt vorerst.“

Kimrod nickte. Während der Rückfahrt gab der Staatssekretär Kimrod neue Anweisungen.

„ Sie sind draußen aus dem Fall, vollständig. Ihr Zefhahn ist bereits informiert. Wenn wir in Berlin sind, setzen Sie sich in Ihre Kiste und begeben sich direkt nach Hause. Was Sie heute erfahren haben, reicht wohl, denke ich.“

Kimrod erhob keine Einwände. Hier war etwas Großes am Kochen, da hieß es am Ball bleiben. Das Reichstagsgebäude war noch immer dicht von Uniformierten umgeben. Es lag etwas in der Luft, zweifellos. Schneider ließ kurz neben Kimrods Wagen halten und entfernte sich anschließend in Richtung der Katakomben des Gebäudes. Kimrod machte sich aus dem Staub. Er war hungrig geworden und freute sich auf den freien Nachmittag. Seine Frau war nicht zu Hause, aber sie hatte den Kühlschrank gut bestückt. Kimrod kochte sich Nudeln mit Tomatensoße. Ein einfaches und nahrhaftes Gericht, dass einem frisch gebackenen Staatsschirmler auf alle Fälle zustand. Was wohl Remke gerade treiben mochte? Ohne seinen Chef war er doch völlig hilflos. Aber Schneider hatte sich klar ausgedrückt. Zur Verfügung halten und keinerlei Unternehmungen auf eigene Faust.

Nachdem er den Abwasch erledigt hatte, legte er sich im Wohnzimmer aufs Sofa und schlummerte bald ein. Gegen achtzehn Uhr wurde Kimrod durch heftiges Klopfen geweckt. Er rieb sich den Schlaf aus den Augen und öffnete fluchend die Tür. Remke schob ihn zurück in die Wohnung und legte los.

„ Mensch, du Penner! Wie kann man an einem solchen Tag nur die Matratze durchliegen. Im Reichstag ist während einer Sondersitzung eine Bombe explodiert. Exakt fünfundzwanzig Tote und jede Menge Verletzte...Kolz befindet sich unter den Opfern. Der Kanzler war Gott sei Dank nicht anwesend. Ich fürchte, der Rest der Regierung wird den nationalen Notstand ausrufen.“

„ Sollen Sie doch. Ich bin jetzt beim Staatsschirm und setze mich nur noch aufgrund eines Führerbefehls in Bewegung. Du kannst meinetwegen den Fernseher einschalten. Ich rühre mich auf jeden Fall nicht von der Stelle.“

Remke knipste den Apparat an. Die wenigen Sender, die überhaupt noch in Betrieb waren, berichteten ausschließlich von dem verheerenden Attentat. Blutbesudelte Bänke im Plenarsaal und alles voller Camos und Polizei. Plötzlich wurde ins Olympiastadium umgeschaltet. Auf der Spielfläche waren Hunderte von Verhafteten versammelt, die von Camos und vermummten Soldaten die Ränge hinunter geprügelt wurden. Der Kommentator verlieh dem brutalen Treiben einen legalen Anstrich.

„ Die Regierung sieht sich genötigt, einem derartig ruchlosen Verbrechen mit außerordentlichen Maßnahmen zu begegnen. Gegen die hier verwahrten Personen besteht wohlbegründeter Verdacht, mit den Attentätern in Verbindung zu stehen oder sie sogar unterstützt zu haben. Sie werden alle später einem Haftrichter vorgeführt und einem verfassungsgemäßen Gerichtsverfahren zugeführt. Man kann von Gefahr im Verzug sprechen. Die Grundpfeiler der Republik sind bedroht.“

Remke wechselte auf einen anderen Kanal. Jetzt konnte man die Ereignisse aus der Sicht eines Gefangenen verfolgen. Der gewiefte Journalist, der die Aufnahmen lieferte, benutzte offensichtlich eine versteckte Kamera. Vielleicht in einer Einkaufstüte, um die Öffentlichkeit von diesen himmelsschreienden Barbareien in Kenntnis zu setzen. Die schweren Knüppel droschen gnadenlos auf die Wehrlosen ein. Wie Vieh trieb man die Menschen auf das Spielfeld hinunter. Wer zurückschlug, wurde sofort mit einer Faustfeuerwaffe exekutiert. Remke brüllte vor Wut. Das durfte doch nicht wahr sein, in seinem Stadion. Plötzlich wurde er blass. Er hatte einen kurzen kurzen Blick auf Ingrid, Kimrods Tochter, erhascht, die mit einer neuen Gruppe den Spießrutenlauf durch die Mordknechte antrat. Kimrod wusste wieder, was er zu tun hatte. Schneider, dieses Schwein, hatte alles geplant. Die Bombe im Reichstag miteingeschlossen. Und natürlich Ingrid. Wenn es brenzlig wurde, täuschte sich Remke nie. Es gab nur einen Weg, sie da rauszuholen. Sie mussten sich selber internieren lassen.

Die Beamten stürmten nach unten. Als sie die Straße betraten, wurden sie von einem Kommando der Fallschirmjäger in Empfang genommen. Remke schoss sofort. Er setzte zwei Soldaten außer Gefecht und konnte bis in die nächste Einfahrt flüchten. Kimrod hatte nicht so viel Glück. Er wurde von drei Mann auf den Boden gedrückt und musste sich geschlagen geben.

„ Wenn du Schwein hübsch ruhig bleibst, passiert dir nichts. Wir machen nur einen kleinen Ausflug“, sagte der Zugführer.

Seine Befehle waren eindeutig. Kein Aufsehen, Kimrod lebendig ins Lager transportieren. Die Soldaten verfrachteten Kimrod auf die Pritsche eines MAN Lastwagens. Es wurden ihm Handschellen angelegt und vier Mann zu seiner Begleitung abgestellt. An Flucht war nicht zu denken. Der LKW war nach hinten offen. Kimrod kam die Gegend bald bekannt vor, die sie durchquerten. Genau dieselbe Strecke wie heute Morgen mit Schneider. Der Fahrer holte aus der Maschine das Letzte heraus, so dass sie bald Biesenthal erreicht hatten. Wer nicht Platz machte, wurde mit halsbrecherischen Manövern zur Seite gedrängt. Endlich durfte sich der Pöbel austoben. Auch hier draußen lagen Gewalt und Umsturz in der Luft. Die Fahrt endete abrupt vor einem hohen Erdwall. Kimrod wurde von der Ladefläche getrieben und mit vorgehaltener Pistole gezwungen, den steilen, glitschigen Hang zu erklimmen. Er schaffte es gerade noch und teilweise nur auf allen vieren, doch die Warnschüsse, die dicht neben ihm im Erdreich aufspritzten, wirkten aufmunternd genug.

Die Kuppe des Damms war von mehreren Rollen Natodraht gekrönt. Drei Viertel des umfriedeten Gebiets, es handelte sich offensichtlich um eine ausgebeutete Kiesgrube, war mit Wasser bedeckt. Auf den restlichen Quadratmetern kauerten einige bedauernswerte Gestalten im nassen Kot. Auf dem Wall standen mit Nachtsichtgeräten und Präzisionsgewehren ausgerüstete Wächter. Da hatten einige aber eifrig in der NS-Kladde gespickt. Zwei Schwarzuniformierte, es fehlten nur noch die silbernen Runen an den Kragenspiegeln, schoben die Stacheldrahtrollen auseinander. Kimrod zwängte sich durch die Lücke und stolperte nach unten. Es begann, kalt zu werden. Die anderen Häftlinge rieben sich die Hände aneinander oder stampften mit den Füßen. Wenn sie noch konnten. Etliche waren schwer misshandelt worden und stöhnten vor Schmerzen. Gebrochene Arme und Beine, ausgeschlagene Zähne und Platzwunden.

Kimrod fand das alles vor bei seinem ersten Rundgang. Er ging vor dem Weiher in die Hocke und schüttelte verzweifelt den Kopf. Wenn nur Ingrid nichts passierte.

 

„ Nur nicht aufgeben, Chef. Alles hat ein Ende, auch das hier. Ich kenne Sie. Sie sind ein Bulle. Mein Name ist Manfred Reuchler, Sicherheitsingenieur bei LARVEN. Schneider hat mir von Ihnen erzählt. Sie müssen ein verdammt guter Mann sein, Herr Kommissar.“

Kimrod erhob sich und starrte dem Ingenieur lange in die Augen. Warum hatte er ihn überhaupt angesprochen? Warum saß er hier drin mit ein, ein Mann, der bei LARVEN mitarbeitete? Ein neuer Fallstrick Schneiders?

Der Ingenieur machte einen gut gelaunten Eindruck. Ein paar Kratzer im Gesicht, das war alles. Die Konzentrationslagerluft wirkte anscheinend anregend auf ihn.

„ Sie waren oder sind bei LARVEN beschäftigt. Warum versucht man Sie dann auszuschalten, einen Mann mit Ihren Qualifikationen?“

Der Ingenieur beantwortete Kimrods Frage nicht sofort. Er fischte eine Packung Filterloser aus seiner Jacke und bot Kimrod eine an. Der Kommissar nahm den Glimmstängel dankbar entgegen. Reuchler wurde ihm immer sympathischer.

„ Warum ich hier bin? Ganz einfach, ich weiß zu viel. Die Revolution frisst ihre Kinder.“

Reuchler grinste immer breiter. Sein letzter Satz erschien ihm besonders treffend.

„ Anfangs lief alles so schön nach Plan. Die Schosser gediehen prächtig, die Regierung zahlte brav. Das Unternehmen begann sich zu rentieren. Die beteiligten Konzerne konnten also zufrieden sein. Nur Schneider und Loschmitz waren unersättlich. Sie gierten nach mehr Macht, der absoluten Macht im Staat. So ein kleiner Putsch ist doch leicht zu bewerkstelligen, wenn die ganze Elite des Landes austauschbar ist und durch willenlose Befehlsempfänger ersetzt werden kann. Das genau hat sich in den letzten achtundvierzig Stunden ereignet. Doch wer zuletzt lacht, lacht am besten.“

Reuchler inhalierte tief. Er schien sich seiner Sache ziemlich sicher zu sein.

„ Und die Mädchen, wer hat die auf dem Gewissen? Etwa ein Schosser?“ fragte Kimrod.

„ Sehr wahrscheinlich. Loschmitz ist eine alte Sau, die sich gerne im Milieu suhlt. Aber zwei Nutten einfach so abzumurksen, das ist nicht seine Kragenweite. Wir hatten immer ein bisschen Schwierigkeiten damit, den Schossern so etwas wie Ethik oder Moral einzutrichtern. Wenn es unter die Gürtellinie ging, war nie so recht Verlass auf sie. Sie können es vor allem nicht verkraften, nur künstliche Wesen zu sein, von unseren Gnaden. Ein falsches Wort zur unrechten Zeit...da passiert so etwas schnell.“

„ Ich verstehe. Wenn Loschmitzs Doppelgänger doch einiges von ihm mit in die Wiege gelegt bekommen hat, erklärt das vieles. Nun haben wir einen Golem auf der Fahndungsliste. Das kauft Zefhahn mir nie ab. Aber eigentlich bin ich gar nicht mehr bei der Kripo. Schneider hat mich für den Staatsschirm vereidigt.“

„ Ein toller Hecht, der Herr Staatssekretär. Aber jetzt bin ich am Zug. Die Wärter dort oben sind alle geschmiert. Kein Problem also rauszukommen. Ein paar hundert Meter weiter im Unterholz habe ich einen Koffer vergraben, mit dem wir per Satellit alle im Umlauf befindlichen Schosser außer Betrieb setzen können. Alles über Telefon.“

„ Gut, dann los. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Meine Tochter befindet sich in den Händen der Folterknechte im Olympiastadium. Wenn ihr etwas passiert, putsche ich mich an die Macht.“

Reuchler winkte kurz einem der Soldaten auf den Wall.

„ So, jetzt kann es losgehen. Die Burschen sind nicht alle vom Erfolg der Aktion überzeugt. So ein Schuss kann auch verdammt schnell nach hinten losgehen. Ich habe pekuniär vorgesorgt. Wir haben die Schosser zum Beispiel auch als Organspender benutzt. Auf eigene Rechnung natürlich. Da war einiges rauszuholen. Die alten Vetteln zahlen praktisch jeden Preis für Austauschteile. Nun aber los. Der Lagerkapo oben hat genickt. Aber nicht zu auffällig.“

Reuchler setzte sich vorsichtig in Bewegung. Er hielt auf den Soldaten zu, mit dem er sich verständigt hatte und begann, sich nach oben zu arbeiten. Kimrod folgte ihm lautlos. Er hatte seine Kipppe weggeschnippt und versuchte, sich möglichst schleppend zu bewegen. Wie ein angeschlagener KZ-Insasse eben. Der Sicherheitsingenieur erreichte wenig später den Scheitelpunkt des Begrenzungswalls. Der Wärter warf eine faltbare Vorrichtung über die Drahtrollen und wünschte Reuchler gedämpft alles Gute. Reuchler arbeitete sich hurtig über die Barrikade. Er gab dem Kommissar danach Hilfestellung, indem er sich auf die mit Kunststoff zusammengenieteten Aluplatten von seiner Seite her auf den Boden drückte. Kimrod fluchte leise und zerriss seine Hose. Sein rechtes Bein hatte sich verheddert. Da half nur noch Gewalt. Wie man in einer derartigen Ausnahmesituation noch so knickrig sein konnte. Reuchler fasste den Kommissar an der Hand und zog ihn zu sich hinunter. Die Stacheldrahtrollen schnellten lautstark in ihre ursprüngliche Form zurück. Dem Kommissar blieb keine Zeit zum Atem holen. Reuchler hatte einen elektronischen Apparat aus der Innentasche seiner Jacke hervorgeholt.

„ GPS. In ein paar Minuten ist der Spuk zu Ende. Los, hier lang.“

Der Ingenieur verschwand im Schatten der jungen Fichten. Kimrod duckte sich und trabte ebenfalls los. Niemand schien ihnen zu folgen. Hatten sie es tatsächlich schon geschafft? Etwa zehn Minuten später piepte Reuchlers Orientierungskästchen immer lauter. Der Ingenieur wurde langsamer.

„ Wir sind da. Dort drüben die alte Eiche.“

Er deutete auf einen vor dem Umkippen stehenden Baum und machte sich sofort zwischen den freiliegenden Wurzeln zu schaffen.

„ Ha, ha, Herr Kommissar, wir haben gewonnen. Das Ding ging nicht verschütt.“

Reuchler schwenkte triumphierend einen dreckbeschmierten Lederkoffer in der Luft, den er eben mit bloßen Händen ausgegraben hatte. Der Ingenieur stellte die richtige Zahlenkombination ein und ließ den Koffer aufschnappen. Er richtete den im Deckel befindlichen Schirm ein und begann, eine scheinbar endlose Nummernfolge einzutippen.

„ So, das war‘s. Jetzt sind alle im Betrieb befindlichen Schosser stillgelegt. Schneider und Loschmitz dachten wohl, mit meiner Internierung wäre diese Achillesferse ausgeschaltet. Sie werden sehen, wie schnell das Umsturzkartenhaus zusammenbricht. Der echte Kanzler übernimmt wieder die Regierungsgeschäfte und wird die Übeltäter ihrer gerechten Strafe zuführen.“

„ Oder auch nicht. Diese Bonzen halten doch zusammen wie Pech und Schwefel. Vielleicht sind Loschmitz und Schneider nur kleine Handlanger. Aber egal. Was mich interessiert ist nur eins: Lebt meine Tochter noch? Wählen Sie bitte diese Nummer.“

Kimrod drückte Reuchler einen Zettel in die Hand. Der Ingenieur fing an, die Tastatur zu bearbeiten und reichte Kimrod den Hörer. Nach ein paar Dutzend bangen Sekunden meldete sich Emma.

„ Ingrid lebt. Otto hat sie rausgehauen. Nun sitzen die Camos im Stadion ein. Es wird alles wieder gut.“

 

 

 

ende

 

 

 

 

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Tag der Veröffentlichung: 14.07.2010

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