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Der Sommerflirt
Ich saß auf der Sonnenterasse, die mein Vater so liebevoll gestaltet hatte. Sie war von Blumen umringt. Jede von ihnen wurde von ihm sorgsam ausgewählt und wie ein Kind behütet und gepflegt. Es war also kein Wunder, dass sie, wie scheinbar zum Dank, in der schönsten Farbpracht blühten. Sie erbrachten so viele Blüten - es war fast so, als ob sie an einem geheimen Wettkampf teilnahmen – nur konnte keiner gewinnen, denn mein Vater liebte sie alle. Er liebte sie wirklich und widmete ihnen all seine kostbare Freizeit. Und genau das war das Problem. Eigentlich sollte er mich, seine Tochter lieben und mir seine ganze kostbare Freizeit schenken. Dies war aber nicht so. Traurig aber wahr. Dennoch musste ich über meine witzige Vorstellung schmunzeln.
Ich erinnere mich nur allzu gut daran, wie meine Mutter und ich letzten Frühling, mit aufgerissenen Augen und offenen Mündern vor unserem Eingang standen und unfähig waren etwas zu sagen. Wir waren doch nur ein Wochenende bei Tante Sophie gewesen… Mein Vater hatte aus unseren kleinen Vorgarten eine Art Hotelauffahrt gezaubert!!! Meine Begeisterung hielt sich in Grenzen. Ich war beinahe eifersüchtig auf dieses Grünzeug, denn sie waren es, die mit meinem Vater ein schönes Wochenende verbringen durften. Ich dagegen musste mir das nie endende Gequatsche meiner Tante anhören. Es steckte so viel Liebe in seiner Arbeit, dass es mich fast erschauderte.
Es ging jetzt nicht nur ein gepflasterter Weg zur Garage, sondern es führte auch abzweigend ein Weg bis genau vor unsere Haustür und auf der anderen Seite wieder runter.
Am Rand der Auffahrt standen perfekt zugeschnittene Bonsai-Bäumchen und prahlten nur so vor Schönheit und Antlitz.
„Und, ist es nicht wundervoll?“- schrie er uns halb entgegen. Naja, „verrückt“ hätte wohl besser gepasst, dachte ich mir und verschwand schnell im Haus. Noch mehr von diesem Wahnsinn konnte ich nicht ertragen. Zumal mich die Leidenschaft meines Vaters für sein Hobby wirklich traurig machte.
Im Grunde mochte ich es, weil es sowas von kitschig war, dass es fast schon wehtat. Und weil diese Pflanzen nichts dafür konnten, dass meine Eltern mich beinahe wie ein Stiefkind behandelten. Oder besser gesagt, sie taten nichts. Dennoch waren sie meine Eltern und ich liebte sie. Auch wenn auf meine eigene Art.
Ich wollte mir aber nicht meine- noch bis vor kurzem- gute Laune verderben. Wenn ich inzwischen etwas gelernt hatte, dann war es das, dass es nichts bringt traurig, wütend, oder sonst irgendetwas zu sein. Es änderte nichts daran, dass meine Eltern Gefühlskrüppel waren.
Ich hatte gelernt mich sehr gut selbst zu beschäftigen und vor allem zu belustigen. In diesem Punkt war ich echt einfach super. Es lag vielleicht daran, dass ich von Natur aus ein fröhlicher Mensch war. Zum Glück. Sonst wäre ich mit hoher Wahrscheinlichkeit mittlerweile mindestens depressiv, wenn nicht sogar suizidgefährdet.
Ich hasste Pessimisten. Dies waren meist die Menschen, denen es in Wirklichkeit zu gut ging. Quasi aus Langeweile pessimistisch.
Meine Eltern hatten mich dazu erzogen, in allen Dingen das Positive zu sehen, was nicht heißen soll, das es einfach war. Sie taten es so und ich machte es ihnen nach. Das mochte ich an ihnen.
Das positive Denken war viel eher wie ein Zaubertrick, den man jahrelang üben musste, um ihn richtig zu beherrschen, aber wenn man es einmal konnte, hat man es auch nicht mehr verlernt. Man musste nur stets aufpassen, dass man sich nicht selbst belog, dass man einfach etwas Positives sehen wollte.
Ich muss gestehen, dass mir manchmal genau das nicht gelang. Wie denn auch, wenn man von Gleichgültigkeit umringt wird. Man schafft sich unwillkürlich eine eigene Welt. Eine Luftblase voller Lügen.
Es ist einfacher sich selbst zu belügen, als zuzulassen, dass es jemand anderes tat. Es ist ein instinktiver Schutzmechanismus, würde ich behaupten.
Ich baute ihn ganz besonders gerne bei meinen Eltern ein - da war das Schutzverlangen am größten. Nicht, dass sie mich anlogen – es war eher das Gefühl, dass sie – erstens kaum für mich da waren, weil sie andauernd arbeiteten und zweitens, wenn sie mal Zeit hatten, dann wurde sie meistens nicht mir gewidmet.
Mein Vater ging dann seiner ausgeprägten Leidenschaft im Garten nach oder die beiden verbrachten die Zeit miteinander.
Ich fragte mich öfter, wie ich wohl entstanden war, ich mein, ob ich ein Wunschkind gewesen bin, oder nur Etwas, was einfach passiert ist und wofür sie Sorge tragen mussten. Wie auch immer. Der Punkt war, es machte mein Leben ziemlich einsam.
Die einzige Person, die überhaupt Interesse an mir zeigte war Kate, meine beste und einzige Freundin. Auch das war auf eine Weise eine traurige Gewissheit.
Eigentlich waren wir zu verschieden und ich verstand auch nie so ganz, warum sie gerade mit mir befreundet sein wollte. Ich war so langweilig, wie eine Toastbrotscheibe beim rösten.
Kate war dagegen eine feine Dame, würde ich fast sagen. Sie war groß, schlank und immer bis ins letzte Detail durchgestylt. Das Make- Up sah immer aus, als ob es Stunden gedauert hatte und da war auch kein Haar, was nicht sorgfältig hingelegt wurde. Ihr koketter blonder Pagenschnitt war immer geradezu perfekt.
Sie redete andauernd auf mich ein, was mein Styling betraf. Das war für mich einfach nur ein nerviges Thema, womit ich mich nicht beschäftigen wollte. Ich mein, ich kleidete mich völlig normal, durchschnittlich so wie Millionen anderer Menschen und das war vollkommen okay. An meinen Haaren wollte und konnte ich nicht viel ändern. Sie waren einfach nur lang, schwarz und lockig, was ich von meiner Mutter geerbt hatte. Ich fand sie so hübsch, wie sie waren. Punkt.
Es gab so einige Dinge, die bei uns total gegensätzlich waren, aber vielleicht waren wir auch deswegen so gut befreundet, weil wir uns einfach bei vielen Sachen nicht in die Quere kamen. So etwas wie Neid gab es einfach nicht. Mir fiel kein einziges Thema ein, wofür es sich hätte lohnen können zu streiten. Außerdem hasste ich Streit. Davon bekam ich nur Bauchschmerzen.

Die Sonne von Florida schien mir weiterhin auf meinen Körper, der sich mittlerweile anfühlte wie ein gegrilltes Würstchen.
Etwas zu heiß und ein bisschen verkohlt. Zeit zum reingehen.
Ich war noch mit Kate verabredet und wie ich sie kannte, war sie schneller hier als ich denken konnte. Sie war immer zu hektisch für meinen Geschmack. Es musste alles immer schnell gehen. Sie überschlug sich halb, bei allem was sie tat und ganz besonders beim reden. Das war ein Punkt, den ich an ihr nicht so gerne mochte. Es strengte mich an, weil ich sowieso nicht so gerne viel redete. Ehrlich gesagt wusste ich auch gar nicht worüber ich reden sollte. Ich hatte noch nichts erleben können, war noch nie aus Jacksonville raus- außer die Pflichtbesuche bei meiner Tante Sophie, aber die wohnte nur ein paar Meilen von Jacksonville entfernt- und mit Jungs hatte ich erst recht nichts am Hut.

Wenn Kate einmal anfing zu reden, war alles verloren. Meistens war das aber auch sehr praktisch, weil ich dann nur noch zuhören und nicken musste. Meistens hörte ich ihr nur mit einem halben Ohr zu, es ging meistens sowieso nur um Shoppen, Klammotten oder den neuesten Designer. Meine Klamotten kamen aus dem Einkaufcenter in der Innenstadt. Und „Made in China“ war mir noch nicht als ein trendiger Designer bekannt.
Es gab nur ein Thema, was mich persönlich aufhören lies und das war das Thema „Jungs“. In diesem Punkt hatte Kate bereits wesentlich mehr Erfahrungen als ich und ich hoffte, von ihr etwas lernen zu können.
Ich bin nämlich so ziemlich das schüchternste Mädchen, was es auf meiner Schule- ach, was sag ich, auf dem gesamten Planeten- gibt, zumindest dachte ich das. Nicht, dass es keinen Jungen geben würde, den ich gut fände, es war nur so schwierig… Ich wusste einfach nicht, wie ich es anstellen sollte. Wenn ich Kate´s Rat befolgen sollte, dann müsste ich mich dafür verstellen und genau das wollte und vor allem konnte ich nicht.
Es gab ein paar Jungs, von denen ich wusste, dass sie mich gut fanden, Kate beneidete mich immer deswegen. Ich dagegen hatte eher das Gefühl, dass es nicht direkt an mir lag, sondern einfach nur an der Tatsache, dass es jemanden auf diesem Planeten gab, der nicht ihr zu Füßen lag.
„Ach Lila, mit deinem Aussehen könntest du allen Jungs den Kopf verdrehen“, tadelte sie mich ständig.
“Schau dich doch mal an, schon alleine dein Haar ist eine Sünde, oder kennst du jemanden, der so eine Prachtmähne besitzt? Also ich nicht. Du siehst aus, wie ein schwarzhaariger Engel, meine Liebe.“ – hörte ich sie reden.
Obwohl, ein bisschen Neid hörte ich da doch heraus. Sie würde es natürlich niemals zugeben und ich vergaß es auch wieder ganz schnell, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass sie irgendetwas an mir gut fand.
„Liebes, du bist 19 Jahre alt und hast es gerade einmal geschafft, dass Phil Meyer dir einen Kuss gibt. Lila, er ist bis über beide Ohren in dich verknallt und ich weiß zufällig, dass auch du nicht gerade abgeneigt bist! Lass es zu, sonst stirbst du als alte Jungfer!“ – schallte es immer noch in meinen Ohren.
Amen.
Ja, vielleicht hatte sie nicht gerade Unrecht, ich fand Phil Meyer wirklich ganz süß… Er ging in eine Parallelklasse und er sah wirklich gut aus, wie ich fand. Wir hatten bislang noch nicht so viel miteinander geredet oder gar etwas anderes getan. Wenn ich ehrlich war, wusste ich nur seinen Namen. Heimlich beobachtete ich ihn, wenn er sich mit den anderen Jungs auf dem Parkplatz vor der Schule traf, oder oberkörperfrei Basketball auf dem Platz hinter der Schule spielte.
Er hatte einen sehr schönen athletischen Körper, der beinahe fehlerfrei zu sein schien. Immer wenn er hochsprang, um den Ball reinzuwerfen, zeichneten sich die einzelnen Muskeln ab. Er hatte eine sehr anziehende Art sich zu bewegen, gestand ich mir ein und das machte ihn irgendwie älter, als er in Wirklichkeit war. Sein kurzes haselnussbraunes Haar war immer hübsch gestylt, aber am meisten gefielen mir seine braunen Augen.
Sie waren zu kleinen Schlitzen geformt, was ihm einen sehr wachen Blick verlieh. Sie funkelten immer ein wenig… Manchmal, wenn unsere Blicke sich zufällig trafen, schaute er zu mir rüber und winkte. Das reichte schon vollkommen aus, um mich aus der Bahn zu werfen.
Ich konnte mir durchaus vorstellen, mich in ihn zu verlieben. Dieser Gedanke bestätigte mir, dass ich es noch nicht war. Bin ich vielleicht auch ein Gefühlskrüppel, so wie meine Eltern? Oh, bitte nicht. Was mir in dem Moment plötzlich auffiel, war, dass sie nur mir gegenüber so kalt und gleichgültig waren. Untereinander sah es ganz anders aus. Hm. Nicht weiter darüber nachdenken. Das war ein perfekter Augenblick für die Anwendung meines positiven, verdrängenden Denkens.
Meine Gedanken schweiften wieder zurück zu Phil.
Eines Tages passierte nämlich etwas völlig Unmögliches. Für mich zumindest unmöglich und kaum vorstellbar.
Es war am Anfang der Sommerferien. Phil und ein paar andere Schüler planten einen netten Abend an einem Lagerfeuer, bevor alle in die Ferien gingen.
Kate hatte es mir erzählt, sie wusste immer über alles Bescheid. Für sie kam es natürlich nicht in Frage dahin zu gehen. Nicht ihr Niveau.
Als ich mal wieder bei einem Basketballspiel zuschaute, kam er danach auf mich zu. Lächelnd rieb er sich mit seinem Shirt den schweißgebadeten Körper ab. Ich wusste gar nicht, wo ich zuerst hinschauen sollte, er raubte mir halb meinen jungfräulichen Verstand. Meine Hände spielten unkontrolliert mit einer Strähne. Er setzte sich einfach zu mir, als ob wir uns seit Ewigkeiten kannten und fragte mich, ob ich Lust hätte ihn zu begleiten.
Oh, Gott ich war so aufgeregt. Er schaute mich schmunzelnd an und sein Blick wurde ein wenig forscher als sonst.
“Also, ich würde mich freuen, wenn du zusagst, Lila. Es wird bestimmt ein sehr schöner Abend werden und ich verspreche dir auf dich aufzupassen“, sein Blick wanderte verlegen auf den Boden.
In dem Moment verriet er mir, dass er mehr empfand, als nur Freundschaft und dass er mit diesem Abend die letzte Möglichkeit nutzen wollte, mit mir vor den Ferien noch ein wenig Zeit zu verbringen. Er tat mir fast leid, denn er sah auf einmal traurig aus und ich wusste, dass es irgendwie meine Schuld war… Es sah fast so aus, als ob er sich es einfach nicht vorstellen konnte, dass ich ihm zusagen würde. Ihm fehlte es ja offensichtlich nicht an Selbstvertrauen, im Gegensatz zu mir.
Ich nahm all meinen Mut zusammen und berührte zaghaft seine Hand, wobei mein Herz fast aus der Brust hüpfte und meine Knie anfingen Wellen zu schlagen. Er sah mich ein wenig erstaunt an, scheinbar hat er mit meiner Reaktion nicht gerechnet. Schnell, bevor ich es mir anders überlegen konnte, nahm er meine Hand in seine, und die Augen funkelten vor Freude.
„Soll das heißen, dass du mitkommst??“- seine Stimme überschlug sich fast und ich glaubte sein pochendes Herz hören zu können. Er benahm sich auf einmal wie ein albernes Kind. Dieser Anblick amüsierte mich wirklich, das hätte ich nie von ihm erwartet. Meine Zurückhaltung wich allmälig, denn er gab mir das Gefühl, dass ich ihm vertrauen konnte.
„Ja, ich denke schon…“, antwortete ich und lächelte ihn an.
Er schaute mir ins Gesicht und in seinen Augen spiegelten sich so tiefgründige Gefühle, die er in diesem Moment scheinbar empfand. Sie waren so voller Liebe und Dankbarkeit, dass mir davon schwindelig wurde. War er wirklich dankbar dafür, dass ich ihm zugesagt hatte? Das konnte ich irgendwie nicht begreifen, aber es schien ganz so zu sein.
Seine linke Hand hielt immer noch meine und die rechte Hand wanderte zu meinem Gesicht und ich war kurz davor einfach umzukippen.
Er strich mir über meine glühende Wange und legte eine meiner Locken, die mir halb im Gesicht hing, zurecht. Es fühle sich wirklich sehr vertraut und gut an… Ich genoss es und machte unfreiwillig meine Augen zu.
„Schön… Ich meine, ähm schön, dass du Zeit hast“, sagte er schnell und fühlte sich von sich selbst verraten. Ich riss die Augen wieder auf, als ich merkte, dass er mich beobachtete.
Ich kicherte über mich selbst und es tat auch irgendwie gut ihn so verlegen zu sehen. Scheinbar hatte nicht nur ich das Problem. Ich wusste natürlich, was er damit meinte, aber es machte die Sache nicht einfacher. Ich wusste jetzt, was er für mich empfand und jetzt musste ich mir im Klaren werden, ob ich seine Gefühle erwidern konnte, ob ich auch mehr, als nur Freundschaft wollte. Aber dafür wollte ich mir noch die ganzen Sommerferien Zeit nehmen.
Phil holte mich um Punkt acht Uhr ab. Er schien sichtlich nervös zu sein, was mich ein wenig beruhigte, denn ich lief in der letzte halbe Stunde ununterbrochen in meinem Zimmer auf und ab.
Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Jede nur mögliche Variante dieses Abends bin ich fünfmal in Gedanken durchgegangen.
Da wäre z.B. die Variante, dass Phil mich küsst und ich mich total dusselig anstelle und dabei ins Lagerfeuer stolpere. Die Vorstellung war wirklich fürchterlich. Ich traute sie mir aber zu.
Ich stieg ohne viele zu sagen in sein Auto ein, lächelte ihn kurz an und hoffe einfach nichts Dummes von mir zu geben.
„Lila, du machst mich wirklich nervös. Entspann dich bitte, ich bin doch kein Ungeheuer, was dich überfallen möchte“, sagte er etwas eingeschnappt.
„Bitte nehm es mir nicht übel. Ich bin einfach nur aufgeregt“, gab ich ehrlich zu.
„Aber das mit dem Ungeheuer, solltest du nochmal überdenken. Ich habe gehofft, dass du heute Abend zu einem wirst“, scherzte ich.
Ein kleiner Funken Wahrheit war in diesen Worten, weil ich es mir wirklich insgeheim erhoffte, dass heute Abend der Bann meiner Jungfräulichkeit auf irgendeine Weise durchbrochen werden würde.
Er schmunzelte nur und parkte sein Auto auf einem Parkplatz, nahe des Platzes, wo das Lagerfeuer schon zu riechen war.
„Ich freue mich. Es wird sicherlich ein wundervoller Abend“, sagte Phil nochmal, um mich zu beruhigen.
„Ja, das wird er…“, sagte ich und war mir in dem Moment sicher, dass es auch so sein wird.
Er nahm meine Hand, so als ob er in dem Moment gefühlt hat, dass ich sichtlich nervös war und wir gingen in Richtung Lagerfeuer, was die anderen schon angemacht hatten.
Er sollte Recht behalten. Der Abend war wirklich sehr schön. Es wurde gesungen, gelacht und rumgealbert. Einige knutschten und andere hörten den Gitarrenklängen zu die aus einer Ecke kamen.
Es wehte zwischendurch eine warme Sommerbrise und das Lagerfeuer schaffte eine romantische Atmosphäre. Alles schien so perfekt zu sein.
„Wollen wir ein paar Schritte gehen?“, fragte Phil, der etwas nachdenklich neben mir saß. Das Lagerfeuer spiegelte sich in dem Moment in seinen Augen wieder, was wirklich hübsch aussah. Es sah so harmonisch aus, wie alles an diesem Abend.
Jetzt kamen wir zu dem Abschnitt des Abends, wo es kritisch werden könnte! Ich konnte es kaum glauben, war es wirklich der Abend, am dem ich meinen ersten richtigen Kuss bekam??
„Ja…, es ist eine schöne Idee“, sagte ich mit halb tauber Zunge und trockenen Mund.
Wir gingen eine Weile Hand in Hand einen schmalen, fast unbeleuchteten Weg entlang. Alles war still, man hat nur den Wind ab und zu mit dem Grün der Bäume spielen hören. Phil umfasste meine Hüfte und blieb mitten auf dem Weg stehen. Er drehte sich zu mir um und schaute mich forschend und etwas unsicher an.
„Lila…“, fing er sanft und leise an.“Ähm, darf ich dich etwas fragen?“, stotterte er weiter.
Ich merkte, dass es ihm nicht leicht viel anzufangen. Was auch immer er mich fragen wollte, es war ihm sehr wichtig. Aber es musste warten. Ich wollte nur noch eins, dass er mich küsst. Nicht aus dem Grund, weil ich es sowieso wollte, ich wollte es von ihm. Es schien mir auf einmal sehr wichtig zu sein.
„Nein, Phil…“, sagte ich. „Frag mich gleich, okay?“
Ich schaute ihm in die Augen, er sah etwas verwirrt aus. Als er erkannte, worauf ich hinauswollte, wurde sein Blick etwas verlegen, aber er wollte es scheinbar genauso wie ich.
Ich konnte trotz der Dunkelheit das funkeln in seinen Augen sehen. Diese warmen, mir so vertrauten Augen, die ich so mochte.
Er zog mich ein wenig fester an sich ran und strich mir über mein Haar. Wieder so voller Liebe und Sehnsucht, dass es mich wieder halb überwältigte.
Jetzt spürte ich seinen durchtrainierten Körper, der auf einmal meinen Busen berührte. Herrgott, was machte er nur mit mir, dieses Verlangen war kaum mehr auszuhalten. Die andere Hand strich mir über meine Wange, die sofort zu pochen begann, obwohl er sie kaum berührte.
Ich konnte mich nicht rühren und starrte ihn nur an. Atme Lila, amte, sagte ich zu mir selbst.
„Du bist so wunderschön, Lila. Ich träume schon so lange davon, genau das zu tun, was ich gerade mache.“ Er sagt es mit so viel Wehmut in seiner sanften Stimme, dass ich eine winzige Ahnung bekam, wie lange es in Wirklichkeit war.
“Ich möchte dich am liebsten für immer in meinen Armen halten, meine Finger in deinen wunderschönen Locken verwirren und … dich zu küssen… mehr möchte ich nicht, nur das. Und ich mag jetzt noch nicht daran denken, dass dieser Abend irgendwann mal vorbei gehen wird.“
Er nahm ganz sanft, als ob es zerbrechen könnte mein Gesicht in seine Hände und zog es näher ran, seine Lippen berührten ganz vorsichtig meine, so als ob er jeden Moment damit rechnete abgewiesen zu werden. Als ob er es noch nicht ganz glauben konnte, dass sein Wunsch, mir so nahe zu sein gerade in Erfüllung ging.
Es kribbelte überall. In meinem Kopf, in meinem Bauch und ein bisschen auch in meinem kleinen Herzen… Plötzlich waren all meine Zweifel, dass etwas schief gehen könnte, wie weggeblasen. Diese Variante war einfach wunderschön und ich genoss den Moment.
Etwas unerwartet berührte seine Zunge meine Lippen, das Gefühl war mir zwar fremd, aber ich wollte mehr davon.
Es elektrisierte mich förmlich.
Ich liebkoste ganz vorsichtig seine Zunge mit meiner und mein Atem ging auf einmal ganz automatisch schneller. Ich krallte mich mit meinen Händen in seinen Nacken und ein angenehmes, wohliges Gefühl breitete sich in mir aus. Auch das war neu, aber nicht unangenehm.
Er zog mich noch näher an sich und auch sein Atem war heiß und schnell. Unsere Lippen bewegten sich im Rhythmus und unsere Zungen schmolzen einfach dahin.
Es war so überwältigend und ich fragte mich ununterbrochen, wieso ich mir so viel Zeit damit gelassen hatte?
Ich verlor jedes Zeitgefühl. Es war auch egal, von mir aus hätte es ewig so weitergehen können. Und ich glaube ihm ging es nicht anders.
Phil küsste mich noch einmal sanft und beendete
damit unseren wundervollen Kuss.
Jetzt schaute er mich wieder etwas verlegen und forschend an, so als ob er in meinen Augen nach etwas suchte. Vielleicht einen Funken Hoffnung, dass er mir ein bisschen was von seiner großen Liebe abgeben konnte. Er hoffte es so sehr, ich konnte es ihm ansehen.
„Es war wunderschön…“, sagte ich und schloss die Augen, um die letzten Minuten nochmal Revue passieren zu lassen. Ich wusste nicht, ob es ihm reichte, ich hoffte es.
„Was wolltest du mich vorhin eigentlich fragen?“, fragte ich ihn, als ich wieder zu mir kam.
„Lila, ich…, ich habe mich in dich verliebt… Und was ich dich fragen wollte, kannst du dir sicherlich bereits denken.“, sagte Phil und schaute auf den Boden, so wie er es schon einmal getan hatte. Es war ihm nicht unangenehm, es mir zu sagen. Er schaute auf den Boden, weil er Angst hatte, dass ich seine Gefühle nicht erwidern würde.
Diese Reaktion überraschte mich nicht, ich habe sie schon einmal bei ihm gesehen. Sie gefiel mir nicht, sie tat mir weh.
„Phil…, ich…mag dich wirklich, vielleicht mehr als du glaubst und der Kuss eben war einfach unbeschreiblich schön…aber lass mir bitte Zeit. Ich bin mir nicht sicher, ob ich deine Gefühle erwidern kann. Versteh mich bitte nicht falsch…“ Ich hatte Angst, denn ich wusste, dass ich wahrscheinlich nie an seine Gefühle ran kommen würde. Sie waren so gewaltig.
„Nein, Lila, ich verstehe dich nicht falsch, hab keine Angst“, unterbrach er mich.
Ein etwas gequältes Lächeln bildete sich auf seinen Lippen.
„Du kannst dir alle Zeit der Welt lassen, ich wollte nur, dass du es weißt.“ Er schaute wieder auf den Boden.
„Und übrigens der Kuss war wirklich schön“, er lächelte mich wieder liebevoll an und zog mich wieder näher an sich.
„Und ich finde, wir sollte ihn wiederholen“, sagte er und küsste mich wieder, diesmal noch leidenschaftlicher, als beim ersten Mal.
Der zweite Kuss war genauso wundervoll, aber er änderte nichts daran, dass ich nicht dieselben Gefühle für ihn hatte, wie er für mich… Es machte mich traurig, ich hasste dieses Gefühl.
Und vielleicht aus genau diesem Grund war ich irgendwie an diesem Abend erleichtert gewesen, als ich zuhause war und mein Zimmer betrat. Ich atmete tief durch und schaute mich um.
Die Terracottafarbe, die meine Wände schmückte, erstrahlte heute in einer ganz neuen, unbekannten Tiefe und Wärme.
Hier wirkte alles so vertraut, im Gegensatz zu dem, was ich heute Abend erlebt habe. Hier konnte ich keinen enttäuschen, oder verletzen.
Ich ging zu meinem CD- Player und machte eine CD von Amanda Perez an. Sie konnte mich in meinem Herzen mit ihrer Musik berühren und genau das brauchte ich in diesem Moment.
Ich schmiss meine, mit Strass besetzten Sandaletten in die Ecke, zog mein pfirsichfarbenes Sommerkleid aus und schmiss mich nur noch im BH und Panties auf mein Bett. Ich schloss die Augen und ließ mich von der Musik treiben. Sie sang gerade „God send me an Angel“, es war einer meiner Lieblingslieder.
Das Fenster stand offen und es kam ab und zu ein Hauch von warmer Sommerluft herein. Ab und zu roch es wunderschön nach Blumen und trotz der späten Stunde war es wirklich noch ziemlich heiß…
Ich habe mich irgendwie ein Stück erwachsener gefühlt. Nicht mehr so ahnungslos, wie ein kleines Mädchen. War es nicht das, was ich wollte?
Phil hat mir eine neue, aufregende Welt eröffnet und ich konnte es fast nicht erwarten einen weiteren Schritt zu wagen.
In meinem Bauch kribbelte es noch ein wenig nach und es war ein gutes, beruhigendes Gefühl, was mich schnell und zufrieden einschlafen lies. Das letzte was ich mitbekam war ein Hauch einer blumigen Brise, die mir übers Gesicht strich.
Ich wusste, dass ich mich auf den nächsten Kuss in meinem Leben freute und das hatte ich Phil zu verdanken.
Wie es aber mit Phil und mir weiter gehen sollte, wusste ich noch nicht so genau. Vielleicht wird sich das nach den
Sommerferien ganz von allein klären…


Auf den ersten Blick
Es klingelte an der Haustür und ich schrak hoch.
Oh man, ich war ganz in meine Gedanken versunken und hab es beinahe vergessen, warum ich vor meinem Kleiderschrank kniete.
„Lila, mach mal bitte die Tür auf“, hallte es von unten. Kate war da und war nicht zu überhören. Ich eilte schnell die geschwungene Treppe nach unten in die Eingangshalle, bevor sie dazu kam weitere schrille Töne von sich zu geben. Mir war ganz schwindelig, als ich die Tür öffnete.
Sie stand vor mir und hatte Ihre Arme vor ihre Brust geschränkt. Ich sah ihr an, dass sie schon länger hier stand, sie war nämlich fast sauer. Ich musste lachen.
„Hey, meine Liebe, hast du etwa vergessen, dass wir zum Eisessen verabredet waren?“ - sie schaute mich wieder vorwurfsvoll an.
„Nein, wie könnte ich nur“- ich strahlte sie friedvoll mit meinen weißen, wie ich fand relativ perfekten Zähnen an. Sie quetschte sich an mir vorbei und ging sicheren Schrittes die Treppe zu meinem Zimmer hinauf.
„Ich war nur etwas in Gedanken…“, murmelte ich und trottelte ihr in den ersten Stock hinterher. Ich hatte es immer noch nicht geschafft mir außer meinen Bikini etwas anzuziehen.
Kaum hatte sie mein Zimmer betreten, schon ging sie geradewegs auf meinen Kleiderschrank zu und wühlte in meinen Sachen herum. Ich war davon wirklich nicht begeistert. Es war respektlos, ich war ihre Freundin und keine Sklavin ihres Design- Wahn´s
„Kate, bitte. Ich kann das schon allein“, sagte ich sarkastisch und schob sie zur Seite. Ich nahm provokativ das Erstbeste heraus und zog es mir über. Sie schnaubte nur, wie ein aufgebrachtes Ross, sagte aber nichts weiter.
Nachdem ich in einem weißen, luftigen Sommerkleid steckte und mir meine langen schwarzen Locken etwas zurecht zupfte, saßen wir auch schon in ihrem schnittigen Cabrio und waren auf dem Weg in ein Café, was direkt am St. Johns River lag. Ich konnte mir kein Auto leisten, aber es war nicht wirklich dramatisch. Es ging auch ohne, schließlich waren wir in Jax und nicht in L.A..
Die Nachmittagssonne brannte vom Himmel und ich war echt froh, dass Kate ein Cabrio fuhr. Es war schön, den Wind in meinem Haar zu spüren. In ein paar Tagen war das alles erst einmal vorbei und wir mussten uns wieder auf die Schule konzentrieren. Deshalb freute ich mich umso mehr auf ein leckeres Erdbeereis.
Es war eins von diesen „sehen und gesehen werden“ Cafés. Was anderes kam für Kate nicht in Frage. Hauptsache, es gab hier etwas zu trinken und ein anständiges Eis, dachte ich.
Alles andere war nebensächlich.
Wir wählten einen schattigen Platz, direkt an der Promenade, damit auch ganz sicher jeder vorbeigehende uns sehen konnte und bestellten. Kate konnte es wie immer nicht lassen und flirtete heftig den Kellner an. Der allerdings schien mehr Interesse an mir zu haben, was überhaupt nicht in Frage kam. Anstrengend. Ich genoss lieber mein Erdbeereis und ließ es meine heiße Kehle hinunter fließen.
Kate dagegen stocherte viel zu hastig in ihren Eisbecher herum. Sie machte mich wie immer nervös. Konnte dieses Mädchen, nicht einfach nur da sitzen und ihr verdammtes Eis essen!?
Und dann ging auch noch das Geplapper los…
„Ich bin ja schon sowas von aufgeregt. Irgendwie freue ich mich schon auf Montag, wenn die Schule wieder losgeht, endlich kommt neuer Wind in die alten Gemäuer“, kicherte sie vor sich hin.
Ich verstand nichts. Was meinte sie denn damit? Ich schaute sie etwas fragend an. Warum sprach sie immer in Rätseln? Ich rollte meine Augen, um ihr zu signalisieren, dass mein Maß an Selbstbeherrschung bald erschöpft sein würde.
„Kannst du mir ab und zu übersetzen, was du von dir gibst?“
„Ach Lila… Ist ja wieder typisch für dich, da war wohl dein hübsches, lockiges Köpfchen mal wieder bei den neuesten Neuigkeiten mit etwas anderen beschäftigt“ sagte sie mit ihrem koketten Stimmchen und schaute mir etwas vorwurfsvoll ins Gesicht.
Ich grinste sie genervt an.
„Hmmhh, wird wohl so gewesen sein.“
Sie rollte nur ihre hübschen, vom Kajalstift umrundeten Augen, die ein wenig roséfarbend schimmerten.
„Ich meine natürlich die „Callahan´s“.
Ja, stimmt, wie konnte ich es nur vergessen. Es war ihr Lieblingsthema in den ganzen Ferien. Mir war es immer noch unbegreiflich, woher sie das immer alles wusste.
„Kate, bitte. Wieso interessieren sie dich? Du hast noch nicht einmal einen von Ihnen gesehen!“
Aber sie tat so, als ob ich überhaupt nicht gesagt habe. Taub. Ich lief vor Wut rot an.
„Man sagt, dass diese englische Familie sehr reich sein soll“, ihre Augen funkelten etwas auf und ich wusste natürlich, wie Kate zu dem stand. Aha, na wenigstens wusste ich jetzt, woher das ganze her rührte. Geld. Kate. Mir war es egal, wie viel Geld Menschen besaßen, es änderte nichts an ihrer Persönlichkeit.
„Sie sind vor ein paar Wochen in die Villengegen gezogen und es gibt wohl zwei sehr gut aussehende Brüder. Sem und Daniel Callahan. Und beide sollen auf unsere Schule gehen, sind das nicht die tollsten Neuigkeiten des ganzen Sommers?“ – wenn sie nicht aufpasst bekommt sie gleich keine Luft mehr, dachte ich und musste über diese Vorstellung kichern. Sie konnte auch unfreiwillig komisch sein.
Jetzt waren es schon zwei Gründe, warum diese Familie Kate so faszinierte.
Geld und gutaussehend.
„Ja, ich bin auch schon ganz gespannt“, antwortete ich mit gespielter Fröhlichkeit. Ich war es in Wirklichkeit nicht wirklich. Sie langweilte mich damit. Aber wenn es Kate glücklich machte.
Die Callahan´s beschäftigten sie noch den ganzen Nachmittag. Es war einfach nur faszinierend.
Ich habe beschlossen, mir erst dann ein Urteil zu erlauben, wenn ich die Familie kennengelernt habe.
Das Thema war für mich mit diesem Entschluss abgehackt und das habe ich Kate auch zu spüren gegeben.
Sie hatte für heute sowieso schon den Pegel fast erreicht und ich war froh, als sie mich zuhause wieder absetzte.
Ruhe.
Das letzte Ferien- Wochenende stand vor der Tür und ich beschloss es so ruhig wie möglich zu verbringen. Und das hieß, ohne Kate. Sie war zwar meine Freundin, aber es gab keinen Menschen auf diesem Planeten, der es lange mit ihr aushielt, nicht einmal ich. Also nahm ich mir als erstes vor meinen Kleiderschrank aufzuräumen und dabei eine nette CD zu hören. Musik gehörte zu meinem Leben dazu. Es war wie eine Ersatzbefriedigung die ich brauchte, wenn ich mich allein fühlte. Ich wusste jetzt schon, dass es ein ziemlich einsames Wochenende wird, also suchte ich mir ein paar CD´s mehr heraus. Ich hoffte, dass das Wetter so blieb, denn die Sonnenterasse lud geradezu zu einem Sonnenbad ein und ich wollte dem nicht widerstehen. Ein bisschen Farbe tat mir sicherlich ganz gut.
Ich legte mich auf mein Bett- es war mein Lieblingsplatz in meinem Zimmer- und beschloss es morgen als erstes in Angriff zu nehmen. Und als ich so da lag und diese herrliche Ruhe und Kühle im Haus genoss, musste ich ja zugeben, dass Kate mich ein kleines bisschen neugierig auf die Callahan´s gemacht hat. Ich schloss die Augen und lies meiner Fantasie freien Lauf und überlegte mir, wie die beiden wohl aussehen mochten.
Es war eine Art Hobby, mir Dinge vorzustellen, die ich vorher noch nie gesehen hatte. Es war jedes Mal verblüffend, wie weit man manchmal von der Realität entfernt war.
Kate sagte immer das ist eine Macke von Einzelkindern. Es half ihnen, mit der Einsamkeit besser umzugehen. Na danke, also war ich psychisch krank, weil ich ein Einzelkind war. Es machte mich traurig. Vielleicht stimmte es ja, ich war wirklich oft einsam.
Ich beschloss, nicht weiter darüber nachzudenken.

Es war inzwischen Sonntagabend und recht spät. Ich schaute in meinen frisch aufgeräumten Kleiderschrank nach, was ich denn morgen anziehen könnte und legte mir ein paar Varianten auf das sandfarbene Sofa- was gegenüber von meinem Bett stand- heraus. Ich machte meine Lieblings- CD an- Amanda Perez- und als sie gerade mal wieder „God send me an Angel“ sang, machte ich mich zufrieden im Bad fertig, flocht meine Haare zu einem langen Zopf zusammen und schmiss mich ins Bett. Etwas in mir war aufgewühlt, es fühlte sich an, wie die Ruhe vor dem Sturm, oder so ähnlich. Ich konnte es einfach nicht beschreiben, also versuchte ich so schnell wie möglich einzuschlafen. Ich bekam noch mit, wie meine Eltern das Haus betraten, also bin ich wohl erst ziemlich spät eingeschlafen. Dieses eigenartige Gefühl ließ mich einfach nicht los.
Am nächsten Tag ging die Schule wieder los und ich war etwas zu früh dran. Ich wollte nichts verpassen und das ging wohl nicht nur mir so; Kate erwartete mich schon auf der großen Treppe, die zum Eingang hochführte.
Sie lehnte grazil, wie aus einer anderen Zeit, an einer der vier Säulen, die links und rechts die Eingangstreppe schmückten. Scheinbar hatte sie sich extra in Schale geworfen. Es sah zumindest alles sehr aufwendig aus. Schon allein für das Make- Up hatte sie bestimmt Stunden gebraucht. Ich konnte mir ein kichern wirklich nicht verkneifen. Typisch Kate. Ihr Blick schweifte über den Parkplatz, so als ob sie Ausschau nach einer Beute hielt. Als sie mich sah, kam sie mir schon halb entgegen gesprungen. Naja, was sie mit ihren Pumps so schaffte.
„Guten Morgen Kate.“
Keine Reaktion. Stattdessen Geplapper.
„Oh man, Lila bin ich aufgeregt! Bitte, du musst hier mit mir stehenbleiben, es sind die besten Plätze. Ich möchte nichts verpassen. Vor allem Daniel möchte ich so nah wie möglich sehen.“
„Und warum, wenn ich fragen darf? Du hast beide noch nicht gesehen, Kate.“ Ich war von ihrer Oberflächlichkeit entsetzt. Sie schaute mich noch nicht einmal an, sondern ließ ihren Blick wieder neugierig über den gegenüber liegenden Parkplatz schweifen. Na das fing ja gut an.
„ Man munkelt, Daniel sei der hübschere von beiden.“
Aha. Dann lassen wir uns mal überraschen, dachte ich etwas sarkastisch.
Sie flatterte und fuchtelte mit ihren Händen die ganze Zeit wild umher, als es für einen Augenblick ganz ruhig wurde.
Mich durchfuhr ein ganz seltsames Gefühl, was ich zuvor noch nie gespürt habe. Ich hatte auf einmal Schmetterlinge im Bauch und es roch überall nach den wundervollsten Blumen dieser Erde. So, als ob ich verzaubert wurde. Ich hatte das Gefühl, als ob ich jeden Moment abheben könnte.
Ich schaute in Kate´s versteinertes Gesicht. Es war voller Bewunderung. Sie stand völlig regungslos da und schaute auf den Parkplatz, der sich genau vor der Schule befand.
Ich folgte ihrem Blick und drehte mich um und sah einen schneeweißen Audi. Seinen schneeweißen Audi. Er gehörte Daniel Callahan, der gerade dabei war auszusteigen. Obwohl ich ihn noch nie zuvor gesehen hatte, wusste ich intuitiv, dass dieser unverschämt gut aussehende Junge, der gerade dabei war aus seinem unverschämt gut aussehenden Auto auszusteigen, Daniel war. Was zum Henker war bloß los mit mir? Mein Körper und vor allem meine Gefühle spielten völlig verrückt. Am meisten machte mir diese extreme Vertrautheit Angst. Warum fühlte ich mich zu Daniel so hingezogen, obwohl ich ihn nie zuvor gesehen hatte? Ich war entsetzt über mich selbst. Und über das, was ich gerade empfand. Ich hätte froh sein müssen, überhaupt etwas empfinden zu können, denn das war doch eindeutig ein Beweis dafür, dass ich kein gefühlskaltes Monster war. Ich versuchte meinen Blick auf etwas anderes zu fixieren- also schaute ich wieder zu Kate.
Ich war mir nicht sicher, ob sie den Audi oder Daniel Callahan bewunderte. Beides wäre möglich gewesen. Ich schaute wieder rüber auf den Parkplatz, es war unmöglich dort nicht hinzuschauen.
Jetzt kam er auf uns zu und schaute mich an, so als ob ich die einzige Person in seinem Blickfeld war, die einzige in seinen Gedanken, die einzige die jemals in seinen Armen liegen würde und die einzige für die es sich lohnen würde zu sterben. Mich traf beinahe ein Schlag. Schwindel breitete sich von dem Adrenalin, was gerade in mein Blut schoss, aus. Wer war dieser Daniel Callahan?
Ich wurde das Gefühl nicht los, dass ich ihn von irgendwoher kannte. Dieses Gesicht habe ich definitiv schon einmal gesehen, soviel stand fest. Er war mir so vertraut. Ich kannte seine Mimik, seine Art sich zu bewegen und was absolut krank war, ich bildete mir ein, dass ich auch wusste wie seine Stimme klang. Verdammt, er kam mir einfach so unheimlich vertraut vor, aber ich fand in meinem Kopf nichts, was darauf hindeutete. Keine Erinnerung, die ich abrufen konnte. Ich verlor den Verstand, soviel stand fest und je näher er kam, desto mehr verschlimmerte sich dieses eigenartige Gefühl. Jetzt dachte ich tatsächlich, dass ich schwebte. Verrückt… War ich auf einmal verrückt?? Wieso verwirrte er mich so?
Ich war wie in Trance und er ließ mich nicht aus den Augen und als er die Treppenstufe, auf der ich stand erreichte, verzog sich sein scheinbar vollkommener Mund zu einem liebevollen Lächeln. Es war einfach perfekt. Nicht von dieser Welt. So einen schönen Menschen hatte ich noch nie gesehen. Ich stand einfach nur da und schaute ihn an,- so als ob er es mir befohlen hätte. Es war wie ein Bann, ich konnte mich dem nicht widersetzen.
Und als er mich anlächelte, musste ich zurücklächeln,- so als ob ich es schon immer so getan hätte. Auch diese Situation kam mir so enorm vertraut vor.
Seine ozeanblauen Augen waren warm und so tief, wie der Atlantik an einem Sommertag. Ich musste aufpassen, dass ich nicht darin ertrank. Was war nur mit mir los? Ich verzweifelte. Es machte mir Angst. Er machte mir Angst, weil er, wie durch einen Zauber irgendwie fähig war, mich so in seinen Bann zu ziehen.
Hör auf ihn anzustarren Lila!- befahl ich mir.
Oh bitte, lieber Gott, lass nicht zu, dass ich den Verstand verlor!
Daraufhin kicherte er leise, so als ob er in diesem Moment meine wirren Gedanken gelesen hätte.
Er war schon ein paar Stufen weiter, als ich ein leises, fast flüsterndes „Hallo Lila“ vernahm. Die Worte wehten zu mir rüber, wie eine süßlich riechende Sommerbrise. Jetzt war ich mir aus tiefsten Herzen sicher, dass ich seine Stimme kannte. Und das ich verrückt geworden bin. Es klang in meinen Ohren, wie eine lang ersehnte Begrüßung nach langen Jahren. Es klang wie ein lang ersehntes Wiedersehen. Und so sicher ich mir in diesem Punkt war, so sicher war ich mir auch gleichzeitig, dass es nicht sein konnte. Ich kannte Daniel nicht, das sagte mir mein Verstand. Mein Herz dagegen schmachtete nach ihm.
Ich wurde wieder etwas klarer, als es läutete.


Ungewöhnliche Ängste
Der Unterricht begann in wenigen Minuten. Dass Kate noch neben mir stand hatte ich völlig vergessen. Mich wunderte es, dass sie ihn nicht gleich zugetextet hatte, wie sie es mit jedem tat. Hatte sie vielleicht genau dasselbe gespürt, wie ich? Ich schaute sie forschend an und suchte Beweise für meine gerade erstellte Theorie. Sie sah in der Tat verwirrt aus. Sie versuchte diese Verwirrung gerade hinter ihr bezauberndes Lächeln zu verstecken, was mir sagte, dass es ihr unangenehm war.
„Und wie findest du ihn? Ist er nicht total süß? So ein richtiger Frauenschwarm, nicht wahr Lila…“- sagte sie in einem Atemzug.
„Hä…was…ach so, Daniel, ja, er scheint wirklich nett zu sein. Wir sehen uns später Kate, viel Spaß.“
Ich wollte so schnell wie möglich alleine sein. Naja zumindest in meinem Kopf.
Glücklicherweise war sie nicht in meiner Klasse. Das machte den Schulalltag etwas angenehmer. Vertieft in meine Gedanken, schlenderte ich in die Richtung meines Klassenraumes, der sich nicht geändert hatte. Ich musste ziemlich lange dafür gebraucht haben, denn als ich den Klassenraum betrat, saßen schon fast alle auf ihren Plätzen.
Oh, es war mir unangenehm, weil alle mich natürlich anstarrten. Ich blickte schnell in die Runde, bevor ich mit gesenktem Kopf zu meinem Platz huschte. Ich hatte einen direkt am Fenster, wofür ich sehr dankbar war.
Hier und da unterhielten sich einige über ihre Erlebnisse, die sie in den Ferien gemacht hatten. Ich nahm es nur mit einem halben Ohr war. Mit meinen Mitschülern hatte ich noch nie viel zu tun. Daher interessierte es mich einfach nicht, worüber sie redeten.
Wie gewohnt, schaute ich automatisch aus dem Fenster und musste auf einmal an Phil denken, der vorhin auf dem Parkplatz stand. Er schaute gelegentlich zu mir rüber, als wollte er damit sagen, dass meine Bedenkzeit abgelaufen wäre und ich mich nun entscheiden sollte.
Er machte es mir nicht einfach. Ich versuchte dieses Thema so lange wie möglich vor mich hin zu schieben. Aber es war klar, dass es nicht mehr lange gehen konnte.
Zum Glück durchbrach die Stimme von Mr. Brown, dem Mathelehrer, meine Gedanken und ich musste aufschauen. Er war ein kleiner, schmächtiger Mann, Mitte vierzig und hatte eine Halbglatze. Man sah ihm an, dass er nie richtig gutaussehend war. Vielleicht sah sein Gesicht genau aus diesem Grund immer etwas grimmig aus.
„Guten Morgen ihr Lieben, ich hoffe ihr hattet schöne Ferien. Aber jetzt geht die Schule wieder los und ich bitte euch eure Mathematiksachen rauszuholen“, sagte er mit seinem etwas quietschigen Stimmchen.
Ich kramte meine Sachen gerade heraus, als sich die Klassentür öffnete und eine Gestalt sichtbar wurde. Und als die Tür wieder von innen zuging, hätte ich schreiend weglaufen können. Es war Daniel- wer auch sonst. Dass er in meine Klasse kommen könnte, war mir bislang nicht bewusst gewesen. Aber es musste ja so kommen, dachte ich sarkastisch. Er drehte sich zu mir um und schaute mir enttäuscht und auch ein bisschen verärgert in die Augen. Wieder so, als ob er hörte, was ich gerade eben gedacht hatte. Ich schaute schnell weg, herrgott, was war denn nur mit mir los. Oder vielmehr- was war mit ihm los? Das konnte doch alles nicht wahr sein. Es musste auch ausgerechnet mich treffen. Mich, die nie Interesse an solchen Liebeseskapaden hatte. Jetzt bemerkte Mr. Brown ihn auch.
„Ach ja, bevor wir anfangen, habe ich noch etwas zu verkünden. Wir bekommen für unser letztes Schuljahr einen neuen Mitschüler. Meine Lieben, das ist Daniel Callahan.“
Eigentlich war diese Ansprache völlig überflüssig gewesen. Denn alle- ohne Ausnahme, starrten Daniel bereits an. Es herrschte ein Totenstille, obwohl es hier gerade noch vorging wie auf einem Bahnhof.
Na super, das fing ja echt gut an, dachte ich. Ich verschränkte die Arme vor meine Brust und schaute aus dem Fenster. Mittlerweile war ich sauer und zwar auf mich selbst. Lila, du bist ein Dummerchen, schimpfte ich mich selbst aus. Ich schaute wieder provokativ nach vorne. Ich lass mich doch nicht einschüchtern, was glaubt er den, wer er ist, dass er mich so verwirren kann. Jetzt war ich sauer.
Daniel stand völlig entspannt neben Mr. Brown, bis er mich wieder eindringlich anschaute und seine Augenbrauen zusammenzog, als wolle er mir sagen, dass ich es lassen soll. Ich musste in mich hinein lächeln, es war so absurd, aber ich hatte das Gefühl, ein Degavue zu erleben.
„Mr. Callahan ist mit seiner Familie aus England hierhergezogen und ich hoffe, dass er sich gut einlebt.“
Da stand er nun in seiner ganzen Schönheit. An ihm schien alles perfekt zu sein… Sogar die Knitterfalten in seinem Hemd, die aussahen wie rein gemeißelt. Es fehlte lediglich der Heiligenschein. Seine Ausstrahlung war so extrem und auch gleichzeitig wunderschön. Es war so, als ob etwas so wunderschön war, dass man es unwillkürlich bestaunen und bewundern musste. Man war gefangen und hatte keine andere Chance. Diese Bewunderung sah ich auch in den anderen Gesichtern und sie war fast unheimlich.
Er wirkte immer noch völlig gelassen, als ob ihm diese Reaktion nicht neu wäre. Als ob er schon immer, völlig automatisch so behandelt wurde, als ob er der Diamant unter den Menschen war.
Eine leise Unruhe entwickelte sich unter meinen…unseren weiblichen Mitschülerinnen. Einigen flüsterten sich gegenseitig etwas zu und andere starrte ihn einfach nur an. Okay, es ging nicht nur mir so und ich war erleichtert. Wenigstens etwas. In diesem Punkt war ich nicht verrückt.
Sah ich vorhin auch so daneben aus, wie meine Mitschülerinnen gerade? Oh mein Gott.. Was sollte er nur von mir denken… Mr. Brown schien über diese Entwicklung nicht besonders begeistert zu sein. Er sah verärgert aus und wollte Daniel schnell wieder los werden.
„Bitte, suchen sie sich doch einen freien Platz aus Mr. Callahan, wir möchten mit dem Unterricht beginnen.“
„Ja, selbstverständlich, Mr. Brown. Entschuldigung, es war nicht meine Absicht, ihren Unterricht zu stören“ – sagte er mit einer Stimme, die mich zusammenzucken lies. Sie war so unglaublich weich und sanft. Wie eine Engelszunge. Es war das erste Mal, dass ich sie hörte und dennoch war ich nicht überrascht über ihren Klang, sondern lediglich über die Sanftheit und Schönheit. Und genau diese Tatsache- von vielen- machte mir wirklich Angst. Ich zweifelte wieder ernsthaft an meinem Verstand.
Daher hoffte ich als ich den freien Platz neben mir sah, er setze sich nicht neben mich, da ich es wahrscheinlich nicht überstehen könnte! Mein Instinkt sagte mir, ich solle ihm aus dem Weg gehen. Es sei zu gefährlich, sich mit ihm einzulassen. Womit es ja auch nicht Unrecht hatte. Daniel schaffte es, mich völlig aus der Bahn zu werfen. Das war nicht gut. Und es war gefährlich. Für meinen Verstand.
Als er an mir vorbei ging, hielt er kurz inne und schaute mir in die Augen, als wollte er damit sagen, dass er meiner Bitte, die ich in meinen Gedanken an ihn richtete, folgen würde. Ich schaute schnell weg, es war unerträglich. Ich fühlte mich in seiner Gegenwart so durchschaubar. Grauenhaft.
Daniel setzte sich in die hintere Reihe, zu Mike Stone und holte seine Sachen heraus.
„Bitte, gern geschehen“ – flüsterte wieder diese…seine Stimme. Ich wusste, dass nur ich es wahrnahm, es spielte sich scheinbar in meinem Kopf ab, so als ob er dieses Flüstern da rein pflanzte.
Es war so unheimlich und noch unheimlicher war- ich fühlte mich zu ihm hingezogen. Darüber kam ich nicht hinweg. Ich verstand es nicht. Ich war doch normalerweise ein wirklich objektiver- und wenn es sein musste auch ein oberflächlicher- Mensch, der immer erst das Pro und Contra abwog. Und jetzt dachte ich auf einmal völlig irrational, wie ein Teenie, der gerade sein Idol kennenlernte. Ich bekam Kopfschmerzen.
Kate konnte so etwas gut, aber ich… ich dachte das ich anders wäre. Aber Daniel löste in mir etwas völlig Unbekanntes aus. Und ich sag es noch einmal- es jagte mir wirklich eine Höllenangst ein.
Den ganzen Tag dachte ich darüber nach, konnte dem Unterricht nicht folgen und fand trotzdem keine Lösung.
Unsere Blicke trafen sich ab und zu und ich hatte jedes Mal das Gefühl, dass seine Augen meine Gedanken und meine Seele widerspiegelten. So, als ob sie mir sagen wollten: „Hey, ich verstehe das du verwirrt bist.“
Es beruhigte mich ein bisschen, dass er scheinbar wusste, wie es mir ging. Und ich wusste, dass er es wusste. Andererseits war es so abschreckend, dass ich versuchte so schnell wie möglich wieder wegzuschauen. Natürlich war das nicht normal so zu denken, aber es fühlte sich so vertraut an, als ob es nie anders zwischen uns gewesen war.
Als es klingelte und somit für heute Schulschluss war, trottelte ich langsam die große Treppe runter, als Daniel plötzlich neben mir herging. Ich atmete tief durch und schaute ihn an. Seine Anwesenheit kostete mich Kraft.
„Es ist schön, dich kennengelernt zu haben. Ich hoffe, dass wir mal gemeinsam etwas unternehmen Lila,“ sagte er mit einer Leichtigkeit. Was sollte denn das schon wieder? Tut mir leid, aber ich war wirklich nicht scharf darauf Smalltalk zu führen. Und am ehesten mit ihn.
Sein Atem wehte in dem Moment zu mir rüber und liebkoste mein Gesicht, und es roch wieder nach Blumen. Es war eine Droge, eindeutig.
„Ja… das freut mich auch“, sagte ich obwohl ich es nicht wollte. Am liebsten hätte ich mir in dem Moment den Mund zugehalten. Aber das wäre mehr als peinlich.
Ich musste mich zwingen, nicht noch mehr von mir zu geben. Es war zum Verzweifeln. Denk an deinen angekratzten Verstand, erinnerte ich mich.
„Na, dann bis morgen.“- Er schenkte mir noch ein Lächeln und ging in schnellen Schritten zu seinem Audi. Abrupt blieben meine Füße stehen und ich schaute ihm schmachtend hinterher. Dieser Mensch war so wunderschön. Am liebsten hätte ich ihn eingefangen, wie einen schönen Schmetterling. Danach hätte ich ihn in ein Marmeladenglas gesteckt und endlos bewundert.
Aber da dies nicht ging, musste ich diesem Jungen aus dem Weg gehen. Zumindest solange, bis ich mit mir selbst klar kam. Ich musste diese für mich fremden Gefühle sortieren. Kate holte mich wieder in die Gegenwart. Sie schrie mich halb an.
„Lila, nun warte doch mal einen Augenblick. Was ist denn nur los mit dir?“- sie lief mir wohl schon etwas länger hinterher, denn ihre Stimme hörte sich abgequält an.
Ich ging einen Schritt schneller und Kate hastete mir weiter hinterher. Bitte Kate, lass mich einfach in Ruhe, dachte ich.
„Soll ich dich nach Hause fahren?“ schrie sie halb.
„Nein, danke ich gehe zu Fuß. Irgendwie fühle ich mich nicht so gut. Wir telefonieren, okay.“
Mit diesen Worten habe ich sie auf dem Parkplatz stehen gelassen. Es war mir in dem Moment egal, ich musste meine Gedanken und vor allen meine Gefühle ordnen. Wie lange ich bis nachhause gebraucht hatte, wusste ich nicht. So verwirrt war ich noch nie in meinem ganzen Leben.
Meine Eltern waren zuhause. Es kam selten vor, dass sie mitten am Tag da waren.
Dieser Job im Hotel, war wirklich anstrengend. Aber es änderte nichts daran, dass sie immer sehr liebevoll miteinander umgingen. Die beiden saßen an dem kleinen Tresen, der in einer Ecke der Küche stand. Es roch lecker nach frischem Kaffee.
Es war schön, sie so zu sehen, wie sie miteinander witzelten, lachten, so klang ein verliebtes Paar. Und ich war mir sicher, dass sie es nach fast zwanzig Jahren immer noch wie am ersten Tag waren.
„Hey Liebes“ – meine Mutter schaute in meine Richtung, als ich in die Küche schlenderte.
„Hey Mom. So früh zuhause?“- sagte ich etwas sarkastisch. Sie tat so, als ob sie es überhörte hatte.
„Wie war der erste Schultag? Ich habe gehört, dass ihr zwei neue Schüler bekommen habt. Weißt du, auf der Arbeit spricht man im Moment nur noch von den Callahan´s und noch mehr über ihr Vermögen…“ - das letztere hat sie wohl eher zu sich selbst gesagt. Worüber sollte man auch in einem Hotel reden, wo die Übernachtung ein halbes Vermögen kostete. Aber schön, dass sie tatsächlich etwas Interesse an meinem Leben zeigte.
„Ja… das stimmt, Daniel geht sogar in meine Klasse“.- versuchte ich ihr so beiläufig wie möglich zu antworten.
Zum ersten Mal ist mir bewusst geworden, dass ich Sem,- also dem angeblichen Bruder, den Kate erwähnte- gar nicht gesehen hatte. Ich war mir nicht sicher, ob er überhaupt da gewesen war. Oder ob es ihn überhaupt gab. Egal. Es reichte, dass es in meinem Kopf nur noch für ihn Platz gab.
Ich hatte keinen Appetit, also schüttete ich mir einen Schluck Limo ein und schlürfte Richtung Treppe. Die beiden kicherten wieder vor sich hin, als Dad eine scheinbar witzige Bemerkung in meine Richtung machte. Wie es schien, sah ich tatsächlich etwas durch den Wind aus.
Es ist wohl besser, wenn ich mich heute in meinem Zimmer einsperre.
Ich schmiss mich auf mein Bett und starrte die Decke an. Blöd, Lila du bist einfach nur blöd. In meinen Gedanken ging ich das erlebte durch und fasste zusammen. Erstens, Daniel hatte eine Ausstrahlung, die eigentlich nicht in Worte zu fassen war. Ich versuchte es trotzdem. Atemberaubend, überirdisch, wunderschön, elektrisierend. Eigentlich hätte ich ewig so weiter machen können. Zweitens, er kannte offensichtlich meine Gedanken, das hatte er mehrmals bewiesen. Konnte er wirklich meine Gedanken lesen? Ich fasste es nicht. Und drittens,- das schlimmste von allem, ich wurde das Gefühl nicht los, dass ich ihn kannte. Egal wie ich es drehte, es war eindeutig, dass alle drei Punkte mir Angst machten und es gab anscheinend nur eine Lösung- ich musste ihm aus den Weg gehen. Ich bedeckte mein Gesicht mit den Händen und atmete tief ein. Ich brauchte Ablenkung. Also beschloss ich meine Hausaufgaben zu machen. Es würde mir vielleicht helfen, mal ein paar Minuten nicht über Daniel nachzudenken.
Immer wieder überschlugen sich meine Gedanken und Gefühle, aber das stärkste war wohl Sehnsucht.
Oh mein Gott. Ich haute den Kopf mehrmals auf die Tischplatte und verschmierte somit den eben frisch geschriebenen Satz. Ach Mist! Mit einer Hand schmiss ich das Heft in die Ecke.
Es war fast unerträglich, noch bis morgen zu warten, bis ich ihn wiedersehen würde. Das Verlangen überstieg jede Grenzen…
An diesem Abend bin ich früh ins Bett gegangen. So wie ich es als kleines Kind immer am Abend vor Weihnachten getan hatte. Voller ungewollter Vorfreude.
Ich fühlte mich nicht allein, fühlte, dass es ihn irgendwo in meiner Nähe gab und das war ein schönes und gleichzeitig beängstigendes Gefühl.
Mein Tag begann mit einem Gedanken an Daniel. Ich hätte mich gleich sofort dafür ohrfeigen können. Zum Teufel, gab es denn keine anderen wichtigen Dinge mehr auf dieser Welt. Ich zog mich zügig an, band meine Locken zusammen und saß in der Küche, über einem Glas Milch. Etwas anderes bekam ich nicht runter. Ich schaute aus dem Fenster, aus dem ich die Straße und unsere Auffahrt überblicken konnte.
Es war ein herrlich sonniger Tag, wie es in Florida um diese Jahreszeit nicht anders zu erwarten wäre. Na dann, auf geht’s.
Auf dem Parkplatz, vor der Schule erwartete mich Kate. Sie saß in ihrem Cabrio und schien noch ein wenig verärgert zu sein, dass ich sie gestern stehen gelassen hatte.
„Es tut mir leid und ich werde es wieder gut machen“, sagte ich ohne sie zu begrüßen.
Sie war meine Freundin und ich wusste ganz genau, wie ich sie besänftigen konnte. Auch diesmal hatte ich es scheinbar geschafft, denn es bildete sich ein kleines Lächeln auf ihren Lippen.
„Mach das nicht nochmal, okay? – sie schaute mich wie ein schmollendes Kind an, was kurz davor war, seinen Willen durchzusetzen.
„Versprochen“- antwortete ich und lächelte sie an.
Ich hörte ein Auto hinter uns und ich hätte schwören können, dass es Daniel war. Eine Blumenbrise umnebelte mich wieder,- gegen meinen Willen- und raubte mir halb den Verstand. Das waren bestimmt irgendwelche englischen Superdrogen, die er in meiner Gegenwart versprühte um mich fügig zu machen. Aber was es auch war, es wirkte bestens.
Wie automatisch drehte ich mich um und sah seinen weißen Audi. In dem Moment stieg Daniel aus und sah einfach nur umwerfend aus. Sein blondes kurzes Haar leuchtete ganz eigenartig im Sonnenlicht, sein Körper bewegte sich, als ob jede Bewegung schon lange vorher einstudiert wurde. Man konnte jeden seiner scheinbar gut trainierten Muskeln unter seinem Hemd erahnen und es brachte einfach den Puls jeder Frau zum rasen.
Er schaute hoch und sah mir wieder direkt in die Augen. Könnte er das mal bitte sein lassen. Er machte es mir echt nicht einfach. Dieser blaue Ozean in seinen Augen… Sie strahlten eine ganz unheimliche Art von Unschuld und Weisheit aus. Wieder tat er so, als ob ich die einzige Person auf dem Parkplatz war. Und wieder hatte ich das Gefühl schweben zu können. Er lächelte mich mit seinem schönsten Lächeln an und kam direkt auf mich zu.
„Guten Morgen Lila, ich hoffe du hast gut geschlafen“- sagte er mit seiner halb flüsternden, engelsgleichen Stimme. Sein Atem preschte mir ins Gesicht und ich schwebte wieder auf dieser blumigen Wolke.
„Ja, ich denke schon.“ – stieß ich halb hervor und drehte mein Gesicht weg. Na super, Lila, das hat ja gut geklappt, dachte ich sarkastisch. Ich hatte mir doch vorgenommen, ihm aus dem Weg zu gehen. So gut es möglich war, natürlich. Es war besser für mich und meinen angegriffenen Verstand. Ich wollte nicht irre werden. Nicht mit neunzehn.
Zum Glück schob Kate sich auf einmal an mir vorbei, bevor er sich weiter mit mir unterhalten konnte.
„Hey, ich bin Kate.“ Sie versuchte verführerisch zu klingen, was ihr nicht so ganz gelang.
Auch Daniel ist dies nicht entgangen. Er kicherte vor sich hin und sagte nur: „Ich weiß, schön dich kennenzulernen“. Wer er war, brauchte er wohl nicht zu erwähnen. Was er auch nicht tat.
„Wir sehen uns in der Klasse, Lila“, rief er mir halb hinterher. Ich hatte meine Chance genutzt und war bereits auf dem Weg zur Treppe. Nicht umdrehen, einfach weitergehen, egal was passiert. Mist, ich hatte Kate schon wieder stehen gelassen. Das ist mir erst jetzt aufgefallen. Dafür muss ich mir nachher bestimmt wieder so einiges anhören. Aber das war es mir wert. Besser, als sich ihm auszusetzen.
Auf der großen Treppe kam mir Sem Callahan entgegen. Ich hatte noch nicht die Gelegenheit ihn kennenzulernen. Dennoch wusste ich auch bei ihm ganz automatisch, dass er es war. Sem war etwas kleiner als Daniel. Seine Haare waren etwas dunkler, aber er hatte dieselben tiefblauen Augen. Er lächelte mich an, als ich an ihm vorbei ging. Auch er hatte eine ganz enorme Ausstrahlung, aber bei weitem nicht dieselbe, die Daniel hatte. Bei ihm war es anders. Er hatte mich nicht umgehauen, wie Daniel dem Tag zuvor. Offensichtlich war es kein grundsätzliches Problem, was ich mit den Callahan´s hatte. Es lag ausschließlich nur an Daniel.
Bevor ich den Klassenraum betrat öffnete ich meine Haare und sortierte meine Locken ein wenig. Das tat ich öfter, denn dadurch vermied ich Kopfschmerzen. Ich betrat den Raum und das erste was ich sah, war Daniels Gesicht. War das denn so unmöglich meinen Plan durchzusetzen? Ich fühlte Wut auf mich selbst. Konsequenz gehörte wohl nicht zu meinen Stärken. Er lächelte mich mit seinen wunderschönen Augen an. Ich schaute schnell weg, um seinem Blick nicht wieder zu verfallen. Er war eine Droge. Man wusste, dass man süchtig war, aber man nahm sie trotzdem.
Ich packte schnell meine Sachen raus und kramte länger als nötig in meiner Tasche herum. Jede Minute, die ich anders verbringen konnte, als in die Versuchung zu kommen, ihn wieder anzustarren, nutzte ich ganz bewusst.
„Macht es dir etwas aus, wenn ich heute neben dir Platz nehme?“ – sagte wie aus dem Nichts eine vornehm klingende Stimme. Ich schrak hoch und schaute in seine Augen, die mir für einen Augenblick die Luft wegnahmen.
„Was ist denn mit dem alten passiert?- fragte ich mit einer belegten, schnippischen Stimme. Im gleichen Moment hätte ich mich selbst ohrfeigen können. Dumm, wie dumm. Aber was hätte ich denn machen sollen? Ihn etwa stehen lassen? „Ja“, schrie mein Verstand. Doch der hatte bereits verloren.
„Lila bitte, ich fass es nicht, dass wir jetzt darüber diskutieren müssen“, erwiderte er etwas verärgert, aber seine Augen strahlten etwas anderes aus. Er war enttäuscht.
Damit hatte ich nicht gerechnet. Weder dass er auf einmal neben mir sitzen wollte, noch dass er so reagiert. Die Wut auf mich selbst stieg wieder hoch.
„Der Platz neben Mike war nur vorrübergehend frei. Falls du dich daran erinnerst, sitzt da bereits jemand“, sagte er vollkommen trocken.
„Tut mir leid, daran habe ich nicht mehr gedacht“, gab ich leise zu.
Ich schaute mich in der Klasse um, vielleicht war irgendwo anders noch etwas frei, aber ich musste schnell feststellen, dass neben mir der einzige frei Platz war.
„Lila, kann ich mich jetzt bitte hinsetzen, du machst mich gerade vor der ganzen Klasse lächerlich.“
In seinem Gesichtsausdruck spiegelte sich Ärger und Traurigkeit. Ich musste aufgeben. Es gab keine andere Möglichkeit. Also zog ich meinen Stuhl soweit wie möglich an das Tischende und nahm meine Tasche von dem anderen Stuhl runter. Das war meine wortlose unfreiwillige Einwilligung. Ich schaute aus dem Fenster um nicht ihn ansehen zu müssen.
Der ganze Tag verlief ähnlich. Ich versuchte ihn zu ignorieren und als ich mich unbeobachtet fühlte starrte ich ihn an. Er erfüllte mit seinem Dasein den ganzen Klassenraum. Es gab so etwas Vollkommenes in seinem Wesen, was ihn von Anderen unterschied. Ich konnte einfach nicht anders. Daniel fühlte sich in dieser Lage sichtlich unwohl. Ab und zu schaute er verlegen zu mir rüber. Ich sah es und es tat mir leid. Er hatte mir nichts getan, und ich bestrafte ihn so sehr mit dem, was ich tat. Und noch mehr bestrafte ich mich selbst. Die ganzen Mädchen in der Klasse, mit denen ich noch nie großen Kontakt hatte, schielten voller Neid zu mir rüber. Ich konnte es vollkommen nachvollziehen. Daniel war fast schon umwerfend hübsch. Jedes Mädchen, wäre gerne mit ihm zusammen gewesen, nur ich wollte es unbedingt vermeiden. Ich war schon immer anders, tröstete ich mich.
Es läutete und der Unterricht war für heute zu Ende. Er schaute zu mir rüber und packte seine Tasche.
Ohne ein Wort stand er auf und ging. Ich saß da und kämpfte mit den Tränen. Jetzt zweifelte ich an meiner Entscheidung ihn zu ignorieren. Ich tat mir selbst damit weh. Das wusste ich, aber ich traute mich nicht es zuzulassen. Die Gefühle, die er in mir auslöste waren so gewaltig, dass ich Angst hatte einfach umzukippen. Diese Vertrautheit zwischen uns. Obwohl wir kaum miteinander sprachen, wussten wir instinktiv, wie es dem anderen ging. Wir hatten auch irgendwie das Talent, uns über unsere Gedanken auszutauschen. Wir sprachen auf diese Weise fast ungewollt miteinander.
Daniel gehörte schon immer zu mir und zu meinem Leben, dessen war ich mir sicher. Das konnte ich nicht leugnen, woher auch immer diese Sicherheit her kam. Tatsache war aber auch, ich habe ihn vor ein paar Tagen das erste Mal gesehen. Das konnte ich auch nicht leugnen.
Die nächsten zwei Wochen verbrachte ich wie in Trance. Diese Zeit wirkte beinahe unreal. Meine Gedanken drehten sich von morgens bis abends nur um eine einzige Person. In den ersten Tagen war der Wille, meinen Plan durchzusetzen noch recht stark. Obwohl es zu keinem Zeitpunkt leicht war. Ich ignorierte Daniel in der Schule, machte bei Kate eine gute Miene zum bösen Spiel und weinte mir abends im Bett die Augen aus. Und jeden Tag fragte ich mich, ob es das wert war. Meine seelischen und körperlichen Schmerzen nahmen zu und mein Wille immer mehr ab. Aus dem klaren, anfänglichen „Ja, ich ziehe es durch“ wurde immer mehr ein „Nein, ich schaffe es nicht. Nein ich tue mir und vor allem Daniel nicht noch weiter weh.“ Ich hatte furchtbares Liebeskummer, was ich wohl gemerkt selbst produzierte in dem ich die Liebe zu ihm- und es war Liebe- unterdrückte. Was wahrscheinlich zu meinem mittlerweile schlechten Aussehen beitrug.
Ob Kate mir das Spiel, was ich ja auch mit ihr spielte wirklich abkaufte, wusste ich nicht. Zumindest sagte sie nichts. Naja, meistens war sie auch mit sich selbst beschäftigt. Mich wunderte es, dass sie so extrem selbstverliebt war, denn ich sah wirklich fertig aus, die Ringe unter meinen Augen verfärbten sich immer mehr in einen Fliederton. Ich hatte die Befürchtung, sie mit meinem Abdeckstift demnächst nicht mehr weg zu bekommen.
An Daniel schien mein furchtbares Verhalten auch nicht ohne Spuren vorbei zu gehen. Er hatte dieselben Augenringe, die auf schlaflose Nächte hin deuteten. Die Frage war nur, war es gut, dass ich ihm scheinbar nicht egal war, oder bildete ich mir etwas ein. In den letzten Tagen hatte er einen neuen Blick entwickelt, den flehenden Blick. Sein Gesicht schrie mittlerweile förmlich „bitte Lila, ich flehe dich an, hör auf damit, ich halte es nicht mehr lange aus.“ Und mein Blick antwortete „ich habe Angst es zuzulassen.“

Die Qual der Wahl
Eines Tages, sollte es sich ändern. Wie fast jeden Tag, saß ich allein auf meinem Platz, kämpfte zum Schulschluss mit den Tränen und packte meine Schultasche.
Die Klasse war bereits leer. Ich schlenderte langsam dem Gang entlang und als ich nach draußen trat, kam mir Kate entgegen. Schnell eine freundlichere Mine aufsetzen Lila. Ich hatte keine Lust auf ein Verhör.
Lange konnte ich es sowieso nicht mehr vor ihr verbergen. Es grenzte an einen Wunder, dass ich es bis hierhin schaffte. Aber, durch Daniel und Sem hatte sie in der letzten Zeit eine gute Ablenkung. Sie musste sich jeden Tag aufs Neue überlegen, wie sie den beiden imponieren konnte.
Sie schien gut gelaunt zu sein, was ich, nachdem ich sie vorhin schon wieder allein stehen gelassen hatte, nicht erwartete.
„Sag mal, was war denn mit Daniel los, er rannte ja halb zu seinem Auto, als ob er es nicht erwartete von hier weg zu kommen“, sagte sie mal wieder in einem Atemzug. Das tat er schon seit Tagen, aber gut, dass es ihr erst heute aufgefallen ist.
„Woher soll ich es denn wissen, Kate. Du kannst ihn ja persönlich fragen“, wich ich gespielt gereizt aus.
Sie dachte kurz über meine Idee nach und lächelte zufrieden.
„Ich fahr dich okay.“
„Ja, danke, das ist nett von dir.“ Es war ja sowieso schon beschlossen. Sie setzte sich eine viel zu riesige Designer- Sonnenbrille auf die Nase und startete den Motor.
„Außerdem wollte ich dich noch etwas fragen“, sagte sie beiläufig und schaute mich an und ich betete, dass sie nichts sieht, was eventuelle Fragen aufwerfen könnte. In diesem Moment hätte ich mir wahrscheinlich auch freiwillig eine dieser Monster-Brillen aufgesetzt Aber da ich rein zufällig gerade keine dabei hatte, gab ich mir große Mühe, völlig gelassen auszusehen.
Sie legte elegant einen Gang ein und wir fuhren endlich los.
„Ich wollte dich fragen, ob du Lust hast, morgen Abend auszugehen. Wir sollten das schöne Wetter ausnutzen und uns ein paar Coktail´s gönnen. Unter „wir“ waren Leute gemeint, die ich kaum kannte. Und Kate wohlgemerkt auch nicht. Dennoch war sie der Meinung, dass diese Leute gerade so ihrem Niveau entsprachen. Sie sah meine Skepsis, anscheinend konnte ich meine Gedanken gut in meinem Gesicht wiederspiegeln. Wenn ich wollte. Bei Daniel zum Beispiel ging es nicht um Wollen. Da war eher die Frage, ob ich meine Gedanken vor ihm verbergen konnte.
„Du kannst auch gerne jemanden mitbringen. Ich frag Daniel und Sem gleich morgen, ob sie auch Lust haben. Es ist bestimmt nicht einfach, sich hier einzuleben. Und so, wie Daniel sich vorhin benommen hatte, sah es nicht danach aus, das es ihm schon gelungen war.“ – sie setzte eine bemitleidende Miene auf.
Wenn sie wüsste wem er dies zu verdanken hatte. Außerdem hatte ich oft das Gefühl bei ihm, dass es ihm nicht wichtig war sich in Jacksonville einzuleben. Das einzige, was für ihn zählte, war leider, mich an seiner Seite zu haben. Ich hoffte wieder einmal, dass ich mich irrte.
Ich schloss für einen Moment die Augen. Was sie gerade gesagt hatte, haute mich um. Ich gab mir die größte Mühe Daniel zu meinem eigenen Schutz zu ignorieren und sie machte es gerade kaputt, in dem sie ihn auch noch einlud. Ich atmete tief durch und überlegte abzusagen. Ich musste ja nicht mitkommen.
Aber so konnte es nicht weitergehen, ich konnte ihm nicht für immer aus dem Weg gehen. Das sah ich jetzt ein. Diese Erkenntnis kam wie aus dem nichts. Aber im Grunde wusste ich es bereits am ersten Tag. Ich sag ja, dass ich gut bin, wenn es darum geht, schmerzhafte Dinge zu unterdrücken. Und es wird andauernd solche Situationen geben. Also beschloss ich es zumindest auszuprobieren. Er ist kein Monster Lila. Er ist nur ein Junge, in den du dich anscheinend verliebt hast und er dir damit Angst einjagt. Gib ihm eine Chance. Und dir selbst,- redete ich in Gedanken auf mich ein. Mir wurde etwas leichter ums Herz. Der Druck, den ich aufgebaut hatte ließ endlich nach. Ich war bereit.
„Ja, klar warum nicht. Ich bin dabei, wann geht’s los?“- fragte ich mit einem flüchtigen Lächeln auf den Lippen. Was ich in diesem Moment empfand war Angst und gleichzeitig Freude.
Ich musste mich an die neue Situation ran tasten. Sie schaute mich lächelnd aus dem Augenwinkel kurz an. Sie war zufrieden. Wie es aussah, hat sie genau auf diese Antwort gehofft. Ich stieg aus, als wir vor unserem Haus parkten.
„Danke fürs fahren“, sagte ich kurz.
„Danke für die Zusage“, erwiderte sie mit einem Lächeln.
Ich geb ja zu, dass es bislang nicht oft vorgekommen war, dass ich so einfach und schnell zusagte. Ich glaube, dass hat sie stutzig gemacht. Dumm war Kate nicht, daher konnte sie sich eins und eins zusammenrechnen.
Den restlichen Tag war ich völlig aus dem Häuschen. Ab und zu kamen wieder die Zweifel, ob es wirklich gut war mich auf Daniel einzulassen. Ich wusste nur zu gut, dass er seine Chance blitzartig nutzen wollen würde.
Am Ende des Tages war ich völlig fertig und hatte Kopfschmerzen von vielen Überlegen. Aber so richtig schlafen konnte ich auch nicht. Mitten in der Nacht stellte ich leise den CD-Player an. Völlig erschöpft schlief ich dann endlich ein. Und kurz bevor ich in einen tiefen Schlaf versank spürte ich wohlige Wärme auf meiner Wange.
Ich versuchte den ganzen Morgen nicht an Daniel zu denken. Mach dich nicht verrückt, redete ich mir pausenlos ein. Und als wir gerade vor der Schule parkten,- Kate hatte mich abgeholt, fuhr auch der weiße Audi vor.
Daniel kam heute mit Sem. Die beiden stiegen aus und Daniel schien sichtlich nervös zu sein. Ihm vielen mehrmals die Autoschlüssel runter. Er war sonst immer so perfekt, dass ich mich beinahe erschrak ihn so nervös zu sehen. Daniel würdigte mich mit einem flüchtigen, halb verwirrten Blick und schaute wieder weg ohne mich zu begrüßen. Er sah etwas traurig aus, was seine wunderschönen blauen Augen dunkler machte. Ich musste wegschauen, sonst hätte ich ihn wahrscheinlich wieder angestarrt und das wollte ich vermeiden. Damit sollte ab heute Schluss sein. Er sollte nicht sehen, dass er mich fast verrückt machte. Es wäre lächerlich. Und zwar in jeder Hinsicht.
Sem lächelte mich dagegen an, warum sollte er es auch nicht tun. Mit ihm hatte ich keine Probleme. Die beiden waren schon halb an uns vorbeigegangen, als Kate ihnen den Weg abschnitt. Daniel schien aber nicht wirklich überrascht darüber zu sein. Hätte ich es nicht besser gewusst, dann hätte ich behauptet, dass er bereits wusste, was sie ihn gleich fragen würde. Aber es war unmöglich. Obwohl, naja, so unmöglich war es ja irgendwie doch nicht. Wenn er meine Gedanken lesen konnte,- natürlich nur rein theoretisch- dann wüsste er von dem gestrigen Gespräch zwischen mir und Kate. Das machte irgendwie Sinn. Für mich zumindest. Und er hätte auch mitbekommen müssen, dass ich gestern völlig von der Rolle war. Und er kannte dann auch logischerweise meine Antwort auf Kate´s Einladung. Vielleicht machte ihn das ja so nervös.
„….ja und dann wollte ich euch einladen, mitzukommen“, bekam ich noch mit. Anstatt ihr eine Antwort zu geben, schaute er mich während des ganzen Gesprächs an, so als ob er um Erlaubnis bat. Verblüffung ließ sein Gesicht erstarren.
Ich konnte ihn mal wieder für einen Augenblick nur anstarren. Ich wollte dem ganzen eine Chance geben, oder eher gesagt mir selbst. Ich wollte testen, ob ich einen Abend mit ihm überstand und deswegen lächelte ich ihn kurz an.
Er schaute skeptisch, also wolle er mich fragen, „bist du dir da ganz sicher, dass du es willst?“ Ich versuchte ihm in Gedanken zu antworten, um meine Theorie zu testen. „Ich bin mir nicht sicher, aber würde es gerne versuchen“. Er lächelte mich erleichtert an und sagte Kate zu. In mir allerdings breitete sich ein ganz eigenartiges und mal wieder total neues Gefühl aus. Er hatte meine Gedanken tatsächlich wahrgenommen.
Wie sollte ich jetzt mit diesem Wissen umgehen? Auf jeden Fall musste ich es erst einmal verdauen.
Seine Nervosität von eben war wie weg geblasen. So als ob er zwar wusste, dass es zu diesem Gespräch kommt, aber an meiner Antwort, die er ja nun zu wissen schien, zweifelte er bis zum Schluss.
Der erste Schritt war gemacht. Als ich den Klassenraum betrat, saß Daniel schon auf seinem Platz, an unserem Tisch. Er hatte ein sehr hübsches, hellblaues Hemd an, was seine Augenfarbe nur noch mehr unterstrich. Ich muss zugeben, dass ich in den letzten Wochen nicht darauf geachtet habe, was er anhatte. Ich versuchte ihn erst gar nicht anzuschauen. Als ich mich dem Tisch näherte schaute er hoch,- nicht überrasch darüber, dass ich fast vor ihm stand- und lächelte mich an. Es war ein Lächeln der Erleichterung, das sah ich in seinen wunderschönen blauen Augen, die irgendwie hellblauer waren, als ich sie in Erinnerung hatte. Ich vermute, es liegt an seiner momentanen Stimmung. Traurig, bedeutete tiefblau, froh hellblau.
„Hallo Daniel“- ich erwiderte sein Lächeln und schaute auf den Boden, weil ich nicht wusste, wie er meinen plötzlichen Sinneswandel aufnimmt.
„Hallo, Lila“, sagte er mit seiner sanften, engelsgleichen Stimme. Sie haute mich fast um und ich war froh, als ich auf meinem Stuhl saß, der mir Sicherheit gab. Ich packte meine Sachen aus, wie üblich hatten wir in der ersten Stunde Mathe. Ich war innerlich einfach nur selig und grinste vor mich hin. Wenn das jemand sehen würde, hör damit auf Lila, befahl ich mir. Neben mir hörte ich ein leises kichern, was so leise war, dass ich offenbar nicht hören sollte. Ich wusste woher es kam, er hatte mal wieder in meinen Gedanken gewühlt. Es war sehr befremdlich, aber nichts Neues mehr. Ich fing absurderweise an, mich daran zu gewöhnen. Daniel hatte scheinbar eine Gabe, kam ab und zu bei Menschen vor. „Daniel, hör auf damit“, befahl ich ihm, nur halb ernst in Gedanken. Er verstummte und drehte den Kopf zu mir, seine Augen lächelten immer noch. Ich zog die Augenbrauen zusammen und schaute ihn gespielt eindringlich an.
„Tut mir schrecklich leid Lila“, sagte er kurz und lächelte wieder.
„Mir auch, Daniel“- für einen Augenblick stockte meine Stimme. „ Ich meinte die letzten zwei Wochen“- gab ich leise zu.
Es tat mir wirklich leid, er hatte es nicht verdient, dass ich ihn so behandelte. Sein Gesicht zuckte schmerzerfüllt, als ob er in seinem Herzen nochmal die Qualen der letzten Wochen durchlebte.
„Mir auch… wahnsinnig leid“- antwortete er, auch verlegen. Was meinte er damit, ich verstand es nicht, was tat ihm so wahnsinnig leid? Er hatte überhaupt nichts verbrochen, außer dass er existierte. Ich musste meine Fragen auf später verschieben, denn Mr. Brown betrat gerade den Klassenraum. Mist. Ich konnte nicht warten. Schnell riss ich einen Zettel aus meinem Block.
„Was tut dir leid Daniel?“- schrieb ich drauf und schob ihn zu ihm rüber. Ohne mich anzuschauen, was wieder ein Zeichen dafür war, das er bereits wusste, was auf dem Zettel stand, nahm er einen Stift in die Hand und schrieb etwas drauf. Es hat eine halbe Ewigkeit gedauert, bis er mir den Zettel wieder unbemerkt rüberschob.
„Es tut mir leid, dass ich so offensichtlich, in dein Leben getreten bin. Es war falsch. Ich hätte alles unverändert lassen müssen, doch jetzt ist es zu spät und genau das tut mir leid.“
Das verstand ich noch weniger, als seine vorherige Entschuldigung. Ich schob wieder meine Augenbrauen zusammen, aber dieses Mal war es ernst gemeint. Ich war verärgert über mich selbst. Er sah mich gequält an. Etwas verletzte ihn, seine Augen wurden um eine Nuance dunkler.
„Daniel, das ist keine Antwort, sondern etwas, was ich erst recht nicht verstehe.“ Während ich noch schrieb, schob er mir einen anderen Zettel zu. Er kannte die Antwort bereits.
„Mehr kann ich dir dazu nicht sagen, nur dass ich mehr für dich empfinde, als ich dürfte.“
Was meint er mit „dürfte“? Mir ist fast entgangen, dass er mir gerade seine Gefühle gestand. Ich wurde rot, mein Herz pochte. Und dann wurde mir klar, dass er seit dem ersten Tag wusste, dass ich mich in ihn verliebt hatte. Und ich bin die ganze Zeit nicht darauf gekommen? Man muss ja schon fast blind sein, Lila, schimpfte ich mich aus. Ich erinnerte mich an sein schmerzerfülltes Gesicht, der letzten Wochen, seine Augenringe unter den Augen, er litt mit mir, weil er genauso empfand.
Ich suchte eine Bestätigung in seinem Gesicht. Ich beschloss auf einen Zettel zu verzichten, um ihm etwas mitzuteilen.
„Daniel, antworte mir, bitte“, forderte ich in Gedanken. Er sah mich verlegen an. Ja, es stimmte also. Das reichte mir. Etwas blieb dennoch ungeklärt, was er mit „ich empfinde mehr, als ich dürfte“ meinte. Wer schrieb ihm vor, wie viel er für mich empfinden durfte? Aber das musste wirklich warten, Mr. Brown schaute schon verärgert in unsere Richtung.
Es klingelte. Schulschluss. Ich hörte fröhliche Stimmen und Gekicher, alle stimmten sich auf das bevorstehende Wochenende ein. Ich packte genauso meine Schultasche und bemerkte nicht, dass Daniel schon fertig war. Er schien es eilig zu haben. Zumindest machte ihn etwas sichtlich nervös.
„Na dann, bis heute Abend. Ich freue mich darauf, Lila“, sagte er viel zu schnell, aber ehrlich. Für einen Moment blieb er stehen, ging dann aber nicht sehr entschlossen aus dem Raum.
Ich hatte es noch nicht einmal geschafft, ihm zu antworten. Das war nicht fair. Ich wusste, warum er es so eilig hatte. Er wollte meinen Fragen ausweichen, die er bereits in meinen Gedanken gelesen hatte. Darauf hätte ich wetten können. Tolle Gabe. Ich würde nicht aufgeben, er konnte vielleicht jetzt fliehen, aber es wird ihm nicht immer gelingen. Ich musste es wissen. So viele Fragen waren noch nicht beantwortet.
Als ich den Parkplatz erreichte, war Daniels Audi bereits weg. Es löste heute in mir aber nicht die gewohnten, schmerzlichen Gefühle aus, wie sonst. Ich wusste, dass ich ihn in ein paar Stunden wiedersehen würde und das war mehr, als ich mir erträumen konnte. Mit ihm Zeit verbringen.
Kate wartet auf mich in ihren Auto. Sie erzählte mir die ganze Fahrt etwas über die Leute, die sie für heute Abend eingeladen hatte, aber ich war unfähig ihr zuzuhören. Meine Gedanken befassten sich ausschließlich mit Daniel. Ich bekam nur mit, dass die meisten aus wohlhabenden Familien kamen und ich sie nicht kennen würde. Ich fragte nicht weiter nach, es war mir egal, Daniel würde da sein, das war das einzige was ich wissen musste. Verdammt war ich verliebt. Zum aller ersten Mal erfuhr ich, wie sich dieses Gefühl in mir ausbreitete. Und es fühlte sich beinahe berauschend an.
„Also, dann bis später Kate“; sagte ich fröhlich, fast singend, als wir vor unserem Haus parkten.
„Ich hole dich um sieben ab, Liebes“, sagte sie eindringlich und ich verschwand lächelnd im Haus.
Ich schmiss mich überglücklich aufs Bett. Das Grinsen wich nicht eine Sekunde mehr aus meinem Gesicht. Ich schloss die Augen und sah mich in Daniels Armen, wie er meine Hand streichelt, wie er mir übers Gesicht geht und ich in seinen blauen Augen versinke und er mich sanft küsst. Es ist ein unbeschreibliches Gefühl, was mich in diesem Moment überkam. Wie oft habe ich mir das bereits vorgestellt, aber nie war diese Vorstellung so greifbar nah, wie heute. Mein Grinsen wurde noch breiter. Was er heute wohl anhaben wird? Wieder hellblau? Ich konnte es kaum erwarten. Schnell suchte in mir eine CD aus meiner Sammlung heraus ohne eigentlich darauf zu achten und begab mich zu meinem Kleiderschrank. Ich wollte gut aussehen und daher zog ich nicht irgendetwas heraus, wie sonst. Mir viel auf einmal in aller Deutlichkeit auf, dass ich nur wenige schöne Kleider besaß. Es ist mir vorher noch nie aufgefallen. Vielleicht aber verblasste die Schönheit der Kleider nur, weil ich sie alle mit Daniel verglich. Ich war entsetzt. Was ziehe ich denn nun an? Nie hätte ich mir vorstellen können, dass ich mal so reagiere. Ich war Lila. Kate war der Freak in der Sache, nicht ich. Ich hatte letztendlich die Wahl zwischen einem gelben, mit Blumen bestickten, halblangen Kleid, einem fliederfarbenen Spaghettiträger- Kleid, oder einem weißen unschuldigen Sommerkleid, was einen sehr schönen Ausschnitte hatte, der mit kleinen Röschen bestickt war.
Ich zog erst alle einmal an, experimentierte mit meinen Haaren herum und hatte dann schließlich das weiße Kleid an, dazu strassbesetzte Riemchensandalen an meinen Füßen und offene Haare. Ich war zufrieden und schaute auf die Uhr, es war bereits halb sieben. Mir ist nicht bewusst gewesen, dass ich den ganzen Nachmittag damit verbrachte, mich zurecht zu machen. Kate durfte davon nichts erfahren. Es würde meinen jahrelangen Kampf vernichten. Ich schaute ein letztes Mal in den Spiegel und wuschelte meine Locken, wie aus Trotz noch einmal auf, damit sie nicht so perfekt aussahen.
Ich ging runter und hörte Stimmen in der Küche. Ich war es nicht gewohnt mich bei Jemanden abzumelden. Es war meistens keiner da gewesen, aber wenn meine Eltern zuhause waren, dann tat ich es, weil man es wahrscheinlich so machen musste.
„Ich bin mit Kate unterwegs“. Kurz dachte ich nach, was ich hinzufügen sollte.
„Ich komme pünktlich.“
Was dieses Wort bedeutete, wusste ich zwar nicht genau, aber es war nicht verkehrt, es auszusprechen. Sie lächelten beide.
„Ist gut, hab Spaß.“
Ich lächelte zurück.


Ich kannte keine Zeiten, meistens hab ich selbst entschieden, wann es Zeit war nach Hause zu gehen.
Es hupte.
„Dann, bis später.“
Ohne mich umzudrehen, klappte ich die Haustür zu. Als ich im Auto saß, schaute Kate mich skeptisch an.
„Was ist?“- ich schaute verlegen weg.
Mist, sie hat es bemerkt, es war mir unangenehm.
„Du siehst wirklich hübsch aus, Liebes“, sagte sie lächelnd und etwas nachdenklich.
Sie nannte mich immer „Liebes“, wenn sich etwas besonders gut anhören sollte. Ich mochte es nicht. Es hörte sich nach einem Hund an.
„Danke, du auch“, sagte ich schnell.
„Das ist ja auch normal“, gab sie empört von sich und zischte. Dann machte sie den Motor an, legte einen Gang ein und wir fuhren endlich los.
Nach einer halben Minute schaute sie mich wieder sehr skeptisch an und wollte mir ihre gerade gemachten Überlegungen mitteilen.
„Aber, dass du dich so in Schale wirfst, ist nicht normal. Also, da du den Rest der eingeladenen Leute nicht kennst, behaupte ich einfach mal, dass du dich für Daniel hübsch gemacht hast. Ich weiß, dass du verliebt bist, so wie du den Armen in den letzten Wochen behandelt hast.“
Es war keine Vermutung, sondern eine Feststellung. Ich fügte dem nichts mehr hinzu. Ertappt. Sie hatte es doch mitbekommen. Schauspielerin zu werden konnte ich vergessen.
„Übrigens, lässt sich Sem entschuldigen, er wird nicht kommen. Ihm geht es nicht so gut.“ Sie wartete auf meine Reaktion. Aber es interessierte mich nicht wirklich, Hauptsache Daniel kam.
„Schade“, sagte ich völlig neutral und schaute auf die Straße. Sie fand nichts Verdächtiges, also hat sie ein anderes Thema angeschlagen.
„Ich freue mich wirklich darauf, dir die anderen vorzustellen“, sagte sie mit Stolz in der Stimme.
Worauf war sie denn stolz? Dass es Menschen aus reichen Familien waren, die sie davon überzeugte, mit uns auszugehen? Es war erbärmlich, wie oberflächlich manche Menschen doch waren. Ich empfand auf einmal Abscheu. Ja, so wie ich Kate kannte, war sie genau auf dieses stolz, dachte ich sarkastisch. Ich war manchmal froh, dass wir in einigen Punkten so unheimlich verschieden waren. Dann musste ich wenigstens über so etwas nicht weiter nachdenken.
„Ich hoffe nur, es sind keine Spießer“, sagte ich leise, ohne zu wissen, ob sie es hörte.
Sie parkte gerade ihr frisch gewaschenes Cabrio und ich sah, wo wir den Abend verbringen würden. Ich rollte meine Augen und strich mir mit Daumen und Zeigefinger über die Nase. Es musste natürlich das „La Habanna“ sein, was denn sonst. Die teuerste Coktailbar in ganz Jacksonville, direkt an der St. Johns River Promenade.
Umgab mich denn nur noch Oberflächlichkeit, dachte ich genervt? Ich hatte bereits jetzt keine Lust mehr die Menschen kennenzulernen, die uns erwarteten. Voller Hoffnung, dass ich einen weißen Audi sehe, drehte ich mich zu allen Seiten um. Bitte Daniel, lass mich nicht allein, mit den ganzen Spießern,- ich schloss Kate mit ein- flehte ich ihn in meinen Gedanken an, in der Hoffnung, dass er es hörte. Dass er meine Gedanken hörte, wusste ich mit ziemlicher Sicherheit. Aber so etwas wie eine Gebrauchsanweisung, hätte trotzdem nicht geschadet.
„Bitte, Lila, sei keine Spielverderberin“, sagte sie etwas schmollend und stieg aus dem Auto.
„Ich versuch es“, sagte ich, in der Hoffnung, dass Daniel bald da sein würde und stieg ebenfalls aus.
Es waren nur noch wenige Meter bis zur Bar, als ich sah, dass der Audi auf den Parkplatz fuhr. Sofort stieg Vorfreude in mir auf und ich spürte tausende Schmetterlinge in meinem Bauch. Zum ersten Mal habe ich bewusst wahrgenommen, dass ich verliebt bin. Verliebt in Daniel. Und zum ersten Mal dachte ich darüber nach, was er mir heute in der Schule offenbarte. Seine Liebe, seine verbotene Liebe, wie er sie nannte. Er „durfte“ nicht so empfinden, sagte er und ich wusste nicht warum. Was steckte hinter diesem Wort? Hatte er ein Geheimnis und ich bin nur noch nicht dahinter gekommen? Fragen über Fragen, ich hatte so viele, die ich ihm stellen wollte. Ich musste nur den richtigen Moment finden. Wir mussten uns langsam näher kommen, so wie es am ersten Tag gewesen wäre.
„Ich geh schon rein und begrüße die anderen okay Lila?“, fragte Kate lächelnd.
Es war nicht zu überhören, worauf sie anspielte.
„Ja, wir kommen gleich.“ Habe ich gerade wir gesagt? Wieder meldeten sich die Schmetterlinge in meinem Bauch.
Ich stand völlig verlegen und alleine auf dem Bürgersteig und wartete auf ihn. Es war so selbstverständlich, dass ich Angst bekam, etwas Unerwünschtes zu tun. Im Grunde war Daniel mir fremd, dass konnte ich nicht bestreiten. Und dennoch wartete ich auf ihn, wie auf einen Verbündeten. Vielleicht war er es auch. Mit mir verbündet, gegen den Rest, der auf uns wartete. Ein Haufen Spießer.
„Hallo Lila“, sagte er mit einem umwerfenden Lächeln, als er nur noch ein paar Schritte von mir entfernt war. Wie konnte ein Mensch so unwiderstehlich schön sein? Es tat beinahe körperlich weh. Mir blieb der Atem weg. Er sah in seiner weißen Baumwollhose und dem hübsch anliegenden weißen Hemd einfach umwerfend aus.
Seine Augen leuchteten in einem Azurblau, was das Gesamtbild nur noch harmonischer aussehen ließ. Nach meiner Theorie würde es bedeuten, dass er sich über etwas freute.
Er schaute sich überrascht um, als hoffte er, jemanden zu entdecken. Ich schaute ihn fragend an. Was machte er denn da? Nachdem er niemanden sah, drehte er sich wieder zu mir um. Sein Gesicht sah verwirrt und überrascht aus. Nachdem auch ich kapiert hatte, worauf er hinaus wollte, hätte ich im Boden versinken wollen. Röte breitete sich in meinem Gesicht aus und ich schaute verlegen zur Seite. Er lachte auf einmal fast überglücklich, wie ein Kind. Er freute sich, das war für ihn wie eine Ehre, die ich ihm mit meinem Warten entgegenbrachte.
„Wartest du auf mich?“- fragte er noch einmal ungläubig und stupste mit dem Zeigefinger auf seine Brust. Er konnte es offensichtlich kaum fassen.
„Ja.“- die Luft blieb weg.
Atme, Lila.
„ Aber wenn du das nicht möchtest, was ich natürlich verstehen kann, dann gehe ich.“
„Nein!... Bitte bleib. Ich bin nur überrascht. Ich meine, du hast mich seit meiner Ankunft versucht zu ignorieren und jetzt stehst du hier und wartest ausgerechnet auf mich. Bitte, nimm es mir nicht übel, dass ich mich an diese wunderbare Entwicklung erst gewöhnen muss.“
Ich konnte es ihm nicht verübeln, dass ich ihn damit irritierte. Mein Verhalten grenzte ja beinahe an Idiotie. Es wunderte mich, dass er mit mir überhaupt noch sprach.
„Es tut mir wirklich leid, dass hattest du nicht verdient, du kannst ja nichts dafür, dass ich mich… naja, dass ich so verwirrt war“- ich sprach nicht weiter, es tat weh, an die Qualen zu denken. An das, wie er sich die letzten Wochen gefühlt haben muss.
Auf einmal stand er mir sehr nah, was ich überhaupt nicht mitbekommen hatte. Hat er sich bewegt, oder war ich es gewesen?
Er stand höchstens einen Schritt von mir entfernt und ich konnte seinen Geruch und seine Wärme wahrnehmen.
Vor allem die Wärme, es war eigentlich das falsche Wort, für das, was ich spürte. Es war viel eher eine warme Energie, so wie eine unsichtbare Aura, es stimmte mich friedlich, so wie ein Zwang, den ich jetzt in seiner Nähe empfand. Warum ist mir das noch nie aufgefallen? Hatte ich meine Sinne so extrem unterdrückt, dass ich es nicht bemerkte? Ich war überrascht über mich selbst. Daniel saß in der Schule schließlich schon eine ganze Weile neben mir, und ich war so Sinnesarm.
Wieder umgab mich ein blumiger Duft, der mir alle Sinne raubte.
Ich schaute verlegen auf den Boden und wagte es nicht meinen Blick aufzurichten.
Dieser Augenblick in dem er mir so nah war, hatte etwas, was nicht sein durfte, etwas verbotenes, wovor ich weglaufen sollte. Etwas schrie in mir, dass ich es tun muss. Ich war irritiert. Jetzt waren meine Sinne scheinbar schärfer, als nötig. Ich ging einen kleinen Schritt zurück, in der Hoffnung, dass dieses eigenartige Gefühl wieder verschwindet, aber es blieb. Etwas wollte mich vor ihm warnen, aber ich war nicht bereit, es zu beachten.
War das einer der Momente, vor denen ich solche Angst hatte? Das ich etwas entdeckte, was mir nicht gefallen würde? Etwas, was verhindern könnte, dass ich ihn liebte? War es der Grund, warum ich mich so sehr dagegen wehrte, mir diese Liebe, dich ich für ihn empfand, einzugestehen und es ihm zu erlauben, mir näher zu kommen?
Ich wusste keine Antwort auf all die vielen Fragen, die Daniel in mir hervorrief.
Ich spürte seine Hand unter meinem Kinn. Er berührte es so sanft, wie etwas, was sofort zerbrechen würde, wenn er nicht aufpasste.
Er war vorsichtig, nur aus welchem Grund. Wusste er es schon vorher, dass mich etwas abschrecken würde, wenn er mir zu nahe käme?
Eine klitzekleine Ahnung durchströmte mich und ein kalter Schauer überkam mich. Konnte es sein, dass er in den letzten Wochen genau aus diesem Grund so litt? Er hatte es ja noch nicht einmal versucht, meine Nähe zu suchen, was keinem normalen Verhalten entsprach. Jeder andere Mensch hätte zumindest ein Gespräch gesucht, oder so etwas. Er dagegen litt einfach nur, als wüsste er, dass es vielleicht besser war- für mich besser war- obwohl auch er sich in mich verliebt hatte und dessen war ich mir mittlerweile ziemlich sicher. Er gab mir unbewusst diese Sicherheit, dass ich Recht hatte.
Seine Finger schoben mein Kinn wieder nach oben, so dass ich gezwungen war, ihm ins Gesicht zu schauen. Lila, es ist nur eine völlig unmögliche Theorie, redete ich mir ein. Es beruhigte mich etwas, weil mein Verstand mir sagte, dass es nicht sein konnte.
Ich schaute ihn an, in der Hoffnung, dass er nichts merken würde.
Noch nie war ich ihm so nahe gewesen, wie in diesem Augenblick. Ich konnte jede Einzelheit in seinem Gesicht erkennen. Jede Wimper konnte ich zählen, seine ebenmäßige Haut, sah aus wie Seide. Sie schimmerte auch so, es ist mir vorher noch nie aufgefallen. Schon wieder etwas, was ich vorher ignoriert hatte.
Die hervorgehobenen Wangenknochen, machten sein Gesicht nur noch perfekter. Alles in diesem Gesicht war in einem übermäßigen Gleichgewicht und Harmonie. Das war wohl das Geheimnis, seines übermenschlich guten Aussehens.
Ich hatte Angst ihm in die Augen zu schauen. Angst davor nie wieder aus diesem Blau aufzutauchen, ohne jede Hoffnung auf Rettung, zu ertrinken. Für einen kurzen Moment gelang es mir aus Neugier, was ich darin finden würde. Er war in der Lage meine Gedanken zu lesen.
Und wenn das so war, dann ist ihm mit Sicherheit auch nicht entgangen, dass ich gerade etwas Übernatürliches an ihm entdeckte. Etwas, was man mit menschlichem Verstand nicht erklären konnte.
Und ich wurde nicht enttäuscht. Sofort wurde ich mit einer riesigen Welle aus Liebe, Angst und Schmerz überschwemmt. Es passte zu gut. Hatte ich Recht? Was stimmte nicht mit ihm? Was machte ihm so viel Angst?
Seine Finger lösten sich wieder von meinem Kinn und ich musste wieder in die Realität zurück kommen.
„Ich schlage vor, dass wir hier und jetzt einen Neustart wagen, was hältst du davon?“ – sagte er mit seiner leisen und sanften Engelsstimme und hielt mir eine weiße Rose hin.
Meine Augen weiteten sich. Er überraschte mich. Woher hatte er sie?
Und als Antwort sagte er: „Die habe ich für dich mitgebracht. Ich finde, ihr beide ähnelt euch sehr, zumindest in der Zerbrechlichkeit und eurer Schönheit“, gab er schüchtern zu und hielt sie mir erneut hin.
Als ob es nicht schon genug war, dass er da war, das größte Geschenk, was er mir machen konnte nach all dem, was ich mir geleistet hatte, er musste mir noch Komplimente machen. Das habe ich wirklich nicht verdient, dachte ich beschämt.
„Danke, sie ist wunderschön. Eine meiner Lieblingsblumen“, gab ich verlegen zu.
„Ich weiß“, sagte er kaum hörbar.
Es schien, als wüsste er so vieles über mich. Als ob er mich schon immer kennen würde. Auch das fügte ich zu meinen unsichtbaren Notizblock hinzu. Er wusste zu viel über mich. Zu viel für einen Fremden. Und ich spürte zu viel Vertrauen und eine übernatürliche Sicherheit bei ihm, für einen Fremden.
„Wollen wir rein gehen? Die anderen fragen sich sicherlich, wo wir bleiben.“- damit hatte er wohl nicht Unrecht.
Und ich war froh, an etwas anderes denken zu müssen.
Obwohl ich mich immer noch nicht gerade darauf freute, auf diese Menschen zu treffen. Spießer. Ich hätte lieber mehr Zeit mit Daniel verbracht. Allein.
Wir hätten die Promenade entlang gehen können, so wie es viele verliebte Paare taten. Er würde meine Hand in seiner halten und mich als Krönung sanft küssen und in mir diese wundervollen Gefühle auslösen. Schöne Fantasie.
Ich nahm meine Umgebung erst wieder wahr, als Daniel mir die Eingangstür zur Coktailbar öffnete. Sanfte karibische Klänge umspielten den großen Raum und fluteten ihn unsichtbar mit einer exotischen Wärme. Es war nicht viel los, aber bei den Preisen, war dies nichts Außergewöhnliches. Ich versuchte diesen Punkt zu verdrängen. Aus der rechten Ecke, die ein wenig hinter Palmenblättern versteckt war, kamen die meisten Stimmen und es war nicht schwer zu erraten, dass dort unsere Gesellschaft, die sowohl Daniel, als auch mir fast unbekannt war, saß. Außer Kate natürlich, die man kaum überhören konnte.
Ich mochte solche Augenblicke nicht so besonders, in denen ich mich jemanden vorstellen musste. Mich überkam meisten die Angst, dass die Menschen mich nicht mögen könnten, oder ich ihren Anforderungen nicht genüge.
Heute war es ganz besonders schlimm. Es war fast zu erwarten, dass diese reiche Menschenansammlung von Spießern mich ablehnen würde. Ich spielte nicht in dessen Liga, wie Kate es ausgedrückt hätte.
Aber wie mit einer unsichtbaren Hand, nahm Daniel mir durch seine bloße Anwesenheit, all meine Ängste und Zweifel. Ich fühlte mich einfach nur sicher. Ich musste kurz in mich lächeln. Mein Verbündeter, erinnerte ich mich.
Wir gingen, ohne uns vorher zu erkundigen in Richtung des großen Tisches, der die Ecke ausfüllte.
Als sie uns sahen, herrsche auf einmal für den Bruchteil einer Sekunde völlige Stille und Regungslosigkeit.
Ich notierte mir kurz in Gedanken, dieses Verhalten, was Daniel durch seine Anwesenheit auf andere auslöste. Und ich war mir sicher, dass es nicht an mir lag. Ich bildete es mir also nicht ein. Diese übermenschliche Ausstrahlung, die er besaß, elektrisierte nicht nur mich.
Ich schaute mich kurz um. Drei Jungs schauten mich interessiert an und rührten in ihren Cocktailgläsern rum. Sie interessierten mich nicht. Zumindest nicht so, wie ich sie anscheinend. Mir würde durchaus reichen, wenn sie einfach nur nett wären und das schienen sie auf den ersten Blick zu sein. Sie schienen sich vertraut zu sein und es war offensichtlich, dass sie öfter etwas zusammen unternahmen. Neben Kate saß das einzige Mädchen, was ich nicht kannte. Sie hatte brünette, hochgesteckte Haare. Ein raffiniert, in Wellen gelegter Pony schmückte ihre Stirn. Ihr Make- Up war geradezu perfekt aufgetragen. Der Lidstrich, der ihre blauen Augen umrundete, sowohl die Lippenkonturen ihres rosé schimmernden Mundes, waren exakt gezeichnet.
Irgendwie überkam mich ein Gefühl von Neid und Eifersucht, ich hatte jetzt das dringende Verlangen, Daniel vor ihr schützen zu müssen.
Sie war so perfekt und passte in meinen Augen viel besser zu ihm, als ich es je könnte.
Und als ob sie mich provozieren wollte, sprang sie halb auf, um Daniel zu begrüßen. Dabei würdigte sich mich keines Blickes. Wut stieg in mir hoch oder war es Eifersucht?
Ich konnte es nicht unterscheiden. Lag vielleicht daran, dass ich noch nie verliebt war.
Sie hielt ihm ihre Hand hin, so wie man es in einem viel früheren Jahrzehnt getan hätte und sagte mit einer verführerischen Stimme: „Hallo, mein Name ist Alexandra Dawson.“ Ihr Blick verriet mir nochmal unmissverständlich, dass es ausschließlich Daniel galt. Sie erinnerte mich an eine Raubkatze, die gerade ihre Beute gefunden hatte und sie nicht teilen wollte.
Daniel nahm ihre Hand entgegen und deutete einen Luftkuss an. Er lächelte sie kurz an. Etwas Vertrautes schien sie für einen Augenblick miteinander zu verbinden. Wie ich Daniel kennengelernt hatte, wollte er bestimmt nur höflich sein.
„Hallo, ich bin Daniel Callahan und das ist meine Begleitung, die wundervolle Delilah Smith“, sagte er mit einer Selbstverständlichkeit, die mich erröten ließ.
Er lächelte amüsiert, als er sah, dass Alexandra auch errötete, aber nicht aus Verlegenheit, sondern eher aus Neid und Eifersucht. Wie es aussah, hatte er genau das vor gehabt. Ich musste auch in mich hineinlachen. Alexandra nahm schnell wieder Platz, ohne ein weiteres Wort zu sagen.
Auch die drei Jungs erfreute es scheinbar, sie so aufgebracht zu sehen, obwohl sie sich schnell wieder gefangen hatte.
„Hallo, ich bin Ben Dawson, Alexandra´s Bruder und das sind Mike und James, meine besten Freunde“, sagte er freundlich und alle drei nickte zu Begrüßung.
Ben stach mit seinem Aussehen um einiges heraus. Er war so viel hübscher, als Mike und James. Aber dennoch kam er nicht an Daniel heran.
Das einzige, was ihn mit Alexandra verband, waren seine Augen.
Alle schienen wirklich nett zu sein, freute ich mich. Außer Alexandra, die ein Problem damit hatte, dass Daniel es von vorne herein klar stellte, was er von ihren Anzüglichkeiten hielt. Er hatte es mir wirklich leicht gemacht und dafür war ich ihm sehr dankbar. Wir nahmen Platz. Mir viel auf, dass Daniel gerade für mich meinen Vorstellungspart übernommen hatte und auch dafür war ich ihm noch dankbarer. Ich hasste diese Prozedur. „Danke“- sagte ich telepathisch. Er schenkte mir ein wundervolles Lächeln. Nach wenigen Minuten kam auch schon die Bedienung. Ich bestellte mir einen „Cassis“ in der Hoffnung, dass ich nicht, wie schon so oft mich an einer Blaubeere verschlucke und wenige Augenblicke hielt ich meinen Coktail in der Hand. Wenigstens etwas, was ich an diesem überteuertem Spießer- Laden gut fand.
Die drei Jungs ließen mich kaum aus den Augen und machten mich etwas nervös und ich spielte mit meiner Physalis, die am Glasrand hing.
„Wie es aussieht, komme ich mal wieder zu spät“, seufzte Ben plötzlich und schaute zuerst mich und dann Daniel an. Seine Augen lachten und verrieten den fehlenden Ernst in seiner Aussage. Auch Daniel schmunzelte, als ob er mal wieder bereits wusste, worum es hier ging.
„Wie bitte?“- stieß ich heraus, nachdem auch ich endlich bemerkt habe, dass er mich meinte. Beinahe hätte sich meine Befürchtung bestätigt und mir wäre eine Beere im Hals stecken geblieben. Glück gehabt. Das wäre sicherlich peinlich geworden.
„Jedes Mal, wenn ich ein hübsches Mädchen kennenlerne, ist sie bereits vergeben“, schmollte Ben gespielt weiter.
Jetzt kicherten auch Kate und Alexandra. Ich verstand es immer noch nicht. Meinte er mich damit? Aber ich war doch überhaupt nicht vergeben?!
Ich schaute ihn wieder fragend an.
„Tut mir leid, ich verstehe es nicht ganz“, gab ich ehrlich zu und schaute aus Verlegenheit auf die Kerze, die mitten auf dem Tisch stand und aussah, wie eine Kokosnuss. Schnell trank ich einen Schluck von meinem Coktail um etwas abzulenken.
Ben war sichtlich darüber amüsiert.
„Das macht dich nur noch sympathischer“, gab er zu.
Ich nahm noch einen Schluck des kalten Getränks, in der Hoffnung, es würde auch meine glühenden Wangen abkühlen.
„Ich habe es sofort bemerkt, als ihr reingekommen seid. Delilah, es ist nicht zu übersehen, dass Daniel über beide Ohren in dich verknallt ist. Du scheinst aber auch nicht abgeneigt zu sein, habe ich Recht?“
Die Flüssigkeit in meinem Mund stockte für einen Moment, als ich total verkehrt nach Luft schnappte und ein Stück einer Frucht sich in meine Luftröhre verirrte. Mist. Warum musste mir das unbedingt passieren.
Ich riss die Augen auf. Mir blieb die Luft weg, ich konnte weder atmen, noch etwas sagen und das lag auch ein wenig daran, dass ich schockiert über Ben´s Aussage war. Alle starrten mich für eine Sekunde an.
Kate war die erste, die wieder etwas sagte.
„Lila, was ist mit dir?“
Sie war wirklich besorgt. Ich zeigte auf meinen Hals, ohne einen Ton sagen zu können. Jetzt merkte ich, dass mir langsam schwindelig wurde und ein unangenehmer Druck sich in meinen Ohren ausbreitete. Ich bekam nur noch wage mit, dass ich transportiert wurde. Als ich wieder zu mir kam, war ich an der frischen Luft und schaute in ein Paar besorgte tiefblaue Augen. Meine Kehle brannte wie Feuer. Ich versuchte meinen Kopf zu bewegen, was ziemlich schwierig war. Ich war tatsächlich ohnmächtig geworden.
„Lila, es ist alles gut,“ bestätigte mir Daniel, der mich immer noch besorgt ansah.
Erst jetzt nahm ich mehr von meiner Umgebung wahr. Daniel saß auf den Stufen, die zum Promenadenweg runter führten und hielt mich in seinen Armen, so wie man es mit einem Baby tat. Sein weißes Hemd leuchtete beinahe, in dem Mondlicht, was mittlerweile von dem klaren Himmel schien. Er strich mir über die Haare und schaute mich wieder liebevoll an, als ob er den Moment sichtlich genoss. Diese Vorstellung gefiel mir und ich lächelte schwach.
Besondere Talente
„Wie lange war ich weg?“- fragte ich ihn.
„Nur ein paar Minuten, nichts schlimmes also,“ sagte er sanft und strich mir wieder über die Haare.
Ein paar Minuten, in denen ich von seinen Zärtlichkeiten nichts mitbekam, seufzte ich in Gedanken.
„Ich habe den anderen gesagt, dass ich dich besser nach Hause fahren werde. Es sei denn, du möchtest etwas anderes tun.“
Er grinste frech.
Ich wurde verlegen, weil ich, wie schon oft das Gefühl hatte, dass er in meinen Gedanken gestöbert hatte und da war noch diese schöne Fantasie, die ich vorhin hatte, bevor wir in die Bar reingingen. In der Daniel und ich verliebt die Promenade längst gingen und er mich küsste. Es kribbelte leicht in meinem Bauch.
Ich setzte mich wieder auf und strich mir mit beiden Händen übers Gesicht, als ob ich gerade aufgewacht wäre.
Es war letztendlich auch egal, ob er es wusste oder nicht, dachte ich verärgert, ich habe es mir schließlich auch vom Herzen gewünscht. Mein Entschluss stand fest. Vielleicht könnte ich auch unter anderem ein paar Antworten auf meine unzähligen Fragen bekommen. Wenn ich es geschickt anstellte.
„Ich würde gerne noch ein paar Schritte gehen, bevor wir fahren,“ sagte ich schüchtern, ohne ihn anzuschauen. Ich hatte zu viel Angst, dass er ablehnen könnte, nachdem er wusste, was ich mir vielleicht davon erhoffte.
„War das eine Frage oder eine Feststellung?“
Ich sah ihn erschrocken an. Er kicherte und schaute weg.
„Sind wir denn schon bei dem Punkt angekommen, wo ich nicht mehr fragen, sondern nur feststellen kann?“- erwiderte ich neckisch.
„Liegt das etwa an mir? Wir wären schon viel weiter, wenn ich die Wahl gehabt hätte“- sagte er gespielt beleidigt und verschränkte die Arme vor seine Brust.
„Hmmh,“ er hatte gewonnen.
Ich konnte darauf keine Antwort geben, also schaute ich ihn nur an. Er schaute mir tief in die Augen und berührte meine Hand.
Mein Herz setzte kurz aus und ich merkte, wie mir wieder etwas schwindelig wurde, aber dieses Mal waren die in mir schwirrenden Schmetterlinge schuld.
Er schaute mich weiter an und sah etwas traurig aus.
„Ich meine das Ernst Lila. Wenn ich nur eine winzige Wahl hätte, ich würde alles dafür geben, dich zu lieben.“
So ernst und ehrlich hatte ich ihn noch nie erlebt. Dennoch ergaben seine Worte keinen Sinn in meinen Ohren. Jetzt war Schluss mit den Ausflüchten beschloss ich.
„Welche Wahl meinst du Daniel? Nach meiner Vermutung, weißt du, warum ich dir versucht habe aus dem Weg zu gehen.“
Meine Aussage machte ihn irgendwie noch trauriger, ich konnte zwar seine Augenfarbe nicht sehen, aber ich hätte wetten können, dass sie mal wieder tiefblau waren.
Ich verstand die Traurigkeit zwar nicht, aber ich erwiderte seine Berührung und legte meine Hand in seine. Er betrachtete sie im Mondschein und strich mir über jeden einzelnen Finger. Ich schaute ihm zu und schwieg. Es quälte ihn, mit mir über seine Gefühle zu sprechen, soviel stand fest.
„Du bist ein kluges Mädchen Lila. Ich hätte nicht gedacht, dass du mit deinen Vermutungen soweit kommst.“
Er schaute mich an und strich sanft eine Locke aus meinem Gesicht. Seine Augen waren mit Liebe und Schmerz überfüllt. Er wusste von meinen Vermutungen, von meinem unsichtbaren Notizblock, den ich angelegt hatte.
Ich wusste nicht ganz, ob ich es gut fand. Es war auf einmal so real, dass ich mir nicht mehr sicher war, ob ich die Wahrheit wirklich wissen und verkraften wollte.
Schnell schaute ich zur Seite. Es war mir unangenehm ihn anzusehen, ich fühlte mich überführt. Er sprach weiter.
„Du machst es mir noch schwerer, als es sowieso schon ist. Du bist so nah dran, zu sehen wer ich wirklich bin Lila.“
Seine Stimme klang jetzt ängstlich und traurig. Er hatte Angst, dass ich die Wahrheit, wie auch immer sie aussah, herausfinde und seine Angst, machte mir Angst. Was ist, wenn mir die Wahrheit nicht gefällt? Wäre ich in der Lage, ihn nicht mehr zu lieben? Ich war in meine Gedanken versunken, als ich seine Stimme vernahm.
„Es ist besser, wenn ich dich jetzt nach Hause fahre. Ich möchte dich nicht verlieren. Vielleicht wäre es diesmal für immer, wenn du die Wahrheit wüsstest“, er atmete tief durch.
Meine Hand lag immer noch in seiner, sie passte da so perfekt rein. Ich war verzweifelt und kämpfte mit mir selbst.
Sollte ich protestieren, um noch mehr herauszufinden, oder sollte ich es dabei belassen. Vielleicht war es ja wirklich besser für mich wenn ich nicht die Wahrheit wüsste. Zumindest nicht die ganze. Eine Sache, oder viel eher Vermutung ließ mich jedoch nicht los und ich musste es einfach wissen. Ich schaute ihn neugierig an, aber er erwiderte meinen Blick nicht, sondern sagte nur gequält:
„Na los, frag schon Lila. Ich kann es dir nicht verübeln, dass du deine zu ausgeprägte Neugier stillen möchtest.“
Es kam wie aus dem nichts und haute mich um. Er hat meine Frage eigentlich damit schon beantwortet. Mein Körper spannte sich an und ich drückte seine Hand fester als ich es beabsichtigte.
„Na gut. Vielleicht ist es für heute besser, wenn ich nur einen klitzekleinen Teil deiner Wahrheit weiß. Wir wollen ja nicht riskieren, dass ich noch einmal mein Bewusstsein verliere“, es kam steifer rüber, als ich es erhofft hatte. Ich lächelte kurz, aber mein Körper blieb angespannt.
„Ich habe da eine Vermutung, die ich bereits seit dem ersten Tag hege. Es ist ja auch nicht gerade unnormal. Einige Menschen haben dieses Talent“, stotterte ich, ohne auf den Punkt zu kommen.
„Du hast Recht Lila. Deine Vermutung stimmt, mit einer Ausnahme“, unterbrach er mich.
Ich konnte nicht anders, als ihn anzustarren. Ich konnte mein Herz in den Ohren schlagen hören und meine Adern verwandelten sich in reißende Bäche.
Ich schluckte.
Daniel schaute immer noch auf unsere Hände, die auf seinem Schoß ruhten.
„Welche Ausnahme meinst du…?“ flüsterte ich kaum hörbar.
Jetzt schaute auch er mich an.
Er war auf meine Reaktion scheinbar gespannt, zumindest entdeckte ich einen Hauch von Neugier in seinen Augen. Aber am meisten war da Angst. Angst, dass ich gehen könnte. Dass ich es nicht ertrage. Er sollte sich irren, so schnell gab ich nicht auf, also versuchte ich seinem Blick stand zu halten.
„Es ist kein Talent. Es liegt viel eher in meiner Natur. Ich kann auch nur deine Gedanken lesen, weil du mir viel näher bist als alle anderen Menschen. Näher als du dir vorstellen kannst. Ich wünsche mir, dass du nie herausfinden würdest, was ich damit meine, denn wenn du es tust, müsste ich dir viel mehr erzählen, als ich wahrscheinlich dürfte.“
Ich war wieder unfähig etwas zu sagen. Er hat es ausgesprochen, was ich zwar vermutete, aber etwas zu vermuten und etwas zu wissen, sind völlig unterschiedliche Dinge. Außerdem weckte er mit seiner Antwort, weitere Fragen in mir.
Stille.
„Aber andererseits bin ich auch erleichtert, dass du wenigstens das weißt, ich konnte es sowieso kaum verbergen.“
Jetzt lächelte er etwas entspannter und schaute mich wehmütig an.
Irgendwie fand ich es aber gar nicht so schlimm. Ich konnte damit leben, dessen war ich mir bewusst. Ich liebte ihn zu sehr, als dass diese Nachricht mich dazu bringen könnte, ihn wieder zu verlassen.
Ich verschränkte meine Arme vor die Brust und bildete einen Schmollmund.
„Soll das jetzt heißen, dass ich nie wieder eine Privatsphäre haben werde!?- fragte ich gespielt. Er lachte herzlich auf.
„Lila, du weißt überhaupt nicht, wie liebenswert du bist. Ich wünschte, du hättest dich in einen anderen verliebt,“ sagte er ein wenig melancholisch.
„Ich nicht“, erwiderte ich kurz aber ehrlich.
„Mir ist bewusst, dass du noch viele weitere Fragen hast, aber bitte belasse es für heute Abend bei dem was du bereits weißt, okay,“ sagte er und schaute mich flehend an.
Daniel schloss meine Hand jetzt in seine, führte sie zu seinem Mund und gab mir einen heißen, zärtlichen Kuss darauf.
„Okay, dann las uns fahren“, gab ich mich geschlagen und sah, dass Daniel genau auf diese Reaktion hoffte. Ich musste mich schnellstens daran gewöhnen, meinen Gedanken besser zu kontrollieren.

In seinem Auto roch es nach dem unverwechselbaren, blumigen Duft, der meine Sinne berauschte. Meine ganz persönliche Droge. Ich schaute gelegentlich zu ihm rüber, in sein schönes Gesicht, was von den vorbeirauschenden Laternenlichtern angeleuchtet wurde. Er ist der schönste Mensch, der mir je begegnet ist. So vollkommen und perfekt. Und sicher.
Ich lächelte selig und genoss die Fahrt ohne etwas zu sagen. All die Fragen mussten warten.
Daniel sagte auch erst etwas, als wir vor unserem Haus standen. Er drehte sich zu mir und nahm meine Hand wieder in seine.
„Ich würde gerne wissen, was du dazu sagst, wenn ich dich übers Wochenende entführe. Wir haben in der Nähe von Jacksonville Beach ein kleines Ferienhaus, direkt am Strand, mit einem wunderschönen Ausblick. Mary und Gabriel haben es gekauft als wir hierher gezogen sind. Also, was sagst du? Morgen ist Samstag und wir hätten zwei Tage für uns“, sagte er ziemlich nervös. Es überraschte mich.
„Wieso fragst du mich das, wenn meine Gedanken für dich ein offenes Buch darstellen?“
„Lila, ich kann nur die Gedanken lesen, die in deinem Kopf schon vorhanden sind.“
Ha, eine Lücke, die ich mir merken musste.
„Das heißt also, solange ich an etwas nicht denke, kannst du es auch nicht hören!?“
„Ja, genau. Also, was ist?“
Er war wirklich neugierig.
Ich lächelte ihn noch einmal breit an und genoss einen unsichtbaren Sieg.
„Hmmh, darüber muss ich mir noch Gedanken machen“; sagte ich gespielt eingebildet.
„Du erfährst es nachher, wenn ich im Bett liege, okay?“
„Du willst mich solange zappeln lassen?“
Es war fast Empörung, die sich in seinem Gesicht wiederspiegelte. Er war es nicht gewohnt abgewiesen zu werden.
Obwohl, von mir schon.
„Dann erfährst du auch nicht, was ich noch kann“, sagte er siegreich.
Na toll, er hatte also noch mehr auf Lager und ich war zu neugierig. Aber ich wollte meine kleine Lücke nicht so schnell hergeben.
„Ist bestimmt sowieso nichts tolles“, erwiderte ich gelangweilt und griff nach der Autotür, um sie zu öffnen.
„Du meinst es tatsächlich ernst. Du bist so stur Lila.“
Jetzt hatte ich ihn. Ich lachte herzlich auf. Er sah wirklich zum knutschen aus. Wie er da saß, so völlig unwirklich, dass es auch eine gute Halluzination hätte sein können.
Ich öffnete die Autotür und lächelte ihn noch einmal an.
„Danke für den schönen Abend Daniel. Trotz des Zwischenfalls meinerseits“, sagte ich liebevoll.
Kaum hörbar erwiderte er: „Ist meine Aufgabe Lila.“
Ich drehte mich noch einmal um. Hatte er was gesagt?
„Gute Nacht, Lila. Hab süße Träume.“
Ein letztes Mal sein Gesicht sehen, tat gut. Mein Kopf schwirrte nur so, vor den vielen Fragen. Ich musste unbedingt einen Weg finden, herauszubekommen, wer Daniel Callahan war. Und ich wurde das Gefühl nicht los, dass es in jeder Hinsicht etwas mit mir zu tun hatte.


Engel
Unser Haus stand im Dunkeln, als ich darauf zuging. Ich schaute auf meine Armbanduhr und stöhnte. Es war bereits kurz vor dreiundzwanzig Uhr und meine Eltern waren immer noch auf der Arbeit. Aber es gab auch leider keinen anderen Ausweg. Sie mussten es und das wusste ich. Das Hyatt bat ihnen gute Verdienstmöglichkeiten, auch wenn sie mich dafür fast aufgeben mussten. Hör auf darüber nachzudenken Lila, befahl ich mir. Es brachte nichts, außer, dass ich mir selbst wehtat.
Ohne das Licht in der Eingangshalle anzumachen, ging ich die Treppe zum oberen Geschoß hoch, wo sich mein Zimmer befand.
Der Mond erhellte den Raum und ich schmiss meine Schuhe und meine Handtasche einfach so auf den Boden und stolperte ins Bad, was an mein Zimmer angrenzte.
Ich duschte schnell, putzte meine Zähne, machte Musik an, ohne darauf zu achten, was sich im Player befand. Schnell schmiss ich mich ins Bett und es ertönte die Stimme von Amanda Perez. Ich schloss die Augen und hörte ihr zu, wie sie den Song „God send me an Angel“ anstimmte.
Hatte ich auch einen Engel, der auf mich aufpasste?
Darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht und mir viel auf, dass ich nichts über Engel wusste, außer dass sie Flügel und einen Heiligenschein haben sollen. Zumindest zeigten dies die Bilder, die ich irgendwo mal gesehen hatte. Es interessierte mich auf einmal so sehr, dass ich mir meinen Laptop auf den Bauch stellte und ihn anmachte. Ich konnte sowieso nicht schlafen. Der Bildschirm erhellte mein Gesicht.
Nach was sollte ich suchen?
Ich gab den Begriff „Engel“ in die Suchmaschine ein und bekam mehr Informationen, als ich dachte.
Wow.
Ich überflog die Überschriften.
„Geheimnisvolle Wesen“, „die Kraft der Engel“ „Schutzengel“. Ich klickte die Seite, mit dem letzten Begriff an.
Schutzengel.
Ja, genau, nach so etwas suchte ich. Als ersten kam ein Bild zum Vorschein. Ein Mann mit wunderschönen, blauen Augen und blonden Haaren. Er war wunderschön. So voller Weisheit und Reinheit. Die Augen faszinierten mich. Sie waren mir so vertraut.
Wo blieben aber der Heiligenschein und die Flügel, die meiner Meinung nach zu einem Engel gehörten?
Hmm.
Ich las den Text, der sich unter dem Bild befand.
„Engel leben unter uns“, war das erste, was mir ins Auge stach. „Vor allem Schutzengel befinden sich immer in der Nähe seines Schützlings. Es liegt an dem Engel, ob er sich dem Menschen zeigen möchte, oder nicht. Die meisten entscheiden sich für die Inkarnation, die Wiedergeburt in einem Menschenkörper. Oft ist es sogar ein Mensch aus der näheren Umgebung, den man gut kennt.
Schutzengel haben die Fähigkeit, die Gedanken seines Schützlings zu hören. Der Schützling kann mit seinem Schutzengel, mit Hilfe seines Unterbewusstseins kommunizieren. Der Mensch spricht dann von der sogenannten „inneren Stimme“.
Unter anderem, kann der Engel darüber entscheiden, ob er dem Menschen gewisse Wünsche erfüllen möchte. Sie müsste natürlich von guter Natur sein. Vielleicht war auch ein Engel an dem einem oder anderem Lottogewinn dran beteiligt.
Ich schlug den Laptop zu. Legte die Hände aufs Gesicht. Das, was ich gerade gesehen und gelesen habe, passte zu perfekt. Es ist Irrsinn, Lila, versuchte ich mich zu beruhigen. Woher wollte ich wissen, dass das , was da stand nicht frei erfunden war? So wie ich dachte, dass Engel riesige Flügel und einen Heiligenschein besitzen.
Alles ein Mythos.
Die Realität schien eine völlig andere zu sein.
Wie dumm ich mir auf einmal vorkam, dass ich dies glaubte, aber ich konnte die Tatsachen nicht ignorieren, Dinge die genau vor meinen Augen geschahen.
Daniels Aussehen glich so unheimlich dem Bild, was ich gerade sah. Diese wunderschönen blauen Augen, waren unverwechselbar.
Tränen flossen mir auf einmal die Wangen runter. Ich war mir auf einmal so sicher, dass ich mich nicht irrte.
Und dann war da noch die Tatsache, dass Daniel mir erst heute Abend gestand, dass er meine Gedanken lesen kann. Das kann definitiv kein Mensch!
Seine Worte hallten wieder in meinem Kopf.
„Es ist kein Talent, es ist meine Natur“, hatte er gesagt. Ja, die Natur eines Engels, verdammt.
Daniel war ein Engel. Mein Schutzengel, dessen war ich mir jetzt sicher. Ich war mir nur nicht sicher, ob ich damit fertig werden würde.
Okay, nicht die Nerven verlieren. Egal, was er war, er war der, den ich liebte. Das war auch eine Tatsache. Und sie beruhigte mich. Ich riss auf einmal die Augen auf. Ich habe es fast übersehen. Wenn ich jetzt wusste, was Daniels Geheimnis war, dann wusste er es natürlich auch. Durch meine Gedanken.
In dem Text stand doch auch, dass ich, als Daniels Schützling mit ihm kommunizieren könnte. Dies hatte ich bereits öfter getan. Aber dass ich Daniels Gedanken wahrnahm, war etwas anderes.
Ich fuhr den Laptop runter und legte ihn auf den Boden, neben das Bett. Die CD war schon längst durch. Ich stand in einer einzigen, ruckartigen Bewegung auf und schaltete die Anlage aus. Es war so still, man hörte nur die Grillen von irgendwoher. Ich ließ das Fenster offen und zog lediglich die Gardine davor. Schnell stolperte ich wieder ins Bett. Ich war Daniel immer noch eine Antwort schuldig bezüglich seines Angebotes mit ihm das Wochenende in dem Ferienhaus seiner Eltern zu verbringen, also legte ich mich auf den Rücken und schloss die Augen. Ich musste grinsen, denn was ich jetzt vorhatte war auf der einen Seite so absurd und auf der anderen die schockierende Realität. Ich konzentrierte mich, schloss erneut die Augen und atmete tief durch.
„Daniel…?“- rief ich in meinen Gedanken ganz zaghaft.
Nichts.
Schnell öffnete ich wieder die Augen. Okay, Lila, es funktioniert nicht. Es war lächerlich. Ich drehte mich auf die Seite und vergrub mein Gesicht im Kissen. Lächerlich, dachte ich noch einmal und biss vor Ärger in den Kissenbezug.
„Unglaublich. Aber nicht lächerlich“, sagte auf einmal Daniels sanfte Stimme in meinem Kopf ohne Vorwarnung. Ich sprang hoch und schaute mich um. Ein kalter Schauer lief mir den Rücken runter. Jetzt war es unheimlich. Das war das allererste Mal, dass ich ihn auf diese Weise hörte. Naja, das erste Mal, dass ich davon real wusste, dass es funktionierte. Er hatte mit mir am ersten Tag auf der Treppe und im Klassenraum auf rein gedanklichen Ebenen gesprochen. Da, wo es um den freien Platz ging. Damals dachte ich aber viel eher, dass ich es mir nur eingebildet hätte.
„Daniel!?“- fragte ich leise in die Dunkelheit meines Zimmers hinein.
Aber es war keiner da, diese Stimme existierte nur in meinem Kopf. Dessen war ich mir tausendprozentig sicher.
„Ich bin froh, dass du es jetzt weißt, Lila“, sagte seine Stimme wieder nur in mir.
„Hast du das eingefädelt? Mich fast dazu gezwungen, den Laptop anzuschmeißen und zu recherchieren? Denn allein wäre ich wohl kaum auf diesen absurden Gedanken gekommen, nicht wahr?! Du bist ein Feigling Daniel Callahan“, flüsterte ich verärgert seiner Stimme entgegen.
„Es tut mir leid. Es war besser, dass du es auf diese Weise erfährst“, flüsterte es nach einem kurzen Schweigen in meinem Kopf.
„Du bist mir dennoch eine Erklärung schuldig“, schmollte ich und verschränkte als Bestätigung die Arme vor meine Brust obwohl er nicht in diesem Zimmer anwesend war.
„Darf ich einen Deal vorschlagen?“- sagte seine Stimme amüsiert.
Ich sprang aus dem Bett. Ich war völlig aufgebracht. Was bildete er sich denn ein!
Dass ich seine Identität einfach so hinnehme!? Daniel war ein Engel! Das hätte er mal jemand Anderem erzählen sollen, ohne dass derjenige einen Nervenzusammenbruch erlitt. Aber mit mir konnte man es ja machen.
„Einen Deal, als ob er in der glücklichen Lage wäre, mir einen Deal vorzuschlagen“, zischte ich.
Jetzt lief ich aufgebracht durchs Zimmer, stolperte über meine Schuhe, die ich vorhin gedankenverloren, einfach auf den Boden geschmissen hatte und fiel hin.
„Oh, verdammt. Daniel, ich denk du bist mein Schutzengel!?- schrie ich beinahe, aber eher vor Schmerz.
Gut, dass ich allein im Haus war.
Ist das nicht deine Aufgabe, mich heil durchs Leben zu bringen?!“- schrie ich weiter und befreite mein Gesicht von meinen Haaren, in dem ich vor mich hin prustete und mit meinen Händen wild umher fuchtelte.
„Du hast es doch überlebt“, sagte er gedanklich völlig gelassen.
„Ach, und deswegen lässt du es einfach zu! Einen tollen Engel habe ich da erwischt“, zischte ich immer noch verärgert.
Es war unfassbar. Ich saß mitten in der Nacht auf dem Fußboden meines Zimmers und stritt mich mit meinem Schutzengel, der noch nicht einmal anwesend war.
„Möchtest du meinen Deal nun hören, oder nicht?“ – gab er nicht locker.
Ich schüttelte und haute mir auf den Kopf in der Hoffnung. so diese Stimme loszuwerden.
„Habe ich denn eine Wahl?“- entgegnete ich etwas müde und genervt, als ich an meinen Bemühungen scheiterte. Diese Frage schien mir seit heute nicht unberechtigt zu sein. Daniel war in der Lage mich zu lenken, was er vorhin bewies, indem er mich, oder eher mein Unterbewusstsein dazu brachte im Internet nach Engeln zu recherchieren.
„Du hast immer eine Wahl Lila. Ich kann nichts herbeirufen, was du dir nicht in irgendeiner Weise selbst wünschst. Du warst es, die wissen wollte, wer ich bin. Ich habe es dir nur ermöglicht. Also, nochmal auf den Deal zurück zu kommen, ich biete dir an, mehr über mich zu erfahren, in dem du mit mir das Wochenende am Strand verbringst.“
Das war ja schon fast Bestechung. Er wusste natürlich, dass ich zu neugierig war, um seinen Deal nicht annehmen zu wollen. Naja und wenn ich ehrlich war, war ich ja nun nicht gerade abgeneigt mit Daniel Zeit zu verbringen. Ich war lediglich sauer. Langsam erhob ich mich wieder vom Fußboden und schlürfte ins Bett.
„Also gut“, flüsterte ich ihm zu, aber ich bin trotzdem noch sauer und verlange eine genaue Auskunft über alles, was ich wissen möchte, okay“?
„Versprochen. Ich hole dich morgen um 10.00 Uhr früh ab. Und jetzt schlaf schön und hab süße Träume. Ich bin immer bei dir.“
Ich nickte nur noch schwach mit dem Kopf. Es war zu unwirklich und ich konnte es mir nicht im Geringsten vorstellen, dass er Morgen früh vor meiner Haustür stehen würde. Ich hatte sicherlich schon geträumt.
Es war die erste Nacht, in der ich Daniels Anwesenheit deutlich und vor allem bewusst wahrnahm. Er war einfach da und das tat gut.
Ich hatte mich zu oft allein gefühlt und jetzt wollte ich dieses Gefühl, dass jemand nur für mich da war, nie wieder missen. So selig und ruhig hatte ich noch nie geschlafen. Das Fenster stand offen und ich hörte die Vögel zwitschern und wusste, dass es ein wundervoller, sonniger Tag werden wird.
Ich öffnete die Augen. Das Geschehene der letzten Nacht, kam langsam wieder zurück. Ich erinnerte mich vor allem an die Tatsache, dass ich eine Diskussion, mit Daniel Stimme führte und dass ich ihm versprach, mit ihm das Wochenende zu verbringen. Es ist in so weite Ferne gerückt, dass ich mir zu 99 Prozent sicher war, es geträumt zu haben.
Ich riss auf einmal die Augen weit auf, als ich mich wieder daran erinnerte, dass er mich um 10.00 Uhr abholen wollte. Schnell sprang ich auf. Wie spät war es eigentlich? Ich tastete nach meiner Armbanduhr, die ich neben mein Bett, gleich neben den Laptop geschmissen hatte. Es war erst 08.30 Uhr. Außerdem war es auch egal, weil es unmöglich war, dass er kam, tadelte ich mich. Ich redete mir erneut ein, dass ich alles nur geträumt hatte, aber es wollte mir nicht so ganz gelingen. Ich stand auf, es hatte sowieso keinen Sinn mehr. Ich war hellwach. Langsam ging ich in das Bad, machte einen Bogen um die Schuhe, die immer noch mitten im Zimmer lagen. Ich stöhne kurz auf, als ich an mein kleines Ungeschick dachte und den dumpfen Schmerz am Schienbein spürte. Hmm, das war ziemlich real.
Viel zu früh bin ich fertig angezogen und zurechtgemacht die Treppen runter. Es roch nach frischen Kaffee und Brötchen.
Ich habe mich für ein weißes luftiges Sommerkleid entschieden. Es hatte einen schönen Ausschnitt, aber nicht zu gewagt. Ich fand die Farbe Weiß irgendwie zutreffend. Meine Haare ließ ich offen und meine Locken fielen mir bis zum Steißbein runter. Ich war zufrieden.
Kurz überlegte ich, ob und was ich mitnehmen sollte. Wenn Daniel wirklich kam, dann hieß es auch, dass wir für zwei Tage verreisen würden und dann brauchte ich wenigsten so etwas, wie eine Zahnbürste.
Etwas gequält, schleppte ich mich wieder in mein Zimmer. Ich schnappte mir eine kleine Reisetasche, die in der Ecke lag und packte, ohne groß darüber nachzudenken, ein paar Sachen zusammen.
„Guten Morgen, Mom“, sagte ich, als ich wieder unten war und die Küche betrat. Sie trank gerade genüsslich einen frischen Kaffee.
Dad war scheinbar noch im Bad und machte sich für die Arbeit fertig. Ich ging zum Kühlschrank um mir die Milch rauszuholen, als ich am Fenster vorbeiging, musste ich unwillkürlich kurz raus schauen. Ich konnte die Straße und unsere Einfahrt einsehen, aber da war nichts. Kein weißer Audi. Aber es war ja auch noch zu früh. Schnell schaute ich auf meine Armbanduhr. 09.45 Uhr.
„Hübsch siehst du aus Liebling. Gibt es einen Grund?“, fragte Mom ganz nebenbei. Ich fühlte mich ertappt was ich sonst in dieser Konstellation nicht kannte.
„Ähm, eigentlich nicht…“
Es war nur halb geflunkert. Es war ja auch eigentlich nichts, oder hätte ich ihr erzählen sollen, dass ich ein Date mit einer Stimme, die es nur in meinem Kopf gab, ausgemacht hatte?! Nein, soweit war ich noch nicht. Und sie erst recht nicht. Sie würde sich nur Sorgen machen. Hoffte ich zumindest.
Ich nahm mir ein Glas aus dem Schrank und schenkte mir einen Schluck ein.
„Liebes, was ist das für ein Auto, was gerade vor unserem Haus parkt? Wirst du abgeholt?“
Mom schaute mich etwas verdutzt an. Und ich schaute sie mit den selben ungläubigen Blick an.
Ich konnte im ersten Moment gar nicht registrieren, was sie da gerade sagte. Rasch schaute ich aus dem Fenster. Sein weißer Audi parkte tatsächlich vor dem Haus. Das konnte einfach nicht sein, aber leugnen brachte nichts.
Blind war ich wohl noch nicht. Ich wurde nervös. Schnell schaute ich in mein Glas und nahm noch einen Schluck.
Ich hatte nicht geträumt, er war tatsächlich gekommen, wie zum Beweis dafür, dass Alles genauso abgelaufen war, wie ich es in Erinnerung hatte. Daniel war mein Schutzengel. Oh mein Gott, er war mein Schutzengel schrie es panisch noch einmal in mir!
„Oh, ja. Habe ich ganz vergessen, David Callahan holt mich ab. Er hat mich in ein Ferienhaus der Familie, direkt am Jacksonville Beach eingeladen und ich habe ihm zugesagt. Ich hoffe, du hast nichts dagegen, Mom?. “- naja die Antwort hätte sie sich auch sparen können, denn ich konnte mir bereits denken, was sie dazu sagte.
„Nein, ganz und gar nicht, er scheint ein netter Junge zu sein. Dann solltest du jetzt los…“, sagte sie, als sie meine Nervosität in meinem Gesicht vernahm.
„Ja, du hast Recht.“
Ich gab ihr einen Kuss auf die Wange. Einerseits freute ich mich auf ihn, aber andererseits stand da dieses Fragezeichen zwischen uns. Er war jetzt nicht nur Daniel, in den ich verknallt war, sondern auch mein Schutzengel. Und vor diesem hatte ich wirklich großen Respekt. Das ließ mich reserviert wirken. Ich wusste nicht, wie ich es aus dem Weg räumen konnte. Vielleicht war auch alles nicht so schlimm, wie ich es darstellte. Und wahrscheinlich klärte sich die Situation gleich auf.
Schnell schnappte ich mir beim Vorbeigehen die kleine Tasche, die ich so lieblos gepackt hatte und ging zur Tür.
Die Haustür fiel hinter mir zu. Ich bemerkte den Blick meiner Mutter, der mir jetzt folgte.
Als Daniel mich sah, stieg er aus und ging um sein Auto, um mir die Beifahrertür zu öffnen. Trotz der angespannten Lage, tat es gut ihn zu sehen. Er sah wie immer atemberaubend aus. Scheinbar war hellblau seine Lieblingsfarbe, sie stand ihm wirklich ausgezeichnet.
Ich konnte durch das Shirt seinen athletischen Oberkörper erahnen. Seine Haare hatte er mit etwas Gel raffiniert zerzaust und seine Augen leuchteten wie immer in diesem wunderschönen Blau. Es war heller, als ich es je zuvor gesehen hatte. Und das hieße nach meinen Beobachtungen und Vermutungen, dass er sich ehrlich darüber freute, mit mir die nächsten zwei Tage zu verbringen. Ja, er freute sich sehr, dessen war ich mir sicher, weil ich es auch tat.
Er lächelte mich liebevoll an, als ich auf ihn zuging. Das machte mich etwas verlegen, aber ich schenkte ihm auch ein kleines Grinsen. Ich wusste nicht, wie ich mich ihm gegenüber verhalten sollte, schließlich hatten wir ja noch etwas zu klären und ich fand immer noch, dass er mir eine Erklärung schuldig war. Also beschloss ich zu warten.
„Hey “, sagte ich und versuchte völlig gelassen zu wirken.
„Hey“, sagte er, als ich vorbei ging und ins Auto einstieg. Er roch wie eine Sommerbrise, so sanft und frisch, es raubte mir wie immer meinen Atem. Ich schaute zu, wie er wieder rumging und einstieg.
„Ich hoffe, dass ich nicht zu spät komme.“
Er berührte meine Hand. Ich ließ es zu, seine Hand war so sanft und warm. Sie fühlte sich an, wie Seide.
Er schaute etwas unsicher auf das Lenkrad, was er jetzt wieder fest mit beiden Händen umklammerte. Seine Gelassenheit war plötzlich weg. War er nervös? Hatte er etwas in meinen Gedanken entdeckt, was ihm Sorgen machte?
„Nein, du bist nicht zu spät Daniel, ich freue mich wirklich, dass du gekommen bist.“
Ich lächelte.
Um dies zu bestätigen, strich ich ihm sanft über seine Hand.
Er machte den Motor an und legte einen Gang ein. Jetzt entspannte sich die Lage ein bisschen.
Er schaute mich frech grinsend an.
„ Übrigens, du siehst wirklich gut aus Lila.“
Ich schaute auf meine Füße und merkte, wie ich rot anlief. Er machte mich verlegen.
„Daniel…“
„Scht.. Sag nichts… Das kann warten.“
Er schaute mich noch einmal liebevoll an, bevor das Auto sich bewegte.
Ich widersprach nicht.
Er zog meine Hand zu sich und legte sie auf seine, die er offen auf seinem Oberschenkel platzierte.
Jeder von uns war in seine eigenen Gedanken vertieft und wir genossen die Anwesenheit des Anderen. Ich freute mich, mehr über Daniel und seine Familie zu erfahren. Das Ferienhaus war etwas sehr persönliches, was er bestimmt nicht jedem zeigen würde. Ich fühlte mich auf einmal geehrt.


5.
Mein Mund ging überhaupt nicht mehr zu, seit dem Augenblick, als ich das sogenannte „Ferienhaus“ gesichtet hatte. Eigentlich hätte es mir bereits vorher klar sein müssen, dass Daniels und meine Vorstellungen von einem Ferienhaus am Meer, völlig unterschiedlich ausfielen. Es gehörte Menschen, die über Geld noch nie nachdenken mussten. Was habe ich denn erwartet. Eine Holzhütte vielleicht!?
Dieses Anwesen, denn nur ein Haus war es auch nicht mehr, war unbeschreiblich schön. Es lag direkt am Meer und besaß einen eigenen Strandabschnitt. Soviel konnte ich bereits erkennen. Ein schmaler Weg, der von Palmen umgeben war, führte zum Hauptgebäude hin.
Wir bogen leicht um die Kurve und ich erblickte eine riesige Veranda, mit dem Blick aufs Meer.
Wow.
Ich hörte ein kichern neben mir. Daniel ging leise, mit unseren Taschen, neben mir her. Scheinbar beobachtete er mich. Oder las meine Gedanken, was mir nicht gefiel. Es war mir peinlich, dass für mich etwas so bewundernswert war und für ihn so völlig normal. Er kannte es nicht anders. In seiner Welt war dies hier ein Standard, den man einfach hatte. Den man sich nicht erst verdienen musste.
Wir gingen durch die riesige, weiße, Eingangstür, die Daniel mir höflicherweise aufhielt.
„Vielen Dank“, lächelte ich ihn an.
Wieder kicherte er nur. Wir standen in einer Apricot gestrichenen Eingangshalle. Rechts ging eine aufwendig verarbeitete Wendeltreppe in den nächsten Stock.
„Wow“.
Ich war nicht in der Lage, etwas anderes zu sagen. Es war wunderschön. Ich fühlte mich hier, wie in einem völlig anderem Land, einer anderen Welt.
Toscana.
Ja, das hätte gut sein können. Zumindest stellte ich es mir so vor. Ich war natürlich noch nie in Toscana.
„Lass noch ein wenig Luft über. Mary war der Meinung uns ein ganz besonderes Zimmer einrichten zu müssen.“
Nach einem kurzen Schweigen fügte er hinzu;
„Ich kann natürlich im Gästezimmer schlafen. Wenn du möchtest.“
„Nein. Nein, das musst du nicht. Ich werde es überleben. Denke ich..“
Lächelnd nickte er.
Er nahm meine Hand in seine und führte mich die Treppe hoch.
Wir betraten das gerade von Daniel beschrieben Zimmer. Ich drehte mich um die eigene Achse, in der Angst etwas zu übersehen.
Ein riesiges Bett aus dunklem Holz, was mit Schnitzereien aus einer anderen Zeit verziert war, beherrschte das Zimmer.
Weiße Schals hingen von der Decke runter und umrundeten das komplette Bett. Ich ging näher ran und strich sanft über den ebenso weißen Deckenbezug. Er war, genauso wie der Rest der Bezüge mit Stickereien bedeckt. Weiße Rosen. Überall. In riesigen Vasen, die im ganzen Zimmer verteilt waren und mit ihrem Duft all meine Sinne betörten.
Das Zimmer besaß einen eigenen, Balkon. An ihm ragten, wie völlig selbstverständlich weiße Rosen empor.
Die Tränen liefen unkontrolliert meine Wangen runter. Ich war dankbar, dass ich das jemals erleben durfte.
Ich suchte Daniel mit meinem Blick. Er stand immer noch an der Tür und beobachtete mich.
„Wieso tut Mary so etwas!? Ich mein, sie kennt mich doch überhaupt nicht. Wozu all diese Mühe?- fügte ich leise hinzu, völlig überwältigt von der Gegenwart.
Daniel stand plötzlich hinter mir und legte zaghaft seine Hände auf meine Schultern.
Zum ersten Mal bemerkte ich diese unmenschliche Kraft und Energie, die sich hinter seiner menschlichen Fassade verbarg. Diese Kraft war so gewaltig, dass sich für einen Moment, all meine Nackenhaare aufstellten.
Aber ich hatte keine Angst, obwohl ich ahnte, was sie anrichten könnte. Das ich neben ihm einfach nur zerbrechlich war und er mich in jede beliebige Richtung führen konnte, ohne dass ich jemals eine Chance hätte es zu verhindern.
Ich vertraute ihm scheinbar mehr, als mir bislang bewusst gewesen ist.
Mein Herz schlug jetzt schneller und ich konnte nicht anders, als seine Anwesenheit zu genießen. Ich war wie benommen, was mir für einen Bruchteil der Sekunde doch Angst einjagte.
Ich hatte mich nicht mehr unter Kontrolle. Ich war so lenkbar. Er machte mich zu seiner Marionette, obwohl ich nicht wusste, ob er sich dessen überhaupt bewusst war.
Sein Kopf kam dichter an meinen und ich spürte seinen betäubenden Atem in meinen Haaren. Er flüsterte mir ins Ohr.
„Sie weiß, dass du mir viel bedeutest und das ist mehr als genug. Mehr muss sie nicht wissen, um sich diese Mühe zu machen Lila. Wie könnte sie dich nicht mögen“!?- fügte er etwas entgeistert hinzu.
Er tat so, als ob kein Weg dran vorbei ging.
Ich wusste nicht, was ich dem entgegnen sollte, also ließ ich es einfach unkommentiert stehen. Ich genoss lieber den Augenblick, seine Hände die immer noch auf meinen Schultern lagen. Und langsam einbrannten. Mein Körper fühlte sich an, wie Knetmasse. Ich hätte schwören können, dass seine Hände tiefe Abdrücke hinterlassen würden, wenn er sie gleich wegnimmt. Ich hielt meine Augen geschlossen und murmelte halb vor mich hin.
„Bitte bedanke dich in meinem Namen, okay?“
„Okay. Aber das könntest du demnächst vielleicht selbst tun. Sie würde sich nämlich riesig darüber freuen, dich kennenzulernen Lila.“
„Darüber sprechen wir später“, sagte ich leise.
„Okay“.
Ich traute mich nicht, eine Bewegung zu machen. Viel zu schade, beschloss ich. Meine Fantasie begann, bei dem Anblick des wunderschönen Bettes und des dazu passenden Mannes, der gerade hinter mir stand und sich so verdammt gut anfühlte, mit mir durchzugehen.
Ich spürte seinen immer heißer werdenden Atem und musste daran denken, dass er eventuell in meinen Gedanken rumstöberte.
Röte stieg in meine Wangen.
Verdammt, ich musste besser aufpassen. Mal wieder, wie zur Bestätigung, nahm er seine Hände von meinen Schultern und machte einen Schritt zurück. Ich seufzte. Er schaute gequält weg.
„Entschuldigung, ich wollte dir nicht zu nahe kommen. Du machst es mir ziemlich schwer Lila“, sagte er leise.
Wenn er wüsste, dachte ich nur. Er war derjenige, der es mir so schwer machte. Die letzten Wochen waren die Hölle für mich gewesen. Ich musste unwillkürlich daran denken, dass er auch gelitten hat. Er wusste nur zu gut, was mit mir los war, schon allein aus dem Grund, weil es ihm nicht anders erging. Und natürlich weil ich für ihn ein offenes Buch darstellte.
„Hast du heute schon etwas gegessen Lila?“- fragte er mich aus heiterem Himmel.
„Wie bitte? Tut mir leid, ich war in Gedanken“, fügte ich hinzu.
Er lächelte etwas amüsiert.
„Ich wollte wissen, ob du schon etwas gegessen hast. Ich habe mir erlaubt, uns eine italienische Köchin ins Haus zu bestellen. Sie kocht uns etwas Leckeres.“
Ich schmunzelte.
„Du bist wirklich unverschämt, Daniel Callahan“, warf ich ihm vor und kniff die Augen zusammen. Natürlich wusste er, dass ich noch nichts gegessen hatte. Wann denn auch? Er tat völlig unschuldig und hob beide Hände, als wolle er sich ergeben.
„ Bitte sag jetzt nicht dass die Wahl auf Italienisch, völlig zufällig gefallen ist“, sagte ich etwas sarkastisch.
„Also, gut, du hast mich ertappt. Ich habe etwas nachgeholfen, in dem ich herausfand, was du am liebsten isst“.
„Ich frag jetzt lieber nicht nach, wie du es angestellt hast“, sagte ich und schüttelte meinen Kopf, um meine Aussage zu bekräftigen.
„Nein, mach es lieber nicht. Sonst müsste ich dir erzählen, was das für ein Kampf gewesen ist und was für Hürden ich überwinden musste. In deinem Kopf herrsch völliges Chaos! Du solltest wirklich mal aufräumen“, sagte er lachend, mit einer klirrenden Stimme, die jederzeit drohte zu zerspringen.
Die Anspielung auf meine wirren Gedanken passte mir gar nicht. Ich verschränkte, wie zur Abwehr meine Arme und verzog mein Gesicht zu einer halben Grimasse.
„Du musst ja nicht darin wühlen…“, sagte ich gekränkt und schaute auf den Boden.
„Stimmt“, sagte er kurz und knapp.
Ich hörte Geräusche, die aus der Küche im dem Erdgeschoß kamen. Zumindest nahm ich es an. Ich hatte bislang noch keine Gelegenheit gehabt, es zu erkunden. Es musste die Köchin sein, die uns gerade in der Küche etwas kochte.
„Du möchtest dich bestimmt kurz frisch machen und auspacken. Das Bad befindet sich gleich hier drüben.“- er zeigte auf eine sich im Raum befindende Tür.
„Ich schau mal, ob ich Sofia helfen kann.“
Das musste wohl die italienische Köchin sein. Er verschwand schnell aus dem Zimmer. Ich atmete tief ein und schmiss mich auf das wunderschöne Bett. Ich hatte immer noch das Gefühl, zu träumen. Es war alles so faszinierend und unwirklich. Eine andere Welt. Ich schnappte mir meine kleine Reisetasche und öffnete die Tür zum Badezimmer.
Es war riesig.
Das Waschbecken war dreimal so groß, wie in meinem Bad. Es besaß einen auf Hochglanz polierten, geschwungenen Wasserhahn. Er erinnerte mich an einen Schwanenhals. Die riesige Badewanne war halb im Boden eingelassen und erinnerte an einen kleinen Pool. Auch hier fand sich der geschwungene Wasserhahn wieder.
Die Dusche erkannte ich erst auf den zweiten Blick. Es war eine mit Glaswänden abgetrennte Nische, gegenüber der Badewanne. Ich hatte noch nie zuvor so einen riesigen Duschkopf gesehen. Diese riesigen weißen Handtücher, die auf einem Sims zwischen Waschbecken und Dusche perfekt gestapelt waren, leuchteten schon fast vor Reinheit.
Auch hier standen überall große Vasen, gefüllt mit wunderschönen weißen Rosen, deren Duft wieder einmal meine Sinne völlig umnebelte.
Ich kam aus dem Staunen nicht mehr raus. Langsam stellte ich meine Taschen neben den Handtuch- Sims und bereute kurz, dass ich sie so lieblos gepackt hatte.
Ich hatte Angst, etwas anzufassen. Etwas in seiner Schönheit zu zerstören.
Ich zog mein Kleid aus, legte es auf meine Tasche und machte die Glastür zu der überdimensionalen Dusche auf. Eigentlich hatte ich überhaupt nicht nötig zu duschen, weil es erst ein paar Stunden her war, als ich es tat. Aber die Neugier, wie sich diese Dusche in dieser Umgebung anfühlte war einfach zu groß.

Auch hier war für alles gesorgt worden. Auf einem kleinen Podest stand eine Schale aus dunklem Holz, worauf sich mehrere Fläschchen mit Shampoo und Duschgel und einer weißen Rose befanden.
Ich lächelte nur noch vor mich hin. So fühlte sich wahrscheinlich eine Prinzessin, naja oder zumindest jemand, der sehr viel Geld besaß. Unglaublich.
Ich duschte rasant und trocknete mich schnell ab, ging mir ein paarmal über meine nassen Locken und schlüpfte wieder in das weiße Kleid, was ich heute Morgen ausgewählt hatte.
Es kam mir vor, als ob es eine Ewigkeit her war. So vollkommen Unwirklich. Auf einmal war ich mir nicht mehr sicher, ob es überhaupt ein Leben vor diesem Tag gegeben hat. Vor Daniel. Ich konnte mich kaum mehr daran erinnern, wie es gewesen ist.
Ich betrat unser Zimmer wieder und war noch überwältigter, als zuvor. Ich sah Daniel auf dem Balkon stehen. Er schaute auf den gepflegten Sandstrand, der direkt zum Meer führte und wartete auf mich. Oh Himmel, er sah genauso perfekt aus, wie alles andere hier. Wie eine Statue, die jemand sorgsam auswählte. Ich blieb auf der Türschwelle stehen und beobachtete ihn.
Sein Haar bewegte sich etwas und der Wind drückte sein hellblaues Hemd, was er trug, fester an seinen Körper, sodass man noch mehr von seiner Antlitz erahnen konnte. Am liebsten hätte ich in diesem Moment noch einmal duschen wollen. Aber dieses Mal kalt.
Ich ging barfuß auf ihn zu. Viel zu früh drehte er sich um. Er konnte mich bereits spüren, ohne mich gesehen zu haben. Ich spürte die von der Sonne erwärmten Steine des Balkons, unter meinen nackten Füßen.
„Hey“, sagte er freudestrahlend.
Ich lächelte zurück. Dieser Augenblick hatte etwas von wunderschönen Flitterwochen.
„Hey“, erwiderte ich leise und schaute auf den wunderschönen Strand.
„Sofia hat uns den großen Tisch auf der Veranda gedeckt. Es gibt einen mediterranen Salat mit Basilikum und Feta- Käse und als Hauptgang Penne a la Carbonara.“
Das Essen hatte ich völlig vergessen, aber bei der Erinnerung knurrte mein Magen und ich stellte fest, dass ich halb am verhungern war.
„Das hört sich wirklich gut an“, sagte ich ehrlich.
Er kam auf mich zu, bis uns nur noch ein Schritt trennte und griff nach meiner Hand. Wie schon so oft, starrte ich ihn einfach nur an, wenn er mir so nah kam, wie jetzt. Er hypnotisierte mich.
„Dann wollen wir das Essen nicht kalt werden lassen, nicht wahr“, sagte er in einem flüsternden Ton und schaute mir in die Augen.
„Ja“; stöhnte ich halb und zwang mich, wieder klar zu denken.

Sofia war eine sehr gute Köchin, wie ich feststellen musste, als ich den Salat probierte. Ich hatte einige Vergleichsmöglichkeiten, wie meinen Lieblingsitaliener, aber er kam nicht an diesen Salat heran.
Ich musste auf einmal, wie aus heiterem Himmel an Europa denken. Vielleicht lag es an dem italienischen Essen. Dabei musste ich an etwas denken, was Kate einmal erwähnte.
„Daniel, warum habt ihr England verlassen?“
Ich fand die Frage ziemlich einfach, wenn auch vielleicht zu spontan.
Er verdrehte etwas die Augen.
„Dein Kopf ist voller Frage und du fängst mit dieser an“?
Er schüttelte den Kopf. Ich verstand nicht, was er damit meinte.
„Sie ist nicht so einfach zu beantworten. Zumindest nicht, wenn man keine Vorkenntnisse über meine Familie und mich hat. Stell mir bitte erst eine deiner anderen Fragen Lila“.
Ich schaute ihn nur an und meine Augen wurden zu schmalen Schlitzen.
„Welche hättest du denn gerne. Du scheinst dich in meinem Kopf ja bestens auszukennen. Wie es scheint muss ich dir überhaupt keine mehr stellen, nicht wahr!?“- meine Augen funkelten ihn an.
Er sah mich erschrocken an. Damit hat er nicht gerechnet. Es schien für ihn völlig selbstverständlich zu sein, meine Gedanken zu durchstöbern. Vielleicht war es das auch, schließlich war er nicht erst seit gestern mein Schutzengel, aber für mich war es neu und er könnte ruhig mehr Rücksicht nehmen.
„Es tut mir leid. Ich habe es mal wieder geschafft, dich zu verärgern“, sagte er gekränkt und schaute auf seinen Teller, der bereits leer war.
„Mir tut es auch leid. Ich bin es nicht gewohnt, meine Gedanken mit jemandem zu teilen“, sagte ich und berührte zaghaft seine Hand, die auf dem Tisch, neben seinem Teller lag. Ich wollte ihn nicht so anfahren.
Sofia kam in dem Moment um die Ecke mit dem Hauptgang. Sie tat uns etwas von den Nudeln auf den Teller. Es roch köstlich.
„Also gut. Du sagtest, dass ich erst mehr über dich und deine Familie erfahren müsste, um zu verstehen, warum ihr England verlassen habt. Erzähl mir mehr davon“.
Er lächelte. Scheinbar war das der richtige Anfang.
„Es gibt so viel, was ich darüber erzählen könnte. Ich fang einfach mal an okay?“
Ich nickte mit vollen Mund.
„Als erstes muss ich wohl erwähnen, dass wir alle vier Engel sind. Das heißt also, dass Mary und Gabriel nicht meine Eltern in dem Sinne sind und Sem auch nicht mein Bruder. Es ist eher unsere Tarnung. Als Familie kommt man einfach leichter durchs menschliche Leben, obwohl wir immer aufpassen müssen, dass es auch harmonisch aussieht und keine Fragen aufwirft.
Er schaute mich an.
„Kannst du mir folgen“?
„Ja, kann ich“, erwiderte ich und schob mir eine weitere Nudel in den Mund. Er schaute mich halb ungläubig an.
„Was ist?“ – fragte ich etwas irritiert und griff nach der Serviette.
Hatte ich etwas am Mund? Ich wischte rasch darüber.
Er lachte laut auf. Mit seinem klirrendem Lachen, bei dem ich Angst hatte, dass unsere Wassergläser zerspringen könnten.
„Daniel, sag mir bitte, was gerade so witzig ist“, sagte ich drohend und vielleicht etwas zu bestimmend. Er schaute mich amüsiert an.
„Ich fass es einfach nicht. Du bist so völlig anders, als normale Menschen“, sagte er schon fast bewundernd.
„Tut mir leid, ich komme nicht mit“, erwiderte ich mit fester Stimme und wandte mich wieder zu meinem Teller.
„Sei nicht böse Lila. Es ist nur so, ich erzähle dir gerade völlig selbstverständlich, dass ich kein Mensch bin, also im ursprünglichen Sinne und du gehst überhaupt nicht darauf ein. Bei dem neuesten Klatsch würdest du wahrscheinlich mehr Emotionen zeigen.“
Wieder lachte er. Seine Hand strich mir über die Fingerspitzen und seine Stimme wurde ganz leicht und sanft.
„Weißt du eigentlich, dass ich es noch nie jemanden erzählt habe? Da kannst du mal sehen, was für eine Wirkung du auf mich hast. Was für extreme Gefühle du in mir auslöst, Lila.“
Es klang so wehmütig, so ehrlich. Ich musste wegschauen. Ich konnte seinem Blick nicht wiederstehen. Er offenbarte mir gerade sein größtes und auch existenzielles Geheimnis. Ich wusste nicht genau, ob ich ihm dafür dankbar sein sollte.
„Daniel,… ich, ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich dazu sagen soll.“
Ich ging mir durchs noch etwas feuchte Haar und strich es nach hinten.
„Naja, es ist für mich ziemlich unwichtig wer oder was du bist. Ich kann damit leben, dass du anders bist. Du bist so gut… du tust mir so gut, wie es kein Mensch diese Welt tun könnte. Und deshalb ist es egal.“
Ich wandte meinen Blick wieder von ihm.
Es war auch mein erstes Mal. Noch nie zuvor habe ich jemanden so ehrlich offenbart, wie ich für ihn empfinde. Dass ich ihn liebe, wie mein kleines menschliches Herz nur jemanden lieben könnte.
Er schwieg.
Scheinbar brauchte er einen Augenblick um meine Worte zu verarbeiten.
„Bist du dir sicher, dass es so egal ist? Dass es egal ist, das ich übermenschliche Kräfte besitze und dir damit alles Erdenkliche antun könnte? Dich wie Knete in meinen Händen, zu etwas formen könnte, was du vielleicht gar nicht sein willst? Dich innerhalb von Sekunden an einen beliebigen Ort dieses Planeten bringen könnte? Ich bin so unberechenbar, wie eine tickende Zeitbombe, Lila! Du weißt selbst, wie schnell aus Gut, Böse werden kann. Und ich kann. Das weißt du, tief in deinem Inneren“.
Ja, ich wusste es. Ich brauchte mich nur an mein unbehagliches Gefühl vor der Coktailbar denken, was mich dazu bewegen wollte wegzulaufen.
In seinen Augen lag so etwas wie Wut und Empörung.
Sie waren glasig und wirkten etwas traurig. Das schöne hellblau von heute Morgen war fast verschwunden.
Er stand auf und blieb mit dem Rücken zu mir am Geländer stehen. Was habe ich bloß getan? Habe ich ihn gekränkt? Hätte ich anders reagieren sollen?
Ich wischte mir den Mund mit der Serviette ab und schob den Stuhl nach hinten um aufzustehen. Ich war verzweifelt.
„Daniel… bitte sag etwas. Wenn ich etwas falsch gemacht habe, dann musst du mir das sagen,“ bat ich leise und unsicher.
„Lila, du hast absolut nichts falsch gemacht. Wie kannst du nur an so etwas denken. Ich bin einfach nur überwältigt und auch gleichzeitig traurig darüber, wie selbstlos du dich für jemanden aufgeben würdest. Jemanden wie mich, der es nicht verdient.“
Seine Stimme klang belegt.
Ich stand einfach nur da. Hinter ihm, wartend darauf, dass er sich umdrehte. Zur meiner Erleichterung tat er dies auch. Er drehte sich um und schloss mich fest in seine Arme, sodass ich an seine Brust gedrückt wurde. Es war das erste Mal, dass ich ihn so nah spürte. Er strich mir ein paar Locken nach hinten, so dass meine Stirn frei gelegt wurde und küsste mich darauf. So sinnlich, so voller Entschlossenheit und Begierde.
„Danke. Für alles. Für dein Vertrauen und dafür, dass es dich gibt. Trotzdem bist du ein dummes Mädchen Lila.
Du hättest dich nicht in mich verlieben dürfen,“ sagte er leise mit geschlossenen Augen und den Lippen auf meiner Stirn.
„Ja, ich weiß. Ich bin ein dummes Mädchen,“ auch ich hielt meine Augen geschlossen und lächelte, fest an seine warme Brust gedrückt.
Schritte näherten sich und wir schauten beide auf. Daniel hielt mich immer noch in seinen Armen, als Sofia auf uns zu kam.
Sie schaute uns lächelnd und zufrieden an.
„Senor Callahan, ich hoffe es hat ihnen geschmeckt?“- sagte sie mit einem leichten Akzent.
„Ja, Sofia, du hast dich wie immer selbst übertroffen. Es kann abgeräumt werden,“ sagte Daniel in ihre Richtung.
Wie spät war es eigentlich? Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Schnell schaute ich auf meine Armbanduhr und riss die Augen auf. Es war tatsächlich bereits achtzehn Uhr. Wahnsinn, wie die Zeit verging.
Daniel hob mein Kinn an, sodass ich ihn anschauen musste. Seine Augen hatte wieder eine schönes hellblau angenommen. Jetzt glänzten sie etwas verführerisch und verspielt. An meinen Blick wollte ich erst gar nicht denken. Ich sah mit Sicherheit aus, wie ein Honigkuchen Pferd. Er strich mir über die Wange.
„Was hältst du davon, wenn wir einen Spaziergang am Strand machen? Ich vermute mal, dass unser Gespräch noch nicht zu Ende war, oder?“
Da hatte er wohl Recht. Unser Gespräch war noch nicht zu Ende. Ich musste noch so viele Dinge wissen. Es gab noch so vieles, was für mich ein Rätsel darstellte.
„Das ist eine gute Idee,“ stimmte ich zu.
„Bleib ganz kurz hier stehen. Ich bin sofort wieder da.“
Schnell verschwand er im Haus. Was hatte er denn vor?
Er konnte mich wirklich jederzeit überraschen. Ich setzte mich auf die Stufen, die von der Veranda zu dem schmalen Pfad in Richtung Strand führten.
Sofia räumte so leise wie nur möglich unseren Tisch ab. Ab und zu klirrte dennoch das Geschirr, als sie es zusammenstellte. Als sie an mir vorbei ging, blieb sie kurz stehen. Ich fühlte ihren Blick auf meinem Rücken ruhen. Scheinbar wollte sie etwas los werden. Ich drehte mich nach hinten und sie sah mich etwas erschrocken an.
„Senor Callahan ist ein guter Junge. Ich bin froh, dass er endlich eine Partnerin gefunden hat.“
Sie wartete nicht, bis ich ihr antwortete, sondern ließ mich wieder allein. Ich war verwirrt. Es schien, als kenne sie Daniel nicht nur seit heute. Viel eher sah es aus, als ob sie ihn schon sehr, sehr lange kannte.
Meine Gedanken wurden unterbrochen, als Daniel wieder aus dem Haus kam.
Er hatte einen kleinen Weidenkorb in der Hand. Ich konnte nicht sehen, was sich darin befand, aber scheinbar sollte unser Spaziergang so etwas wie ein Picknick werden. Er kam auf mich zu und legte mir etwas über die Schultern. Es war ein weiches, sehr schönes Strickjäckchen, was perfekt mit meinem Kleid harmonierte. Wo hat er es denn her? Und wieder beantwortete er meine Frage, ohne dass ich sie je laut aussprach.
„Es ist ein Geschenk von Mary. Sie sagte, dass es hier Abends ziemlich frisch werden kann“.
Er schaute mich bewundernd an. Scheinbar gefiel ihm der Anblick.
„Und ich muss sagen, es steht dir ausgezeichnet. Fast könnten wir dich als Engel durch schmuggeln“, fügte er lachend hinzu.
„Ha ha, sehr witzig, Daniel“, erwiderte ich.
Ich muss ja zugeben, dass er mit seiner Aussage, eine weitere Frage in mir weckte. Auch er bemerkte es.
„Nein, Lila. Diese Frage werde ich dir heute nicht beantworten. Du weißt ja gar nicht, was du da überhaupt von mir verlangst“.
Sagte er ziemlich ängstlich, wenn nicht sogar etwas panisch.
„Versprich mir, dass ich dir diese Frage irgendwann stellen darf. Ich möchte es wissen“, sagte ich so fest und überzeugend, wie nur möglich.
Er rollte die Augen und holte tief Luft. Man sah ihm an, dass er sich schwer tat. Aber dann lächelte er mich wieder an und ich schmolz auch gleich wieder dahin. Es änderte aber nichts daran, dass ich auf sein Versprechen wartete.
„Daniel, bitte lenk nicht ab.“
„Okay Lila, ich verspreche es dir. Aber bitte las mich entscheiden, wann es soweit ist.“
Ich nickte nur zur Bestätigung. Mir blieb schließlich nichts anderes über. Er schnappte sich den Korb und seine andere Hand legte er mir auf meine Schultern.
„ Eins kann ich dir schon verraten, es wird nicht heute sein, weil wir jetzt den schönsten Sonnenuntergang genießen werden, den du jemals gesehen hast.
„Das hört sich sehr gut an“, sagte ich und war einfach nur glücklich, ihn an meiner Seite zu haben. Wir gingen den schmalen Pfad entlang, der mit Palmen umringt wurde, bis wir Sand unter den Füßen spüren konnten. Nach wenigen Metern hielt Daniel unter einer größeren Palme, die am Rand des Strandes stand an. Er stellte den Korb ab und holte eine Decke heraus und breitete sie aus.
„Darf ich bitten“, sagte er und streckte seine Hand aus um mir zu helfen, auf der Decke Platz zu nehmen. Er setzte sich mit überkreuzten Beinen daneben und kramte eine Flasche und zwei Gläser aus dem Korb. Ich schaute ihn fragend an.
„Oh, es ist der beste Eiswein auf diesem Planeten“, preiste er die Flasche an, als er mein Gesicht sah.
Ich wusste nicht, was der Unterschied zwischen Eiswein und Wein war und schaute ihn immer noch mit einer fragenden Miene an. Auch das entging ihm nicht und er wusste beängstigender Weise ganz genau, was diese Mine bedeutete. Er hatte mich noch nicht einmal dafür angeschaut, sondern redete einfach weiter und beantwortete mir, was ich wissen wollte. Praktisch, dachte ich nur etwas sarkastisch, wenn man sich nicht einmal mehr anschauen muss.
„ Ein Eiswein ist sehr süß, im Vergleich zu einem Gewöhnlichen und daher muss man ihn eiskalt genießen“, erklärte er mir beim Öffnen der Flasche.
Es hörte sich gut an. Er reichte mir ein zu Hälfte gefülltes Glas. Die Sonne spielte in dem Kristall und spiegelte diverse Farben in unsere Augen und Gesichtern. Jetzt kam Daniel dem typischen Klischee, was die Engel betraf, sehr nahe. Er strahlte förmlich. Seine Haut und seine Haare schimmerten im Sonnenlicht, als ob sie jemand mit Goldstaub angepinselt hätte. Einfach nur wunderschön. Ich selbst kam mir neben ihm so nichtssagend vor. So völlig gewöhnlich. Ein Mensch eben.
Ich streckte mein Glas aus und schaute ihn immer noch bewundernd an.
„Auf den wunderschönsten Engel, dem ich je begegnet bin“, sagte ich wehmütig. Er schaute für einen Augenblick weg, als ob er sich dafür schämte. Dann streckte auch er die Hand aus, so dass das Kristall unserer Gläser sich traf und einen wunderschönen, klirrenden Ton ergab. Es erinnerte mich an sein einzigartiges Lachen.
„Lass uns auf dich anstoßen. Auf das wundervollste menschliche Wesen, in das ich mich leider so sehr verliebt habe.“
Ich ließ seine Worte einfach stehen. Sie waren so groß, dass sie mir den Atem raubten.
Man konnte darauf nichts erwidern oder sie gar übertrumpfen.
Wir nahmen einen Schluck. Dieser Eiswein war wirklich sehr köstlich.
Ich schaute auf das stille Meer. Die Sonne stand bereits ziemlich tief und berührte scheinbar den Horizont. Es war so still. Neugierig schaute ich Daniel an. Den wunderschönen Mann, der links neben mir saß.
„Was ist?“- fragte er neugierig.
Ich schmunzelte.
„Weißt du, mir ist aufgefallen, dass ich nicht weiß, wie alt du bist Daniel.“
Er lachte. Ich war verärgert, weil er mich dadurch unterbrach und zog meine Augenbrauen zusammen. Meine Reaktion ließ ihn noch lauter auflachen. Das Glas in meiner Hand zitterten oder war ich es vor Ärger?
„Daniel, kannst du mich bitte ernst nehmen!?“
„Tut mir leid, Lila“, sagte er immer noch lachend, „aber ich dachte, dass du darauf bereits selbst gekommen bist“.
„Nein. Tut mir leid, ich habe mir über dich noch nicht allzu viele Gedanken gemacht, wie du dir scheinbar erhoffst“, log ich, in der Hoffnung, ihm damit eins auswischen zu können.
Ich sah ihn schmollend an.
Herrgott, wie er mich anschaute. So bewundernd. So wie man ein Baby, beim Schlafen anschaut. Mit glänzenden Augen und seligem Lächeln.
„Du bist so hübsch Lila“.
Es folgte wieder eine bewundernde Pause.
„Ist ja gut, ich verrate es dir. Ich habe kein Alter, zumindest nicht so, wie du es dir wahrscheinlich vorstellst. Wir wurden am Anfang vom Dasein erschaffen. Uns gibt es demnach schon seit dem Gott das Paradies, die Erde und die ersten Menschen erschuf. Irgendjemand musste ja auf euch aufpassen. Aber mein menschlicher Körper ist einundzwanzig Jahre jung.“, fügte er ziemlich amüsiert hinzu.
Jetzt war es mir wirklich unangenehm. Darauf hätte ich tatsächlich selbst kommen müssen. Immer musste ich mich in solche unangenehmen Situationen bringen. Ich war darin wirklich gut.
Ich nahm schnell einen großen Schluck des Weins. Vielleicht sollte ich nicht so schnell trinken. Durch die Süße wurde mir bereits schwindelig im Kopf.
„Du bist eindeutig zu alt für mich. In jeder Hinsicht“, sagte ich, um die Situation irgendwie zu retten, „meine Eltern hätten definitiv etwas dagegen, wenn sie es erfuhren.“
„Nur gut, dass sie es nicht tun werden, nicht wahr. Ich möchte nicht riskieren, dass mir jemand verbieten könnte, mit dir zusammen zu sein. Dann müsste ich es wohl heimlich machen, was sich für einen anständigen Engel nicht gehört.“
Es gefiel ihm, mit mir zu scherzen. Oder war es der Wein, der auch die Sinne seines menschlichen Körpers bereits benebelte? Meine waren es auf jeden Fall. Ich lächelte ihn an und meine Augen glänzten, die Bestätigung sah ich in seinen. Ich wurde mutiger und griff nach seiner Hand. Nachdenklich spielte ich mit seinen Fingern.
„Weiß ich jetzt genug um wissen zu dürfen, warum ihr England verlassen habt?“
Er überlegte kurz und schaute mir bei meinem Spiel zu. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass er in Gedanke aussortierte. Nach dem Motto, „Lila- tauglich“, oder „lieber nicht“. Er wählte seine Worte sorgfältig aus.
„Wegen dir.“, sagte er nur kurz.
„Warum denn das? Bin ich ein besonders komplizierter Fall, oder was?“
„Ja, so könnte man dich auch bezeichnen.“- er musste schmunzeln.
Ich wartete, dass er weiter redete, ohne etwas darauf zu antworten.
„Ich muss dir gestehen, dass ich dich schon sehr lange liebe. Eines Tages war es, obwohl es für Engel unmöglich ist, einfach passiert. Ich habe mich in dich verliebt. Es machte mich fertig, nicht mit dir zusammen sein zu können. Also, naja, so, dass du auch daran teil hast. Immer im Verborgenen zu bleiben und dich nie berühren zu können war auf Dauer einfach fürchterlich. Also beschloss ich eines Tages, nach Jacksonville zu gehen und bewusst in dein Leben zu treten. Die Anderen versuchten mich krampfhaft davon abzuhalten, weil wir alle wussten, dass es für einen Engel nicht richtig war. Aber was war schon richtig. Ich habe mich ja auch in dich verlieben können, obwohl es eigentlich nicht ging. Egal was es für Konsequenzen für mein Verhalten geben wird, ändert es nichts an meiner Liebe zu dir. Ich würde lieber in der Hölle schmoren, als weiterhin ohne dich zu leben. Als Mary, Gabriel und Sem begriffen, dass ich jeden Preis zahlen würde, baten sie mir an, mitzugehen. Ich wusste, dass du mir mit Sicherheit nicht sofort um den Hals springen würdest. Aber ich hoffte innständig, dass du dich genauso in mich verlieben würdest. Ich weiß, dass es egoistisch und idiotisch von mir war, aber ich hätte dich ja nicht zwingen können. Es musste schon dein freier Wille entscheiden, mit mir zusammen zu sein. Und glaube mir, in den letzten Wochen, hatte ich fast die Hoffnung aufgegeben. Natürlich wusste ich, was du denkst. Aber ich wusste nie, wofür du dich letztendlich entscheiden würdest. Ewiger Schmerz oder Liebe? Das hat mich fertig gemacht. Und ich bin zutiefst erfreut, dass du dich für die Liebe, also für mich entschieden hast. Auch wenn es verboten ist dich zu lieben, werde ich es immer tun Lila. Für immer und ewig.“
Ich verstand ihn. Wahrscheinlich hätte ich genauso gehandelt. Deswegen überraschte mich sein Geständnis nicht.
„Jetzt verstehe ich deine Aussage, die du gestern im Unterricht getätigt hast.“- sagte ich nachdenklich eher zu mir, als zu Daniel.
„Du darfst mich also nicht lieben, weil es für Engel verboten ist. Hmm. Dir ist klar, dass du dafür für immer in der Hölle schmoren wirst?- zog ich in auf.
„Ja. Vorausgesetzt es gibt eine, was mir bislang nicht bekannt ist.“, sagte er ernst.
„Und wer verbietet es dir? Gott?“- ich glaubte selbst nicht, was ich da redete.
„Wenn du es so willst, ja. Nur dass Gott aus drei alten Herren besteht. Und sie nennen sich „der hohe Rat“. Aber „Gott“ ist auch okay“- sagte er leichthin.
Ich musste schlucken. Mit welch einer Selbstverständlichkeit er mir das alles erzählte.
„Und wenn es Gott nicht gibt, dann gibt es doch auch bestimmt keinen Satan und keine Hölle richtig?“- schlussfolgerte ich.
„Ja, richtig. Du hast aufgepasst. Es gibt sehr wohl Dämonen, dich auch hier auf der Erde verweilen. Aber es gibt keine Hölle. Also, nicht mit loderndem Feuer und so.“
„Aha“- mehr viel mir nicht ein.
Ich nutzte meine Chance und stellte eine neue Behauptung auf, obwohl ich mir eigentlich ziemlich sicher war, das sie der Wahrheit entsprach.
„Und Sofia, diese italienische Köchin, die du für uns bestellt hattest“, fing ich an und tat so, als ob ich ihm auf die Sprünge helfen müsste, „die habt ihr nicht ganz zufällig gleich mitgebracht, oder? Es ist wirklich seltsam, aber ich hatte vorhin tatsächlich das Gefühl, dass sie dich schon sehr lange kennt…“
Er war wirklich überrascht, über meine Aussage. Ha, er hatte nicht die geringste Ahnung gehabt. Siegessicher und gespielt naiv schaute ich ihn an.
„Du bist aufmerksam, das muss ich dir lassen. Und du hast völlig Recht mit deiner Behauptung. Nur konnte ich dir das vorhin nicht so sagen.“

Die Sonne war bereits zur Hälfte hinter dem Horizont verschwunden und es breitete sich jetzt eine sehr angenehme Dämmerung aus.
6.
Es war sehr offensichtlich, dass wir uns immer vertrauter wurden. Es lockerte sich alles. Unsere Gespräche. Mimik und Gestik waren nicht mehr so verspannt. Ab und zu schauten wir uns verlegen an, als wir dachten, dass der andere es nicht bemerkte.
Die Sonne war fast verschwunden. Dunkelheit breitete sich aus. Daniel stand auf einmal auf und holte eine Fackel aus dem Weidenkorb. Er stieß sie in den Sand und zündete sie an. Sie erhellte nur das Nötigste, aber es war völlig ausreichend. Schnell griff er beim vorbeigehen noch einmal in den Korb und zauberte eine weiße, flauschige Decke heraus. Mit dieser bewaffnet, kniete er auch schon vor mir. Nur wenige Zentimeter von mir entfernt. Ich schaute ihn lächelnd an, als er die Decke ausbreitete und sie mir über die Schultern legte. So liebevoll, als könnte ich kaputt gehen. Ich war mir sicher, es kam vom Eiswein, dass ich dieses Grinsen überhaupt nicht mehr aus meinem Gesicht bekam.
Als er mit seinem Werk zufrieden war, schaute er mich wieder an und seine Gesichtszüge, die von der Fackel geheimnisvoll angeleuchtet wurden, verrieten mir, dass ihm etwas auf der Zunge lag. Er sah mich sehr forsch an.
„Was hast du Daniel?“
Als er sich ertappt fühlte, drehte er seinen Kopf schnell weg.
„Hmm, ich dachte, dass es mir vorbehalten ist, Gedanken lesen zu können.“
„Tut mir leid, aber ich weiß nicht was du gedacht hast. Du siehst lediglich so aus, als ob dir etwas auf der Zunge brennt.“
„Das stimmt auch“, gab er zu, „ich würde gerne etwas ausprobieren wovon ich schon so lange träume, aber was ich zuvor noch nie versucht habe. Ich habe aber Angst dir vielleicht wehzutun, oder so etwas. Vielleicht kann ich dann meine Gefühle nicht kontrollieren und dann… weiß ich nicht, was geschehen könnte. Ich bin so viel stärker als du, Lila, als jeder Mensch. Nur Gott selbst hat mehr Stärke, als ich.“
Jetzt schaute er nicht mehr weg, sondern war darauf gespannt, wie ich reagiere. Er hatte Angst, das erkannte ich ganz deutlich in seinem Gesicht und dann kam noch hinzu, dass er mal wieder nicht wusste, was ich darüber dachte, wie ich auf seine, so ehrlichen Worte reagieren würde. Wie denn auch, wenn ich noch nicht einmal wusste, worüber ich nachdenken sollte.
Seine Augen glänzten jetzt in dem schimmernden Licht. Sie glänzten vor Begierde und so etwas wie Erregung. Jetzt war ich total irritiert.
„Daniel, spann mich bitte nicht länger auf die Folter“, sagte ich ungeduldig und befreite meine Hände von der Decke, um nach seiner Hand zu greifen, die nur wenige Zentimeter vor mir, auf seinem Oberschenkel lag.
„Ich würde dich gerne küssen“, kam rasch über seine Lippen. Es folgte eine Pause. Er wartete auf meine Reaktion und sah mich neugierig an. Meine Hand blieb auf halbem Wege abrupt in der Luft stehen. Der Atem stockte.
Ich musste zugeben, dass ich mich irgendwie geehrt fühlte, dass ich diejenige war, die er liebte und der er seinen allerersten Kuss schenken wollte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er mir dabei wehtun könnte. Ich vertraute ihm.
Jetzt schaute ich ihn entschlossen an und lächelte. Natürlich wusste er bereits, wie meine Entscheidung ausgefallen ist. Ja, ich wollte dass er mich küsst, mehr als alles andere. Und er wollte es auch.
Daniel schaute mir fest in die Augen und kam mit seinem Gesicht immer näher. Seine rechte Hand wanderte langsam in meinen Nacken und drückte mich leicht in seine Richtung. Ich konnte nicht mehr klar denken. Alles schwirrte nur noch in meinem Kopf rum. Mein Atem ging vor Verlangen und Erregung schneller. Daniel strahlte auf einmal eine Kraft aus, die mir für einen Augenblick doch etwas Angst einjagte. Die Luft schien mit Adrenalin gefüllt zu sein. Ich schloss die Augen und spürte seinen genauso schnell gehenden Atem auf meinen Lippen. Und danach berührten langsam und sanft seine Lippen meine. Ein elektrischer Schlag durchfuhr meinen Körper und seine Hand drückte meinen Nacken etwas zu fest zusammen.
Schnell lockerte er wieder seinen Griff.
„Entschuldige“, schickte er mir telepathisch rüber.
Ich lächelte nur kurz.
Wir rührten uns nicht und genossen diesen ersten Augenblick. Unser Atem blieb für einen Moment stehen, die Welt ebenfalls, kam mir zumindest so vor. Und dann überkam uns das Verlangen, was wir schon so lange in uns trugen. Unsere Lippen bewegten sich immer mehr im Einklang. Meine Hände suchten seine Hüften und zogen ihn näher heran. Seine linke Hand strich mir über meine Wange und wanderte zu seiner rechten, die immer noch in meinem Nacken lag und meinen Kopf steuerte.
Diesmal hatte er aber die Kontrolle über seine Hände, sodass es mir nicht wehtat. Jetzt konnte ich mich nicht mehr zusammenreißen. Meine Zunge berührte zaghaft seine Oberlippe. Für einen kurzen Moment rührte Daniel sich nicht und mich überkam ein Schauder. Auf einmal wurde mir bewusst, was alles passieren könnte, wen er die Kontrolle über sich verliert. Aber dann spürte ich auch seine heiße Zunge an meiner und er liebkoste sie auf eine Art die mir fast den Verstand raubte. Diese unmenschliche Kraft herrschte überall. Zeit schien keine Rolle mehr zu spielen und ich bekam eine leise Ahnung, wie sich wohl die Ewigkeit anfühlte.
Ich wusste nicht mehr, wo die Grenze war. Wo ein Kuss aufhören sollte. Ich zwang mich, für einen Augenblick den Verstand einzuschalten. Zur Besinnung kommen. Ich musste mich konzentrieren, um diesen unglaublichen Kuss irgendwie zu beenden. Es irgendwie zu schaffen, den Verstand nicht zu verlieren. Ich nahm meine Hände von ihm und drückte meine Lippen noch einmal fest an seine und ließ den Kopf nach hinten fallen. Mein Körper bestand nur noch aus Adrenalin, was ich quasi einatmete. Mein Atem ging schnell und unregelmäßig. Ich verweilte so kurz und machte langsam meine Augen auf. Ich sah den Himmel. Er war vollkommen klar und übersät mit funkelnden Sternen.
„Wow.“
Mehr brachte ich nicht heraus. Meine Lippen pochten immer noch und mir war etwas schwindelig, ich fühlte mich auf einmal erschöpft, Daniel hat mir mit dem Kuss all meine Kraft genommen. Langsam richtete ich den Kopf wieder auf und sah in ein erregtes und glückliches Gesicht. Ein Lächeln umspielte seine Lippen. Er war wie erstarrt. Völlig elektrisiert.
„Wow“, sagte er leise und schüttelte ungläubig den Kopf, „ich bereue zutiefst, dass ich dieses Gefühl erst jetzt kennengelernt habe.“
„Du hast mich ja auch erst vor nicht allzu langer Zeit kennengelernt“, erwiderte ich schmunzelnd.
„Das stimmt so nicht. Ich kenne dir praktisch schon dein ganzes Leben“- antwortete er.
Seine Arme umschlungen meinen Körper und ich schmiegte mich an seine heiße Brust. Das Herz schlug unter seinem Hemd so heftig, dass ich Angst hatte, es springt mich jeden Moment an. Es war für diese unmenschliche Kraft, die Daniel erzeigte, einfach nicht geschaffen. Es war menschlich, im Gegensatz zu ihm. Er küsste mich sanft auf mein Haar.
„Mit diesem Kuss besiegel ich, Daniel Callahan meine Liebe zu dem wundervollen Wesen, Delilah Smith“, verkündete er leise.
Ich kicherte in sein Hemd. Es fiel mir auf einmal so einfach es auszusprechen.
„Ich liebe dich Daniel. Mit all der Liebe, die ich als Mensch empfinden kann.“
„Das reicht mir völlig“, sagte er zufrieden, „obwohl du die ganze Liebe bekommst, die ich sonst auf die komplette Menschheit verteilen müsste“, sagte er lächelnd.
Kurze Zeit später waren wir wieder im Haus.
Daniel stellte den Korb in der Küche ab und folgte mir in den zweiten Stock.
Ich war zwar überglücklich, aber auch ziemlich müde, er hat meinem menschlichen und so zerbrechlichen Körper einiges abverlangt.
Ich gähnte laut und demonstrativ, als ich in das für uns vorbereitete Zimmer reinging. Darüber, ob ich dieses Bett mit Daniel teilen wollte, hatte ich mir bislang keine Gedanken gemacht.
Ich drehte mich zu ihm um und sah in sein etwas irritiertes Gesicht.
„Lila, vielleicht ist es besser, wenn ich eins der Gästezimmer nehme“, sagte er leise und schaute auf den Fliesenboden. Ich sollte meine Kräfte vielleicht nicht ein zweites Mal herausfordern. Beinahe hätte ich dir vorhin wehgetan“, sagte er etwas bedrückt.
Scheinbar war auch diese Situation völlig neu für ihn. Für mich war sie es auch.
Der einzige, der sich mit mir jemals das Bett teilte, war ein sehr alter Teddy aus meiner Kindheit.
Aber es gab keinen Grund, der mich davon überzeugte, dass Daniel nicht im selben Bett schlafen sollte oder könnte, wie ich. Warum auch. Ich vertraute ihm blind. Er würde nichts tun, was ich nicht wollen würde.
Wahrscheinlich würde er nicht einmal auf die Idee kommen, so wie es bei anderen Jungs zu erwarten wäre, dachte ich amüsiert. Wenn das vorhin sein erster Kuss war, dann hatte er von dem Rest keine Ahnung. Zumindest nicht, wie er es praktisch ausführen sollte. Auch da entdeckte ich eine Gemeinsamkeit. Ich führte bislang auch ein, sagen wir mal, sehr unschuldiges Leben.
Ich riss mich aus meinen Gedanken, und schaute in sein genauso amüsiertes Gesicht. Er hatte meinen Gedanken gelauscht.
„Wenigstens einer, der mir vertraut“, sagte er etwas sarkastisch.
Ich ging ganz nah an ihn heran und schaute ihm ernst in seine wundervollen blauen Augen. Das, was ich sagte, meinte ich wirklich sehr ernst.
„Daniel, ich vertraue dir. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du mir wehtun könntest“.
Ich küsste ihn, wie zum Beweis, dass nichts passieren kann.
„Du weißt gar nicht, wie schnell sich das alles ändern kann. Welcher Gefahr du dich aussetzt“. Er atmete tief durch und umschlang mich wieder mit den Armen.
„ Engel sind nicht von Natur aus gut Lila. Das ist ein Mythos. Wir müssen ununterbrochen dafür kämpfen, dass Gut und Böse in uns, im Gleichgewicht bleibt. Und es gibt so viele Dinge die dieses Gleichgewicht zerstören könnten. Was meinst du, warum es Dämonen gibt. Es sind Engel, die diesen Kampf verloren haben. Du könntest dich genauso freiwillig in ein Gewitter stellen und darauf warten, bis dich vielleicht ein Blitz trifft. Aber wenn er dich treffen sollte, würdest du es nicht überleben“, sagte er eindringlich und traurig über diese Tatsache. Er wollte mir noch einmal darstellen, wie mächtig er unwillentlich werden kann. Dass er diesen Kampf verlieren könnte und somit böse werden könnte. Aber es war mir egal. Ich wollte mit ihm zusammen sein, egal was passieren könnte.
Ich befreite mich aus seiner Umarmung. Entschlossen schaute ich ihm noch einmal in die Augen.
„Es wird nichts passieren, Daniel“, sagte ich bestimmend, als ob ich es dadurch beeinflussen könnte.
Mit schnellen Schritten ging ich ins Bad und machte mich schnell fertig. Ich war wirklich geschafft und wusste noch nicht einmal, wie spät es war. Ziemlich spät stellte ich nach meinem Befinden fest und ging wieder in das angrenzende Zimmer. Unser Zimmer.
Es war dunkel. Nur der Mond schien herein und beleuchtete sanft das Zimmer.
Die Decke war bereits aufgeklappt und die Kissen aufgeschüttelt.
Daniel saß noch völlig angezogen am Rand des Bettes.
Ich schmiss mich rein. Es war weich und duftete herrlich, nach einer Sommerbrise.
Ich zog ihn aufs Bett und begann sein Hemd auf zu knöpfen. Er schaute mich misstrauisch an.
„Es wird nichts passieren, okay“, versuchte ich ihn noch einmal zu beruhigen und schmiss das Hemd, was ich jetzt in den Händen hielt auf den Boden.
Ich musterte seinen Oberkörper. Er war so exakt geformt. Nicht zu viel und nicht zu wenig. Jeder Muskel saß an der richtigen Stelle. So völlig perfekt. Mir wurde wieder ganz warm und mein Herz schlug schneller. Ruhig Lila, befahl ich mir. Als ich zu seiner Hose übergehen wollte, hielt er meine Hände fest und schob sie sanft weg.
„Das reicht. Wir wollen doch wirklich nichts überstrapazieren“, sagte er verlegen.
Wieder beantwortete er meine Frage, bevor ich sie aussprechen konnte.
„Ja, mein Körper ist durch und durch menschlich. Mit allem, was dazu gehört. Daher…lassen wir es lieber dabei Lila. Ich muss erst lernen, besser mit meiner Kraft umzugehen“.
Ich widersprach nicht und legte mich auf seine Brust. Er legte seinen Arm um mich.
„Schlaf schön, meine Liebe. Ich bin immer bei dir“, sagte er leise und küsste mich lange auf mein Haar.
Ich war ein bisschen traurig darüber, als ich daran dachte, dass wir in ein paar Stunden wieder zurück mussten. Ich hatte auch etwas Angst davor, wieder in den Alltag zurück zu müssen. Was wird dann mit uns? Wird Daniel dann immer noch zu seinen Gefühlen und zu mir stehen? Aber bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, überkam mich ein tiefer, seliger Schlaf. Ich durfte in seinen Armen eingeschlafen.
Wer konnte so etwas von sich behaupten, in den Armen seines Schutzengels einzuschlafen.
Ich bin allein in dem großen Bett aufgewacht. Panik stieg in mir hoch. Es war nur ein Traum, schrie es in mir. Ich wollte es nicht wahr haben. Schnell schaute ich mich um, suchend überblickte ich den Raum und atmete tief und beruhigt durch, als ich fand, was ich suchte.
Daniel saß auf einem Liegestuhl auf dem Balkon und schaute aufs Meer. Ich sprang aus dem Bett und bemerkte, dass ich nur meine weiße Spitzen- Unterwäsche anhatte.
Ich versuchte mich an den gestrigen Abend zu erinnern, aber es war alles so verschwommen, so unwirklich, wie ein Traum. Größtenteils lag es vermutlich an dem Wein.
Ich erinnerte mich, dass ich in seinen Armen einschlief, also konnte nicht mehr passiert sein. Wieder atmete ich erleichtert durch und begab mich auf den Balkon.
Daniel schaute bereits in meine Richtung, ohne mich gesehen zu haben.
„Guten Morgen, Lila“, sagte er sanft und musterte mich kurz. Schnell schaute er wieder weg, weil mein Anblick ihn sichtbar erregte. Trotzdem setzte ich mich provokant auf seinen Schoß und küsste ihn. Dabei erinnerte ich mich wieder, was unser erster Kuss in ihm ausgelöst hatte und beschloss vorsichtig zu sein. Er wehrte sich nicht, traute sich aber auch nicht, mich anzufassen. Es war auch gar nicht nötig, weil ich bereits jetzt diese Adrenalin- Luft und diese von ihm ausgelöste Energie spürte.
Ich schaute in sein erregtes Gesicht.
„Verdammt Lila, was machst du nur mit mir“.
Wieder schüttelte er ungläubig den Kopf. Ich freute mich darüber. Es war schön ihn so zu sehen. Wenn auch gefährlich.
„Guten Morgen Daniel“, sagte ich und schenkte ihm noch ein Lächeln, bevor ich aufsprang und mich ins Bad begab.
Wieder machte ich mich schnell fertig und packte meine Sachen in die kleine Reisetasche.
Es roch köstlich nach frischem Kaffee und Rührei. Ich hatte einen riesigen Hunger und begab mich ins Erdgeschoß.
Daniel teilte mir telepathisch bereits mit, dass er auf mich auf der Veranda wartete. Sofia hatte uns ein tolles Frühstück gezaubert. Ich trank meinen Kaffee aus und musste wieder an die Heimreise denken. Mich überkam wieder die Angst. Ungewissheit breitete sich aus.
Daniel unterbrach meine Gedanken und stand auf. Er sah wie immer perfekt aus. Heute hatte er ein weißes Hemd an und strotzte nur so vor Schönheit.
„Ich pack die Sachen ins Auto. Du kannst natürlich noch sitzen bleiben“.
Etwas bedrückte ihn.
„Nein. Wir können los. Ich hol nur noch schnell meine Handtasche“, sagte ich schnell und sprang halb auf.
Er nickte und verschwand hinter den Palmen.
Die Rückfahrt war bedrückend still. Daniel war kaum geistig anwesend. Meine Befürchtungen schienen sich zu bestätigen. Er fährt mich jetzt nach Hause und sagt noch so etwas wie „es war schön, dass sollte wir mal wiederholen, aber lass uns Freunde bleiben“.
Das war meine größte Angst. Ich machte mich halb verrückt und als es dann soweit war und wir vor unserem Haus parkten, war ich einem Nervenzusammenbruch sehr nahe.
Daniel machte das Auto aus.
Einen Augenblick lang, sah er stur aus der Windschutzscheibe und sagte nichts. Auf einmal drehte er sich abrupt zu mir um, seine Hände hatte er immer noch auf dem Lenkrad.
„Ich habe mich entschieden“, sagte er mit fester Stimme. Ich schaute ihn fragend an. Jetzt bloß nicht hysterisch werden.
„Wie…wie bitte?“- die Worte stockten in meinem Hals.
Er sah mich jetzt total entspannt an und wiederholte seinen Satz.
„Ich habe mich entschieden Lila“, er griff nach meiner Hand und umschloss sie sanft mit seinen.
„Ich habe die ganze Nacht darüber nachgedacht. Es gibt so vieles, was dagegen spricht, aber auch zu vieles was dafür wäre, mit dir zusammen zu sein. Ich bin mir ganz im Klaren, dass ich irgendwelche Regeln brech, aber das nehme ich in Kauf. Weil ich dich liebe.“
Ich war vollkommen geplättet, aber auch überglücklich. Ich wollte mir nicht vorstellen, was ich getan hätte, wenn er mich nicht gewollt hätte. Mein Leben hätte keinen Sinn mehr gehabt. Wenn es notwendig gewesen wäre, hätte ich Gott persönlich angefleht, Daniel frei zu lassen. Und wenn ich dafür hätte streben müssen.
Aber er wollte es versuchen. Das war kein „Nein“. Und ich wollte es mehr, als alles andere in meinem Leben. Daniel gab meinem Dasein erst einen Sinn. Ich habe erst jetzt gemerkt, dass es vorher nichts gab, wofür ich kämpfen wollte.
Daniel holte mich wieder aus meinen Gedanken.
„Ich kann dich natürlich nicht zwingen“, sagte er langsam „aber ich hoffe vom ganzen Herzen, dass du mich auch willst“.
Tränen liefen mir über die Wangen und ich bekam das Grinsen nicht aus meinem Gesicht.
„Natürlich will ich dich“, schluchzte ich „und wie ich dich will Daniel. Mehr als alles andere“.
Ich umarmte ihn über den Sitz, was nicht so einfach war und küsste ihn, mit meinen, von den Tränen nassen Lippen und schluchzte wieder.
„Scht, ist ja gut, es wird alles gut“, versuchte er mich zu beruhigen.
Ich nickte nur und durchnässte sein Hemd. Langsam löste ich mich wieder von ihm und schaute ihn verlegen an, weil meine Schminke bestimmt völlig verschmiert war. Er lachte auf und wischte mir das gröbste weg.
„So und jetzt bringe ich dich noch zur Tür“, sagte er und drehte sich zu seiner Tür um.
Wieder nickte ich nur und tat dasselbe. Hand in Hand gingen wir zum Haus. Ich schaute kurz zur Auffahrt, aber es stand kein Auto. Das hieß, dass ich den Rest des Tages allein wäre. Umso besser, dachte ich. Ich war noch nicht bereit, es meinen Eltern zu erzählen. Ich musste es erst selbst realisieren.
Daniel stellte meine Tasche ab, nahm mein Gesicht vorsichtig in seine Hände und küsste mich sanft und vor allem langsam. Es war immer noch ein Test. Für ihn zumindest. Er musste testen, wie weit er gehen konnte, bevor er die Kontrolle verlor. Aber er wurde scheinbar immer besser, denn ich merkte fast nichts von dieser unmenschlichen Kraft, die er gestern auslöste. Die Luft knisterte nur, war aber nicht mehr mit Adrenalin geladen. Ich war gerne sein Testobjekt. Ich umschlang seine Taille und sofort war die Erregung in der Luft zu spüren. Er ließ mich wieder los. Und ich stöhnte. Ich wollte ihn nicht loslassen. Ich glaube, dass ich immer noch Angst hatte, dass wenn er fährt, ich ihn nie wieder sehen würde.
„Sei nicht traurig Lila. Ich bin immer bei dir, ob du mich siehst oder nicht. Und spätestens morgen früh, werde ich vor deiner Tür stehen.“
Er strich mir über die Wange und schaute mir liebevoll in die Augen.
Ich gab mich geschlagen.
„Okay. Aber du bist wirklich da, ja?“
Er lachte fröhlich mit seinem klirrenden Lachen.
„Ja, versprochen“.
Ich nickte und schloss die Haustür auf.
„Okay“, sagte ich noch einmal, eher um mich selbst zu beruhigen.
Schnell küsste er mich auf die Stirn und war wieder auf dem Weg zum Auto.
Ach, übrigens, ich werde dir nachher mal zeigen, welche „Talente“ ich noch besitze“, sagte er fröhlich, bevor er wieder in dem Audi verschwand. Da musste ja noch mehr kommen, als ob es nicht schon genug wäre, dachte ich und ging die Treppe hoch. Ich öffnete langsam die Tür zu meinem Zimmer. Es kam mir vor, als ob ich sehr lange weg gewesen bin. Alles in diesem Zimmer erschien mir so fremd. Es roch sogar fremd. Ich hatte mich so an Daniels wundervollen Geruch gewöhnt, dass alle anderen mir plötzlich fremd erschienen. Sogar mein eigener. Ich schmiss die unausgepackte Reisetasche auf den Boden und ging zum Schreibtisch. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass mir mein Handy gefehlt hat.
Das Display zeigte mehrere Mitteilungen. Zwanzig unbeantwortete Anrufe und fünf Nachrichten von Kate. Übrigens, meine Mailbox war auch dicht. Kate hatte sich auch da drauf verausgabt. Ich rollte die Augen und schmunzelte. Das war nun mal, meine beste Freundin. Ich beschloss sie später anzurufen. Sie würde sowieso keine Ruhe geben. Ich schmiss mich aufs Bett, so wie ich es immer tat und verschränkte die Arme hinter den Kopf. Ich ließ den Bildern in meinem Kopf freien Lauf und musste unwillkürlich vor mich hin lächeln. Dann fiel mir ein, dass ich mich bei Daniel, für das schöne Wochenende überhaupt nicht bedankt hatte.
Er musste auch Mary unbedingt noch einmal dafür danken, dass sie sich so viel Mühe gemacht hatte und natürlich für das schöne Strickjäckchen, was sie mir geschenkt hat. Ich freute mich schon sehr darauf, sie kennenzulernen. Sie war mir jetzt schon sympathisch gewesen.
Ich musste eingeschlafen sein, denn als ich die Augen wieder öffnete, fing es draußen bereits an dunkel zu werden. Erschrocken warf ich einen Blick auf meine Uhr. Zwanziguhrdreißig. Oh mein Gott, ich hatte fast den ganzen Tag verschlafen. Scheinbar war das Wochenende mit Daniel doch anstrengender gewesen, als ich mir eingestehen wollte. Der Gedanke an Daniel, versetze meinen Körper wieder für einen Augenblick in Wallung. Ich wurde etwas traurig, weil er nicht bei mir war.
Von unter drangen aufgeregte Stimmen zu mir hoch. Es waren meine Eltern. Sie schienen sich über etwas, ziemlich aufgeregt zu unterhalten. Es machte mich neugierig und ich erhob mich langsam, damit mir nicht schwindelig wurde, vom Bett und konnte meinen Augen nicht trauen. Ich sah Blumen, weiße Rosen, sie waren überall. Auf der Fensterbank, auf dem Boden, auf den Schreibtisch, einfach überall. Teilweise lagen sie einfach nur lose da. Andere standen in riesigen Vasen in der Gegend herum. Ich versuchte meine Gedanken zu sammeln und nachzudenken. Denk logisch, Lila. Wie konnten diese Blumen hierher kommen? Träum ich etwa noch?
Ich kniff mich in den Arm.
Aua.
Nein, ich war definitiv wach. Aber trotzdem, war das, was ich sah nicht wirklich real. Es ergab keinen Sinn. Ich bahnte mir vorsichtig einen Weg durch das Rosenmeer, um nachzusehen, worüber sich meine Eltern so aufgeregt unterhielten.
Und als ich die Tür zum Flur aufmachte, traf mich der zweite Schlag. Auch hier ging das Rosenmeer weiter. Riesige Vasen, mit den schönsten weißen Rosen, standen auf den Stufen, der Treppe. Was ging hier vor? Die beiden standen unten und schauten zu mir hoch.
„Liebes, was hat das hier zu bedeuten? Hat Daniel dir all diese wundervollen Blumen etwa geschenkt!?“ – sagte Mom völlig erstaunt. Dad schaute mich nur an, scheinbar war es für ihn nicht so interessant.
Ich musste schnell reagieren, um sie wieder los zu werden.
„Ja, Mom. Daniel übertreibt auch mal ganz gerne, wie man sieht“, erwiderte ich mit einem gespielten Lächeln.
In dem Moment begriff ich, dass ich gerade völlig ins Schwarze getroffen hatte. Ich hätte es beinahe vergessen. Das meinte er also damit, als er etwas von seinen „Talenten“ erwähnte, als er vorhin gefahren ist. Aber wie hat er es angestellt? Er musste Stunden dafür gebraucht haben, um all diese Blumen hier aufzustellen. Und außerdem, er hatte noch nicht einmal einen Schlüssel.
Er konnte nicht im Haus gewesen sein. Das war eine unwiderlegbare Tatsache.
„Mom?“.
„Ja, Lila“?
„Wie lange seid ihr schon da“?
„Tja weißt du Liebes, das ist ja das merkwürdige daran. Als wir ankamen, waren hier keine Blumen. Es sei denn, ich habe einfach nicht darauf geachtet. Und auf einmal stand hier alles voll… Ich kann mir das auch nicht erklären, es war keiner außer uns hier. Ich muss sie einfach übersehen haben, es gibt keine andere Erklärung, nicht wahr“.
„Hmm, ja Mom, so muss es wohl gewesen sein“, sagte ich nachdenklich und ging wieder in mein Zimmer.
Er war mir eine Erklärung schuldig. Und zwar jetzt.
„Daniel! Erklär mir auf der Stelle, wie du dass hier angestellt hast“!- schickte ich ihm in meinen Gedanken zu.
Ich sammelte einige Rosen vom Boden, damit ich nicht in die Dornen treten kann und stopfte sie in die rumstehenden Vasen.
„Daniel“!
„ Na toll. Du bist sauer. Ich habe dich mal wieder verärgert. Verzeih mir.“
Ich stöhnte auf. Wie konnte ich auf ihn sauer sein?
„Ich bin nicht sauer, nur neugierig. Wie hast du es angestellt? Ich möchte es wissen“! – fügte ich bestimmend hinzu, wie ein kleines Kind, was seinen Willen durchsetzen will.
„Ich habe dir doch gesagt, dass ich noch mehr kann. Nun ja, ich kann nicht nur Gedanken, sondern auch Gegenstände teleportieren. Natürlich nur, wenn du, als mein Schützling nichts dagegen hast. Und ich habe nichts davon mitbekommen, dass du keine weißen Rosen magst.“
Na wunderbar, dachte ich. Was kommt als nächstes? Gab es überhaupt noch eine Steigerung?
Ich war natürlich nicht sauer, viel eher überrascht und überrumpelt. Wie könnte ich ihm so etwas tolles übel nehmen!?
„Vielen Dank, Daniel. Sie sind wirklich wunderschön. Aber jag mir das nächste Mal nicht so einen Schreck ein. Und Mom muss es auch nicht unbedingt mitbekommen“, tadelte ich ihn.
„Jetzt bin ich aber erleichtert. Ich dachte, dass du wirklich sauer bist. Ich wollte dir damit nur noch einmal sagen, dass ich dich liebe und das es sich morgen auch nicht ändern wird Lila.“
Jetzt floss ich endgültig dahin. Ich war überglücklich und konnte es immer noch nicht fassen, dass Daniel wirklich mit mir zusammen sein möchte.
„Ich liebe dich auch“.
Ich sammelte noch weitere Rosen vom Fußboden auf und wünschte mir von ganzen Herzen, dass er jetzt bei mir sein könnte. Meine Gefühle waren sehr tiefgründig, dass es fast schmerzte, wenn mich eine erneute Welle von Sehnsucht überkam.
Ich stöhnte leise auf. Ihn anzurufen, war dennoch das letzte, was ich wollte oder viel eher musste. Es gab ja schließlich andere Wege der Kommunikation zwischen uns. Aufdrängen wollte ich mich nun auch nicht. Was sollte er denn von mir halten.
Die nächste Rose, die ich aufhob hatte wohl mehr Dornen, als andere und ich schrie kurz auf, als sich eine in meinen Zeigefinger bohrte.
Oh, verdammter Mist. Ich schmiss die Blume wütend weg und schüttelte mit schmerzverzerrtem Gesicht meine Hand. Als Blut austrat, steckte ich mir schnell den Finger in den Mund. Ich hasste Blut. Vor allem mein eigenes. Schnell stolperte ich ins Bad und blieb abrupt stehen, als Daniel geradewegs auf mich zukam. Aus dem Bad.
Mein Mund blieb einfach offen stehen. Ich wollte einen Schrei abgeben, aber es kam einfach nichts heraus. Ein Tropfen lief von dem verletzten Finger in meine Handfläche und löste einen besorgten Gesichtsausdruck bei Daniel aus.
„Ist alles okay mit dir“, fragte er und führte mich halb stützend zum Waschbecken.
Ich schüttelte seine Hände ab. Obwohl ich mich wirklich freute ihn zu sehen, hatte ich das Gefühl, dass ich vollkommen durchsichtig war. Wegen der Selbstverständlichkeit, mit der er einfach in mein Leben eingriff. Manchmal fühlte ich mich einfach nur überrumpelt. Ich lernte gerade eine völlig andere Welt kennen. Beinahe alles wirkte auf mich unnormal.
Ich fuhr hoch und sah ihn etwas verärgert an. Das Wasser war eiskalt und betäubte geradewegs meine Hand.
„Du willst wissen, ob mit mir alles okay ist!? Du meinst, nachdem du hier einfach so, völlig aus dem Nichts erschienen bist!?“
Schnell drückte ich den Wasserhahn wieder runter und es wurde still.
Aua.
Mein Blut schien gefroren zu sein und es bereitete mir Schmerzen, meine Hand zu bewegen.
Nachdem ich mich etwas beruhigte, schaute ich ihn wieder an. Mittlerweile hatte er begriffen, dass es nicht richtig war, hier einfach so aufzutauchen. Reue spiegelte sich jetzt in seinem schönen Gesicht.
„Daniel“, fing ich gequält an. Er sah so verwundbar aus. Ich konnte ihm einfach nicht mehr böse sein.
„Nein, Lila ist schon gut. Du hast jedes Recht, sauer auf mich zu sein. Ich bin so ein Idiot. Immer mache ich etwas falsch. Aber doch nur, weil ich es nicht anders gewohnt bin. Für dich muss das völlig fremd sein und das vergesse ich immer wieder.“, sagte er reuevoll und machte den Anschein, wieder gehen zu wollen.
Ich strich meine langen Haare aus dem Gesicht und berührte seinen Rücken.
„Daniel, warte. Bitte. Bitte versteh mich doch. Du tauchst hier einfach so auf. Wie auch immer du das wieder gemacht hast, aber…
„Ich bin geflogen Lila“, unterbrach er mich.
Ich schüttelte den Kopf. Ich habe mich wohl verhört.
„Was!? Wie bitte, was bist du, geflogen!?“- schrie ich fast ungläubig.
Er drehte sich zu mir und schaute mich ernst an.
„Ja. Du hast mich richtig verstanden. Ich bin geflogen. Mit Flügeln. Es ist kein Mythos Lila, Engel haben Flügel.“
Ich starrte ihn immer noch an. Was er da sagte war absurd. Es klang in meinen Ohren, wie ein schlechter Scherz. Nur dass sich hinter diesem Scherz einen Logik verbarg.
Daniel war ein Engel. Engel haben Flügel. Vollkommen logisch, nicht wahr.
„Ja. Natürlich.“- sagte ich nachdenklich.
Er kam näher ran und streckte vorsichtig eine Hand aus.
Ich erwiderte seinen Versöhnungsversuch. Er umarmte mich liebevoll und ich umschlang seine Hüften.
„Wir müssen uns beide erst einmal daran gewöhnen. An uns gewöhnen. Vor allem du Lila. Ich bin so anders, aber leider vergesse ich diese Tatsache in deiner Gegenwart. Früher musste ich niemanden vorher um Erlaubnis bitte oder Rücksicht nehmen. Aber ich verspreche dir, dass ich mich bessern möchte. Jetzt, wo du weißt, was und wer ich bin“, flüsterte er mir ins Ohr.
„Danke“, flüsterte ich zurück und schmiegte mich noch fester an seine Brust.
Er hob mein Kinn mit einem Finger hoch, sodass ich ihm ins Gesicht schauen konnte und küsste mich mit heißen, fordernden Lippen. Ich versank wieder im Nichts. Die Luft füllte sich ganz automatisch mit Energie, die einen Druck in meinen Ohren erzeugte. Und dieses Mal war noch etwas neu. Sie ließ uns schweben. Ich war mir sicher, dass wir nicht mehr auf dem Boden standen. Und je intensiver er mich küsste, desto größer wurde dieser Druck und eine Art Adrenalin mischte sich hinzu. Ich wich zurück und beendete den Kuss. Mir kam es auf einmal vor, dass sich das Ganze mit Daniels Gefühlen steigerte. Aber vielleicht kam es mir ja auch nur so vor. Ich wollte nicht weiter darüber nachdenken. Er schaute mich mit einem verlangenden Blick an. Um abzulenken, begann ich schnell ein Gespräch.
„Ich wollte dir noch für das wundervolle Wochenende danken. Und bitte danke Mary, für das schöne Jäckchen“, fügte ich noch hinzu.
„Du musst mir dafür nicht danken. Es ist schön, dass du zugesagt hast und wir uns dadurch näher kamen. Damit hast du mir das größte Geschenk überhaupt gemacht“.
Er küsste mich wieder, aber nur ganz kurz. Scheinbar bemerkte er, dass ich mich eben nicht mehr ganz wohl gefühlt habe. Aber nur weil mein menschlicher Körper so sehr zerbrechlich war. Ich sollte mich daran gewöhnen.
„Bitte bleib. Ich möchte mit dir einschlafen“, bettelnd schaute ich ihn, wie ein Welpe in die Augen.
Er lächelte zufrieden. Seine Hand strich mir sanft über die Wange und ich hatte das Gefühl, dass sie gerade mit meiner Wange verschmolz. Sie war so warm und zart, wenn er sich so viel Mühe gab, wie jetzt..
„Wie kann ich denn da nein sagen“, begnügte er sich. Seine Augen veränderte die Farbe. Sie waren jetzt Azurblau und ich musste wieder aufpassen, dass ich nicht in ihren Bann gezogen wurde. Wieder darin versank.
In dem Moment klingelte mein Telefon. Ich stöhnte. Das hatte ich ganz vergessen.
Ich ging in mein Zimmer rüber und wurde von dem Rosenduft fast umgehauen. Ich schaute aufs Display. Meine Vermutung wurde bestätigt.
„Es ist Kate. Sie versucht mich schon seit Tagen zu erreichen. Ich muss ihr morgen, in der Schule wohl einiges erklären“, sagte ich laut.
Daniel stand genau hinter mir und ich zuckte zusammen. Ich hatte keine Schritte gehört.
„Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken“, sagte er leise.
„Hättest du nicht, wenn du gegangen wärst“, erwiderte ich, um ihn daran zu erinnern, dass er sich bessern wollte.
Ich machte meine Nachttisch-Lampe an und schaltete das andere aus. Beim Vorbeigehen machte ich den CD-Player an und drückte auf „Play“. Amanda Perez fing an „God send me an Angel“ zu singen und mein Atem stockte für einen Augenblick.
Jetzt ergab das Lied einen Sinn. Ich schmunzelte und legte mich aufs Bett, in Daniels Arme.
Obwohl ich fast den ganzen Tag geschlafen hatte, war ich immer noch erschöpft. Woran lag das bloß?
Und als ich meine Augen wieder öffnete, schien draußen die Sonne. Daniel war nicht mehr da.
Mir ist aufgefallen, dass ich nicht wusste, ob er überhaupt schlief, oder ob Engel so etwas Menschliches nicht taten?
Es war ja auch nicht so wichtig.
Ich hob meinen Kopf an und ließ ihn schnell wieder aufs Kissen fallen. Ich hatte die Rosen ganz vergessen. Jetzt sahen sie noch schöner aus, als gestern Abend.
Schnell sprang ich aus dem Bett und huschte an den ganzen Vasen vorbei ins Bad. Duschen, Zähneputzen, etwas Schminke tat meinem Gesicht auch ganz gut. Meine langen, lockigen Haare, musste ich erst einmal bändigen. Ich flocht mir einen lockeren Zopf, der mir fast bis zum Steiß ging. Ich war zufrieden, als ich abschließend noch einmal in den Spiegel sah. Wieder zurück ins Zimmer, wieder vorbei an den Unmengen von Rosen.
Zum Schluss zog ich mich an, ohne mir genauere Gedanken darüber zu machen und ging die Treppe runter.
Mir viel auf, dass ich überhaupt nicht wusste, wie spät es war. Egal. Scheinbar spät genug. Meine Eltern waren bereits weg. Ich schlürfte in die Küche und goss mir ein Glas Milch ein.
„Guten Morgen, du wunderschönes Mädchen. Ich wollte dir mitteilen, dass ich in 10 Sekunden bei dir bin. Mit dem Auto“.
Ich musste lächeln, als ich diese vertraute Stimme in meinem Kopf vernahm.
Und sofort hörte ich auch den Motor seines Audis.
Wie praktisch.
Ich machte mir einige Gedanken über den bevorstehenden Tag in der Schule. Es wäre das erste Mal, dass uns die Mitschüler zusammen sehen würden. Ich hatte ehrlich gesagt, etwas Angst davor. Auf die Reaktionen. Schließlich war ich jetzt offiziell mit dem so ziemlich begehrtesten Jungen, der ganzen Schule zusammen. Daher war ich mir sicher, dass es mehr negative Kommentare geben wird. Ich war nicht das Supermodel, was man sich an Daniel Seite vorstellte. Ich war nur ein total durchschnittliches Mädchen.
Ich schnappte mir die Schultasche und öffnete die Haustür, bevor Daniel klingeln konnte. Er stand bereits davor und ich bin ihm praktisch in die Arme gelaufen. Etwas schockiert, schaute ich in sein wunderschönes Gesicht, was mich anlächelte. Bevor ich einen Ton sagen konnte, lagen seine Lippen auf meinen und ich hob für einen kurzen Moment ab. Zum Glück dauerte der nicht so lange, dass sich die Energie in der Luft aufstauen konnte.
„Ich habe dich wahnsinnig vermisst“, sagte er gut gelaunt. Seine Augen glänzten wie immer in letzter Zeit in einem herrlichen Hellblau.
„Wieso bist du überhaupt so gut gelaunt!?“- sagte ich etwas mürrisch.
„Ich bin so glücklich. Und ich freue mich schon darauf, mit dir den Tag zu verbringen. Reicht das etwa nicht in deinen Augen, um gut gelaunt zu sein?“- erwiderte er etwas irritiert.
„Keine Ahnung“, sagte ich schnell, um das Thema zu beenden. Schon wenn ich nur daran denken musste, dass ich Kate Rede und Antwort stehen müsste.
Ich schlürfte zum Auto, wie ein Hund, der eingeschläfert werden soll.
Daniel kam mir zuvor und öffnete mir die Beifahrertür.
„Danke“, murmelte ich, ohne ihn anzuschauen. Die ganze Fahrt habe ich nichts gesagt. Ich bereitete mich seelisch auf unseren „Auftritt“ vor. Ab und zu schaute ich ihn durch die Wimpern an und schaute geknickt wieder weg. Egal aus welchen Blickwinkel ich Daniel betrachtete, er wurde nicht unattraktiver. Im Gegenteil. Ich fand jedes Mal etwas Neues an ihm, was mich faszinierte. Das war wirklich frustrierend. Ich war so in meinen trüben Gedanken gefangen, dass ich es nicht mitbekam, dass wir den Parkplatz der Schule erreichten. Na dann, auf geht’s. Ich beugte mich, ohne Daniel noch einmal anzuschauen zur Autotür.
„Ach, Lila.“
Ich drehte mich abrupt um.
„Ja?“
Er schaute mich verständnisvoll an. Und strich mir über die Wange.
„Bitte, mach dir nicht so viele Gedanken okay. Und ich liebe dich. Das sollst du immer wissen.“
Es beruhigte mich ein bisschen, zu wissen, dass er völlig hinter mir stand und es auf keinen Fall zulassen würde, dass mich jemand kränkte. Leider konnte er mich nicht vor mir selbst schützen.
„Okay“, antwortete ich kurz und zog am Türgriff. Die Sonne blendete mich für einen kurzen Moment und als ich wieder klar sehen konnte, stand Daniel, wie völlig selbstverständlich neben mir und legte meine Hand in seine.
Zum Glück war noch nicht ganz so viel los, aber die, die da waren starrte uns an. Ich hob meinen Kopf erst wieder, als wir die Treppe zum Eingang erreichten. Mist. Das hätte ich mir denken können. Kate stand an ihrem üblichen Platz, oder sollte man eher Posten sagen.
Sie sah wie immer bezaubernd aus. Alles passte mal wieder zusammen und unterstrich ihr kokettes Wesen. Sie hielt Ausschau. Nach mir. Erst auf den zweiten Blick erkannte sie uns und starrte, unfähig etwas zu sagen in unsere Richtung.
„Hey Kate“, gaben Daniel und ich fast gleichzeitig von uns.
Selbst jetzt fehlten ihr noch die Worte. Es war ja auch irgendwie lustig, Kate mal ausnahmsweise sprachlos zu sehen.
Sie schüttelte ungläubig den Kopf, als verstehe sie etwas ganz wichtiges nicht.
„Reicht es etwa aus, dass man sich an einer Beere verschluckt, um sich den tollsten Jungen der ganzen Schule zu angeln…!?“
Ich kicherte, als ich wieder wusste, was sie meinte. Den Abend in der Coktailbar, als ich ohnmächtig wurde und Daniel mich später nach Hause fuhr.
„Ich hoffe, ihr habt trotzdem einen schönen Abend gehabt“, sagte ich amüsiert. Aber ich sah schon, dass ihre Gedanken viel weiter waren. Es ratterte förmlich in ihrem Kopf.
„Das ist unwichtig. Was wesentlich interessanter ist, dass ihr zusammen seid. Und ich davon bis jetzt nichts wusste“.
Ihre Augen waren nur noch kleine Schlitze, durch die sie mich halb anfauchte. Sie nahm es mir übel. Und wie. Ich schaute sie flehend an. Sie erwiderte prüfend und abschätzend meinen Blick. Bevor sie ihr Urteil sprach, setzte sie ihre Arme demonstrativ in die Hüften.
„Also gut“, fing sie spielerisch ihre Rede an, „ich werde dir verzeihen, aber nur unter einer Bedingung. Du musst mir alles nachher detailliert erzählen. Und damit meine ich wirklich alles Lila“, fügte sie befehlend hinzu.
Ich musste mich geschlagen geben. Natürlich konnte ich ihr nicht alles erzählen. Das wäre sogar für Kate zu viel. Außerdem war ich mir nicht einmal sicher, ob sie mir meine Geschichte, was Daniels Dasein als Engel betraf, überhaupt abkaufen würde. Hätte ich keine unwiderlegbaren Beweise, wie das mit den Rosen, oder der Tatsache, dass er einfach so in mein Zimmer geflogen kam, könnte ich es wahrscheinlich selbst nicht glauben können. Aber ich nahm mir vor, ihr wenigstens ein paar Details unseres Wochenendes zu präsentieren, von denen ich wusste, dass sie sie hören wollte. Ich dachte unter Anderem an unseren wundervollen, ersten Kuss.
„Okay, Kate. Das bin ich dir wohl schuldig, nachdem ich das ganze Wochenende nicht ans Telefon gegangen war“.
Sie lächelte siegessicher. Und ich war froh, sie wieder los zu werden. Daniel stand einfach nur neben mir und sagte zu allen nichts. Das sollten wir scheinbar schön untereinander klären.
„Wir sehen uns später“, sagte ich und setzte mich in Bewegung. Daniel hielt immer noch meine Hand, was ich jetzt erst wieder registrierte.
„Ich ruf dich an“. – rief sie uns hinterher.
Als wir den Klassenraum betraten, war es, als ob es das erste Mal war. Es hatte sich darin nichts verändert. Wir hatten uns verändert. Und das ganze Leben scheinbar mit uns. Wir gingen zu unserem Platz und es fühlte sich wirklich gut an. Wir konnten den ganzen Tag zusammen verbringen. Es gab nichts schöneres, was ich mir vorstellen konnte. Daniel strahlte auch übers ganze Gesicht.
Nach der Schule musste ich mein Versprechen, was ich Kate gab halten. Kaum war ich zu Hause, klingelte bereits das Telefon und ich musste ihr dann ganze zwei Stunden jede erdenkliche Frage beantworten. Natürlich bekam sie nur das aus mir heraus, was ich ihr auch wirklich preisgeben wollte.
Dennoch war ich froh, als das Telefonat vorbei war.
Ich machte schnell meine Hausaufgaben und schmiss mich erschöpft aufs Bett. Ich schloss die Augen und lächelte zufrieden. Da fiel mir ein, dass ich noch über etwas nachdenken wollte. Daniel hatte mich vorhin in der Schule gefragt, ob ich nicht Lust hätte seine „Familie“ kennenzulernen. Es war mal wieder eine fast beschlossene Sache, hatte ich das Gefühl. Daran, dass Daniel so selbstverständlich etwas für mich entschied, musste ich mich erst einmal gewöhnen. Bislang hatte er es, zwar ohne mein Wissen über seine Existenz, ganz gut gemacht, aber ich fühlte mich nicht gerade toll in solchen Situationen.
Ich musste trotzdem darüber nachdenken. Es war jetzt eine andere Situation, mit der ich nicht so ganz umzugehen wusste. Alle vier sind Engel. Wie geht man mir Engeln um? Muss ich etwas beachten? Wieder wünschte ich mir eine Art Gebrauchsanweisung zu haben. Vor Verzweiflung rieb ich mir das Gesicht mit beiden Händen. Es war zum verzweifeln. War ich wirklich bereit dafür? Leider wusste ich keine Antwort darauf. Also fasste ich einen Entschluss. Ich musste es herausfinden, in dem ich zusagte. Daniel sagte, etwas von Abendessen am Wochenende. Also gut Lila, sagte ich zu mir selbst, auf in den Kampf.
Gleich morgen wollte ich Daniel zusagen. Aber dann fiel mir ein, dass ich es auch gleich jetzt tun könnte. Wenn er nicht sowieso bereits die ganze Zeit zuhörte. Ihn haben das Gespräch mit Kate und meine Überlegungen, was die Einladung anging, mit Sicherheit brennend interessiert. Ich musste grinsen. Es war mittlerweile sogar so, dass ich seine Energie spüren konnte, ohne dass er anwesend war. So, als ob er meinen Körper darin getränkt hat und mich somit für immer an sich band. Es war ein sehr angenehmes Gefühl, zu wissen, dass es ihn irgendwo da draußen gab.
Und in diesem Moment wusste ich, dass er gelauscht hat. Die Energie in mir verriet es.
„Heißt das, dass du zusagst, uns am Wochenende zu besuchen!?“- hallte es in meinem Kopf. Es war seine fröhliche Stimme, die ich so liebte.
„Auch dir einen schönen guten Abend Daniel“, fügte ich hinzu.
„Ach, Lila, ich freu mich doch nur so wahnsinnig! Ich kann es bereits jetzt kaum abwarten“, antwortete seine Stimme erregt.
„Dennoch gibt dir das nicht das Recht, meine sämtlichen Gedanke zu durchforsten. Gönn mir bitte wenigstens etwas Privatsphäre!“
Ich wollte das nicht wahrhaben, dass er jederzeit in meine Gedanken eingreifen konnte. Ich fühlte mich kotrolliert. Diese Gedanken konnte er ruhig lesen.
Eine Weile kam keine Antwort und ich wusste, dass es ihm leid tat. Es war unüberlegt. Mal wieder, dachte ich. Aber langsam wurde ich doch nervös. Es dauerte mir zu lange.
Und dann endlich hörte ich wieder seine Stimme und die Energie loderte wieder in mir, wie eine kleine Flamme.
„Es ist erstaunlich, wie oft ich dich bereits in so kurzer Zeit verärgern konnte. Es tut mir wirklich leid, Liebste.“
Ich lief knallrot an und war froh darüber, dass er es nicht sehen konnte. Aber ich wusste, dass er es spürte. Er hat gerade Liebste gesagt! Das hat noch nie jemand getan. Ich war peinlich berührt. Und damit hat er natürlich auch erreicht, dass ich nicht mehr auf ihn böse sein konnte.
„Also gut. Du hast gewonnen.“
„Oh, Lila, ich liebe dich! Überalles. Ich freue mich wahnsinnig darauf! Und jetzt schlaf schön meine Liebe. Ich besuche dich nachher, wenn du das Fenster offen lässt und schaue dir beim schlafen zu.“

7.
Es war soweit. Freitagabend. Daniel wollte mich um acht Uhr abholen. Ich kniete völlig nervös vor meinem Kleiderschrank. Wie immer zu solchen Anlässen, wusste ich nicht, was ich anziehen sollte. Es war wirklich nicht einfach, ich wollte Daniels „Familie“ gefallen. Aber es war mittlerweile sieben Uhr und die Zeit drängte. Ich stöhnte auf.
Jetzt wünschte ich mir, dass ich die letzten Male mitgefahren wäre, als Kate mich zum shoppen einlud. Ich schnaubte verärgert.
„Gibt’s Probleme?“, fragte Daniel mich unerwartet in meinem Kopf. Es war immer wieder schön, diese Stimme zu hören. Was sollte ich denn auf diese Frage antworten? Er war ein Mann. Von so einer Art Probleme war er zum Glück nicht betroffen, dachte ich etwas neidisch. Warum mussten Frauen dieses schwere Los ziehen?
Ich schaute erneut verzweifelnd in den Schrank, aber es hatte sich nichts verändert.
„Alles nur Schrott“, flüsterte ich verärgert vor mich und schmiss eins der Kleidungsstücke, die ich in der Hand hielt unachtsam zurück in den Schrank. Plötzlich mischte sich seine Stimme wieder in meine mittlerweile echt miesen Gedanken ein.
„Ach, Lila. Bitte hör auf so einen riesigen Schwall an negativer Energie zu produzieren. Das hält ja keiner aus. Zur Belohnung hätte ich da auch etwas sehr passendes für dich“.
„Aha. Aber bitte Daniel, schick mir keine Rosen okay. Ich habe das letzte Mal fast zwei Tage gebraucht, um sie wieder zu entfernen. So viel Zeit habe ich jetzt nicht mehr“, antwortete ich ihm gemeinerweise in meinen Gedanken und bereute es auch gleich sofort.
„Tut mir leid“, fügte ich schnell hinzu.
„Geh jetzt bitte einfach nur zu deinem Bett und schau nach, was sich da drauf befindet“, er wurde langsam echt ungeduldig. Ist ja gut, ich geh ja schon.
Langsam schlürfte ich, wie befohlen, zu meinem Bett rüber.
In der Mitte lag eine ziemlich große Schachtel, mit einer riesigen Schleife positioniert. Obwohl ich ja bereits wusste von wem und vor allem wie sie aufs Bett gekommen war, war ich überrascht und fassungslos. Das alles war so befremdlich und vor allem unmenschlich. Daniel machte es mir nicht leicht. Ich stand einige Minuten einfach nur da und bewunderte dieses schöne Geschenk, ohne zu wissen, was sich überhaupt darin befand.
„Nun mach schon auf, ich bin gespannt ob es dir gefällt“.
Ich machte die Schachtel langsam auf und es kam mir ein Traum aus hellblauem Satin entgegen. Darin befand sich ein knielanges Abendkleid und es war unbeschreiblich schön!
Der Ausschnitt war mit Stickereien verziert und die Träger bestanden aus zweireihigem Strass. Es funkelte und schimmerte in allen erdenklichen Farben. Ich musste kurz den Atem anhalten. Es war genau mein Geschmack. Jetzt bekam ich ein schlechtes Gewissen. Das Kleid sah wirklich kostspielig aus und ich war es nicht gewohnt, dass jemand so viel Geld für mich ausgab. Ich war mir auch nicht sicher, ob ich es mit meinem Gewissen vereinbaren konnte. Darüber musste ich unbedingt mit ihm sprechen. Aber jetzt zog ich dieses bezaubernde Kleid über und fühlte mich wie eine Prinzessin. Als ich es im Spiegel betrachtete, fiel mir ein, dass ich überhaupt keine passenden Schuhe besaß. Na wunderbar, ich hatte das tollste Kleid an, was ich jemals besaß und hatte dazu keine passende Schuhe.
„Liebes, was wäre ich denn für ein Engel, wenn ich nur an die Hälfte denken würde. Die passenden Schuhe findest du in deinem Schuhschrank.“
Ich lächelte, als ich den Schrank aufmachte und dort tatsächlich ein Paar nagelneue Pumps standen.
Sie waren schwarz, mit hellblauen Steinen besetzt. Ich hätte sie mir niemals leisten können, dessen war ich mir sicher. Ich hatte ja nur mein Taschengeld.
Noch ein bisschen Wimperntusche und zwei Strass-Spangen in mein Haar und schon war ich bereit. Zumindest äußerlich, was in mir vorging, war etwas anderes.
Es war kurz vor acht, also ging ich schon mal runter. Meine Eltern hatten es sich vor dem Fernsehen im Wohnzimmer gemütlich gemacht. Ihnen stockte der Atem, als sie mich sahen.
„Lila, Liebes, du siehst wirklich bezaubernd aus“, sagte Dad voller Bewunderung.
„Danke, Dad. Ich bin heute Abend zum Essen, bei den Callahan´s eingeladen. Es kann sein, dass es später wird.“
„Ja, kein Problem, wir haben nichts dagegen“, sagte Mom schnell.
Ich wusste genau, worauf sie hinauswollte. Es hätte ihr auch nichts ausgemacht, wenn ich über Nacht geblieben wäre. Sie war nämlich der Meinung, dass ich langsam mein „erstes Mal“ in Angriff nehmen sollte.
Ich hörte den Audi vor der Tür schnurren. Vorfreude kam in mir hoch.
„Schön. Dann macht euch einen schönen Abend.“
„Ja, Lila. Und grüß´ uns die Callahan´s.“
Ich war schon halb draußen. Daniel stieg aus und blieb auf halbem Weg bewundernd stehen.
„Wow… weißt du eigentlich, dass du das hübscheste Mädchen bist, was ich kenne. Und glaube mir, ich kenne einige.“
„Mach mich nicht eifersüchtig.“
„Ich weiß, ich würde es nicht überleben“, sprach er für mich den Satz zu Ende und kicherte. Als ob ich ihm etwas antun könnte.
Er nahm meine Hand und drehte mich einmal um meine eigene Achse. Dann legte er seine Hände auf meine Hüften und küsste mich. Ich schmolz dahin.
„Es wird ein wundervoller Abend. Alle freuen sich schon auf dich. Ich habe ihnen verraten, was du gerne isst. Es war ein Notfall…“
Ich musste lachen. Also das meinte er damit, als er sagte, dass er darüber entscheidet, wann es notwendig war meine Gedanke zu lesen.
Wir fuhren nach nur wenigen Minuten eine breite Auffahrt hoch und hielten vor einem gigantisch wirkenden Haus.
Es war aus weißem Stein und nahezu alles hatte diese Farbe. Einfach nur atemberaubend. Neben der riesigen Haustür standen große Vasen, mit weißen Rosen. Sie waren denen aus meinem Zimmer sehr ähnlich. Ihr süßlicher Duft lag wohltuend in der warmen Abendluft. Ich war einfach nur überwältigt von dieser Schönheit und diesem Sinn fürs Detail. Es war bestimmt Mary´s Werk gewesen.
Daniel öffnete die Haustür und wir standen auf einmal in einer großen Eingangshalle, die sehr hohe Decken hatte.
Wow.
Auch hier fanden sich sehr viele weiße Dinge wieder. Was mir sofort ins Auge stach, war der auf Hochglanz polierte Boden aus weißem Stein. Ich traute mich nicht, über ihn zu gehen. Er sah so zerbrechlich aus. Er erzeugte ein klirrendes Geräusch, als ich zaghaft ein paar Schritte mit meinen Pumps machte. Wie Porzellan.

Ich schaute mich immer wieder mit offenem Mund um. Ich habe so etwas Schönes noch nie gesehen. Daniel hielt mich die ganze Zeit an der Hand, was mir eine gewisse Sicherheit gab. Er führte mich durch die Eingangshalle und steuerte einen Raum an. Ich hörte Stimmen, die da raus kamen. Und sah im nächsten Moment, als wir auf der Schwelle hielten, Mary, das bezauberndste Wesen, was ich jemals gesehen hatte. Es war merkwürdig, aber ich konnte nicht einschätzen, wie alt sie war, naja zumindest für wie alt sie sich in ihrem menschlichen Körper ausgab. Ihr Wesen passte vom Alter nicht zu ihrem Aussehen. Oh mein Gott, dachte ich. Sogar Daniel sah neben ihr aus, wie ein gewöhnlicher junger Mann.
Mary hatte dieselben Augen, wie Daniel, das ist mir sofort aufgefallen. Engelsaugen. Ja, es waren alles andere, als menschliche Augen. Ihr Haar war blond und lag gelockt über ihre Schultern. Sie schimmerten und strahlten in dem warmen Licht. Wunderschön.
Neben ihr stand Gabriel und hielt ihr lächelnd die Teller hin, womit sie den bezaubernden Glastisch deckte. Die beiden hätten auch Geschwister sein können, denn auch Gabriel besaß diese blauen Augen und auch sein Haar war blond. Aber eins unterschied ihn von ihr. Zwar war sein Körper nicht älter als 40, aber sein Wesen verriet mir, dass er wesentlich älter war, als Mary oder Daniel.
Über Sem konnte ich noch nicht so viel sagen.
Gabriel strahlte außerdem eine ganz andere Energie aus, als ich es von Daniel kannte. Seine war wesentlich stärker und für einen Moment zauberte sie mir eine Gänsehaut.
Mary und Gabriel kamen uns entgegen, als wir endgültig das Zimmer betraten. Auch hier befanden sich wieder riesige Vasen, mit weißen Rosen.
Die beiden strahlte, genauso wie Daniel, eine übermenschliche Vollkommenheit aus. Als Mensch fühlte man sich daneben, wie ein unfertiges Exemplar, mit ungeschliffenen Ecken und Kanten. Hinter mir, in der Eingangshalle hörte ich Schritte, die sich auf uns zu bewegten. Sem kam gerade eine stilvoll geschwungene Treppe runter. Oben befanden sich wohl die restlichen Räumlichkeiten.
Ich beobachtete ihn für einen Augenblick. Er wirkte sehr jung. Und seine Haare waren auch nicht so blond, wie die von Gabriel oder Daniel. Lag das vielleicht am Alter, was sie als Engel hatten? Aber auch er hatte blaue Augen. Schüchtern trat er in das Zimmer, wo wir uns jetzt alle versammelt hatten. Ich und die Engel, dachte ich. Mir lief ein kleiner Schauder über den Rücken, als mir das bewusst wurde. Ich konnte die Situation nicht einschätzen. Ich wusste nur, dass wenn alle vier ihre Engelsenergie zusammentun würden, könnten sie mich, das zerbrechliche menschliche Wesen zerschmettern. Schnell schob ich den ekligen Gedanken beiseite. Ich musste ihnen vertrauen, sie waren schließlich Engel. Dennoch hallten unfreiwillig Daniels Worte in meinem Kopf, „Engel sind nicht von Grund auf Gut. Sie kämpfen ununterbrochen damit, das Gleichgewicht zu halten. Gut kann schnell zu böse werden“. Ich schüttelte leicht den Kopf, als ob ich so erreichen konnte, an etwas anderes zu denken.
„Lila, Liebes, es ist so schön dich kennenzulernen. Daniel hat uns schon so viel von dir erzählt und er hat wahrlich nicht übertrieben“, sagte Mary freundlich und riss mich aus meinen furchteinflößenden Gedanken. Ihre Lippen formten sich zu einem zauberhaften Lächeln, so als ob sie mir zuflüsterten, „vertraue uns Lila“. Ich lächelte zurück.
„Ich freue mich auch, viel Dank für die Einladung“; erwiderte ich etwas schüchtern.
„Ich habe uns etwas Italienisches gezaubert. Du magst doch Pasta, nicht wahr?“
„Ja, sehr gerne sogar“, flüsterte ich halb. Natürlich wusste sie es von Daniel bereits und genau das, war mir etwas unangenehm. Das ließ ich ihn auch spüren, in dem ich seine Hand fest drückte und ihn etwas vorwurfsvoll anschaute, als ich mich unbeobachtet fühlte.
Er lächelte mich amüsiert an.
Mary lud uns an den zauberhaft gedeckten Tisch und huschte in die Küche, die an das „Esszimmer“ angrenzte. Es war erstaunlich ruhig. So ruhig, dass es mir aufgefallen war. Ich beobachtete die drei Männer und mir viel auf, dass sie sich, wie scheinbar wortlos unterhielten. Es hört sich vielleicht total abgefahren an, aber ich hatte den Eindruck, dass sie sich mittels ihrer Gedanken, die durch die Körpersprache sichtbar wurden, verständigten. Zum Beispiel goss Gabriel, Daniel ein Glas Wasser ein, ohne ihn gefragt zu haben, ob er eins möchte. Dann griff er nach dem Orangensaft und goss Sem etwas davon ein. Auch wieder so, als ob er ganz genau wusste, dass er es wollte. Und als ich an der Reihe war, fragte Gabriel völlig unverhofft, was ich trinken möchte. Mich musste er fragen. Es war mir irgendwie peinlich. Ich fühlte mich so unterentwickelt.
Der Abend war aber sonst wirklich sehr schön gewesen.
Alle haben sich große Mühe gegeben, alles nach meinen Wünschen auszurichten. Aber es blieb ziemlich ruhig. Alle vier haben kaum untereinander gesprochen. Sie haben nur mir Fragen gestellt, um darauf die Antwort zu erfahren. Daher war ich froh, als Daniel sich an meiner Seite rührte und dem Anschein nach, aufstehen wollte. Endlich konnte ich aus dieser für mich nicht ganz so angenehmen Situation fliehen. Hoffentlich bemerkte es keiner. Außer Daniel, der natürlich in der Lage war, meine Gedanken zu lesen.
„Ich zeig dir jetzt mein Reich“, flüsterte Daniel mir ins Ohr. Ich sah ihn dankbar an.
Wir verabschiedeten uns, oder eher gesagt ich und gingen die geschwungene Treppe hoch. In nur ein paar Schritten nach rechts, befanden wir uns auf einmal in einem riesigen Zimmer.
Es war zwar nicht typisch amerikanisch, aber dennoch sehr stilvoll eingerichtet. Auch hier dominierte die Farbe Weiß. Mein Blick fiel auf das gigantische Bett, was einen großen Teil des Zimmers einnahm. So etwas kannte ich nur aus irgendwelchen Prinzessinnen Märchen. Es stand auf vier Säulen, die miteinander verbunden waren. Jede wurde von einem weißen Schal umschlungen. Auf dem ganzen Bett lagen kleine Deko- Kissen verstreut, die hübsch bestickt waren. Es war ein traumhafter Anblick. Auf einem kleinen Tischchen, aus einem anderen Jahrhundert, was neben dem Bett stand, brannten mehrere große, weiße Kerzen. Auf der anderen Seite stand ein riesiger, massiver Kerzenhalter. Er hatte eine Menschengröße.
Alles war in den letzten Tagen traumhaft gewesen. Ich wusste gar nicht, wo ich anfangen sollte. Mein Leben hatte eine überraschende Wendung genommen und ich konnte mich an das Alte fast nicht mehr erinnern. Wie konnte es ein Leben ohne Daniel gegeben haben? Es war fast unmöglich, sich das vorzustellen.
Nun stand ich in diesem Zimmer und konnte das alles nicht fassen.
„Daniel… es ist so wunderschön“; hauchte ich halb, unfähig mehr zu sagen.
Er sagte nichts, sondern umschlang mich von hinten und küsste mich sanft auf meine pochende Schlagader.
„Gefällt es dir? Mary sagt, dass Frauen sowas mögen. Ich habe es für dich neu dekorieren lassen.“
„Du bist wahnsinnig. Womit habe ich dich nur verdient…“
Ich war einfach nur gerührt.
„Du musste dir nichts verdienen. Genieße es einfach, okay?“
„Okay“, sagte ich hilflos.
Er nahm mich hoch, legte mich auf das Bett und küsste mich. Ich wartete darauf, dass die Luft wieder anfängt zu knistern und alles sich zu drehen beginnt. Zur meiner Überraschung, spürte ich fast nichts davon. Es war kein Vergleich zum ersten Mal. Konnte Daniel es besser kontrollieren, oder lag es an mir? Denn eins konnte ich nicht abstreiten, dass ich seine Energie, diese Engelsenergie immer deutlicher in mir spürte. Er füllte mich buchstäblich damit, jedes Mal wenn er mich berührte. Vielleicht war sie jetzt einfach nur ausgewogener. Seine Hand strich mir über die Wange und wanderte auf mein Decolteé, und strich mir danach sanft über meine Brust. Er schaute mich prüfend an. Auch Daniel sah so aus, als ob er darauf wartete, dass es wieder passiert. Er sah etwas verdutzt aus, als nichts geschah, obwohl er sogar weiter gegangen war, als jemals zuvor.
Mir wurde ganz heiß und mein Atem ging auf einmal schneller. Aber das war eine menschliche Reaktion, die er in mir weckte. Seine Zunge liebkoste meine Lippen, sie war so sanft und weich. Sie wanderte über meinen Hals und machte beim Ohrläppchen wieder halt. Jetzt spürte ich das Adrenalin, was sich in der Luft sammelte, aber es war noch erträglich.
Mein Herz sprang mir halb aus der Brust, als er mich auf meinen Busen küsste. Er schaute mich kurz an und lächelte. Er schien erleichtert darüber zu sein, soweit gehen zu können. Und es machte ihm scheinbar Freude mich so erregt zu sehen, aber ich wollte mich auch nicht wehren.
Er küsste mich wieder und schob den Träger über meine Schulter, sodass er einfach runterfiel und meine Brust freilegte. Jetzt ging auch sein Atem schneller und ich merkte, dass er erregt war. Soweit war ich noch nie gegangen und ich wurde etwas unsicher. Es hat noch nie zuvor ein Junge meine Brust gesehen. Geschweige denn ein Engel.
„Sie ist wunderschön“, flüsterte Daniel mir ins Ohr.
Seine Zunge strich über die Brustwarze und es breitete sich ein tolles, wohliges Gefühl in mir aus. Er hätte ewig so weiter machen können, aber er schob mein Kleid wieder über den Busen.
Ich hob meinen Kopf. Was ist passiert? Ich schaute ihn fragend an.
„Lila, weißt du, es ist nicht so einfach für mich. Du bist schließlich das erste Mädchen in meinem ewigen Leben, verstehst du…“
Nein, ich wollte es nicht wahr haben, denn mein Kopf war noch mit etwas Anderem beschäftigt.
„Hmmmh, ja…“, murmelte ich gedankenverloren.
„Du hörst mir gar nicht zu.“ Er klang etwas enttäuscht.
„Lila, bitte, es ist mir wichtig“, sagte er leise.
„Entschuldige.“
Ich fühlte mich ertappt und es war mir jetzt unangenehm.
„Mir ist es natürlich auch wichtig“, fügte ich schnell hinzu.
Er rutschte wieder näher zu mir und gab mir einen Kuss.
„ Weißt du, ich besitze zwar einen menschlichen Körper, was wohl die wichtigste Voraussetzung ist, aber ich war noch nie mit Jemandem intim.“
Er schaute verlegen zur Seite.
„Ich weiß noch nicht einmal ob ich es dürfte und auch könnte“. sagte er ein bisschen nervös.
„Ich auch nicht Daniel. Für mich wäre es auch das erste Mal. Und ich bin froh, dass es mit dir sein wird“, erwiderte ich.
Zumindest bin ich noch nie so weit gegangen, wie eben.
„Aber mir ist es auch nicht so wichtig. Die Hauptsache ist, dass wir zusammen sind. Der richtige Zeitpunkt kommt ganz von allein“, sagte ich fast tröstend.
„Dir macht es nichts aus?“ – er schaute etwas verwundert.
Eine Erleichterung machte sich auf seinem Gesicht breit und seine Lippen formten ein zauberhaftes Lächeln.
„Nein, Daniel.“
Ich schmiegte mich an ihn. Er umklammerte mich schützend mit beiden Armen, es war schön, ihm so nahe zu sein und ihn zu riechen.
„Erzähl mir lieber mehr von dir. Ich kenne mich mit Engeln leider überhaupt nicht aus“, flüsterte ich ihm zu.
So ganz stimmte das natürlich nicht. Einiges hatte er mir bereits an unserem Wochenende im Ferienhaus erzählt und einiges konnte ich bereits selbst beobachten und herausfinden. Meine Theorien.
„Was möchtest du wissen?“
„Alles. Von Anfang an“, sagte ich dennoch.
Er lachte laut auf.
„Meinst du nicht, dass das etwas zu lange dauern würde? Schließlich gibt es uns schon seit einer Ewigkeit.“
Ich lief rot an. Daran habe ich natürlich nicht gedacht. Aber er hatte ja Recht, er war so alt, wie die Ewigkeit, wenn es dafür ein Alter gab.
„Tut mir leid, daran muss ich mich erst gewöhnen.“
„Ich fang einfach mal an. Also, erstens, wir essen, schlafen, weinen und müssen auch mal auf die Toilette.“
Jetzt lachte ich laut los.
„Wie kommst du denn darauf?“
„Du glaubst nicht, wie viele Menschen genau das von uns denken. Aber wir haben auch einen Körper, so wie ihr, zumindest für eine Weile“.
Er tat etwas beleidigt.
„Ich tue es nicht.“
Ich schaute aus dem Fenster. Wir hatten fast Vollmond und ich stellte mir Daniel als einen Engel vor.
So wie man es sich halt vorstellte, mit Engelslocken, einem Heiligenschein über dem Kopf und riesigen weißen Flügeln. Auch diese witzige Vorstellung trübte seine Schönheit nicht im Geringsten, ganz im Gegenteil. Er sah wunderschön aus. Und dann schlich sich die Vorstellung dazwischen, wie Daniel aussehen könnte, wenn er jemals das Gleichgewicht verlieren könnte und somit zu den Bösen wird.
Er sah furchtbar aus. Es jagte mir Angst ein. Er stand breitbeinig auf einem Berg und starrte mich von da oben an. Seine Augen waren jetzt nicht mehr blau. Sie waren halb zugekniffen und leuchteten. Rot.
Ich schüttelte mich innerlich ganz kurz. So etwas Schreckliches habe ich noch nie gesehen.
Sein Haar war jetzt fast schwarz, genauso wie seine Flügel, die auf einmal riesig zu sein schienen. Er strahlte so viel Zorn aus, dass es mir kalt den Rücken runter lief. Zum Glück holte Daniels Stimme mich aus dieser fast lähmenden Vorstellung wieder heraus. Es war seine zauberhafte Stimme, die ich so liebte. Die des lieben Engels.
„Wir sind freie Wesen und können über alles selbst entscheiden, solange wir natürlich nicht gegen Vorschriften verstoßen.“
Es hörte sich in meinen Ohren wie ein Widerspruch an. Und eine Frage lag mir nach den schrecklichen Gedanken von eben, förmlich auf der Zunge.
Ich konnte einfach nicht anders. Ich musste es wissen. Ohne ihn anzuschauen stellte ich ihn meine Frage.
„Wirklich über alles? Auch darüber, auf welcher Seite ihr steht?“
Wieder kam die Erinnerung an einen Daniel mit leuchtend roten Augen und schwarzen Haaren hoch.
Er schien nicht sonderlich überrascht über meine Frage zu sein.
„Ja, auch darüber. Es würde uns keiner daran hindern Lila. Das ist genau das, wovor ich so eine große Angst habe“.
Er klang auf einmal traurig. So, als ob er bereits wüsste, dass dies unumgänglich war. Das er früher oder später zum Bösen übergehen würde. Und das ich der Grund dafür wäre. Das wurde mir jetzt auf einmal klar. Komisch, ich hatte mir noch nie zuvor Gedanken darüber gemacht. Aber es gab einfach keinen anderen Grund. Das einzige, was ihn dazu bringen könnte, war unsere Liebe.
Ich atmete automatisch schneller. Ich wollte das nicht wahrhaben, also stürzte ich mich in eine weitere Frage, auf die ich noch keine Antwort fand.
„Und wie sieht es mit deiner Unsterblichkeit aus? Ich meine, ich bin es nun mal nicht Daniel“, ich musste kurz eine Pause machen, bevor ich weiter sprach, „Müssen wir uns irgendwann einmal trennen?“ – flüsterte ich schon fast.
Es laut auszusprechen war unmöglich. Was, wenn es dann zur Wirklichkeit werden würde!
Er drückte mich näher an sich. Sanft strich er mir über den Arm und küsste mich auf die Stirn. Eine Weile sagte er nichts. Für mich war das die reinste Qual, denn sein Schweigen verriet mir seine Antwort. Er wollte sie nur noch etwas ausschmücken.
„Keine Angst, ich werde immer bei dir sein und nur das zählt“, sagte er nach einer Weile mit fester Stimme. Damit bestätigte er das, was ich mir schon gedacht hatte.
Er war unsterblich. Sein Leben war die Ewigkeit. Ob Böse oder Gut. Das spielte dabei keine Rolle.
„Ich liebe dich, Delilah Smith…für immer und ewig“. Das klang wie eine Bestätigung, die ich nicht brauchte.
„Ich dich noch viel mehr…“, sagte ich wehmütig und war schon fast im Halbschlaf.
„Wenn du wüsstest“, er flüsterte es nur, aber ich habe es dennoch gehört und musste schmunzeln.
„Bringst du mich nach Hause? Meine Eltern machen sich bestimmt Sorgen, wenn ich zu spät komme“.
Ich hatte keine Ahnung, ob das wirklich stimmte. Dennoch wollte ich das liebe Kind sein. Ich streckte mich und gähnte genüsslich in seinen Armen.
„Ja. Du hast Recht. Schließ die Augen Lila.“
Erst wollte ich protestieren, weil ich mich schon wieder zu etwas gedrängt fühlte, aber ich gab einfach nach.
Ich tat es und etwas völlig Unmögliches passierte in diesem Augenblick, ich spürte, dass wir vom Bett abhoben. Wir flogen.
Oh mein Gott, wir flogen! Ein paar Augenblicke später waren wir in meinem Zimmer und Daniel legte mich aufs Bett.
Ich ließ meine Augen geschlossen. Aus Angst. Ich kniff sie noch fester zu.
„Daniel… bist du noch da?“- fragte ich ohne etwas zu sehen.
Ich hätte mir diese Frage auch ersparen können, denn ich fühlte seine Energie um mich herum, aber was ist, wenn ich mich täuschte.
„Ja. Warum fragst du mich das, mach doch einfach deine Augen auf, du Dummchen“, antwortete er amüsiert.
Ich machte sie auf und schaute ihn vorwurfsvoll an.
„Das hier ist ganz und gar nicht witzig, okay! Hör auf zu lachen, bitte!- befahl ich ihm.
„Schlaf schön, mein Herz. Ich bin immer bei dir“, sagte er immer noch etwas belustigt.
Er gab mir noch einen atemberaubenden Kuss und ich machte wieder die Augen zu. Ich wollte einfach nur noch schlafen.
In dieser Nacht habe ich von Daniel geträumt. Daniel als Monster. Als böser Engel, mit glühenden roten Augen. Er schrie mich von seiner Erhöhung, auf der er stand an.
„Lauf, Lila lauf weg!“
Ich begriff nicht, was er damit meinte, bis er seine Hände hob und einen riesigen Feuerball formte. Er war so riesig, wie ein Kleintransporter. Daniel schaute mich noch einmal mit einem zornerfüllten Gesicht an und sagte: „Ich habe dich gewarnt“.
Danach schmiss er den Feuerball in meine Richtung und er rollte schnell und ohrenbetäubend auf mich zu. Jetzt musste ich rennen. Um mein Leben. Augenblicklich verstand ich seine Worte. Sie halfen mir nur nichts mehr, denn es gab kein Entkommen, egal wie schnell ich rannte.
Bevor mich die Kugel erwischte, fuhr ich schreiend aus dem Schlaf und saß senkrecht im Bett.
Mein Herz raste. Mir war vor Angst nach heulen. Es war nur ein Traum, redete ich mir ein. Schnell schmiss ich die Decke zur Seite, weil ich schweißgebadet war. Mit der Hand tastete ich am Bettrand nach meiner Armbanduhr, die ich dort immer lagerte. Es durfte nicht später sein, als Mitternacht. Ich wollte mich vergewissern. In den Augenblick fiel mein Blick auf das Leuchten in der Ecke, wo sich mein Schreibtisch befand. Es schimmerte rot. Ich erstarrte in meiner Bewegung. Ein warmer Schauder durchströmte meinen Körper und lähmte ihn noch mehr. Ich hörte das Blut und mein Herz in meinen Ohren. Ich musste unwillkürlich weiter in die Ecke starren. Woher kam dieses Leuchten denn nur? Es kam mir so bekannt vor. Und dann viel es mir wieder ein. Jetzt wusste ich es wieder und war nicht froh darüber. Ich wollte aufschreien, aber ich bekam keinen einzigen Ton heraus.
Etwas verhinderte es einfach, ohne große Mühe. Und dann sah ich die Umrisse von einer Gestalt, die langsam aus der Dunkelheit der Ecke geschlichen kam. Das Leuchten kam aus einem paar Augen.
Rote, glühende Augen. Die, die ich gerade erst bei Daniel, dem bösen Engel, in meinem Traum gesehen hatte.
Die Gestalt jagte mir Angst ein, aber ich konnte mich nicht wehren, konnte mich nicht von der Stelle rühren. Ich starrte ihn nur an, wie er näher kam. Er hatte schwarze Flügel und schwarze Haare. Trotz des Bösen in seinem Blick, war er wunderschön. Wie gemalt. Ich musste innerlich fast auflachen, denn ich hätte ihn mir nicht anders vorgestellt.
Er war ein Dämon, dessen war ich mir hundertprozentig sicher. Ich wusste es einfach. Irgendwie, tief in meinem Inneren wusste ich auch, dass es nur eine Frage der Zeit gewesen war, bis sich mir die andere Seite zeigte.
Die böse Seite.
Der Dämon.
Komischerweise war ich jetzt mehr neugierig, als das ich Angst vor ihm hatte. Ich merkte, dass ich meine Stimme wieder zurückerlangte. Er hatte sie mir wieder gegeben. Wie es aussah, wollte er nicht, dass ich schrie oder noch schlimmer, dass ich nach Daniel rufen könnte. Immer noch von meinen Traum gefesselt, fragte ich fast automatisch: „Daniel, bis du es“?
Es war nicht besonders unrealistisch. Daniel hatte es selbst mehrfach bestätigt, dass er auch zu einem Dämon werden kann.
Aber statt einer Antwort auf meine Frage, hörte ich ein eiskaltes Lachen.
Klirrend vor Kälte, was es ausstrahlte und die Fensterscheiben beschlagen ließ.
Eine kleine Wolke bildete sich beim ausatmen vor meinem Mund. Es war eiskalt geworden und ich klapperte mit den Zähnen, immer noch unfähig mich zu bewegen. Sein Lachen verstummte und er kam näher. Er schätzte jeden seiner Schritte ab.
Wie ein Jäger auf der Jagd, der abschätzte, wie weit er sich seinem Opfer noch nähern kann. Zum Glück wich die Kälte wieder. Aber es war nur ein kleiner Trost, denn jetzt befand sich sein Gesicht nur noch wenige Zentimeter von meinem entfernt. Ich konnte in seine glühenden Augen sehen.
Sein Atem verbreitete einen süßlichen Geruch, der mir die Sinne benebelte. So roch also der Tod, huschte mir durch den Kopf.
Die Flamme in seinen Augen loderte jetzt neugierig und verspielt. Er legte neugierig den Kopf zur Seite und betrachtete mich.
Wie gerne hätte ich meinen Blick gesenkt, aber er hatte die Kontrolle über meinen Körper. Ich kam mir vor wie eine Puppe. Oder viel eher seine Puppe.
„Du denkst also wirklich, dass ich Daniel bin, ja?“
Ich nickte nur, ohne zu wissen, ob ich es wirklich getan habe.
Diese Stimme war genauso süßlich, wie sein Atem. Und sie war tödlich. Sie hypnotisierte einen halb. Ich hätte gedacht, dass er eine angsteinjagende Stimme haben würde. Aber es war genau das Gegenteil. Sie liebkoste einen.
Ich ließ es zu. In dem Moment war ich ihm ausgeliefert. Noch mehr als die Minuten zuvor. Ohne es zu wollen, schloss ich meine Augen und merkte, wie er meine Wange berührte. Ganz sanft und nur mit einem einzigen Finger.
Wieder abschätzend. Wie konnte sein Lachen so kalt sein, wenn sein Finger fast glühte? Ich hielt einfach nur still. Als ob ich mich ihm ausliefern wollte.
„Nun, es liegt an dir. Du entscheidest, darüber, wer ich für dich bin Lila. Ich könnte alles für dich sein. Du musst es dir nur wünschen…“
Er sollte nie wieder aufhören zu sprechen. Dieses Gefühl, was er in mir hervorrief war unbeschreiblich. Ich spürte seinen Atem auf meinen Lippen.
Er war mir so nah, dass seine bloße Anwesenheit mein Herz fast zum stehen brachte.
„Ich heiße Iljas. Aber für dich werde ich auch zu einem Daniel“.
„Iljas“, stöhnte ich leise.
„Ich habe so lange auf diesen Augenblick gewartet Lila. Ich will dich. Du bist für immer mein,“ stöhnte Iljas.
Ich verstand den Sinn dieser Aussage zwar nicht, aber es war mir auch völlig egal, was er damit meinte.
„Ich will dich auch“, stöhnte ich, ohne zu wissen warum.
Er nahm mich hoch, breitete seine Flügel aus und flog mit mir aus dem Fenster. Ich ließ alles mit mir machen, denn in diesem Moment war ich von der Richtigkeit dieses Geschehens überzeugt. Wir flogen eine Weile, bis wir auf einem Dach eines Hochhauses landeten. Ich sah, dass überall Kerzen aufgestellt waren und brannten. Mittendrinn sah ich eine Erhöhung auf der eine Decke oder so etwas Ähnliches drauf lag. Iljas steuerte die Erhöhung an und setzte mich darauf ab. Immer noch unfähig zu denken und mich zu bewegen, saß ich beinahe teilnahmslos da.
Iljas machte sich lustvoll daran mich zu entkleiden und als er fertig war hüllte er mich in ein rotes Samt- Tuch ein.
„Willst du für immer an meiner Seite sein? Mich bei Allen Vorhaben unterstützen und mir eine treue Gefährtin sein?“- fragte er mich beinahe gerührt.
Und wieder bewegten sich meine Lippen beinahe von allein.
„Ja, ich will.“
Iljas lachte zufrieden auf.
„Dann soll es so sein,“ verkündete er laut.
Im nächsten Moment spürte ich, wie er meine Brust freilegte und etwas glühendes sich in meine Haut brannte. Ich schrie wie wild vor Schmerzen auf und versuchte mich aus diesem Tuch zu befreien. Es stank nach verbranntem Fleisch und ich hatte fürchterliche Schmerzen!
Das nächste, was ich mitbekam hörte sich nach einem Kampf an. Ich vernahm andere Stimmen.
Und wie aus dem Nichts hörte ich Iljas wieder sagen; „Willst du für immer an meiner Seite sein?“
Und dann brach seine Stimme ab und ich hörte eine andere, die sehr nah war. Der Schmerz, der bis eben noch unerträglich war verschwand und ich hatte das Gefühl wieder eigenständig denken zu können. Meine Sinne klärte sich wieder auf.
„Lila! Bitte Lila, sag doch etwas.“- forderte die Stimme mich auf.
Obwohl ich sie klar vernahm, lag ich einfach regungslos da.
Schockstarre.
Das letzte was ich hörte, bevor mich die Dunkelheit umnebelte, war das Schluchzen der Stimme neben mir.
Ich weiß nicht wie lange ich weg gewesen war. Als ich wieder zu mir kam hörte ich zwei Stimmen, die sich in einem besorgten Ton unterhielten.
Meine Augenlider waren schwer wie Blei. Und geschwollen, sodass der Versuch sie zu öffnen sofort wieder scheiterte.
Ich versuchte es noch einmal und dieses Mal schaffte ich es sie ein wenig aufzukriegen. Das, was ich von meiner näheren Umgebung sah, deutete darauf hin, dass ich mich in Daniels Zimmer befand. Genauer in seinem Bett. Um dies zu wissen brauchte ich keine Augen. Der Duft reichte vollkommen.
Sofort verstummten die Stimmen. Jemand kam mir näher.
„Nein, geh weg, Bitte, fass mich nicht noch einmal an. Bitte.“ flüsterte ich.
Verdammt, wie meine Kehle brannte. Sie war ausgetrocknet. Mein Gesicht verzerrte sich.
„Lila, Liebes, ist alles in Ordnung mit dir!? Hab keine Angst, ich bin es, Daniel.“
Endlich erkannte ich die Stimme. Es war Daniel. Oh, Daniel.
„Ich liebe dich“, flüsterte ich ihm zu und Tränen kullerten über meine Wangen, was ein unangenehmes Brennen nach sich zog.
Er griff mit beiden Händen nach meinem Gesicht und küsste mich auf die Stirn. Er war so warm und schützend. Sein vertrauter Duft, ließ mich ruhiger werden.
„Gabriel! Sie ist wieder da!“- hörte ich ihn sagen.
Wenige Augenblicke später stand Gabriel vor mir und lächelte mich an.
„Ist wirklich alles okay Lila?“- erkundigte er sich.
„Ja…“
„Wer war das“? – fragte ich noch ziemlich abwesend.
Die Frage schien unschöne Erinnerungen zu wecken, denn beide Gesichter wurden ernst und sahen gequält aus.
„Er ist ein Dämon Lila.“- antwortete Daniel schließlich auf meine Frage.
Die Antwort überraschte mich nicht. Ich konnte mich an ihn erinnern. Was mich interessierte, war, warum mich dieser Dämon zu seiner Gefährtin machen wollte. Welche Bedeutung hatte das alles.
„Er heißt Iljas“, fügte ich hinzu.
„Ja, das stimmt“- bestätigte mir Gabriel.
Beiden passte es nicht, dass ich mich daran erinnerte. Wahrscheinlich hofften sie, dass ich mich an gar nichts mehr erinnerte.
Aber das tat ich. Ich konnte mich an alles erinnern. Wenn auch nicht an alle Bilder, aber ich erinnerte mich genau was ich dabei fühlte.
Diese Angst, diese Taubheit in meinem Körper. Ich war ihm völlig ausgeliefert. Die Kontrolle über mich, die er besaß. Diese geistige Umnebelung. Und das Schlimmste, dieser Schmerz, den er mir zufügte.
Bei dem Gedanken brannte es wieder auf meiner Brust. Da wo er mich mit etwas Glühendem bearbeitete.
Meine Hand ging ganz automatisch zu dieser Stelle, als wolle sich mich schützen. Ich hatte erwartet, dort eine Wunde zu fühlen, aber es war nicht so. Meine Haut war ebenmäßig und weich, wie immer. Es irritierte mich.
Ich schaute zuerst Daniel an und dann Gabriel.
„Sie erwartet eine Erklärung von uns“, sprach Daniel für mich und schaute zu Gabriel rüber.
„Das kann ich ihr nicht verübeln. Also bekommt sie eine Daniel.“- befahl Gabriel ihm beinahe.
Dieser war zwar nicht so begeistert von der Idee, nickte aber dennoch.
„Vielleicht sollten wir damit noch warten bis es Lila etwas besser geht“, versuchte er sich aber dennoch zu drücken.
„Nein, ich möchte es jetzt hören. Bitte. Mir geht es soweit gut“, entgegnete ich mit meiner angeschlagenen Stimme so laut ich konnte.
Daniel bedeckte sein Gesicht mit den Händen. Er war nervös und unendlich traurig.
„Oh Gott, es tut mir so unendlich leid Lila. Ich habe versagt.“- stammelte er in seine Handflächen. In diesem Moment tat er mir so leid. Ich gab mir die Schuld für das Geschehene. Hätte ich diese Liebe nicht zugelassen, dann wäre
nicht passiert. Aber ich liebte ihn doch so sehr. So viel mehr als Alles, einschließlich mich selbst. Für ihn würde ich mein Leben geben. Und er scheinbar seins für mich.
Wieder kullerten ein paar Tränen meine Wangen runter und erzeugten ein erneutes Brennen. Ich drehte mich von ihm weg. Er sollte mich so nicht sehen und wohlmöglich denken, dass er Recht mit seinen Vorwürfen hatte.
„Bitte, Daniel. Es war nicht deine Schuld.“- sagte Gabriel mit fester Stimme und legte seine Hände auf Daniels Schultern.
Ich wusste genau, was er damit meinte, nur verstand ich nicht wieso.
„Warum konntest du mich nicht vor ihm schützen?“
„Er war im Stande meine telepathische Verbindung zu dir zu unterbrechen.“
Ich wischte mir heimlich die Tränen weg und drehte meinen Kopf wieder zu ihm.
„Wie ist das möglich Daniel?“- meine Hand suchte seine. Sie gab mir immer Sicherheit.
Daniel küsste sie und fing an zu schluchzen. Nein, oh bitte weine nicht. So ein Mist, das wollte ich nicht. Aber er schluchzte weiter und seine Tränen bahnten sich einen Weg über seine so perfekten Wangen. Wie traurig er jetzt aussah und gleichzeitig so wunderschön.
„Es ist nur mit dunkler Energie möglich. Mit sehr viel davon. Aber das Schlimmste ist, dass ich es nicht merkte. Mary kam besorgt zu mir und fragte mich ob es dir gut ginge. Sie sagte, dass sie etwas Besorgniserregendes sah, dass du in Gefahr wärst. Aber leider könnte sie mir nichts Genaueres sagen, denn die Bilder waren sehr verschwommen, wie in einer Nebelschwade. Für Gabriel war bei Marys Aussage klar, dass hier ein Dämon im Spiel war. Nur dunkle Energie ließe Marys Bilder trüben.“- er sagte dies alles viel zu schnell. Immer noch panikerfüllt. Ab und zu stockte er, weil die Worte seinen Mund nicht verlassen konnten, so sehr schmerzten sie ihn.
Wieder vergrub Daniel sein Gesicht in die Hände. Ich sah ihm an, dass er sich große Vorwürfe machte. Die Bilder nahmen ihn noch sehr mit.
„Bitte Daniel, mach dir keine Vorwürfe. Es war nicht deine Schuld, dass weißt du“, versuchte ich ihn etwas zu beruhigen.
„Weißt du Lila, ich frag mich nur immer wieder, was geschehen wäre, wenn wir dich nicht rechtzeitig gefunden hätten. Wir hatten keine Ahnung wo du steckst. Der einzige Versuch, den wir hatten, war der, dass wir die dunkle Energie von deinem Zimmer aus verfolgten und wirklich sehr viel Glück hatten, dass diese uns genau an den richtigen Ort führte. Wir wissen auch nicht, was für ein Interesse er an dir hatte. Es kann kein Zufall sein, dass seine Wahl genau auf dich fiel. Ich muss herausfinden, warum.“
Erneut klang er panisch, beinahe hysterisch.
Meine Hand strich wieder über die Stelle auf meiner Brust, die immer noch wie Feuer brannte. Aber es war nichts da. Warum nicht?
Daniel beantwortete vorzeitig meinen Gedanken mit dem Satz;“Dafür bringe ich ihn irgendwann einmal um.“- knurrte er. Scheinbar rechnete er fest damit, dass er das Gleichgewicht früher oder später nicht mehr halten kann.
Es schockierte mich bis in die letzte Zelle meines Körpers. Nie zuvor habe ich derartig Böses, von ihm gehört. Er sagte es mir zwar immer wieder, aber so recht glaubte ich ihn das nie. Aber jetzt sah ich, dass er wirklich anders, also böse sein konnte.
Irgendwie weckte er in mir eine Fluchtreaktion. Ich versuchte mich aufzusetzen. Mir war so schwindelig und meine Brust zog sich zusammen.
„Ich habe Durst,“ log ich.
Daniel begab sich aus seinem Zimmer und ich hörte Schritte auf der Treppe. Ich nutze meine Chance.
„Gabriel, bitte du musst auf ihn aufpassen. Bitte. Ich bin okay, aber er ist wirklich sehr mitgenommen.“- flehte ich schnell, solange wir allein waren.
„Und..Und warum habe ich keine Wunde auf meiner Brust. Ich kann mich doch genau daran erinnern, dass Iljas mir dort etwas rein brannte.“
„Es muss für den Moment reichen, wenn ich dir sage, dass ich die Zeit etwas zurückgedreht hatte und es somit beim zweiten Mal zu keiner Verletzung kam. Und ja, ich werde auf ihn aufpassen, versprochen.“
Unfähig etwas zu sagen, sah ich ihn halb sitzend fragend an. Was zu Teufel sollte das wieder bedeuten? Oh man, es war mir in dem Moment alles zu viel. Ich ließ die Anspannung in meinem Körper weg und plumpste wieder auf das Kissen. So schnell es ging drehte ich mich von ihm weg.
„Ich will nach Hause Gabriel. Einfach nur nach Hause..“
„Das geht nicht!“- rief Daniels Stimme plötzlich beinahe aus dem Nichts.
„Bitte.“- wiederholte ich.
„Lila, was sollen wir denn deinen Eltern erzählen? Möchtest du ihnen etwa die Wahrheit sagen!?“
„Es ist mir egal. Lass dir etwas einfallen.“- hart und tonlos ließ ich diese Aussage stehen. Ich wusste, dass ich ihm damit wehtat, aber in diesem Moment hatte ich keine Kraft mehr. Für nichts.
„Okay,“ sagte Daniel nach einer Weile.
„Wie du weißt, kann ich dich zu nichts zwingen,“- ergänzte er seine Aussage etwas sarkastisch, was seine Kränkung bestätigte.
Ich dagegen erwiderte nichts mehr. Meine Augenlider fielen wieder zu und ich vernahm eine tiefe Dunkelheit.
Als ich wieder die Augen öffnete, war es hell. Aber es gab keinen Sonnenschein. Es war trüb. Ich lag allein in meinem Bett. Aber bevor ich darüber nachdenken konnte, wo Daniel war, habe ich auch schon Geräusche im Bad gehört. Mit wackeligen Schritten folgte ich ihnen. Und als ich in der Tür stand, konnte ich meinen Augen nicht trauen. Daniel hatte die kleine Reisetasche, die ich nach unserem Wochenende am Strand in die Ecke schmiss, in der Hand und packte gerade diverse Pflegeutensilien hinein. Meine Sachen, aus meinen Schränken. Ich war empört. Was tat er da bloß? Mir blieb der Mund einfach offen stehen. Ohne mich anzuschauen, was definitiv die bessere Wahl war, sagte er:
„Du bist hier nicht mehr sicher. Für die nächste Zeit wohnst du bei uns. Tut mir leid, aber ich konnte deine Eltern nicht anlügen. Wenn du immer noch meinst, dass sie die Wahrheit verkraften, dass du von einem Dämon beinahe umgebracht wurdest, dann ist es deine Entscheidung.“
Ich fuchtelte mit den Händen und rang nach Luft.
„Was“!!?
„Soll ich deinen Eltern sagen, dass du mit mir kommst, oder möchtest du dir etwas Hübscheres einfallen lassen? Ich bin sicher, dass sie nichts dagegen haben“, sagte er weiter in einem ernsten Ton.
Ich riss ihm die Tasche aus den Händen. Ich war wütend, er hat mich nicht einmal gefragt, ob ich das wollte.
„Daniel“!- schrie ich ihm ins Gesicht, aber viel weiter kam ich nicht.
„Nein, Lila. Es gibt keine Verhandlungen darüber. Iljas wird zurückkommen. Mary hat es ganz deutlich gesehen. Das ist eine Tatsache. Und dann wird er dich entweder zu seiner Gefährtin, oder, wenn es ihm nicht gelingen sollte, weil du einen starken Willen hast, dich einfach töten. Die beiden Varianten gibt es. Und mit beiden bin ich nicht einverstanden“.
Er schaute mir abschätzend in die Augen. Ich war sichtlich erschrocken über seine Aussage und begriff sofort, dass er Recht hatte. Trotzdem war ich immer noch sauer. Und außerdem war mir schwindelig was mich nicht klar denken ließ.
„Wie soll er das denn anstellen Daniel. Du tust ja gerade so, als ob man durchs Fingerschnippen zu einem Dämon wird! Und noch was. Woher weißt du, das meine Eltern mit deiner hirnrissigen Idee einverstanden wären?“
Wieder fuchtelte ich, wie ein kleines Kind mit den Händen, was zur Folge hatte, dass meine Haare sich jetzt in meinem Gesicht befanden und ich beinahe das Gleichgewicht verlor.Daniel schien gerade im Bad fertig geworden zu sein. Er hatte alle meine Sachen eingepackt. An jede Kleinigkeit hatte er gedacht. Aber mich ignorierte er einfach und ging an mir vorbei, wieder in mein Zimmer. Ich folgte ihm.
„Also, das mit deinen Eltern hat mir Mary verraten“. Jetzt war ich ganz durcheinander. Aber er redete einfach weiter.
„Es gibt noch so einiges, was du nicht weißt Liebes. Mary sieht zukünftige Gedanken von beliebigen Menschen, auf die sie sich konzentriert. Es muss nicht unbedingt ihr Schützling sein, es ist viel eher eine allgemeine Fähigkeit. Und sie hat keine besorgten oder verärgerten Gedanken in ihren Köpfen gefunden, also wirst du es schaffen, ihnen eine gute Story zu erzählen. Ach ja, dein Vater wird demnächst zum Hotelmanager befördert. Und was die Dämonen angeht, ist es in der Tat nicht wirklich kompliziert einen zu erschaffen. Iljas müsste sich nur mit dir verbinden. Ich meine körperlich“.
Er erzählte das alles so, als ob er mir gerade erklären wollte, wie eine Kaffeemaschine funktioniert.
Die Worte schwammen an mir vorbei. Sie waren so unwirklich und unfassbar. Ich hörte einfach nur zu, ohne den Sinn zu verstehen. Das war nicht meine Welt, von der Daniel gerade so selbstverständlich erzählte. Genauso wie er selbst und Iljas nicht hierher gehörten.
„Was meinst du damit, er müsste sich mit mir körperlich verbinden? Du meinst jetzt nicht im Ernst, dass Iljas mit mir Sex haben müsste!“
Ich schüttelte ungläubig den Kopf, denn das war erst recht unmöglich. Es war lächerlich! Wie zum Schutz, verschränkte ich meine Arme vor die Brust. Daniel stellte die Tasche auf den Boden und kam auf mich zu. Meine Arme blieben verschränkt. Ich war schließlich immer noch sauer auf ihn. Er atmete einmal tief ein. Es passte ihm nicht. Seine Augen verrieten es mir. Sie hatten nämlich die Farbe eines stürmischen Meeres. Graublau, tippte ich.
„Ja, Lila genau das meine ich damit. Er muss mit dir schlafen. Und da er die Fähigkeit besitzt, dich oder viel mehr deinen Körper in seine Gewalt zu bringen, wird es ein Kinderspiel werden. Du könntest nichts dagegen tun. Kapierst du jetzt die Dringlichkeit? Du kannst hier nicht bleiben!“
Bei den Worten erinnerte ich mich nur zu gut, wie sich das anfühlte. Natürlich verstand ich die Dringlichkeit. Dafür müsste man noch nicht einmal Gedanken lesen können. Er wird zurückkommen. Und er wird besser vorbereitet sein, damit ihm auch sein Vorhaben mich zu seiner Gefährtin zu machen auch ganz sicher gelingt. Und was mich am meisten störte war, dass jetzt von Daniel wusste. Wir waren zusammen, was ihn sicherlich verstörte und überraschte. Damit hatte er sicherlich nicht gerechnet. Ich konnte mir gut vorstellen, dass zu seiner Entschlossenheit jetzt auch noch Wut dazu kam, die ihn umso mehr anspornte, seinen Plan umzusetzen.
Ich hockte mich mitten in meinem Zimmer hin und umklammerte jetzt meine Knie. Ich wollte so viel wie möglich in diesem Moment vor Iljas und seinen Fähigkeiten schützen. Ich hatte Angst, dass er wieder die Kontrolle über mich erlangen könnte. Und das, so musste ich mir eingestehen, war nur eine von vielen Ängsten. Mein ganzes Leben bestand mittlerweile aus Angst, wenn ich nicht mit Daniel zusammen war.
8.
Für einen Moment zwang ich mich all die schrecklichen Dinge beiseite zu schieben.
Ich musste dringend darüber nachdenken, was ich meinen Eltern erzählen sollte. Mir viel einfach nichts ein. Ich hörte sie unten, in der Küche mit Geschirr klappern. Es hörte sich an, als würden sie den Frühstückstisch abräumen.
Daniel hatte sich eben zum Auto begeben, um die Sachen zu verstauen. Ich hatte von ihm den „Befehl“ bekommen, mich fertig zu machen, was ich lieblos tat. Natürlich wusste ich, dass er mich nicht zwingen konnte mitzukommen, und obwohl ich mich dagegen wehrte, war das vorrübergehende Verschwinden aus meinen Elternhaus das einzig Richtige. Nicht nur für mich, sondern auch für meine Eltern.
Nachdem ich mir eine Jeans und ein Shirt überzog, setzte ich mich verzweifelt aufs Bett, was immer noch nicht gemacht war.
Ich atmete laut aus.
Es war alles auf einmal so schwierig geworden. So verwirrend und scheinbar nur für mich auch noch sehr fremd.
Mein menschliches Verständnis für Übersinnliches war erschöpft.
Wo sollte das Ganze denn mal enden? Wahrscheinlich überhaupt nicht. Nach dem Motto, mit gehangen, mit gefangen. Ich war mittlerweile soweit in dieser Geschichte gefangen, dass ich um mein Leben bangen musste.
Und jetzt sollte ich meinen Eltern auch noch einen logisch klingenden Grund bieten, warum ich für die nächste Zeit nicht mehr zu Hause bleiben konnte. Ich musste das Geheimnis schützen. Aber im Moment war ich in meinem Zimmer gefangen, weil ich mich nicht ohne einer guten Geschichte, nach unten traute.
Wie aus dem Nichts, hörte ich auf einmal Daniels Stimme. Ich wurde hellhörig. Bestimmt hatte er meinen Gedanken zugehört und wollte dem Ganzen jetzt ein zügiges Ende setzen. Schnell schlich ich in den Flur.
„…meine Eltern würden sich wahnsinnig darüber freuen, wenn Lila ein paar Tage bei uns verbringen würde. Jetzt, wo wir zusammen sind, verspreche ich natürlich auf sie aufzupassen“, sprach Daniel zu Ende.
Ich hörte meine Mutter kichern. Scheinbar schmeichelte Daniel ihr.
„Aber natürlich haben wir nichts dagegen Daniel. Leider müssen wir immer so viel arbeiten. Sie ist schon so oft allein und wir sind sehr froh darüber, dass ihr beide zueinander gefunden habt“, antwortete Mom ihm.
Es war unglaublich. Ihre Worte klangen, als ob sie diese vorher einstudierte. Völlig fremd.
Gleichzeitig viel mir aber ein Stein vom Herzen. Daniel hat gerade meine Aufgabe übernommen. Und er hat sie bestens gelöst.
Ich klammerte mich ans Treppengelände. Mir wurde etwas schwindelig. Es schien, als ob ich immer noch nicht ganz fit nach dem Übergriff war. Mein Herz schlug in letzter Zeit einfach viel zu häufig zu schnell. Für einen Moment schloss ich die Augen.
„Danke“, flüsterte ich ihm in Gedanken zu.
„War einfacher, als ich gedacht hatte. Du darfst jetzt auch nach unten kommen Lila. Ich warte im Auto.“
Ich schaute mich noch einmal in meinem Zimmer um. Mein Handy lag auf dem Schreibtisch und ich musste kurz an Kate denken, die mir erneut die Mailbox füllte.
Ich wurde für einen Moment sehr traurig, weil mir in meiner neuen Situation weder das Handy, noch Kate helfen könnten. Die beiden gehörten nicht mehr in die Welt in der ich mich jetzt befand. Sie musste in der Welt der alten Lila bleiben. Einem jungen, naiven und völlig durchschnittlichen Mädchen.
Daher beschloss ich es nicht mit zu nehmen. Es hatte für mich seinen ursprünglichen Sinn verloren.
Der Rest, den ich benötigen könnte, war im Auto verstaut.
Es fühlte sich sehr nach Abschied an. Werde ich jemals wieder dieses Zimmer betreten? Werde ich die nächsten Tage überleben?
Ich durfte nicht darüber nachdenken. Es nicht zu nah an mich ran lassen.
Langsam ging ich die Stufen runter. Meine rechte Hand umklammerte das Gelände. Ich fühlte mich immer noch unsicher auf meinen Beinen.
Endlich unten angekommen, betrat ich die Küche, wo Mom und Dad einen Kaffee genossen. Mom kam sofort auf mich halb zugerannt.
„Liebes, darüber hättest du mit uns ruhig reden können. Daniel sagte, dass du dich nicht getraut hast. Aber du kannst beruhigt sein, wir haben nichts dagegen, dass du ein paar Tage bei den Callahan´s verbringst. Wir finden das schön, dass du und Daniel ein Paar seid.“
Ich nickte nur, ohne ihr in die Augen zu schauen. Sie sprach immer von „wir“.
Nur, dass Dad sich aus allem raushielt.
Aber auch das war jetzt ziemlich unwichtig geworden. Ich wollte mich nicht von ihnen verabschieden. Nicht so, wie mein Gefühl es mir verkaufen wollte.
Die Luft schien auf einmal zu schwinden. Mir wurde warm und dann heiß. Ich musste hier raus.
„Ja. Finde ich toll, dass ihr es nicht so eng sieht. Hab euch lieb. Ich muss jetzt, Daniel wartet auf mich“, sagte ich schnell und die Worte überschlugen sich fast.
Ich gab beiden noch einen flüchtigen Kuss auf die Wange und begab mich in Richtung Ausgang.
Ich bekam richtig Angst. Angst um die beiden. Sie erschienen mir jetzt so völlig unbeschützt. Ich war mir auf einmal gar nicht mehr sicher, ob ich sie allein lassen konnte und wollte.
Jetzt mach dich nicht lächerlich Lila, als ob du was bewirken könntest, tadelte ich mich selbst.
Entschlossen klappte ich die Tür hinter mir zu und sah zu dem Audi, der bereits lief. Es war frisch geworden und eine kühle Brise strich mir übers Haar. Als ob Iljas mit seinem Besuch die Kälte mit sich brachte. Und Daniel zu schwach war, um sie wieder zu vertreiben.
Er stieg aus und öffnete mir die Beifahrertür. Ohne ihn anzuschauen, stieg ich ein. Als Daniel wieder neben mir saß, wusste er bereits, was mich wurmte. Er drehte mein Gesicht zu sich. Ich schaute ihm zögernd in die Augen. Sie waren so warm und voller Liebe.
„Lila, es wird deinen Eltern nichts geschehen. Das verspreche ich dir. Iljas weiß, dass du nicht hier bist. Wenn er dich nur einmal nah bei sich gespürt hat, dann weiß er, wo du dich befindest“, versuchte er mich zu trösten.
Ich musste spöttisch auflachen. Er war mir nicht nur sehr nah gekommen. Er hatte mich vollkommen unter seiner Kontrolle. Für eine kurze Zeit, war ich ihm völlig ausgeliefert. Und damit meine ich nicht nur körperlich. Er faszinierte mich mit jeder einzelnen Faser seines Körpers. Ich hätte alles für ihn getan. Aber nur in diesem einzigen Augenblick, als er die Herrschaft über mich übernahm.
„Es tut mir leid…dass er dir das angetan hat. Das ich nicht da war, um es zu verhindern“, sagte er mit einer zittrigen Stimme. Ich wollte ihm sagen, dass es nicht so schlimm war und dass er dagegen sowieso nichts hätte tun können, aber ich blieb stumm. Ich wollte es nicht noch schlimmer machen.
Ohne mich anzuschauen, legte Daniel einen Gang ein und fuhr los. Seine Hände umklammerten mit großer Kraft das Lenkrad. Seine Handknöchel färbten sich weiß. Er fuhr viel zu schnell. Ich klammerte mich an meinen Sitz. Ich konnte es nicht fassen, aber ich glaubte Wut in seinem Gesicht zu erkennen. Die Eigenschaft, die auf keinen Fall einem Engel zugeschrieben werden konnte.
„Daniel, bitte“!- stieß ich heraus.
Abrupt trat er auf die Bremse. Er war scheinbar selbst darüber erschrocken, was für mich ein Zeichen dafür war, dass er mit seinen Gedanken woanders gewesen war. Iljas.
„Oh, das wollte ich nicht“, entschuldigte er sich, wieder ohne mich anzuschauen.
Etwas wollte er vor mir verbergen. Ich sollte sein Gesicht nicht sehen.
Bevor ich mir weitere Gedanken darüber machen konnte, sah ich die große Auffahrt vor uns, in die wir jetzt einbogen.
Als ich das letzte und auch gleichzeitig das erste Mal hier war, war es bereits dunkel gewesen. Jetzt konnte ich mir das Haus genauer anschauen. Und es war schöner, als in meiner besten Erinnerung.
Aber was mir letztes Mal entgangen war, war der Fuhrpark, der etwas abgelegen in Richtung Garten lag. Für mich war es zumindest ein Fuhrpark. Naja, eigentlich waren es nur drei Fahrzeuge, aber die hatten es in sich. Den Wert wollte ich mir nicht einmal grob ausrechnen. Alle Autos waren in derselben Farbe, die ich von Daniels Auto bereits kannte. Weiß. Schneeweiß. Ich fand die Audi- Ringe auf jedem wieder. Nur so konnte ich mich orientieren. Auf dem einen Auto, was sehr spritzig aussah, befanden sich noch zwei weitere Buchstaben. TT. Wobei die anderen, sowohl einen Buchstaben, als auch eine Zahl besaßen.
Daniel schmunzelte als er meinen Blick sah. Ich hatte bestimmt den Blick eines kleinen Mädchens, was etwas bewunderte und es nicht haben konnte.
Wenn man so viel Geld besaß, wie die Callahan´s, dann war dies hier bestimmt nur eine kleine Auswahl, dachte ich etwas sarkastisch und bekam auch gleich einen tadelnden Blick von Daniel zu spüren. Er nahm mich an die Hand und führte mich weiter in Richtung Eingang. Die weißen Rosen schmückten wie letztes Mal schon, den prächtigen Eingang. Wie viel Mühe hinter dem Ganzen steckte, dachte ich bewundernd. Kaum standen wir vor der Haustür, schon öffnete sie sich, wie von Zauberhand.
Gruselig.
Aber es war nur Mary, die jetzt hinter der Tür vor trat. Sie schien uns zu erwarten. Und ich erinnerte mich daran, dass sie unter sich anscheinend, auf eine andere Art kommunizieren konnten. Auf eine unmenschliche Art. So, als ob die Gedanken eines anderen Engels, ein offenes Geheimnis waren. Aber es war okay. Ich habe mich bereits damit abgefunden, dass nichts mehr normal oder menschlich in meinen Leben war. Komischerweise hing ich aber auch nicht so sehr an dem normalen, völlig durchschnittlichen Leben, was ich vorher führte.
Mary lächelte uns an und strahlte eine schon fast unheimliche Freude aus. Sie war so bezaubernd. So ungefähr stellte ich mir immer Feen vor. Diese zarten Gesichtszüge. Diese Haare, die schon fast zu unwirklich aussahen. Völlig unrealistisch. Und dann dieses klingelnde Lachen, was sie von sich gab. Es erinnerte mich an „Glöckchen“, von Peter Pan. Ich zweifelte daran, dass wenn ich sie anfassen würde, dass ich auch tatsächlich etwas in der Hand hätte. Ich hätte zu viel Angst, dass sie unter meiner Berührung, sich auflösen könnte.
Aber ich sollte augenblicklich eines besseren belehrt werden, denn Mary kam auf mich zu und umarmte mich. Ganz selbstverständlich. Und es hat sich so gut angefühlt. Sie roch so gut. Aber es war wohl kein Parfüm, was diesen Duft ausstrahlte. Ich schmiegte mich für einen Moment in ihre Umarmung und schloss die Augen. Ich konnte nichts dagegen tun. Sie zwang mich fast, mit ihren Wesen dazu.
Ich fühlte mich auf eine seltsame Art zuhause. Angekommen.
Sie schaute mir kurz liebevoll ins Gesicht und lächelte wieder. Und ich lächelte zurück.
„Lila, ich freue mich so wahnsinnig, dich zu sehen“, sagte sie und strich mir mit den Fingerspitzen über meine Wange.
Sie behandelte mich, wie ein wieder gefundenes Kind. Sie schob uns schon fast hinein und schloss die Tür.
Es war zwar erst Mittag, aber ich fühlte mich jetzt schon müde. Zum Glück war noch Wochenende.
„ Mach dir keine Sorgen Liebes, hier kann dir nichts passieren“, sagte sie völlig nebenbei.
„Ja. Das habe ich auch gesagt“, meldete sich Daniel, der hinter mir stand, zu Wort.
„Aber jetzt bringen wir deine Sachen erst einmal nach oben. Ich gehe davon aus, dass es dir nichts ausmacht, mit mir ein Zimmer zu teilen“, fügte er vergnügt hinzu.
Es war das erste Mal seit Stunden, dass er lächelte. Die Situation machte ihm wirklich zu schaffen. Obwohl ich mir fast sicher war, dass er mir etwas verschwieg. Es war der Punkt, der ihn am meisten beschäftigte. Aber ich konnte mich auch irren. Daher beschloss ich einfach eine gute Miene zum bösen Spiel aufzusetzen. Ich lächelte ihn an und gab ihm einen zärtlichen Kuss.
„Ich bestehe darauf, mit dir ein Zimmer zu teilen“, flüsterte ich ihm ins Ohr, sodass Mary es nicht mitbekam.
Daniel nahm mich wieder an die Hand und wir gingen die hübsche Treppe hinauf. Ich warf Mary noch ein dankbares Lächeln zu, bevor sie verschwand.
Wir betraten sein wunderschönes Zimmer. Auch das war jetzt im Tageslicht noch hübscher, als ich es in Erinnerung hatte.
Dieses Bett war absolut gigantisch. Und einfach nur ein Traum. Der Stoff, der die Säulen umwickelte, strahlte schon fast in einem unnatürlichen Weiß. Wieder stand ich, wie erstarrt, mitten im Raum und bekam kein Wort heraus.
Daniel kam hinter mich und küsste meinen Hals.
Ich senkte meinen Kopf zu Seite und genoss diesen Augenblick. Er versetzte meinen Körper, schon allein mit einem Kuss, halb in Ekstase. Ich fühlte mich zu ihm hingezogen. Mit jeder Faser meines Körpers.
„Ich liebe dich“, flüsterte er.
Ich nickte nur mit dem Kopf und drehte mich zu ihm, um seine Lippen auf meinen zu spüren. Er nahm beschützend mein Gesicht in seine Hände und ließ Wärme und pure Energie durch meinen Körper fließen.
Meine Knie gaben nach. Ein menschlicher Körper war einfach nicht dafür ausgelegt. Obwohl es besser funktionierte, als die ersten Male. Trotzdem. Es war einfach zu viel und ich ärgerte mich darüber. Dass er mir nicht alles von sich geben konnte. Dass ich zu schwach dafür war, es empfinden zu können. Ich wollte einen gleichwertigeren Körper.
Ich löste mich von ihm. Von seinen wundervollen Lippen. Daniel umarmte mich ganz zärtlich und ich verschwand halb darin.
„Ich werde es nicht zulassen, dass ich noch einmal fast zu spät komme Liebes“, flüsterte er mit einer entschlossenen Stimme, die bei mir eine Gänsehaut erzeugte. Mit schmerzerfülltem Gesicht strich er mir über die „unsichtbare“ Wunde, die Iljas hinterließ, auf meiner Brust.
Ich hatte auf einmal Angst. Um ihn. Was ist, wenn er wegen mir Dummheiten begeht oder noch schlimmer, gegen seine Regeln verstößt, die er als Engel befolgen muss?
Es tat weh, daran zu denken. Keiner sollte ihm etwas antun.
„Versprich mir, immer vorsichtig zu sein. Egal was du vorhast okay?“
Ich schaute ihm eindringlich ins Gesicht, um seine Reaktion zu sehen.
Er schaute weg. Wie konnte er mir etwas versprechen, wenn er es nicht halten konnte?
„Daniel“, sagte ich mit Nachdruck und zwang ihn mich anzuschauen,
„Bitte, versprich es mir“, flehte ich ihn jetzt an und die Tränen standen bereits in meinen Augen.
Ich hatte so eine furchtbare Angst, ihn zu verlieren. Wofür sollte ich dann weiterleben? Es gab danach nichts mehr. Ich müsste dann auch sterben und wenn ich dafür in die Hölle kommen würde.
„Lila, bitte nicht weinen. Ich ertrag es nicht. Also gut, ich verspreche es dir okay! Aber bitte weine nicht wegen mir…“
Es war bereits zu spät. Die Tränen überfüllten meine Augen und liefen über Wangen. Schnell wischte ich sie weg. Ich war jetzt etwas erleichtert. Er war jetzt gezwungen, sein Versprechen zu halten. Zumindest hoffte ich es vom ganzen Herzen.
Ich fühlte mich auf einmal so müde. Ich war so erschöpft. Ich lehnte mich an seine Schulter. Daniel hob mich hoch und trug mich zum Bett. Sanft legte er mich ab. Schon fast zu sanft, als ob er mich kaputt machen könnte.
„Du solltest dich ausruhen“, flüsterte er wieder und strich mir übers Haar.
„Ja, du hast Recht“; meine Augen fielen bei den Worten schon fast zu. Mein Körper fühlte sich schwach an. Er war mit der dunklen Energie von Iljas infiziert.
Daniel deckte mich zärtlich zu und legte sich neben mich. Ich suchte mit bereits geschlossenen Augen, nach seiner Hand und als ich sie fand, legte ich sie mir unter die Wange. Sofort wurde ich, wie auf Wolken weggetragen. Immer höher und höher, bis ich im Nichts verschwand.
9.
Als ich langsam wieder zu mir kam, wusste ich nicht, ob es Tag oder Nacht war. Ich ließ die Augen geschlossen. Ich hörte nichts. Keine Stimmen. Und auch sonst nichts. Schnell tastete ich mit einer Hand meine Umgebung ab. Scheinbar lag ich immer noch in Daniels Bett. Mit dem Unterscheid, dass ich jetzt weniger anhatte. Er muss mir wohl die Schuhe und meine Jeans ausgezogen haben. Ich nahm die andere Hand dazu, fand aber auch mit beiden nichts, was auf Daniel hindeutete. Er lag offensichtlich nicht mehr neben mir. Ich schlug die Augen auf. Meine Knochen taten weh. Ich versuchte mich hinzusetzen. Alles an mir war steif und erschwerte jede Bewegung. Wie lange habe ich geschlafen?
Ich schaute auf meine Armbanduhr, die ich noch um hatte. Oh, es war 21:11 Uhr. Ich wusste nicht mehr, wann ich eingeschlafen bin. Aber es muss so um die Mittagszeit gewesen sein. Das heißt also, dass ich fast den ganzen Tag verschlief. So langsam ordneten sich meine Gedanken. Langsam schlug ich die Decke auf und rutschte vorsichtig aus dem Bett. Neben dem Bett stand ein Ohrensessel, auf dem ich eine flauschige Freizeithose entdeckte. Auf ihr lag ein gefaltetes Blatt Papier. Ich faltete es auseinander. Es stand nur ein einziger Satz drauf und es war nicht Daniels Schrift. Obwohl diese hier auch wunderschön war.
„Liebe Lila, ich hoffe, dass dir dieses Geschenk ein wenig hilft, dich hier wohl zu fühlen. Mary.“
Ich legte das Blatt weg und zog mir die Hose über. Sie war tatsächlich sehr angenehm zu tragen. Dennoch konnte ich mich nicht darüber freuen.
Nochmal schaute ich mich suchend in Daniels Zimmer um, aber er war definitiv nicht da.
Mein Atem ging im selben Moment schneller, mein Herz schlug vor Aufregung und mir wurde innerlich ganz warm. Wo war er bloß. Ich entdeckte eine Tür im Zimmer, die ich noch nicht kannte. Schnell stolperte ich drauf zu.
Als ich die Tür öffnete, sah ich ein Badezimmer, was im Dunkeln lag. Ich wusste, dass es nichts bringen würde, das Licht anzuschalten. Er war nicht hier. Er hatte mich verlassen. Er war weg. Ich brauchte ihn doch so sehr. Ich war doch so hilflos ohne ihn. Ich hätte das Gefühl nicht ignorieren sollen, was mir immer wieder versuchte zu sagen, dass er etwas Ungutes vor hatte.
Meine Gedanken überschlugen sich.
„Mist, Mist, Mist. Daniel, wo steckst du?“- flüsterte ich.
Ich ging schneller zur Tür, die auf den Flur führte und öffnete sie mit einem Ruck.
Es war still.
Ich war wie in Trance, mein Atem überschlug sich und die Tränen liefen ganz automatisch die Wangen runter. Ich fühlte mich so verloren.
„Daniel“, flüsterte ich, „wo bist du“?
Aber ich bekam keine Antwort. Er hatte es mir doch versprochen! Ohne nachzudenken, ging ich die geschwungene Treppe runter. Die Augen weit aufgerissen und voller Panik. Etwas in mir, sagte, dass ich ihn auch hier nicht finden würde. Ich würde ihn nirgendwo mehr finden. Und ich gab auf. Auf das schlimmste gefasst. Ich ging einfach nicht mehr weiter. Auf der vorletzten Stufe bin ich einfach in mich zusammengesackt. Ich umklammerte meine Knie mit den Armen und fühlte den flauschigen Stoff der Hose.
In diesem Moment konnte ich sehr gut nachvollziehen, wie es ist, wahnsinnig zu werden. Wie die Welt um einen herum völlig egal wird. Dass man einfach unfähig wird seine Gedanken festzuhalten und zu ordnen. Sie flattern nur noch umher. Ohne Sinn zu ergeben. Wie Schmetterlinge. Und irgendwann einmal kommt der Punkt, wo man sich einfach aufgibt. Wo es keinen Sinn mehr ergibt, weiter zu atmen, zu gehen, zu leben.
Ich starrte einfach nur noch vor mich her. Es war vorbei. Daniel war weg.
Er hat mich verlassen und ich war schuld daran. Ich und unsere Liebe.
„Lila. Lila!“
„Daniel bist du es?“- fragte ich ohne hinzuschauen, wer mich da schüttelte.
„Nein, ich bin es Mary. Es wird alles wieder gut, hörst du!?“
Sie umarmte mich und strich über mein Haar. Die Tränen liefen wieder. Ich schluchzte.
„Nein. Wird es nicht. Daniel hat mich verlassen. Er ist nicht da!“
Sie drückte mich noch fester an sich und wischte die Tränen weg, aber es kamen sofort neue. Mary versuchte noch sanfter zu sprechen, als sie es von Natur aus schon tat.
„Du musst dich beruhigen, Liebes. Er hat dich nicht verlassen. Er hat versprochen, vor Sonnenaufgang wieder hier zu sein.“
Jetzt wurde ich hellhörig. Aus einer Wahnsinnigen wurde wieder jemand, der versuchte an dem winzigen Hoffnungsschimmer, der am Horizont aufflackerte, sich wieder aus dem Nichts zu ziehen. Meine Gedanken überschlugen sich zwar immer noch, aber ich versuchte sie zu ordnen. Zu verstehen, was Mary gerade sagte. Er hatte mich nicht verlassen. Er würde wieder kommen, hatte sie gesagt. Und ich glaubte ihr. Sie konnte nicht lügen.
Ich befreite meinen Kopf aus ihrer Umarmung und schaute sie an. Wie sanft und liebevoll schauten ihre Augen mich an. Wie die Augen einer liebenden Mutter.
„Er…er kkkommt wieder?“
Ich konnte kaum sprechen. Meine Stimme war heftig belegt. Als ob ich sie seit Ewigkeiten nicht mehr benutzte.
Mary schaute mich mit einem zur Seite gelegten Kopf wieder an und lächelte. Sie ging mir wieder durch die Haare.
„Ja. So ist es. Er wird wieder kommen. Du wirst sehen“, flüsterte sie halb.
„Ja. Das wird er. Vor Sonnenaufgang“, bestätigte ich es noch einmal mit einer schon fiel festeren Stimme.
„So und jetzt kommst du mit in die Küche. Du musst einen riesigen Hunger haben“, sagte sie und nahm mich an die Hand.
Ich war mir nicht sicher, ob es so war. Hatte ich Hunger? Ich wusste es nicht ganz genau. Aber ich ging mit ihr.
„Erzählst du mir auch, wo Daniel hin ist?“
Sie drehte sich zu mir und nickte. Ich lächelte kurz zum Dank.
Als wir die Küche betraten, sah ich einen runden Tisch in der Ecke des Raumes. Er war bereits gedeckt. Für mich. Denn es stand nur ein Teller mit Besteck drauf.
„Gabriel und Sem machen heute einen Männerabend“, sagte sie und ich glaubte ihr kein einziges Wort.
Vielleicht waren sie ja mit Daniel mitgegangen? Aber sie machten mit Sicherheit keine Männerabend. Ich musste gegen meinen Willen kichern. Schon allein die Vorstellung war völlig absurd.
Mary schaute mich nervös an. Ich ließ mir aber nichts anmerken. Egal warum sie mir nicht die Wahrheit sagte, sie hatte bestimmt einen triftigen Grund dazu. Man konnte ihr ansehen, dass es gegen ihren Willen war. Ich nahm Platz und bekam einen duftenden Tee eingegossen. Es war Earl Grey, das konnte man nicht verwechseln. Und es war mein Lieblingstee. Wieder musste ich schmunzeln. Anscheinend wurde sie von Daniel bestens unterrichtet.
„Vielen Dank Mary. Und damit meine ich für alles“, gestand ich und rührte etwas Milch in den Tee.
„Du bist hier immer wollkommen Lila“, sagte sie warmherzig und strich mir zum wiederholten Mal übers Haar.
In der kurzen Zeit, stand sie mir schon fast näher, als meine eigene Mutter. Es war eine beschämende Tatsache, die ich mir eingestehen musste.
Schnell belegte ich mir ein Stück Brot. Ich konnte es kaum erwarten, von ihr zu hören, wo Daniel hin war. Ich kaute energisch und schluckte.
„Bitte, spann mich nicht weiter auf die Folter. Wo ist Daniel denn hin?“
Sie atmete tief durch und schaute zur Seite. Es sah so aus, als ob sie ihre Gedanken ordnen musste. Ihre schönen Gesichtszüge spannten sich ein wenig an und der wunderschöne Mund wurde etwas schmaler, aber nicht unschöner.
„Weißt du, es ist nicht so einfach dir das zu erklären. Eigentlich dürfte ich dir überhaupt nichts erklären… aber… nachdem ich dich vorhin in diesem Zustand fand, konnte ich nicht anders, als es dir zu versprechen“, sagte sie zögernd und spielte mit einem Ring an ihrem Finger, der mit einem gigantischen Rubin besetzt war. Die kleinen Steinchen um ihn herum, waren reine Diamanten. Aber ich war nicht in der Stimmung, ihn zu bewundern.
Sie schaute mich wieder an, nachdem ich nichts sagte. Ihre Augen waren dunkelblau. Sie fühlte sich nicht gut dabei.
„Hat Daniel dir das verboten?“
„Er wollte nicht, dass du dich aufregst. Aber anscheinend kennt er dich nicht gut genug“.
„Wo ist er?“
Genug. Ich wollte es wissen, egal mit welcher Konsequenz.
„Er ist in die Unterwelt. Auf die böse Seite“; sagte sie so leise, dass ich mich wirklich konzentrieren musste. Ich riss die Augen auf. Mein Brot plumpste auf den Teller.
„Das ist nicht sein Ernst! Will er jetzt etwa die Seiten wechseln!? Wann, bitte wollte er mir denn davon erzählen!“
Ich sprang auf und kippte fast meinen Stuhl um.
Mary versuchte mich wieder zu beruhigen, in dem sie dafür sorgte, dass ich wieder Platz nahm.
„Bitte Lila, hör mir doch mal zu. Nachdem Iljas Daniels Kräfte einfach ausschaltete und er fast zu spät kam, wurde ihm klar, dass er zu schwach ist und das er handeln muss.
Er konnte dich nicht mehr beschützen. Nicht mit den vorhandenen Kräften. Das einzige, was aber seine Kräfte stärkt ist das Böse. Er muss seine böse Seite stärken, in dem er sich in die Unterwelt begibt. Es ist eine riesige Herausforderung, dem ganzen zu widerstehen und nicht dem Bösen zu verfallen, aber ich bin mir sicher, dass seine Liebe zu dir ihn beschützen wird. Er wird wieder heil zurück kommen“, fügte sie noch entschlossen hinzu. Aber ich sah ihre Zweifel. Für einen winzigen Augenblick sah ich sie.
Und was ist, wenn er nicht zurück kommt? Hat sich darüber jemand Gedanken gemacht! Ich fühlte mich hilflos und unnütz. An alldem war ich schuld. Aber ich konnte nichts ändern. Wie makaber mir das vorkam. Eine riesige Welle von Wut überrollte mich. Wut auf mich selbst. Meine Hände formten sich zu Fäusten und heiße Tränen rannen mal wieder die Wangen runter. Ich wischte sie mit einem groben Zug weg. Noch ein Zeichen meiner menschlichen Schwäche, was ich nicht zulassen wollte.
Mary reichte mir ein Taschentuch. Ich riss es ihr, ohne mich dafür zu bedanken aus der Hand. Ich sah sie verachtend an. Sie hätte vielleicht die Kraft gehabt, ihn zu stoppen. Aber sie hat ihn einfach gehen lassen. In dem Moment konnte ich ihr das nicht verzeihen. Sie konnte meinem, scheinbar gruseligen Blick, nicht standhalten. Oder vielleicht einfach nur aus Schuldgefühlen. Zögernd griff sie nach meiner Hand. Und ich erinnerte mich in diesem Moment daran was Daniel mir über sie und ihre Gabe erzählt hat.
Mary konnte meine Gedanken lesen. Auch die, die noch in der Zukunft waren. Und sie machte nicht den Eindruck, als ob sie etwas Furchtbares sehen würde. Auf eine schon fast lächerliche Art, beruhigte mich das ein bisschen.
„Du wirst ihm verzeihen. Und du weißt, dass es notwendig war“, sagte sie leise und strich mir über meine Handfläche.
Meine Wut schwand und ich wurde ruhiger. Jetzt hatte ich nur noch Angst. Nicht unbedingt davor, dass er die Seite wechseln könnte, weil er dem nicht widerstand. Ich hatte Angst, dass solche Wesen wie Iljas ihm etwas antun könnten. Dämonen.
Er war einfach schwächer und sie würden es ausnutzen. Und ihn töten, wenn so etwas möglich war. Ich wusste immer noch so wenig über Engel. Zu wenig.
„Ja. Ich weiß“, gab ich ihr Recht, „dann bleibt uns nichts anderes über, als bis zum Morgengrauen zu warten“, sagte ich und versuchte sie anzulächeln, was mir nur halbwegs gelang.
„Es wird alles gut“, beruhigte sie mich wieder.
Es entstand wieder eine Pause.
„Wie wird Daniel sein, wenn er zurück kehrt? Wird es ihn verändern?“
Ich fragte, weil ich überhaupt keine Vorstellung davon hatte, wie so etwas ablief. Es war mir etwas unangenehm. Ich fühlte mich dumm.
„Nein. Ich denken nicht, dass er sich groß verändern wird“, sagte sie nachdenklich.
Ich hätte schwören können, dass sie seine Gedanken durchstöberte. So wie Daniel das manchmal bei mir tat, bevor er mir antwortete. Sie tat es auch scheinbar gerade bei mir. Ich wünschte mir, dass Mary mir davon erzählte. Ich wollte wissen, was Daniel durchmachte. Wegen mir.
„Nun, weißt du Liebes, es war schon immer so, dass das Böse auf der Erde immer mehr Macht hatte, als das Gute.
Und jeder Engel muss sich entscheiden, auf welcher Seite er stehen möchte. Deswegen ist auch beides in jedem von uns vorhanden. Aber Dämonen, wie Iljas, haben bereits so viel Böses angerichtet, dass sie dadurch unglaublich stark geworden sind und gute Engel alleine, fast keine Chance haben, sie zu bekämpfen. Deswegen ist es für Daniel notwendig gewesen, auf die andere Seite zu gehen.“
Sie machte eine Pause. Es fiel ihr schwer, weiter zu reden. Aber sie tat es. Ich sollte alles wissen. Ihre Stimme war jetzt viel leiser.
„Sobald man diese Unterwelt betritt, wirkt die negative Energie, die dort herrscht, wie eine Droge. Man darf sein Ziel niemals aus den Augen lassen, sonst ist man für immer gefangen. Wenn er es schafft die Unterwelt zu verlassen, dann überwiegt seine böse Seite und er ist für eine Weile genauso stark, wie ein Dämon. Allerdings muss er sich immer beherrschen, nicht noch böser zu werden. Ich habe Sem und Gabriel hinterher geschickt, damit sie auf ihn aufpassen. Zumindest, ihm einen gewissen Schutz bieten können.“
Aha, von wegen Männerabend. Haha.
Es nahm sie wirklich mit. Und mir wurde bewusst, was für Mary auf dem Spiel stand. Sie könnte alle drei verlieren. Was für eine schreckliche Vorstellung. Sie verursachte sofort eine Gänsehaut.
„Es tut mir leid“, sagte ich aus einem unbegreiflichen Grund.
Jetzt war sie es, die nur schwach und etwas verstellt versuchte zu lächeln. Ihre so vollkommenen Züge glichen in dem Moment eher einer gemeinen Entstellung. Auch das tat mir leid.
„Es muss dir nicht leid tun. Wir alle hätten nichts dagegen tun können. Denk daran, jeder Engel hat einen freien Willen“, sagte sie und gab mir damit eine Bestätigung dafür, dass sie meine Gedanken kannte.
„Und wegen dem Männerabend tut es mir leid“, fügte sie lächelnd hinzu.
„Ist schon okay, ich habe es dir sowieso nicht abgekauft“; gab ich zurück.
„Ich weiß“, sagte sie schlicht.
Und wo wir gerade dabei waren, wollte ich auch von ihrer Fähigkeit mehr erfahren.
„Daniel hat mir erzählt, dass du Gedanken anderer lesen kannst“, fing ich an und wartete auf eine Reaktion.
Ihr Lächeln sagte mir, dass sie auch dieses Gespräch bereits in der Zukunft sah.
„Ja, das stimmt. Allerdings nicht uneingeschränkt“, jetzt schaute sie mich erwartungsvoll an und wartete meine nächste Frage ab.
Aber ich schaute sie nur fragend an.
„Es gibt Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen. Die wichtigste ist, dass ich denjenigen, dessen Gedanken ich lesen soll, zumindest schon einmal gesehen haben muss. Ich muss ihn in mein Gedächtnis rufen können. Das alles gilt natürlich nur für Menschen. Engel können immer untereinander kommunizieren.“
Sie schaute mich wieder abschätzend an. Und nachdem sie eine Erleichterung in meinem Blick fand, sah ich in ihrem eine Bestätigung.
Ich hatte also Recht gehabt. Mir ist das schon bei unseren Abendessen aufgefallen. Sie redeten fast nicht miteinander. Die Kommunikation bestand fast nur mit mir.
„Hat Daniel auch eine Fähigkeit“, schoss es aus mir heraus, ohne dass ich darüber nachdachte. Ich legte eine Hand auf den Mund. Aber es war schon zu spät.
Mary kicherte jetzt amüsiert. Für sie schien ich eine Art Spielzeug darzustellen. Oder ein Experiment.
„Ja, hat er. Und soweit ich weiß, hat er es dir auch schon einmal präsentiert“, sagte sie mit einer fröhlichen Stimme.
Meine Gedanken überschlugen sich wieder. Ich stöberte darin, aber ich fand nichts, was sie meinen könnte.
„Ach, Lila. Denk doch mal an die ganzen Rosen, mit denen er dein Zimmer schmückte. Wie hat er das wohl gemacht?“
Ah, jetzt erinnerte ich mich wieder an seine Worte. Sie erschienen mir bis heute völlig unrealistisch.
„Er sagte, dass er Dinge teleportieren kann“, ich machte daraus fast eine Gegenfrage.
„Genau. Daniel hat die Fähigkeit, alles Mögliche zu teleportieren. Es muss lediglich einen Körper haben.“
Ich musste lachen. Mein Kopf bewegte sich ungläubig von einer Seite zur anderen und mir wurde schwindelig.
Wenn Mary und Daniel eine Fähigkeit hatten, dann doch bestimmt Sem und Gabriel auch.
„Das stimmt nur zum Teil“, sagte Mary, wie aus heiterem Himmel.
Ich schrak hoch und plumpste fast von meinem Stuhl. Der Löffel, mit dem ich gerade meinen Tee umrührte, glitt mir aus den Fingern und erzeugte ein klirrendes Geräusch. Sie hatte mich zu überraschend aus meinen Gedanken gerissen.
„Oh, wie bitte?“
Ich rutschte unsicher auf dem Stuhl hin und her. Es war mir unangenehm. Ich benahm mich geradezu wie ein Trottel.
„Ich sagte, dass du mit deinen Gedanken nur zum Teil Recht hast.“
„Es tut mir leid, Mary, was meinst du denn damit?“
Also an diese Gedankenleserei werde ich mich wohl nie ganz gewöhnen können.
Diesen Satz sprach ich nicht aus.
Sie schaute mit ein wenig bemitleidenswert an und klimperte mit ihren langen Wimpern, was mir nicht gefiel. Arme, kleine Lila, du bist nur ein armseliger Mensch, spottete ich über mich.
Aber das durfte ich Mary nicht übel nehmen. In dieser kurzen Zeit, in der ich sie kannte, stand sie mir bereits jetzt näher, als es meine Mutter es jemals könnte.
Sie fand immer die passenden Worte und schmeichelte mir mit ihrer liebevollen Art. Quasi die perfekte Schwiegermutter. Zumindest im weitesten Sinne.
Ich ertappte mich, wie ich abwesend eine meiner langen Locke auf den Finger wickelte und versuchte mich zu konzentrieren. Ich fühlte mich sehr erschöpft. In jeder Hinsicht. Vor allem meiner Psyche wurde in der letzten Zeit einfach zu viel zugemutet. Ich atmete tief durch und schaute wieder rüber zu Mary, die geduldig darauf wartete, weiter erzählen zu können.
„Weißt du Lila, wir können unser Gespräch auch verschieben, du siehst wirklich sehr mitgenommen aus,“ sagte sie mit ihrer „Glöckchen“ – Stimme.
„Oh, nein, nein, es geht schon. Wer weiß, wann und vor allen ob wir jemals das Gespräch weiter führen könnten“, sagte ich nachdenklich und etwas bedrückt.
Ich setzte mich aufrecht hin und schaute sie interessiert an.
„Also gut“, fing sie an, „es gibt so vieles über uns zu erzählen, aber das bemerkenswerteste sind wohl unsere Fähigkeiten. Ich kann Zukunftsgedanken lesen.“
Sie legte ihren Zeigefinger auf das Kinn und sagte: „ Hm, obwohl ich gerne auch Daniels Fähigkeit gehabt hätte. Dinge zu verschiedenen Orten zu bewegen macht sicherlich auch jede Menge Spaß.“
Sie kicherte, so als ob sie sich gerade an einen witzige Situation erinnerte, die wohl mit Daniels Fähigkeit zusammenhängte.
Ich musste auch schmunzeln. Sie schaute mich wieder an und der Nachhilfeunterricht ging weiter.
„Je älter ein Engel wird, desto mächtiger wird seine Fähigkeit. Es kann auch sein, dass sie sich dadurch etwas verändert. So war es auch bei Gabriel. Er ist der älteste von uns. Sozusagen ein Urengel. Wir sind danach entstanden. Gabriel kann für fünf Minuten die Zeit verändern. Ob in der Vergangenheit oder Zukunft spielt dabei keine Rolle. Früher, als er noch ein junger Engel war, konnte er nur die Gegenwart verändern.“
Sie kicherte wieder. Anscheinend amüsierte sie der Gedanke an einen jungen Gabriel. Doch sie wurde genauso schnell wieder ernst und ihr Gesicht sah auf einmal gequält aus. Scheinbar gab es auch etwas woran sie sich nicht so gern erinnerte und was sie immer noch mitnahm. Jetzt war sie diejenige, die abwesend war.


10.
Mary´s Geschichte
Bevor sie anfing, atmete sie noch einmal tief durch. Es kostete sie all ihre Kraft, mir von ihrer Geschichte zu erzählen.
„Lila, uns beide verbindet mehr, als du dir vorstellen kannst. Auch ich war mal ein Mensch. Ein junges, unschuldiges Mädchen aus Irland, was auf dem Land aufwuchs und keine Sorgen kannte. Meine Eltern waren Bauern und wir hatten einen großen Bauernhof.“
Sie seufzte. Man sah ihr an, dass sie dieses Leben nicht freiwillig aufgab. Sie sprach viel zu liebevoll darüber.
Ich war halb gelähmt von dem Schock, den mir ihre Worte zufügten. Wie konnte so etwas möglich sein? Mary war mal ein Mensch!?
„Wie kann das sein? Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich jemals gehört hatte, dass Menschen zu Engeln werden können!“- sagte ich mit einer zu hohen Stimme.
Das Gespräch und auch mein Wissen über Engel nahm eine völlig neue Wendung an.
Mary sah jetzt noch gequälter aus und bittere Tränen liefen ihr übers Gesicht.
Sie perlten von ihrer zu perfekten, seidenen Haut ab, wie kleine Edelsteine und vielen auf ihren Schoß. Jetzt war ich diejenige, die ihr ein Taschentuch reichte.
„Das tut mir leid. Wenn es dir zu schwer fällt, dann musst du es mir nicht erzählen“, sagte ich jetzt mit leiser Stimme, in der Hoffnung, dass es sie ein wenig beruhigt.
Sie sah mich entschlossen an und wischte sich eine Träne, die gerade dabei war, zu den restlichen runter zu fallen, weg.
„Nein. Ich möchte dir das erzählen. Weil ich nicht will, dass es dir auch passiert. Damit du besser darauf vorbereitet bist, als ich es war.“
Sie atmete noch einmal tief ein und ihr Blick veränderte sich. Sie war jetzt wieder in der Vergangenheit.
Da, wo sie noch ein Mensch war.
„ Es war 1923. Ich erinnere mich als ich mit meinen besten Freundinnen in dem einzigen Pub im Dorf saß und ein kräftiges dunkles Bier genoss. Es war ein sehr typisches Getränk. Fast jeder trank es. Wir hatten etwas zu feiern und tranken ziemlich viel. Es war mein dreiundzwanzigster Geburtstag. Wir verließen das Pub weit nach Mitternacht und machten uns auf den Heimweg. Wir waren ziemlich betrunken, kicherten vor uns hin und machten nachträglich Scherze über den viel zu dicken Wirt.
Irgendwann zweigte sich der Weg und ich musste das letzte Stück zu unserem Haus allein gehen. Ich verabschiedete mich von den beiden. Ach ja, sie hießen Susan und Carol. Ich habe sie nie wieder gesehen.“
Wieder flossen neue Tränen. Mary schluchzte. Ich sagte nichts und strich ihr sanft über den Arm. Als sie sich wieder gefangen hatte, erzählte sie weiter.
„Es war dunkel. Ich hasste diesen Weg. Aber was sollte mir schon passieren. Schließlich waren wir hier in Irland, in einem kleinen Dorf, wo sich jeder kannte.
Ich torkelte ziemlich heftig. Meine Sinne waren umnebelt und mir wurde ein wenig schwindelig. Ich beschloss kurz stehen zu bleiben um durchzuatmen. Und da hörte ich diese Stimme. Ich kannte sie nicht. Sie gehörte keinem aus unserem Dorf. Dennoch war das die süßeste und verführerischste Stimme auf der ganzen Welt.
Süß wie Honig. Ich blieb an ihr geradezu kleben, wie eine Fliege im Spinnennetz. Sie rief mich. Und ich folgte ihr, ohne dass es einen Sinn ergab. Alles in mir schrie, ich solle weg laufen, aber ich wollte es nicht hören. Dieser Rausch, in den mich diese, Stimme versetze, war gigantisch und nicht mit dem zu vergleichen, den ich vom Alkohol hatte. Ich ging stur geradeaus, dahin von wo diese Stimme her kam, bis ich vor einem großen Baum stehenblieb. Völlig automatisch. Die Stimme verschwand und eine Gestalt kam zum Vorschein, die sich zuvor hinter dem Baum verbarg. Es war ein junger Mann, Mitte zwanzig. Zumindest nach seinem Äußeren. Er war wunderschön, obwohl ich in dem Mondlicht nicht alles sehen konnte. Dennoch reichte es, um dies sagen zu können. Etwas an ihm war unmenschlich und furchteinflößend, es dauerte einen Moment, bis ich begriff was es war. Es waren seine Augen, sie leuchteten in einem tiefen Rot. Seine Haare waren pechschwarz, sodass sie sich fast mit der Dunkelheit vermischten. Er kam auf mich zu und als er nur noch wenige Zentimeter von mir entfernt war, strich er mir sanft über die Wange. Seine Hand war bitterkalt und meine Wange schmerzte von seiner Berührung. Es kam mir vor, als ob sie eingefroren war. Ich atmete schneller, jetzt vor Angst, aber ich konnte mich nicht rühren. Ich wollte weg laufen, schreien oder überhaupt irgendetwas dagegen tun, aber er hatte mich in seiner Gewalt. Ich war wie eine Puppe. Er steuerte mich. Meine panikerfüllten Augen starrten ihn nur noch an. Und nachdem er einen weiteren Schritt machte, wurde es eiskalt. Mein Atem wurde sichtbar. Er stand so dicht es nur ging vor mir.
„Wer bist du?“, fragte ich ihn.
Er fing an zu lachen, einfach laut zu lachen. Ich habe noch nie so ein schreckliches Lachen gehört. Sein Atem, der mir ins Gesicht peitschte, war genauso süß und klebrig wie seine Stimme.
Zu süß. Mir wurde schlecht. Vielleicht auch vom Alkohol, aber in erster Linie von diesem süßen, würzigen Atem. Er schaute mich wieder mit seinen leuchtenden Augen an. Der Rand seiner Augen sah aus, als ob er lodern würde. Wieder strich er mir über die Wange.
„Ich heiße Eliot und heute ist dein Geburtstag. Es ist sehr passend. Ich möchte dir auch ein Geschenk machen. Ich schenke dir einen neuen Geburtstag“, sagte er mit einer eiskalten, aber dennoch verführerischen Stimme.
„Wer bist du Eliot? Bitte tue mir nichts, bitte!“ Ich sagte es völlig automatisch.
Jetzt schaute er mir tief in die Augen. Mit furchteinflößenden, glühenden, schmalen Schlitzen, in die sich seine Augen verwandelten.
„Was meinst du denn, wer ich bin, Mary?“ Er zog meinen Namen in die Länge, wie ein Kaugummi. Es machte ihm Spaß.
Ich gab ihm keine Antwort. Ich wusste einfach keine.
„Ich bin ein Dämon“, sagte er schlicht.
„Und ab heute Nacht wirst du auch zu uns gehören. Ein Menschenleben ist doch so furchtbar langweilig, nicht wahr?“
„Oh, bitte tue mir nicht weh, bitte Eliot“, flehte ich ihn an. Aber es war zwecklos. Ein Dämon hatte kein Gewissen und auch keine Skrupel.
Er nahm einfach mein Gesicht in seine Hände und küsste mich. Endlos. Es sog damit förmlich meine Lebensenergie aus mir heraus. Aber ich konnte mich nicht dagegen wehren. Er war zu stark und hatte mich in seinem Bann. Mir wurde schwindelig. Eine seltsame Taubheit bildete sich in meinen Ohren und belegte sie.
Ich fühlte mich auf einmal so schwach, so zerbrechlich. Ich stand kurz vor dem Tod.
Auf einmal beendete er seinen Kuss und ich fiel in mich zusammen.
In seinen Armen. Ich merkte nur, dass er mich auf das Gras legte und mich eine Weile ansah. Ich war nicht nur seine Puppe, sondern auch seine Beute für diese Nacht. Und ich wünschte mir, dass er mich einfach getötet hätte. Aber aus einem mir bis heute unbekannten Grund, entschied er, dass ich ein schlimmeres Ende verdiente. Er wollte mich zu einem Dämon machen. Langsam, so als ob er es genoss, schob er meinen Rock hoch und zerriss meine Unterwäsche in einem Ruck.
Ich ließ die Augen einfach zu. Eigentlich war ich mir nicht sicher, ob ich sie überhaupt aufbekommen hätte. Und ob ich ihn dabei sehen wollte, denn langsam begriff ich, was er mit mir als nächstes vor hatte.
Etwas drang in mich ein und explodierte förmlich.
Ich schrie auf. Der Schmerz, der sich jetzt in meinem Körper ausbreitete war unmenschlich und ich konnte ihm nicht standhalten. Ich winselte und drehte mich von der einen, auf die andere Seite. Ich krümmte mich und schrie wieder. Und irgendwann fiel ich in ein tiefes Loch, aus dem es kein Entkommen gab. Es wurde kalt. Ganz kalt um mich herum. Ich fror. Und auf einmal gab es keinen Schmerz mehr. Es war alles weg.
Das letzte, was ich mit meinen menschlichen Ohren hörte, war seine Stimme, die erst laut und zufrieden auflachte und dann mit den Worten „Ich wünsche dir viel Spaß mit deinem neuen Leben. Kleine, böse Mary. Glückwunsch noch einmal,“ verschwand.
Irgendwann kam ich wieder zu mir. Aus diesem kalten Loch. Ich hatte kein Zeitgefühl und daher konnte ich nicht sagen, wie lange ich dort so bereits lag. Es hätten auch Tage sein können, ich hätte es nicht sagen können.
Ich lag regungslos auf dem Gras und wartete darauf, dass ich starb.
Ich hätte doch schon längst tot sein müssen. Aber wieso konnte ich noch denken? Warum war ich noch da?
Ich versuchte mich zu bewegen, was auch einigermaßen klappte. Ich öffnete langsam die Augen. Das Tageslicht war beinahe nicht zu ertragen. Wo war ich? Ich konnte mich auf einmal nicht mehr daran erinnern.
Und als ich halb kniend da saß, explodierte wieder etwas in meinem Körper. Diesmal aber in meinem Rücken. Im ersten Moment konnte ich es erst gar nicht realisieren, aber es wurde immer schlimmer. Ich schrie erneut auf. Meine Stimme war heiser und meine Kehle schmerzte und brannte.
Ich hatte das Gefühl, als ob mir jemand mit einem riesigen Messer den Rücken aufschnitt. Mein Schreien wurde zu einem hysterischen Kreischen. Ich welzte mich im Gras, in der Hoffnung, so die Schmerzen lindern zu können. Es half alles nichts, die Schmerzen wurden sogar noch heftiger. Ich riss mir aus Verzweiflung an den Haare und hoffte, so von dem Schmerz abzulenken. Aber auch das war völlig sinnlos. Oh, Gott, womit hatte ich das alles verdient! Warum konnte ich nicht einfach sterben, wenn meine Zeit gekommen war? Alles besser, als diese Schmerzen, die einen fast wahnsinnig werden ließen. Aber so viel ich auch betete, es wurden nicht erhört.
Nach einer Weile sank ich schreiend auf das Gras und bildete eine Embryostellung. Die Kraft verließ mich einfach. Ich weiß nicht mehr wie lange ich so da lag, aber es kam mir zumindest länger vor, als das erste Mal. Vielleicht lag ich dieses Mal tatsächlich schon sein Tagen hier rum. Ich wartete darauf, dass es aufhört. Und irgendwann waren diese höllischen Schmerzen weg, aber ich traute mich nicht zu bewegen. Mein Rücken schmerzte fürchterlich. Also beschloss ich einfach liegen zu bleiben.
Es wurde mehrmals dunkel und wieder hell.
Aber ich empfand weder wärme noch Kälte. Hunger oder Durst gab es auch nicht. Vielleicht war ich doch tot? Denk nach Mary, zwang ich mich. Wieso bist du nicht tot? Warum nur? Ich wünschte es mir. Je mehr ich mich anstrengte, mich zu erinnern was passiert war, desto lauter wurde wieder seine Stimme in meinem Kopf. Ich hielt mir die Ohren zu, aber es brachte natürlich nichts. Ich erinnerte mich auf einmal an seine Worte. Er sagte, dass er mich zu einem Dämon machen wird. Ich fing an zu weinen, aber es kamen keine Tränen. Ich schluchzte nur. Das war also der Grund, warum ich nicht tot war.
Ich war ein Dämon!
Ich bin es geworden, in dem er es mit mir gemacht hatte und ich als Mensch starb. Daher auch die ganzen höllischen Schmerzen. Und wahrscheinlich deswegen spürte ich auch keine Kälte oder Hunger oder sonst irgendwas. Diese Tatsache war einfach nur fürchterlich. Ich wollte nicht böse sein! Ich wollte mein Leben wieder zurück!
Schluchzend versuchte ich mich erneut aufzusetzen. Jede Faser meines Körpers brannte wie Feuer. Mein Rücken war am schlimmsten. Vor mir lag mein zerrissener Slip und neben ihm ein ganzer Haufen schwarzer Federn.
Ich schaute auf meine Hände, mit denen ich mich vom Boden abstützte. Sie waren ganz dreckig und mit Blut beschmiert. Ich schaute sie mir genauer an. Wessen Blut klebte an meinen Händen? Und wie als eine Antwort, rann mir etwas über den Rücken. Ich griff automatisch dahin und fühlte zum ersten Mal die Öffnungen zwischen den Schulterblättern. Etwas Knochiges befand sich darunter. Und es floss Blut heraus. Das sah ich, als ich mir meine Hand wieder ansah. Sie war voller Blut. Oh, Himmel, was ist mit mir nur passiert? Ich war verzweifelt. Wieder versuchte ich zu weinen und wieder kamen keine Tränen, so als ob meine Drüsen eingetrocknet waren.
Ich stellte mich langsam aufrecht hin. Mein Unterleib schmerzte kurz auf und erinnerte mich wieder an das Geschehene.
Mir war schwindelig und mein Gleichgewicht wollte mir nicht gehorchen. Ich hatte permanent das Gefühl, mich zwingen zu müssen, auf dem Boden stehen zu bleiben. Ich war irgendwie so leicht. Beinahe schwerelos.
Mein Plan bestand darin, dass ich irgendwo nach Wasser suchen wollte, um mich zu waschen. Ich war so dreckig und blutig. Also versuchte ich ein paar Schritte zu machen, was auch einigermaßen gelang.
Wenn ich meinen Rücken, der immer noch schmerzte, nicht bewegte, war es gerade so erträglich. Nur mit dem Gehen musste ich noch üben. Ich musste beinahe mein ganzes Gewicht auf die Füße verlagern, um überhaupt vorwärts zu kommen. Es fühlte sich an, als ob ich sie noch nie zuvor benutzte.
Aber mit etwas Übung und mehreren hundert Meter gelang mir auch das. Wenn auch nicht ganz schmerzlos. Ich wusste nicht wohin ich ging. Ich orientierte mich am Geruch von Wasser, den ich problemlos ausfindig machen konnte.
Seltsames Gefühl.
Alles kam mir so unbekannt vor und ich fühlte mich allein.
Diesmal ließ ich es mit dem Weinen gleich sein. Es funktionierte nicht mehr, also schrie ich aus voller Kehle. Man, war das gut. Ich tat es noch einmal. Es war genauso befreiend wie weinen. Und irgendwie gefiel es mir auch besser. Es passte jetzt eher in mein Dasein.
Nach einer Weile fand ich einen kleinen Bach. Ich hätte auch den See nehmen können, aber der war mir, nach meinem Geruchsinn zu urteilen zu weit weg gewesen. Ich schätzte, dass er mindestens 30 Meilen, vielleicht auch 32, nordöstlich von mir entfernt war.
Außerdem war er mir zu groß.
Es war bereits Abend und die Dämmerung setzte ein. Ich war ziemlich erschöpft. Langsam kniete ich mich davor und beugte mein Gesicht übers Wasser.
Als ich mein Spiegelbild sah, schrie ich auf und wich zurück. Es war nicht möglich. Das konnte einfach nicht sein! Ach du heilige Maria, wie sah ich denn aus?! Vorsichtig und vor allem langsam schaute ich wieder hinein.
Ich erkannte mich nicht mehr wieder. Ich sah so anders aus. Und ich hatte rot glühende Augen, die sich in der Dämmerung nur noch mehr abzeichneten!
Mein Gesicht war viel markanter und wie ich zugeben musste, viel hübscher. Wenn nur nicht diese fürchterlichen Augen da wären.
Ich strich mir mit der Hand über die Wange, die von Eliot´s Berührung immer noch seltsam taub war und hoffte innständig, dass ich meine Bewegung nicht auf der Wasseroberfläche sehen würde. Denn dann wäre es offensichtlich, dass es jemand anderes war, den ich dort sah. Nicht ich. Aber ich wurde enttäuscht. Natürlich sah ich die Hand, die mein Gesicht berührte. Ich schlug, so heftig ich konnte auf das Wasser und bewirkte damit, dass mein Gesicht jetzt nur noch verzerrter und gruseliger aussah. Ich atmete vor Aufregung durch die Zähne, was ein seltsames Zischen erzeugte.
Jetzt breitete sich keine Trauer, sondern Wut in mir aus. Ich schrie wieder, wie ein wildes Tier. Ich wollte Rache. An demjenigen, der das hier mir angetan hatte.
Eliot.
Die Wut loderte in mir, wie eine Flamme und wurde immer größer. Ich schwor mir ihn zu finden und zu vernichten. Das war jetzt der ganze Sinn meines Daseins. Es gab nichts anderes. Nur die Wut, die mich innerlich stark machte.
Ich fühlte mich gleich viel kräftiger und die Schmerzen waren auch beinahe weg. Die Wut war wohl so etwas wie ein Elixier, was mich heilte.
Ich verzog unwillentlich mein Gesicht zu einer Grimasse und schaute wieder ins Wasser.
Mich schaute ein Gesicht voller Hass an und die glühenden Augen loderten jetzt.
Ich sah so beängstigend aus.
Ich wusch es und stand mit einem Ruck wieder auf. Jetzt wollte ich meinen Rücken säubern.
Ich beugte mich wieder übers Wasser um etwas zu erkennen und da traf mich der zweite Schlag, aber diesmal wich ich nicht zurück, sondern schaute es mir genauer an.
Ich sah auf meinem Rücken große, schwarze Flügel!
Sie waren es also, die mir diese höllischen Schmerzen bereiteten. Sie hatten meine Haut einfach aufgerissen! Bei dem Gedanken wurde mir schlecht. Ich musste mich übergeben. Zumindest dachte ich das.
Daher stammen wohl auch die Federn, die ich zuvor neben meiner zerrissenen Unterwäsche fand.
Das war wohl auch der Grund dafür, dass ich mit meinem Gleichgewischt nicht mehr zurecht kam und mich so schwerelos fühlte.
Für Dämonen war es wohl nicht üblich die Füße zum gehen zu benutzen. Sie schwebten oder flogen, schlussfolgerte ich.
Ich war noch so dumm in meiner „Rolle“.
Um Eliot zu finden musste ich schleunigst dazu lernen. Nur wie? Ich kannte keinen, der mir etwas beibringen konnte.
Aber eins war mir klar, ich wollte auf keinen Fall als Dämon weiter existieren. Nur so lange, bis ich meine Rache an Eliot nahm. Danach musste ich einen Weg finden, um diesem abscheulichen und sinnlosen Dasein ein Ende zu bereiten.
Die Frage war nur, wo war er und wie konnte ich ihn finden? Es musste doch einen Zufluchtsort für Dämonen geben. So etwas wie die Hölle, oder nicht? Und es gab ja auch noch andere und genau die musste ich finden. Wenigstens einen Dämon, der mir meine Fragen beantworten konnte.
Ich sollte auch nicht lange darauf warten.
Denn nachdem ich eine ganze Weile neben dem Bach saß und nachdachte spürte ich auf einmal eine seltsame, fremde Energie, die sich mir näherte. Ich hörte keine Schritte, ich spürte nur diese Energie und wusste, dass ich nicht allein war. Und dann erklang eine Stimme.
„Na, wenn das nicht Eliot´s neuestes Werk ist,“ sagte sie schon fast abwertend.
Ich drehte mich um und sah einen jungen Mann, mit riesigen schwarzen Flügeln. Natürlich glühten auch seine Augen.
Ein Dämon. Ich war nicht mehr überrascht darüber, denn schließlich sah ich mittlerweile nicht anders aus.
„Wo ist Eliot?!“- fragte ich ihn eindringlich und betonte jedes Wort.
Er lachte.
„Oh, da ist aber jemand zornig. Steht dir gut. Dir auch einen wunderschönen Abend, Mary“, sagte er sarkastisch.
Mit einem Ruck stand ich nur wenige Zentimeter vor ihm und giftete ihn an. Diese enorme Schnelligkeit, die ich jetzt scheinbar besaß, faszinierte mich.
„Es ist mir egal, was du denkst. Sag mir, wo ich ihn finde!“- zischte ich ihm ins Gesicht und sah meine eigenen, lodernden Augen in seinen.
Im Bruchteil einer Sekunde packte er mich am Hals und drückte mich auf den Boden. Ich bekam keine Luft. Er war so viel stärker als ich.
„Erst einmal musst du einige Dinge lernen, du Dummchen. Die erste Sache ist, leg dich nie wieder mit mir an, verstanden! Sonst muss ich dich leider vernichten, was sehr schade wäre.“- sagte er zornig, ohne großartig seinen Kiefer zu bewegen.
Ich blinzelte als Bestätigung, dass ich es kapierte.
„Wer bist du?“- fragte ich ihn als ich wieder auf den Beinen stand und mir den Hals rieb.
„Ich heiße Iljas. Den Namen solltest du dir gut merken. Ich bin einer der mächtigsten Dämonen, die auf der Erde verweilen.“
Er war scheinbar sehr stolz darauf, denn er wölbte seine Brust nach vorn, um mir noch einmal zu präsentieren, wie stark er war.
Er schaute mich wieder abschätzend an. Ich glaubte etwas Verachtung darin zu finden.
Ich war für ihn scheinbar kein „richtiger“ Dämon, sondern nur ein menschlicher Abklatsch.
Er verschränkte seine Arme vor die Brust.
„Hm, und du bist also Eliot´s Resultat der letzten Nacht.“
Er schüttelte verächtlich den Kopf.
„Dieser Narr!“
Er spuckte voller Ekel auf den Boden.
„Wie oft habe ich ihm gesagt, dass er sich nicht an diesen unterentwickelten Wesen vergreifen soll! Wenn der mir in die Finger kommt!“
Er nannte die Menschen- also uns- denn ich weigerte mich immer noch, auf einmal ein Dämon zu sein, unterentwickelte Wesen!
Ich empfand dieser Titulierung als einen Angriff und meine Augen glühten ein paar Grad heißer. Meine Muskeln spannten sich an und ich sprang ihm erneut an den Hals.
Dumm.
Denn er gewann auch diesmal und schmiss mich mehrere Meter durch die Luft, sodass ich mit einem lauten Knall auf dem Boden, ein ganzes Stück von ihm entfernt, landete.
Ich hätte mir sämtliche Knochen brechen müssen, aber es geschah nichts, außer dass mein Arm unnatürlich zur Seite hing.
Mit einem Ruck renkte ich ihn wieder ein.
Es knackte ganz fürchterlich, aber es tat nicht weh, was ich übrigens von den Schlitzen auf meinem Rücken, da wo jetzt zwei riesige schwarze Flügel herausstachen, auch behaupten konnte.
Seltsam.
Aber was war es nicht?
Iljas lachte laut auf. Er konnte sich überhaupt nicht einkriegen. Ich wunderte mich, denn ich war bereits darauf vorbereitet, von ihm vernichtet zu werden, so wie er es mir vorhin androhte.
„Du bist wirklich mutig“, bekam er vor Lachen gerade so heraus.
Er spielte mit mir. Ich war schon wieder zu einer Puppe geworden. So wie bei Eliot auch.
Ich war immer noch etwas wütend auf ihn.
Ich stand auf und klopfte mir den Dreck vom Körper.
„Hör auf zu lachen, du abscheuliche Kreatur! Sag mir lieber wie ich Eliot finde. In der Hölle vielleicht?“
Er lachte erneut.
„Du denkst also wirklich, dass es eine Hölle gibt, ja? Mutig, aber noch sehr dumm.“- stellte er fest.
„Tja, muss ich ja wohl, denn von dir bekomme ich keine Informationen“, sagte ich sarkastisch.
Die Wut in mir schien jetzt immer präsent zu sein. Sie schwand überhaupt nicht mehr. Ich war permanent geladen.
„Wenn du aufhören würdest, mich andauernd zu attackieren, hätte ich bereits eine Gelegenheit dazu gehabt. Also beschwer´ dich nicht. Du unterentwickeltes Etwas!“

Er spielte mit mir.
Dieses Mal diente seine Beleidigung als eine pure Provokation. Aber ich ließ mich nicht darauf ein. Ich wollte nicht noch einmal von ihm gedemütigt werden.
Er setzte sich auf den feuchten Boden und winkte mich herbei.
„Komm her und setz dich hin“, befahl er mir fast.
Ich kam langsam näher. Wie ein scheues Tier blickte ich ihn abschätzend an. Ich traute ihm nicht. Langsam setzt ich mich, etwas weiter von ihm weg.
„Das ist gut. Traue keinem über den Weg. Alleine kommst du bei deinem Vorhaben besser zurecht.“
Ich nickte, bereit von ihm zu lernen.
„Das, was ich dir jetzt sage, tue ich nur einmal. Danach bin ich weg. Ich habe schon zu lange meine Zeit mit dir vergeudet. Die sogenannte „Hölle“ existiert nicht. Die Menschen denken sich immer etwas aus. Um in die Unterwelt zu gelangen, musst du einfach in einen Schatten, den die Dämmerung hervorruft springen. Du gelangst automatisch in die Welt der Dämonen. Es ist ziemlich düster da, aber da du ja jetzt auch ein Dämon bist, wirst du damit schon zurechtkommen.
Auf die Erde kannst du nur dann wieder gelangen, wenn hier wieder die Dämmerung einsetzt. Dann erst öffnet sich das Portal.
Wo es sich befindet und wie du dahin gelangst, musst du schon selbst herausfinden. Ich bin ja nicht dein Aufklärer oder gar Babysitter. Wenn du Glück hast, wirst du dort auch Eliot finden. Mach mit ihm was du willst, ich konnte ihn sowieso nie leiden. Alles verstanden?“
„Ich denke schon. Danke.“
Er sprang auf.
„Oh bitte, verschon mich mit deinem menschlichen Gesülze! Das ist ja nicht zu ertragen!“- schimpfte er wieder verächtlich.
Ich giftete ihn an.
Aber jetzt hatte ich die Informationen, die ich brauchte. Iljas interessierte mich nicht mehr.
Ohne ein weiteres Wort, rannte er in die Dunkelheit, die die späte Stunde hervorrief und verschwand.
Somit präsentierte er mit abschließend, wie ich es anstellen sollte.
Seit diesem Abend habe ich Iljas nie wieder gesehen.
Jeden Abend, wenn die Dämmerung eintrat, verfolgte ich das Ziel meines abscheulichen Daseins. Ich ging in die Unterwelt und suchte nach Eliot. In dieser anderen Welt war alles grau und dunkel. Es war kalt. Immer. Ich verstand jetzt noch weniger, aus welchem Grund die Menschen annahmen, dass es in der sogenannten „Hölle“, wie sie sie nannten, heiß sein sollte.
Ich denke, das kam daher, dass sie im Mittelalter die Hexen, also das Böse verbrannten und Feuer somit die Vernichtung hervorbrachte. Also dachten sie, dass alles Böse in einer heißen Hölle lebt.
Mit meinem jetzigen Wissen kamen mir die Menschen tatsächlich unterentwickelt vor.
Dies war wohl ein Zeichen dafür, dass ich mich immer mehr zu einem Dämon entwickelte. Das menschliche in mir starb langsam aus.
Dennoch mochte ich diese andere Welt nicht. Trotzdem begab ich mich jeden Abend dorthin.
Ich musste Eliot finden und ihn vernichten!
Eines Nachts kam ich wieder auf die Erde zurück.
Ich war erschöpft. Ich wollte mir ein Plätzchen in der Dunkelheit suchen und mich etwas ausruhen.
Und da sah ich ihn!
Er stand hinter einem Baum und beobachtete jemanden. So wie er es mit mir auch tat.
Es schien mir schon so lange her zu sein.
Ich stand weniger als hundert Meter von ihm entfernt und konnte mich nicht rühren.
Meine glühenden Augen bohrten sich in seinen Rücken, aber er bemerkte mich nicht. Viel zu sehr war er mit seinem neuesten Opfer beschäftigt.
All der Hass, den ich all diese Zeit in mir trug, kam mit einem Schlag hoch. Bilder in meinem Kopf zeigten mir noch einmal zu deutlich, was er mir angetan hatte und wie ich bei dem Akt und der darauf folgenden Verwandlung litt.
Mein Magen, oder zumindest die Stelle, wo er sein sollte, krampfte sich vor Schmerz, den ich noch einmal durchlebte, zusammen.
Aua.
Ich legte meine Hand drauf und ging ein wenig in die Knie. Es schmerzte so sehr.
Der Schmerz erzeugte noch mehr Wut. Ich zitterte am ganzen Körper. Am liebsten hätte ich losgebrüllt und ihm danach den Kopf abgerissen.
Genau.
Das war mein Plan. Ich schleiche mich an ihn ran und nutze somit seine Unachtsamkeit, um ihm dann den Kopf abzureisen.
Ich begab mich in Bewegung.
Leise.
Schritt für Schritt.
Er bemerkte mich immer noch nicht. Eigentlich hätte er mich schon von Weitem riechen und spüren müssen. Aber das Opfer war wohl ein ganz besonderer Leckerbissen. Mir wurde bei diesem Gedanken schlecht.
Und als ich etwa zehn Schritte gegangen war, merkte ich auf einmal, wie jemand oder Etwas hinter mir stand.
Ich zuckte zusammen.
Diese Energie, die dieses Wesen ausstrahlte war mir unbekannt. Sie war so viel heller als die der Dämonen, die ich bis jetzt spüren konnte.
Ich blieb stehen. Völlig automatisch. Irgendwie fühlte ich mich bedroht.
Wie konnte ich jemanden angreifen, wenn ich im selben Augenblick selbst vielleicht bedroht wurde?
Egal.
Ich wollte sowieso sterben.
Also machte ich entschlossen einen weiteren Schritt.
„Tue es nicht Mary. Tue es nicht mein Mädchen. Stürz dich nicht ins Verderben,“ sagte eine Stimme die von dem Wesen hinter mir kam.
Sie war so rein. So klar. Sie klingelte beinahe, wie ein Glöckchen.
Ich drehte mich abrupt um.
Oh verdammt!
Wer war er denn?
Ein gutaussehender Mann, mit großen strahlend weißen Flügeln stand da in seiner vollen Größe.
Seine Augen glühten nicht. Er war kein Dämon.
Mir blieb die Stimme weg und mein Atem stockte.
So etwas wie ihn habe ich noch nie gesehen.
Aber ich weigerte mich auch jetzt, von meinem Plan abzuweichen. Meine Augen glühten wieder auf.
„Du weißt nicht, was er mir angetan hat! Er verdient den Tod!“- zischte ich.
„Ich weiß Mary, ich weiß“, sagte er voller Mitleid.
Mitleid?!
„Aber noch hast du die Wahl. Treffe die richtige.“
„Ach ja!?“- sagte ich mit einer belegten Stimme und fing an zu schluchzen.
Ich habe schon so lange nicht mehr versucht zu weinen.
„Was kannst du mir denn schon anbieten, dafür dass ich ihn am Leben lasse? Was?!“- schrie ich halb, sank auf den Boden und landete auf den Knien.
Seine Mine veränderte sich kein bisschen.
„Nun, ich biete dir etwas besseres, als dieses sinnlose Dämonen- Dasein. Ich biete dir an, die Seiten zu wechseln. Noch kann dir verziehen werden. Du hast dir das hier schließlich nicht selbst ausgesucht. Werd ein guter Engel Mary und du kannst unbeschwert ein ziemlich normales Leben führen. Du musst dich entscheiden. Du hast die Wahl Mary. Entweder du tötest ihn und begehst eine Sünde, um danach deinem eigenen Dasein ein Ende zu bereiten, oder du lässt ihn dort drüben stehen und kommst mit mir. Du musst dich entscheiden. Jetzt in diesem Augenblick.“
Ich verstand nichts mehr. Und ich wusste nicht, ob ich ihm trauen konnte. Wenn ich jetzt meine Chance, Eliot zu vernichten nicht nutzte, dann hätte ich vielleicht nie wieder diese Gelegenheit.
Aber er war so anders. Er zeigte Gefühle. Gute Gefühle. Es gab nichts Böses an ihm.
Ich musste mich entscheiden. Mir wurde klar, dass ich auch so eine Chance, gut zu werden, nie wieder bekommen würde.
Sein Angebot war einmalig.
So viel Menschenverstand besaß ich noch, um dies zu erkennen.
„Ich heiße Gabriel“, sagte er und wollte mir somit scheinbar einen kleinen Vertrauensbeweis entgegenbringen.
„Mary, du musst dich entscheiden. Die Zeit läuft uns davon“, sagte er etwas beängstigt.
Meine Gedanken überschlugen sich. Sein Angebot war wirklich verlockend.
Ich schaute noch einmal zurück zu Eliot.
War er es wert?
Nein.
Ich musste diese Chance nutzen um weiter leben zu können.
Eliot war es nicht wert, dass ich mein „Leben“, oder was auch immer es jetzt darstellte, einfach weg werfe.
„Okay“, sagte ich schlicht.
„Ja, Gabriel, ich komm mit dir mit. Ich habe mich entschieden“, sagte ich entschlossen.
Ich machte ein paar Schritte in seine Richtung. Ja, diese Entscheidung war richtig gewesen.
Ich lächelte ihn an. Aber er lächelte nicht zurück. Er schaute mit aufgerissenen Augen an mir vorbei. Und als ich seinem Blick folgen wollte, wurde ich zu Boden gerissen.
Eliot.
Er hatte es mittlerweile auch mitbekommen, dass ich da war.
Ich bekam keine Luft. Mir wurde schwarz vor Augen und ich schloss sie, bereit endgültig zu sterben. Er würde mich diesmal töten, dessen war ich mir sicher.
Aber es passierte etwas völlig unbegreifliches und ich war verwirrt. Denn ich stand auf einmal genauso vor Gabriel, wie eben, allerdings war das bereits einige Minuten her gewesen.
Und ob ich es wollte oder nicht, sagte ich wieder, wie automatisch „Okay. Ja, Gabriel, ich komme mit dir mit. Ich habe mich entschieden.“
Aber diesmal blieb Gabriel nicht vor mir stehen, wie er es zuvor tat, sondern stand rasend schnell neben mir, nahm mich hoch und flog davon.
Ich sah Eliot, der genauso verwirrt aussah wie ich. Er war völlig überrascht.
Was ist gerade passiert?
Warum durchlebten wir diese Situation noch einmal?
Das konnte einfach nicht möglich sein. Ich fühlte mich gefangen in einer Art Zeitfenster. Aber mir war immer noch schwindelig und ich bekam schlecht Luft. Ein eindeutiges Zeichen dafür, dass diese Attacke wirklich stattfand.
Als ich wieder etwas zu mir kam, landeten wir gerade auf einer Lichtung.
Die Sonne schien. Ich hatte sie schon so lange nicht mehr gesehen. Die meiste Zeit des Tages verbrachte ich in der Dunkelheit, die ich mir irgendwo suchte.
Von den Menschen gesehen zu werden, wäre für mich eine Katstrophe gewesen.
Ich gehörte schließlich nicht mehr dazu. Und ich sah so furchterregend aus.
Ich kniff die Augen zu. Die Sonne blendete mich und tat weh.
Gabriel ließ mich runter auf meine viel zu wackeligen Beine.
Ich versuchte ihn, so gut es mir möglich war anzusehen.
„Gabriel, was ist da gerade geschehen?“- fragte ich ihn empört.
Er lächelte mich an und ich sah das erste Mal seine Augen.
Sie glühten tatsächlich nicht.
Sie erstrahlten in einem wunderschönen Blau.
„Ich habe dich vor Eliot gerettet, das ist geschehen. Ich habe die Zeit um ein paar Minuten zurück gedreht. Das ist eine Gabe. Hätte ich es nicht getan, wäre es wahrscheinlich zu spät für dich gewesen. Er hätte dich eiskalt getötet. Ich habe seine Absicht in den Augen gesehen.“
„Wie bitte? Eine Gabe? Wieso habe ich denn keine?“
Die Fragen schossen einfach aus mir heraus.
Er amüsierte sich.
„Durch deine Entscheidung wird sich einiges verändern, Mary. Du wirst es bald sehen. Ich bin schon ganz gespannt welche Fähigkeiten man dir verleiht.“
„Was sind das für Veränderungen?“- fragte ich beängstigend. Denn meine letzte Veränderung war nicht gerade berauschend gewesen.
„Hab keine Angst. Es wird sich alles zum Guten wenden. Das kann ich dir schon mal versprechen“, sagte er liebevoll und strich mir übers Haar.
Ich genoss es. Nach all dieser langen einsamen Zeit, war jemand da, der mit mir liebevoll umging. Nicht wie diese anderen Kreaturen. Diese Dämonen.
„Oh Gabriel. Du glaubst nicht, wie gut das tut, aus dieser schrecklichen, dunklen Welt zu entfliehen“, sagte ich wehmütig.
Langsam fühlte ich, wie dieser ewige Hass in mir schwand und durch Liebe ersetzt wurde. Für einen kurzen Augenblick empfand ich sogar für Eliot so etwas wie Mitleid. Ich wurde auf einmal sehr traurig. Und als ich anfing zu weinen, geschah etwas so wunderbares, dass ich umso mehr weinte. Es rollten dicke Tränen über meine Wangen! Richtige Tränen! Ich konnte wieder weinen. Das war einfach nur überwältigend.
Gabriel sah mich wieder voller Liebe an. Er nahm meine Hand in seine, die so schön warm war.
Wärme.
Auch etwas, was ich schon sehr lange nicht mehr spürte. Ich schloss meine Augen.
„Siehst du, Liebes, die Veränderungen finden bereits statt“, sagte er mit einer leisen Stimme und küsste mich auf die Stirn. Aber eher nur aus Nächstenliebe.
„Das ist so wunderbar. Du bist mein Retter Gabriel“, flüsterte ich.
Er lachte leise, um diesen wunderbaren Moment nicht zu stören.
„Nein, da irrst du dich. Ich wurde von deinen Schutzengel hergeschickt. Naja, sagen wir besser, von deinen Ex- Schutzengel.
Soweit ich weiß, haben Dämonen keine. Und du bist jetzt selbst ein Engel, also wirst du wohl jetzt eher dieser Rolle für jemand anderen einnehmen.“
„Wie meinst du das?“- fragte ich ihn, als ich dabei war mich auf das warme Gras zu setzen. Die Sonne machte mir jetzt auch nicht mehr so viel aus, wie noch vor einer halben Stunde.
Er tat es mir gleich.
„Nun, das ist eine lange Geschichte. Ich fasse sie am besten zusammen. Alles andere kannst du ihn dann bei Gelegenheit selbst fragen. Okay?“
„Ja, okay“, bestätigte ich.
Er zupfte an einem Grashalm und fing an zu reden.
„Falls es dir noch nicht bekannt ist, hat jeder Mensch einen Schutzengel. An diesem besagten Abend, als Eliot dich zu einem Dämon machte, hatte er zuvor durch seine böse Energie dafür gesorgt, dass dein Schutzengel dich nicht empfangen konnte, um so sein Werk zu verrichten. Wahrscheinlich hat er diese noch bewusst durch noch mehr Sünden, verstärkt. Er schien in dieser Sache bereits geübt zu sein, was mir sagte, dass er so etwas öfter anstellte.
Dein Schutzengel kam zu spät. Er konnte dir nicht mehr helfen.
Er machte sich große Vorwürfe deswegen.
Die ganze Zeit über hatte er dich beobachtet. Und mit dir gelitten. Aber er konnte nichts mehr tun. Ich habe ihn irgendwann in mein Schutzgewahrsam genommen. Eines Tages erzählte er mir seine Geschichte. Ich wollte ihm helfen, also ging ich zum Hohen Rat und bat für dich um Vergebung. Schließlich hast du nichts angestellt. Und als sie sich damit einverstanden erklärten, aber nur unter der Bedingung, dass du bei mir bleibst, bin ich gleich los, um dich zu suchen. Wie du weißt bin auch ich beinahe zu spät gekommen.
Hätte ich nicht die Gabe der Zeitverschiebung, wärst du für immer verloren gewesen.“
Ich versuchte diese Informationen zu sortieren und auszuwerten.
„Werde ich für immer bei dir sein?“- fragte ich nach einer Weile.
„Ja, Mary. Bei mir und deinem Ex- Schutzengel. Er heißt übrigens Daniel. Ein wirklich netter Bursche. Er freut sich schon wahnsinnig darauf dich endlich wieder in seiner Nähe zu haben.“
„Also gut“, sagte ich fröhlich, „ich freue mich genauso, denke ich“.
Er freute sich darüber. Seine Augen verwandelten sich in ein noch schöneres Blau. Es war ganz hell geworden und noch bezaubernder.
„Du hast wunderschöne Augen, Gabriel“, sagte ich bewundernd.
Nicht wie meine glühenden, hässlichen Dinger, dachte ich.
„Würdest du auch gerne solche schönen Augen haben? „- fragte er mich und kam näher.
„Ja“, sagte ich wehmütig.
„Dann möchte ich dir diesen Wunsch erfüllen“, sagte er leise und küsste mich.
Im ersten Augenblick wusste ich überhaupt nicht wie es um mich geschah. Ich war darauf nicht vorbereitet.
Je länger er mich küsste, desto mehr merkte ich, wie er eine wunderbare Energie in mich pumpte. Ich wurde geradewegs davon überströmt. Diese Energie war so rein und so hell. Und ich merkte, dass alles andere, was in mir schwirrte, verschwand. Nach und nach verschwand jeglicher Hass, sogar der winzigste böse Gedanke war irgendwann nicht mehr vorhanden.
Es gab nur noch diese wundervolle, erlösende Energie, die durch mich floss.
Ich weiß nicht, wie lange dieser Kuss dauerte. Es könnte eine Minute oder eine Stunde gewesen sein. Zeit spielte dabei keine Rolle. Ich hatte alle Zeit der Welt.
Irgendwann, als Gabriel keinen Funken böser Energie mehr in mir spürte, wich er wieder zurück. Er taumelte kurz, so als ob ihm schwindelig geworden ist. Er tat mir leid. All diesen Dreck, der mich vor kurzen fast überfüllte, hatte er jetzt abgekriegt.
Ich dagegen fühlte mich wie neugeboren. Es war nicht mit dem zu vergleichen, was ich durchmachen musste, als ich zum Dämon wurde. Dies hier war einfach nur unbeschreiblich schön. Ich hatte das Gefühl, leuchten zu können. Meine Haut wirkte auf einmal viel zarter und weißer, als sie es je zuvor war. Ich schaute Gabriel lachend an. Glück durchströmte mich.
„Gabriel, schau mal, ich glaub´ ich leuchte!“
Ich hüpfte, wie ein kleines Mädchen über die Lichtung und lachte die Sonne an.
Aber dann erinnerte ich mich wieder an meine glühenden, hässlichen Augen und diesen furchtbaren schwarzen Flügel. Meine gute Laune wich sofort.
Was nutzte mir all diese reine Energie, wenn ich immer noch so fürchterlich aussah. Ich setzte mich wieder aufs Gras.
Gabriel beobachtete mich ein paar Schritte von mir entfernt.
„Mary“, rief er mir zu, „Liebes, wir müssen weiter. Nach Hause.“
Was? Nach Hause?
Ich hatte keins mehr. Somit wurde ich noch trauriger. Tränen kullerten wieder meine Wangen runter. Als ich nicht reagierte, kam er näher und hockte sich vor mich hin. Scheinbar ging es ihm wieder gut.
Er sah mich eindringlich an und wischte mir eine Träne weg.
„Liebes, was hast du denn?“- fragte er mich mitfühlend.
Ich schluchzte.
„Ich habe kein zuhause, Gabriel.“
Er schmunzelte mich an.
„Aber Mary, du hast jetzt wieder eins. Hast du das vergessen? Wir sind jetzt so etwas, wie eine kleine Familie. Na komm schon, wir wollen Daniel doch nicht noch länger warten lassen. Wir fliegen jetzt in dein neues Zuhause.“
Ich wollte ihm so sehr Glauben schenken, aber es war für mich alles noch nicht greifbar. Ich konnte es mir noch nicht ganz vorstellen, wie mein neues Leben aussah.
Also sagte ich einfach; „Ja, lass uns nach Hause.“
Obwohl ich selbst Flügel besaß, nahm Gabriel mich auf den Rücken und flog los. Das weiße Gefieder seiner Flügel funkelte in dem Sonnenlicht in verschiedenen Farben.
Als es Abend wurde landete er unerwartet an einem See. Hm, vielleicht wollte er sich frisch machen, dachte ich.
Als wir am Ufer standen, sagte er zu mir; „Du hast überhaupt noch nicht gesehen, wie du jetzt aussiehst. Was für ein wunderschöner Engel du geworden bist. Schau ins Wasser und sieh, wie du dich verändert hast.“
Ich schaute ihn skeptisch an. Damit hatte ich keine guten Erfahrungen gemacht. Als ich nach meiner ersten Verwandlung in einen Bach schaute, sah ich glühende Augen und schwarze Flügel. Ich sah so abscheulich aus. So furchtbar böse.
Ich zögerte. Was ist, wenn es mir auch diesmal nicht gefällt?
Aber Gabriel lächelte mich nur an. Er schob mich beinahe zum Wasser.
„Na komm schon. Trau dich Mary. Du siehst wunderschön aus!“
Ganz langsam kniete ich mich hin. Ich atmete noch einmal tief ein.
Also gut, ich werde es tun.
Ich beugte mich weiter übers Wasser bis ich mein Spiegelbild sah.
Ich konnte es nicht fassen, aber da waren keine glühenden Augen mehr zu sehen.
Ich strich mir übers Gesicht. Es war tatsächlich meins. Nur hatte ich jetzt wunderschöne blaue Augen! Sie sahen einfach nur traumhaft aus! Ich musste vor Glück lächeln. Ich lachte mich selbst an. So bezaubernd. Und vor allem sahen sie so liebevoll aus. Es gab darin keinen Funken böses mehr.
„Oh, Gabriel, schau mich doch mal an! Ich bin es tatsächlich! Dieses wunderschöne Geschöpf, was mich aus dem Wasser ansieht, bin ich. Das ist einfach nur unfassbar. Ich, ich weiß gar nicht wie ich dir dafür danken soll.“
Ich sprang ihn an und umarmte ihn. So fest wie ich nur konnte. Dann schaute ich ihm, ohne meine Umarmung zu beenden in sein wunderschönes Gesicht. Was so rein war, wie er selbst.
Er strich mir eine goldblonde Strähne aus dem Gesicht. Auch er lächelte.
„Ich glaube, dass du etwas übersehen hast, Liebes“, sagte er und schaute hinter mich.
Ich tat es ihm gleich und drehte mich um. Meine Augen wurden mit einem Schlag riesengroß. Mein Mund stand offen, als ich meine neuen Flügel anschaute. Sie strahlte beinahe in einem wundervollen Weiß. Genauso, wie sie es bei Gabriel taten.
Ich war jetzt einfach nur glücklich. Jetzt stimmte alles. So wollte ich aussehen. Für immer und ewig.
„Ich möchte ab jetzt selbst fliegen!“- sagte ich energisch.
Gabriel lachte auf, und es hörte sich an, als ob kleine Glöckchen Geräusche von sich gaben.
„Na dann lass uns weiter“, schrie er beinahe, öffnete seine Flügel und hob beim Rennen ab.
Wir flogen harmonisch nebeneinander. Immer in Richtung Süden. Die ganze Nacht dauerte es, bis wir in einem anderen Land ankamen. Wir waren in England. Und circa zwanzig Meilen nördlich von England, sagte Gabriel, dass wir fast da wären.
Ich sah von oben ein riesiges Anwesen in einer U- Form. Das Dach war ringsum mit einer Art Zacken erbaut und auf der linken Seite befand sich ein kleiner Turm. Auch sein Dach lief nicht spitz zu, sondern war flach und gezackt. Auf einem großen grünen Platz in dem Inneren, sah ich einen wunderschönen Brunnen, den fabelhafte Engelsfiguren schmückten. Sie sahen aus wie kleine Kinder, die im Wasser plantschten.
Wir landeten auf dem gepflegten, makellosen Rasen des Vorplatzes. Er wurde mit kleinen, großen und riesigen Buchsbaum- Kugeln umringt. Ich schlug meine Flügel wieder zusammen und ließ sie verschwinden. Gabriel tat dasselbe.
Es war früh am Morgen. Der Tau, der auf dem Rasen lag kühlte meine Füße angenehm und schimmerte in den schönsten Farben als die ersten Sonnenstrahlen sie anleuchteten. Die Vögel zwitscherten um die Wette und man vernahm das plätschern des Wassers, was aus dem Brunnen kam. Es schien ein wundervoller Tag zu werden.
Langsam drehte ich mich um die eigene Achse und schaute mir das gigantische Gebäude an, was uns beinahe umringte. Es gab unzählige Fenster. Meistens waren es drei kleine, oval zulaufende nebeneinander. Oder zwei riesige, aber auch sie waren nicht eckig, sondern bildeten oben eine eiförmige Form. Ich fragte mich gerade, wie viele Zimmer es wohl gab? Schätzen war sehr schwierig. Ich habe so ein Monstrum an Haus, oder viel eher Burg, noch nie von Nahem gesehen.
Wow.
Es war in einem typischen, englischen Stil erbaut worden. Den prächtigen Eingang schmückten gigantische Säulenvasen, mit weißen Rosen darin. Die Vasen waren mindestens zwei Meter hoch. Daneben befanden sich wieder zwei riesige Buchsbaum- Kugeln, die in genauso riesigen Kübeln steckten.
Ich kam erst wieder aus dem träumen heraus, als Gabriel nach meiner Hand griff. Abrupt drehte ich mich zu ihm um. Das Lächeln wich überhaupt nicht mehr aus meinem Gesicht.
Er führte mich zu dem Eingang und blieb vor den drei Stufen, die zu einer massiven zweiseitigen Tür hochführten, stehen.
„Herzlich willkommen zuhause, Miss Callahan. Ab heute trägst du meinen Namen, so wie Daniel es auch tut.“
„Das hört sich sehr gut an.“
Ich musste kichern.
„Miss Mary Callahan“, sagte ich voller Stolz.
„Lass uns reingehen, Gabriel, ich möchte jeden Winkel meines neuen Heims durchforsten! Das ist einfach traumhaft. Ist es wirklich war? Oder träume ich vielleicht? Bitte kneif mich, damit ich wieder erwache. Oder, warte! Lass es lieber sein. Denn wenn es ein Traum ist, dann möchte ich so lange es nur geht darin verweilen!“
Es ertönte ein Lachen an meiner Seite.
„Sei nicht albern, Mary. Du weißt, dass dies hier die Wirklichkeit ist. Ich kann dich auch gerne kneifen und ich versichere dir, dass du nicht erwachen wirst.“
Er lachte wieder. Ich schaute ihn, wie ein kleines hilfloses Mädchen an. Mit meinen azurblauen Augen, auf die ich sehr stolz war. Meine Schulterlangen, goldblonden Locken unterstrichen in dem Moment mein Empfinden.
„Du machst dich lustig über mich“, sagte ich etwas beschämt und trotzig.
„Lass uns rein gehen. Du wirst sehen, es ist alles echt.“
Jetzt zog er mich förmlich auf die Stufen. Ich versuchte noch einen Blick auf die so toll duftenden Rosen in den Säulenvasen zu erhaschen, als die riesige Tür, mit einen überragenden Klopf- Ring aufging.
Sie knarrte dabei etwas hölzern und ergab ein Echo in der dahinter liegenden Eingangshalle.
Sie war riesengroß. Was habe ich denn auch erwartet. Alles war hier überdimensional groß.
Die Treppe am anderem Ende der Halle, die mit einem roten Teppich ausgelegt war, mit eingeschlossen. Sie hatte mindestens vierzig Stufen.
Nicht mal eine Minute später kam ein junges Mädchen auf uns zu. Nach der Kleidung zu urteilen, gehörte sie zum Personal. Ja, klar hatte man hier Personal, huschte es mir durch den Kopf. Wie sonst sollte man dieses Monstrum an Haus nur bewältigen. Um einmal Staub zu wischen, brauchte man sicherlich Tage und mindestens zwanzig von diesen hübschen Mädchen.
Sie lächelte mich freundlich an, als sie näher kam.
„Ich heiße sie herzlich willkommen Miss Callahan“, sagte sie mit einem englischen Akzent und knickste vor mir. Mir war diese Geste unangenehm.
„Oh, äh…“
„Ich heiße Elizabeth“, fügte sie hinzu.
„Äh, Elizabeth. Du musst das nicht tun. Wirklich nicht.“
Sie kicherte und versuchte es in denselben Moment zu verbergen. Es war anscheinend unhöflich.
„Das ist schon okay“, mischte sich Gabriel ein, um die Situation zu entspannen.
„Elizabeth hat dir ein paar Räumlichkeiten hergerichtet. Sie wird sie dir zeigen. Übrigens deine Sachen habe ich auch schon alle in deinen Kleiderschrank legen lassen“, sagte er ganz lässig, als ob dies wahr sein konnte.
„Aber, äh…“
„Ach Liebes“, er gab mir einen Kuss auf die Wange, „das nächste Mal musst du dich beim shoppen wirklich ein wenig beherrschen“, beendete er seinen Satz und zwinkerte mir zu.
Ich verstummte.
Ja, klar, er musste ja irgendwie so tun, als ob ich, oder eher gesagt, wir ganz normalen Menschen sind.
Zumindest war ich mal einer.
Gott, daran musste ich mich jetzt auch gewöhnen. Ich musste ab heute so tun, als ob ich ein Mensch bin.
Immer noch in meinem Fall.
„Es tut mir leid Liebling, dass ich dir so viel zugemutet habe. Es wird nicht wieder vorkommen“, spielte ich mit einer mitfühlenden Stimme mit.
„Wo ist eigentlich Daniel abgeblieben“, fragte Gabriel das Dienstmädchen.
„Oh, Mister Callahan befand sich im Garten, hinter dem Haus, als ich ihn das letzte Mal sah.“
Kaum hatte sie es ausgesprochen, ging auch schon im hinteren Bereich der Eingangshalle eine Tür auf und zu.
Jemand kam mit schnellen Schritten näher. Er rannte beinahe.
Und dann sah ich ihn. Er kam so schnell um die Ecke gebogen, dass ich ihm kaum folgen konnte.
Das war also mein Schutzengel. Ex- Schutzengel.
Daniel Callahan.
Daniel sah so bezaubernd aus. So voller junger, frischer Energie.
Und sein Aussehen erst.
Also, wäre ich noch ein menschliches Mädchen gewesen, hätte ich mich Hals über Kopf in ihn verliebt.
Man musste ihn einfach lieben.
Als sich unsere Blicke trafen blieb er abrupt stehen. So viele Gefühle spiegelten sich auf einmal in seinem Gesicht.

Erst war da Trauer und Leid. Dann Ungläubigkeit. Und plötzlich strahlte er vor Freude und Glück.
Er lächelte mich an. Ich bemerkte die wunderschöne Rose in seiner Hand, mit der er gedankenverloren spielte.
Jetzt bewegte er sich wieder vorwärts. Jedoch ohne seinen Blick von mir abzuwenden.
Er war wie im Rausch, in den ich ihn scheinbar mit meiner Anwesenheit versetzte.
Seine Schritte wurden schneller und als er den riesigen, orientalischen Teppich, auf dem wir gerade standen, erreichte, stolperte er und war kurz davor hinzufallen.
Bei dem Beinahe- Sturz verlor er die Rose und sie landete direkt vor meinen Füßen.
Ich hob sie vorsichtig auf und roch daran. Sie duftete herrlich.
Die letzten Schritte, die uns von einander trennten überwand er im Eiltempo und nahm mich in seine Arme. Er hob mich hoch, wirbelte mich durch die Luft und sprang mit mir durch die ganze Eingangshalle und jubelte. Er tat dies so selbstverständlich. Ich schlug ihn mit meinen Fäusten gegen die Brust und zappelte mit den Beinen.
„Daniel! Lass mich runter, was erlaubst du dir! Daniel…!“
Meine Fäuste trommelten weiterhin auf seine Brust.
Ich war von seinem Verhalten geschockt und konnte nicht anders reagieren. Aber ihn schien das überhaupt nicht zu interessieren, er machte einfach weiter.
Gabriel und Elizabeth kicherten vor sich hin.
Ich hörte Gabriel sagen; „Er hat sie eben schon seit einer Ewigkeit nicht gesehen“.
Beide kicherten erneut.
Daniel stellte mich jetzt endlich wieder auf die Beine und küsste mein ganzes Gesicht ab.
„Oh Mary, oh, Mary, du weißt überhaupt nicht, wie ich mich freue dich wieder zu sehen!“
Es war ein seltsames Gefühl vor ihm zu stehen. Schließlich kannte er mich in und auswendig. Er wusste alles von mir. Ich dagegen wusste rein gar nichts über ihn.
Ich weiß nicht, ob ich in diesem Moment eine Art Scham empfand. Auf jeden Fall war mir nicht ganz wohl bei diesen Gedanken. Und außerdem hätte er mich ruhig etwas sanfter begrüßen können und nicht halb über mich herfallen.
„Äh, ich freu mich auch dich zu sehen“, sagte ich etwas zögerlich.
Das war wirklich seltsam, ich behandelte ihn wie einen fremden, der mich völlig selbstverständlich durch die Luft wirbelte, mich küsste und drückte. Er dagegen befand sich natürlich in einer genau gegenteiligen Situation.
Daniel kannte mich schon mein ganzes Leben, oder besser gesagt, seit dem es mich gab.
Oh, man, das war wirklich nicht einfach. Denn ich wollte ihn auch nicht vor den Kopf stoßen.
Er dagegen konnte sich vor Freude überhaupt nicht mehr einkriegen.
Wieder schnappte er mich, und wirbelte mit mir durch die Luft.
„Ich werde dich nie, nie, nie wieder gehen lassen. Nie Wieder, hörst du Mary!
„Daniel ich mach dir keine Vorwürfe für das, was mit mir geschehen ist okay. Du brauchst keine Schuldgefühle haben. Es war einfach nicht deine Schuld. Und jetzt lass mich endlich wieder runter!“.
„Oh, ein zickiger Engel. Wie reizend“, sagte er wieder voller Freude und lachte.
„Haha. Ich rate dir, leg dich nicht mit mir an. Schließlich war ich vor kurzem noch ein böser Dämon“, sagte ich halbernst und lächelte.
Naja, wie es aussah verstanden wir uns auf Anhieb…
Trotz allem war es mir wichtig, ihm zu sagen, dass ich ihm keine Vorwürfe machte. Ich wollte nicht, dass auch er weiterhin litt. Wegen mir.
Und vor allem wollte ich keinen Wachhund. Wenn ich Daniel so bezeichnen dürfte.
Ich hoffte, dass ich es mit meiner Ansage deutlich gemacht hatte.
Nach einer gefühlten Ewigkeit, durfte ich in Begleitung von Elizabeth in die für mich eingerichteten Räumlichkeiten.
Alles war bis aufs kleinste Detail stimmig. Jemand hatte sich viel Mühe mit der Gestaltung der Räume gemacht.
Ich hatte ein Schlafzimmer, mit einem riesigen Bett und einem roten Teppich, der beim Ausgang wieder endete.
Also irgendwie hatte sie es mit diesen roten Teppichen.
Albern. Aber nicht unschön.
An das Schlafgemach, wie sie es hier nannten, grenzte nur für mich ein riesiges Badezimmer, mit einer Ausstattung, von der ich zuvor noch nicht einmal zu träumen gewagt hätte.
Ach, was sag ich. Ich wusste noch nicht einmal, dass es so etwas gab.
Schon allein der Duschbereich war so groß wie mein früheres Zimmer. Die Badewanne, war für mindesten zehn Personen ausgelegt. Man hätte drin schwimmen können!
Es gab noch ein paar weitere Zimmer, aber mir war das zu viel. Also schaute ich sie mir erst gar nicht an.
Aber das allerbeste war dieser riesige Kleiderschrank!
Er war überfüllt mit den schönsten Kleidern aus der ganzen Welt. Ich besaß in meinem früheren Leben ganze drei Kleider Und jetzt waren es mindestens dreißig!
Und genau mit denen verbrachte ich den Rest des Tages. Obwohl ich sagen muss, dass ich es nicht schaffte, alle anzuprobieren.
Irgendwann, als es draußen schon zu dämmern begann kam Elizabeth zu mir hinauf. Es gab Abendbrot.
Oh, auch das war neu für mich.
Als Dämon lebte ich wie Freiwild und jetzt gab es Abendbrot.
Witzig.
Aber ich ließ mich gerne darauf ein. Als ich runter kam, hatte ich stolz eins der neuen Kleider an. Ich wählte ein fliederfarbenes mit Spitze. Ich hatte mir meine Haare hübsch hochgesteckt und mich etwas abgepudert.
Man, fühlte ich mich gut.
Gabriel und Daniel saßen bereits am Tisch, als ich den Essbereich betrat.
Er war mindesten eine halbe Meile von meinem Zimmer entfernt gewesen. Wäre ich noch ein Mensch, dann wäre ich jetzt wohl aus der Puste gewesen. Ich nahm mir vor, das nächste Mal hinzufliegen. Wozu hatte ich denn sonst Flügel.
Es war reichlich aufgetischt. Mehrere Dienstmädchen liefen aufgescheucht umher und brachten noch mehr.
Ich ließ mich zu einem Platz bringen und mir den Stuhl zurechtrücken.
Meine beiden „Mitbewohner“ schauten mich bewundernd an und sagten nichts.
Aber das mussten sie auch nicht, denn ich fühlte ihre Gedanken. Das war fast so, als ob ich sie hören würde.
Beide fanden mich wohl sehr hübsch und wünschten mir einen guten Appetit.
Als ich etwas auf meinem Teller hatte, fragte ich mich, ob ich als Dämon je etwas gegessen hatte.
Die Antwort lautete nein.
War ich etwa als Engel wieder auf Nahrung angewiesen?
Hm, ich versuchte es zu analysieren.
Schnell hatte ich auf diese Frage eine Antwort die lautete; Nein, ich war nicht wie ein Mensch auf Nahrung angewiesen, aber ich konnte welche aufnehmen.
Gabriel und Daniel bestätigten beide meine Antwort.
Sie haben es sich zur Gewohnheit gemacht, wie normale „Menschen“ zu speisen.
Schließlich gehörte dies auch zu der Rolle, die sie in diesem Haus spielten. Und ich musste es jetzt auch tun.
Ab jetzt waren wir drei eine kleine „Familie“. Später erfuhr ich, dass Daniel sich als Gabriel´s Sohn ausgab. Mich hat er bei dem Personal als seine frisch gebackene Frau vorgestellt.
Alles war perfekt.
Wir hatten ein wunderbares Leben, obwohl Daniel und ich uns ab und zu anzickten. Aber es war natürlich nie ernst gemeint.
Ich war ihm doch so dankbar, dafür, dass er mich in meiner schweren Zeit nicht aufgegeben hatte und mit Gabriel zusammen für mich gekämpft hat.
Was wäre denn bloß aus mir, ohne ihre Hilfe geworden? Ich wäre wahrscheinlich nicht mehr da gewesen.
Ein Dämon auf Ewig war nicht mein Ding. Es hätte mit Sicherheit einen Weg gegeben, mich von diesem Leid zu befreien.
Und wenn ich Iljas solange provoziert hätte, bis er mich wirklich getötet hätte.
Aber jetzt war ich ein Engel. Einer der Guten. Mit strahlend weißen Flügeln.
Und ich wollte meine Sache gut machen.
Schon bald habe ich gemerkt, dass in mir immer mehr eine Gabe reifte. Die Gabe des Gedankenlesens.
Am Anfang war alles eher zufällig. Es hat einige Jahre gedauert, bis ich perfekt damit umgehen konnte.
Und jetzt brauche ich mich noch nicht einmal anstrengen. Ich würde sagen, es ist beinahe so wie Autofahren.
Der Hohe Rat hat mich immer strengstens beobachtet und tut es auch heute noch.
Naja, scheinbar trauen sie einem Ex- Dämon nicht über den Weg. Aber daran habe ich mich mittlerweile gewöhnt. Ich habe Verständnis dafür.
Viel später, als es bei „richtigen“ Engeln war, bekam ich meinen ersten Schützling.
Ein seltsames Gefühl, wenn du Tag und Nacht eine andere Stimme in deinem Kopf hast. Aber mein erster Schützling hat es mir ziemlich leicht gemacht. Es war beinahe wie ein Test auf kurze Dauer. Denn es war eine alte Dame aus Rom. Sie war sehr gläubig. Leider verstarb sie nach vier Jahren meiner „Dienstzeit“.
Ich möchte mir gar nicht vorstellen, wie es gewesen wäre, wenn ich einen Kriminellen bekommen hätte. Ich denke, da hätte ich alle Hände voll zu tun gehabt.
Danach wurde ich einem Menschen zugeteilt, der noch kurz davor war, auf die Welt zu kommen.
Es wurde ein Mädchen. Sie ist mittlerweile über siebzig Jahre und wohnt nicht weit von Jacksonville entfernt.
Ich werde immer etwas nachdenklich, wenn ich daran denke, dass ich als Mensch auch ungefähr so alt wäre wie sie.
Am achten Mai wäre ich siebenundsiebzig Jahre alt geworden. Manchmal, auch nach so langer Zeit sehne ich mich danach, ein Mensch zu sein. Mein Leben zu Leben. Eine alte Frau zu werden.
Ich stelle mir andauernd Fragen darüber, wie mein Leben verlaufen wäre. Hätte ich mich irgendwann einmal in jemanden verliebt? Oder vielleicht auch mehrmals? Wie fühlte es sich an, verliebt zu sein, die Schmetterlinge im Bauch zu spüren?
Hätte ich geheiratet und Kinder bekommen?
Es bricht mir das Herz, das alles nie wissen zu können. Ich mochte mein Leben. Warum hat Eliot mich ausgewählt?
Hätte er nicht jemanden nehmen können, der nicht glücklich gewesen war? Ich war es und deswegen ist es auch so schlimm.
Aber ich möchte mich nicht beschweren. Es hätte mich in meiner damaligen Situation, als ich noch ein Dämon war, nicht besser treffen können. Ich lebe ja noch, irgendwie… Das muss reichen.
Aber warum ich dir das alles erzählt habe Lila, ist, weil ich dich damit aufklären möchte.
Du sollst niemals in dieselbe Situation kommen! Schütze dein Leben, es ist so kostbar. Die Erkenntnis soll nicht erst kommen, wenn es zu spät ist.
Schütze dich vor Iljas! Er ist die bösartigste Kreatur, die ich jemals kennengelernt habe.
Und vergebe Daniel, nachdem du jetzt weißt, was damals passiert ist und vielleicht auch seine panische Angst besser verstehst.
Ich befürchte, dass er so etwas kein zweites Mal überstehen würde. Wenn er noch einmal seinen Schützling verliert, dann wird er wohlmöglich alles daran setzen vernichtet zu werden.
Es würde für ihn keinen Sinn mehr ergeben, weiterhin ein Engel zu sein.
Er hat seine ganze Liebe, die er empfinden kann auf dich übertragen. Sein ganzes Wesen hat er dir gewidmet. Er würde alles für dich tun.
Ich weiß noch, wie er Nacht für Nacht neben deinem Bett saß und dir beim Schlafen zuschaute. Jeden bösen Traum hat er von dir ferngehalten. Jede nur so kleine böse Energie hat er weg gescheucht. Du solltest nichts Schlimmes erleben.
Lila, verstehe ihn und seine Entscheidung, sich auf der bösen Seite zu stärken.
Er würde es nicht ertragen, dich zu verlieren.
Ich hoffe, dass ich dir eine Hilfe war und du vielleicht für dich ein paar Antworten in meiner Geschichte fandest.

11.
Schwebend auf einer Wolke, beobachtete ich die funkelnden Sterne am Himmel. Von einer Minute auf die nächste wurde es schrecklich kalt und dicke, schwarze Wolken zogen sich vor den zuvor sternenklaren Himmel.
Ich wusste instinktiv, was das bedeutete.
Auf der Erde, unter mir war mal wieder ein Dämon kurz davor Böses zu verrichten.
Mein Herz zog sich zusammen. Dennoch schaute ich über den Rand meiner bequemen Wolke auf die Erde runter. Vielleicht könnte ich das Treiben unterbinden. Diesem in Not geratenen Menschen irgendwie helfen. Obwohl ich keine große Hoffnung hatte.
Ich sah ein hübsches, blondes Mädchen, Anfang zwanzig auf einem Feldweg stehen. Sie taumelte ein wenig.
Abrupt blieb sie auf halbem Wege stehen. Warum tat sie das? Ich konnte es erst auf den zweiten Blick erkennen.
Ein Dämon der sich im angrenzenden Waldstück hinter einem Baum versteckte, rief sie mit einer honigsüßen, lockenden Stimme. Es hörte sich beinahe wie eine Melodie an die den ganzen Wald umgab. Ich sah seine glühenden Augen. Er hatte es auf sie abgesehen. Wie furchtbar!
Oh, lieber Gott, bitte, hilf diesem armen Mädchen, denn sie weiß nichts von der Gefahr! Bitte! Ich schlug meine Hände zusammen.
Alles hätte ich dafür gegeben, dass sie einfach weiter gegangen wäre.
Aber es war nicht so. Natürlich nicht. Wie hätte sie diese lockende Stimme überhören können?
Wie gelähmt ging sie ohne Umwege auf diesen Baum zu. Er hatte sie bereits unter seiner Kontrolle.
In seinen Bann gezogen. Hass breitete sich in mir aus. Purer Hass auf diese widerwertige Kreatur.
Schnell schlug ich meine Hände aufs Gesicht, um diese furchtbare Situation nicht mehr zu sehen. Und vor allem um einen wütenden Schrei zu unterdrücken.
Mein Atem wurde immer schneller. Ich musste wieder hinschauen.
Nein! Es ist zu spät!
Er stand bereits vor ihr. Dicht vor ihr und seine Augen glühten jetzt vor Bosheit und vor allem vor Verlangen, nach diesem zerbrechlichen Mädchen. Oh, wie ich ihn dafür hasste!
Ich schrie dem Mädchen von meiner Wolke zu; „Lauf, lauf so schnell du kannst! Er wird dir wehtun! Bitte, bitte!“
Aber sie hörte mich nicht. Ich war zu weit weg. Und für sie nicht sichtbar.
Wo war denn bloß ihr Schutzengel? Er ist der einzige, der ihr jetzt noch helfen könnte. Er hatte ihr Leben in seinen Händen.
Hektisch suchte ich die Umgebung unter mir ab. Erstaunlicherweise konnte ich trotz der jetzt stockdunklen Nacht alles sehen. Zumindest das, was ich sehen wollte. Instinktiv erweiterte ich meine Suche, denn ich wusste, warum auch immer, nach wem ich suchen musste.
Daniel.
Er saß in einem gemütlichen roten Sessel, den er sich vor den riesigen Kamin rückte und beobachtete das Feuer. Wie es aussah, genoss er diesen Moment.
Aber er hatte sichtlich keine Ahnung, was mit seinem Schützling gerade passierte. Warum nicht?
War ich denn die einzige, die es bemerkte?!
Ich lehnte mich soweit ich konnte über die Wolke auf der ich mich befand, in der Hoffnung ihn so besser zu erreichen.
„Daniel! Hallo!?“
Ich wäre vor Enthusiasmus beinahe runtergefallen. Schnell zog ich mich wieder hoch.
Große Verzweiflung breitete sich in mir aus. Hektisch schaute ich abwechselnd zu dem Mädchen und dann wieder zu Daniel, der ganz entspannt in seinem Sessel saß.
Mein Gott, ich kam mir so hilflos vor.
Der Dämon machte sich mittlerweile an dem Mädchen zu schaffen. Er zerriss gerade mit Leichtigkeit ihre Unterwäsche.
„Neeein!! Du wiederwertige Kreatur, lass die Finger von ihr! Daniel, hallo, helf ihr doch endlich!! Hallo…“
Meine Worte versanken im Schluchzen. Ich weinte, wie ein kleines Mädchen. Unschuldig und aufrichtig, ohne nur eine einzige Träne zu unterdrücken.
Gleich ist es vorbei. In wenigen Augenblicken hat er sie getötet. Und was macht ihr Schutzengel? Er macht es sich vor seinem Kamin gemütlich!
Ich rief nicht mehr nach ihm. Es war ja sowieso sinnlos. Jetzt schaute ich einfach nur traurig zu, wie eins der schrecklichsten Verbrechen begangen wurde.
Der Dämon ließ von ihr ab und verschwand.
Er hat sie einfach liegen lassen. Klar, er hatte bekommen, was er wollte.
Das Mädchen lag völlig regungslos da. Vielleicht war sie ja tot, was definitiv die bessere Alternative gewesen wäre, als ewig ein Dämon zu sein.
Ich wollte ihr so gerne helfen. So gerne. Ich fühlte mich schuldig, einfach zugesehen zu haben. Leider hatte ich keine andere Wahl.
Als ich wieder zu Daniel schaute war er nicht mehr an seinem bisherigen Platz. Ich war verwirrt. Schnell schaute ich wieder zu dem Mädchen. Und da saß er. Neben ihr. Er hielt ihre Hand und weinte ganz fürchterlich.
Es war zu spät. Er hatte versagt. Liebevoll streichelte er mit der freien Hand ihr Gesicht und schluchzte. Ich konnte nur zu gut seinen Schmerz nachvollziehen. Ich weinte einfach mit ihm. Wir wussten beide, dass ihr Leben vorbei war. Und er wusste, dass es wegen ihm vorbei war und das war noch viel unerträglicher.
Nach einer gefühlten Ewigkeit legte sich Daniel neben sie, so als ob er auch sterben wollte. Er hatte als Engel versagt. Was sollte ihn jetzt daran hindern. Sein ganzes Dasein ergab keinen Sinn mehr.
Leise, ohne einen Ton zu sagen lag er da und beobachtete sie traurig. Seine Hand hielt immer noch ihre und mit der anderen streichelte er ihr Gesicht und die blonden Haare, die jetzt irgendwie fahl wirkten.
Oh Daniel, warum konnte das passieren? Warum hast du ihr Flehen nicht gehört? Sie hat so sehr um Hilfe gefleht.
Er tat mir so fürchterlich leid. Mein Herz schmerzte und mein Inneres krampfte sich zusammen. Ich schlug die Hände vor meiner Brust zusammen, um es besser zu ertragen.
Zwei Tage und zwei Nächte lag er neben ihr. Streichelte sie und fing immer wieder an zu weinen. Manchmal, wenn sein Schmerz zu heftig wurde, schrie er aus voller Kehle um damit besser klar zu kommen.
An dem dritten Tag, als er mal wieder neben ihr lag, regte sich das Mädchen.
Daniel zuckte zusammen und stand auf. Er wusste, dass wenn sie als Dämon aufwacht, musste er weg sein. Ein letztes Mal kullerten Tränen seine Wangen runter. Es war Zeit sich zu verabschieden. Er küsste ihre Hände und versuchte sie in seinen zu wärmen. Als sie kurz davor war zu erwachen, gab er ihr einen letzten Kuss auf die Wange und Stirn und flog davon.
Es war vorbei.
Er hatte sie für immer verloren.
Nie wieder würde er sie sehen. Nie wieder.
Ich wollte es einfach nicht wahr haben. Die Situation war so traurig und gleichzeitig so hoffnungslos.
Am liebsten wäre ich mit ihr gestorben. Ich fühlte mich so leer.
Der Himmel, der immer noch ziemlich grau und trüb war, hellte sich jetzt wieder etwas auf.
Eine außenstehende Kraft versuchte das zu bewirken. Aber ich konnte nicht realisieren woher sie kam.
Es war auch ziemlich egal. Ich wollte trauern.
„Lila! Hörst du mich? Hallo!?“
Irgendjemand rief mich. Ich versuchte mich auf diese Stimme zu konzentrieren. Meine Wolke schien sich auf einmal von selbst aufzulösen. Ich klammerte mich an den noch vorhandenen Rest, um nicht runter zu fallen. Und dann hörte ich wieder diese Stimme.
„Lila, hörst du mich?“
Ich schaute mich zu allen Seiten um, aber ich sah niemanden, zu dem die Stimme passen konnte. Die Erde unter mir begann genauso zu schwinden wie meine Wolke. Ich bekam Angst.
„Hallo? Ich höre dich!“- schrie ich verzweifelt ins Nichts.
Meine Wolke verschwand jetzt endgültig und ich fiel unwillkürlich nach unten.
„Ahh, was passiert mit mir?! Hilfeee!“
Ich schrak hoch und saß jetzt aufrecht in Daniels Bett. Ich atmete laut und schnell. Für einen Moment hatte ich Schwierigkeiten mich zu orientieren. Panisch schaute ich zu allen Seiten.
„Daniel! Oh mein Gott, Daniel!“
Er saß neben mir auf dem Bett und sah wirklich sehr besorgt aus. Ich wurde etwas skeptisch. War das jetzt echt?
Denn langsam dämmerte es mir, dass ich sehr wahrscheinlich geträumt hatte.
Die Stimme, die ich zum Schluss hörte, war Daniels gewesen. Er versuchte mich aus meinem Traum heraus zu holen.
Ich wurde langsam wieder ruhiger. Nochmal schaute ich mich um. Das Zimmer war lichtdurchflutet, was darauf hindeutete, dass es bereits Morgen war.
Ich bin ziemlich spät ins Bett gegangen. Mary hatte mich, was Daniel betraf ziemlich beruhigt. Sie versicherte mir noch einmal, dass er wieder kommt.
Und erst jetzt realisierte ich, dass er tatsächlich wieder da war. Er saß genau neben mir!
Mit einer einzigen Bewegung saß ich auf seinem Schoß und umschlang ihn.
„Daniel! Du bist es wirklich! Man, bin ich erleichtert dich zu sehen!“
Ich küsste ihn abermals auf seine Stirn und Wangen und Mund. Ich konnte gar nicht genug von ihm kriegen. Aber etwas war anders an ihm. Es war sein Geruch. Er hatte sich verändert. Daniel roch jetzt irgendwie süß und würzig. Irgendwoher kannte ich diesen Geruch.
Ich kannte ihn von Iljas.
Er hatte so gerochen, als er mich in meinem Zimmer aufsuchte.
Also, das war wirklich eklig. Ich wollte umgehend wieder die Sommerbrise an ihm riechen.
Ich verzog mein Gesicht.
„Igitt, Daniel, du stinkst wie ein ganze Horde tollwütiger Dämonen!“
Er lachte herzlich auf und verlor dabei beinahe sein Gleichgewicht. Zum Glück saß er auf dem Bett.
„Na, wenn das deine einzige Sorge ist, bin ich ja beruhigt.“
„Nein, das ist nicht mein einziges Problem!“- protestierte ich und haute ihm mit meiner Faust leicht gegen seinen Oberarm.
„Okay, ich bin ganz Ohr.“
Er schaute auf seine stilvolle Armbanduhr von Armani.
Protzig.
Schon allein bei dem Anblick rollte ich meine Augen.
„Du hast genau 6 Minuten Zeit. Danach ist Mary mit dem Frühstück fertig und wird uns rufen.“
„Schreib mir nicht vor, wie lange meine Standpauke dauern soll!“
„Ich weiß, ich weiß“, begann er.
Langsam wurde ich sauer. Er hatte bereits meine Gedanken gelesen und wusste was ich ihm vorhalten wollte.
„Und wenn du das weißt! Ich bestehe darauf, es dir trotzdem vorzuhalten!“
Ich schaute ihn mit einem Schmollmund und zusammen gekniffenen Augenbrauen an.
Er gab mir einen Kuss, mitten auf den Mund. Er überraschte mich damit und ich kippte nach hinten, sodass er mich auffangen musste. Erst jetzt sah ich, dass ich kaum etwas anhatte. Wo war denn meine kuschelige Hose geblieben, die mir Mary geschenkt hatte?
Egal.
Ich war gerade in ganz anderer Stimmung. Ich stieß seine mir helfenden Hände zurück und schaute ihn wieder wütend an.
„Mach das nicht nochmal! So, und jetzt wieder zurück zu meiner Standpauke. Ich sprang leichtfüßig von dem Bett, stellte mich vor ihn und schmiss meine verschränkte Arme vor die Brust.
Ich wollte ihn besser sehen, oder eher beobachten und vor allem wollte ich nicht, dass er mich wieder küsst und ich dabei weich wie Butter werde.
Ich schüttelte den Kopf um mein Gesicht von den Locken zu befreien. Das tat ich immer, wenn ich wütend war.
„Also mein Lieber, dann gebe mir einen triftigen Grund für dein unmögliches Verhalten!
Wie konntest du einfach so abhauen, ohne mir Bescheid zu sagen? Weißt du, vielleicht habe ich mir tierische Sorgen um dich gemacht!? Und die Krönung ist ja, dass du mir kurze Zeit vor deinem Verschwinden versprochen hattest, dich nicht in Gefahr zu bringen. Seit wann können Engel lügen, he? Du kannst wirklich froh sein, dass ich dir nicht deinen hübschen, zu hübschen Kopf abreiße! So, ich bin fertig! Und jetzt darfst, oder viel eher musst, denn ich bestehe darauf, etwas dazu sagen.“
Ich schaute schnell auf meine nicht ganz so protzige Uhr und sagte mit einem skeptischen Blick; „Wenn ich richtig gerechnet habe, hast du noch genau 3 Minuten und 15, 14, 13, Sekunden.“
„Na dann muss ich mich beeilen, nicht wahr“, sagte er ziemlich gespielt und musste sich anstrengen ernst auszusehen.
Scheinbar war ich wirklich witzig. Ich schaute ihn drohend an und dachte mir den Rest dazu, weil ich wusste, es würde bei ihm ankommen.
Eindringlich schaute ich ihm in die Augen, ohne zu blinzeln. Wenn man wütend ist, blinzelt man nicht mehr. Herrgott, wie sahen denn bitte seine Augen aus!? Oh, Schreck. Das wunderschöne Blau war weg! Stattdessen waren sie jetzt beinahe undefinierbar. Grau, mit einem dreckigen dunkelblau, igitt. Auch das mochte ich nicht.
Na ganz toll, er stank jetzt und seine Augen sahen aus wie ein verdammt verregneter Herbsttag.
„Also“, fing er an und das gefiel mir bereits nicht. Ich war auf Konfrontation eingestellt.
„Beeil dich ein wenig, denn ich kann deine Gedanken nicht lesen, so wie ein Memo, was einem für später hinterlegt wird“.
„Also“, fing er noch einmal an. Er war sehr geduldig mit mir.
„Ich weiß, dass ich es dir hätte sagen sollen oder vielleicht auch sogar sagen müssen. Aber ich konnte nicht. Bitte Lila. Ich konnte es dir einfach nicht sagen. Du hättest es einfach nicht verstanden.“
Oh, jetzt war ich auch noch dumm! Die dumme, kleine Lila hätte es nicht verstanden, parodierte ich ihn in Gedanken. Dummer Mensch.
Ich sagte nichts dazu. Keine Antwort war bekanntlich auch eine. Er verzweifelte an mir, denn Daniel schlug sich die Hände aufs Gesicht und rieb es ganz kräftig. Naja, wenigstens verbarg er damit seine jetzt unschönen Augen. Ich war böse. Vielleicht brachte mich die von Daniel ausgehende negative Energie so in Rage? Und auf einmal wurde mir bewusst, was ich vielleicht damit anstellen könnte, wenn ich ihn noch weiter provozierte. Er war gerade nicht der vollkommen gute Engel und das machte ihn wesentlich gefährlicher. Er war so etwas wie eine tickende Zeitbombe, die man nicht zu heftig bewegen durfte.
Jetzt empfand ich Respekt vor ihm. Ich konnte Daniel gerade nicht einschätzen. Also beschloss ich nichts böses mehr zu sagen oder denken.
„Hättest du mich jemals gehen lassen, wenn ich es dir gesagt hätte?“ – fragte er mich überraschend.
Darauf wusste ich keine Antwort.
„Ich weiß es nicht Daniel. Aber wahrscheinlich nicht“, vervollständigte ich ehrlich meine Antwort.
„Ja, und genau deshalb habe ich es nicht getan. Ich hätte gehen müssen, ob du es gewollt hättest oder nicht. Aber da du ja jetzt, dank Mary über ein umfangreicheres Wissen über Engel und die Unterwelt besitzt, werde ich solche Dinge mit dir das nächste Mal besprechen. Versprochen.“
Es schien ihm nicht so recht zu gefallen, dass Mary mir ihre Geschichte erzählte. Ich verstand, glaube ich auch warum. Er war genauso eine Hauptperson in ihrer Geschichte gewesen, wie sie selbst.
Wahrscheinlich war ihm das unangenehm, dass ich jetzt etwas über seine nicht ganz so glückliche Vergangenheit wusste.
„Ich hoffe, dass es kein nächstes Mal geben wird… Das überstehe ich kein zweites Mal, Daniel! Beinahe hätte ich meinen Verstand verloren…“
Ich sprang ihm an den Hals und schluchzte wie ein kleines verängstigtes Mädchen.
„Du bist ein starkes Mädchen, Lila. Viel stärker, als die meisten Menschen.“
Und dann nuschelte er noch so etwas wie „Wieso das so ist, werde ich noch herausfinden.“
Abschließend küsste er mich mit seiner ganzen Liebe die er im Moment besaß und danach ging es mir wieder besser.
Ich schnaubte meine Nase aus und ging ins Badezimmer.
„Lila, komm gar nicht auf den Gedanken hörst du!“
So ein Mist.
„Doch Daniel, ich werde jetzt meine Sachen packen und nach dem Frühstück wirst du mich nach Hause fahren!“
„Nein!“
Ich schob meinen Kopf aus der Badezimmertür und sagte zünisch; „Zwing mich doch.“
Rasch sah ich ein blitzen in seinen Augen und sie wurde noch dunkler. Erschrocken wich ich intuitiv zurück. Erst jetzt verstand ich was ich da gerade sagte und dass ich mit diesen Worten viel Böses anrichten könnte.
Der freie Wille eines Menschen muss immer gewahrt werden, ob von einem Dämon, oder Engel und Daniel wusste, dass wenn ich gehe, er nichts dagegen unternehmen könnte.
„Tut mir leid, das war nicht so gemeint“, sagte ich leise und schaute ihn mit meinen verheulten Augen ziemlich verängstigt an.
„Mir tut es auch leid“, sagte Daniel, der scheinbar von sich selbst erschrocken war.
Langsam kam er auf mich zu, nahm mich in den Arm und sagte; „Lass uns frühstücken gehen und später darüber reden. Ich habe Mary bereits mehrere Male vertröstet.“
„Okay.“
Er ging mit seinem athletischen Körper vor, der sich mit so einer Leichtigkeit bewegte, dass man hätte glaube können, er berühre nicht den Boden. Ich blieb einen Moment stehen und genoss den Augenblick. Immer wieder aufs Neue war ich von Daniel fasziniert. Er verkörperte alles, was ich mir je wünschen könnte. Ich empfand die innigste Liebe, die meinen Brustkorb beinahe sprengte.
„Ich liebe Dich…“
„Wie bitte?“
„Ach tu nicht so, als müsstest du mich das wirklich fragen“, erwiderte ich und lächelte ihn noch ziemlich benommen an. Als wir alle gemeinsam am Tisch saßen, herrschte eine seltsame Stimmung. Keiner hat viel gesagt, oder viel eher ausgesprochen. Mir schien es eher so als ob sie telepathisch unter einander ein ziemlich ernstes und energisches Gespräch führten, was diese merkwürdige beunruhigende Stimmung verbreitete. Dieses Bild war einfach nur paranoid. Daniel saß neben mir und pellte ein Ei, Mary saß uns direkt gegenüber und blätterte in einem Kochbuch. Ihre Schönheit war mal wieder beinahe übertrefflich. Dort, wo die Sonne ihr Haar erreichte schimmerte es wie Gold. Ihre Haut war beinahe porzellanartig, es schimmerte keine einzige Ader durch. Und zur abschließenden Krönung, warf ihr Diamantring kleine Sprenkel in verschiedensten Farben auf ihr Decoltee. Ein Sinnbild der Götter, oder so ähnlich. Gabriel saß am Tischende und blätterte in einer Zeitung, ohne, wie es zumindest aussah jemanden von uns zu beachten. Sem wühlte mit seinem halben Körper im Kühlschrank.
Alle waren mit den unterschiedlichsten Dingen beschäftigt und dennoch führten sie ein gemeinsames Gespräch. Ich werde noch irre, dachte ich. Aber fragen, worum es denn ging traute ich mich nicht. Ich war mal wieder die einzige im Raum die davon nichts mitkriegte. War das ein dummes Gefühl. So, als ob man taub wäre. Ich ärgerte mich schon wieder darüber, dass ich ja nur ein sinnesverkorkster Mensch war. Das machte mich jedes Mal zu Außenseiterin, obwohl alle vier immer darauf achteten, dass ich mir eben nicht so vorkam. Naja, jedenfalls war ich froh, als ich wieder in Daniels Zimmer war und weiter meine kleine Reisetasche packen konnte.
Ich hatte schon ein schlechtes Gewissen, aber morgen war Montag und zumindest ich musste zu Schule.
Und als ich daran dachte, musste ich auch unwillkürlich an Kate denken. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, als ich sie das letzte Mal sah. Sie ist bestimmt tierisch sauer auf mich und ich kann sicher froh sein, wenn sie überhaupt jemals mit mir noch ein Wort sprach. Ach wie einfach war das Leben noch an dem Tag, als wir unbeschwert in ihrem Cabrio in die Eisdiele fuhren. Auf eine Art vermisste ich mein tristes, langweiliges Leben, was ich vor nicht allzu langer Zeit führte. Aber Daniel hätte ich für nichts auf dieser Erde missen wollen. Obwohl unsere Liebe so viele Schwierigkeiten mit sich brachte. Alles, war mir recht, Hauptsache er war bei mir.
Ach ja und dann war da auch noch Phil. So ein Mist. Er tat mir leid, denn ich war nicht fair zu ihm. Ich muss unbedingt mit ihm reden und ihm erklären, dass es nicht seine Schuld ist, dass aus uns nichts wurde. Er wartete schon zu lange auf eine Antwort, obwohl er sich diese ja eigentlich mittlerweile selbst geben könnte. Dennoch ich war es ihm schuldig, schließlich hatten wir eine schöne Zeit miteinander, auch wenn es nur ein Abend gewesen war.
Wenn ich darüber nachdachte, schwand meine Lust tatsächlich auf die Schule. Oje, ich musste so einiges wieder in Ordnung bringen.
Aber was soll ich denn bitte meinen Eltern erzählen. Ich weiß, ich hätte ihnen so ziemlich die bescheuertste Ausrede liefern können und sie hätte mich gehen lassen, weil es mal wieder viel Wichtigeres gegeben hätte. Aber schon aus Protest hatte ich keine Lust dazu, weil ich mich danach sicher schlecht gefühlt hätte und davon konnte ich gerade nicht noch mehr gebrauchen.
Daniel riss mich aus meinen Gedanken.
„Lila bitte, überlege es dir doch noch einmal. Ich spüre, dass sich etwas Schlimmes anbahnt. Die dunklen Kräfte sind dabei sich zusammen zu tun. Ich spüre es ganz deutlich! Bitte Lila! Wenn du unbedingt gehen willst, dann komme ich mit!“
Gerade zog ich mir meine Hose über und stolperte halbwegs auf ihn zu.
„Wie bitte? Was meinst du damit, sie tun sich zusammen?“
Keine Antwort.
„Hallo? Daniel? Ging es etwa darum bei eurem Gespräch beim Frühstück?“
Er nickte nur. Sein Blick zeigte mir, dass es ihn sehr beschäftigte. Auf seiner Stirn zeichneten sich Falten vom Nachdenken ab.
Es war ernst. Ich wusste es genauso wie er. Wir hielten beide für einen Moment inne und es wurde ganz still.
„Was haben die vor?“
Er nahm mich beschützend in seine Arme und drückte mich an sich.
„Ich weiß es nicht… Auf jeden Fall steckt Iljas dahinter. Er versucht mit all seiner Macht so viel Böses wie möglich zusammen zu treiben.“
Ich schaute ihm in die Augen. Sah ich darin wirklich Angst?
„Was will er damit erreichen? Ich verstehe das nicht, Daniel!“
„Er will dich. Mit aller Macht.“
Jetzt lief ich hecktisch durch das ganze Zimmer und stieß mir einen Zeh an der Bettkannte.
„Ah, so ein Mist!“- schrie ich auf und rieb mir den schmerzenden Zeh.
„Bleib doch mal stehen, du machst mich ganz nervös!“
Er „schwebte“ in Windeseile zu mir rüber und hielt mich an den Schultern fest.
„Hör zu Lila, es ist sehr wichtig, dass wir zusammen bleiben, damit ich dich beschützen kann.“
„Ja, okay“, nickte ich hecktisch mit dem Kopf, was dazu führte, dass meine Haare sich beinahe alle im Gesicht wieder fanden.
Daniel befreite mich und klemmte sie hinter die Ohren.
„Also, wenn du nach Hause möchtest, dann lass mich bitte mitkommen. Du weißt, dass ich sowieso da wäre…“
Es klang beinahe wie Erpressung.
Egal, es war viel eher eine Tatsache, gegen die ich sowieso nichts unternehmen könnte. Aber ist ja nett von ihm, dass er mir wenigsten versucht hat die Wahl zu lassen. Dieses wurde mir erst jetzt bewusst.
„Also, darf ich jetzt mit?“
Ich lächelte ihn wieder auf dem Weg ins Badezimmer an und sagte; „Du musst, mein Lieber. Hast du vergessen wer du bist?“
„Wenn du mir meine Job nicht immer so schwer machen würdest, könnte ich ihn bestimmt noch besser“, rief er mir etwas besser gelaunt hinterher.
Da das Auto meiner Eltern nicht zu sehen war, parkte Daniel genau vor der Haustür. Dies war ja glücklicherweise dank meines Vaters, der dafür einen riesen Aufwand betrieb, möglich.
Dennoch kam mir alles so fremd vor. Ich öffnete die Haustür.
Von innen strömte ein bekannter, aber nicht mehr vertrauter Geruch heraus. Irgendwie fühlte ich mich unwohl und war daher sehr froh, dass Daniel bei mir war. Suchend drehte ich mich zu ihm um. Ich war so hilflos ohne ihn. Er nahm gerade die letzten Sachen aus seinem Audi und kam mir entgegen.
Wir traten in die Eingangshalle.
„Hallo? Ist jemand da? Nein. Wie immer…“
In meinem Zimmer angekommen, machte ich erst einmal die Fenster auf, um frische Luft rein zu lassen.
„Können wir irgendetwas unternehmen, um uns zu schützen?- fragte ich Daniel, der sich gerade auf meinem Bett bequem machte.
Er schmiss mir einen fragenden Blick rüber.
„Na du weißt schon, irgendwelche Rituale oder irgendwelche Energiepunkte bilden, was weiß ich…“ fuchtelte ich ahnungslos mit den Händen.
Daniel lachte sich halb schief. Sehr lustig.
„Man, Daniel, hör bitte auf damit! Die Situation ist nicht lustig, hörst du!“
Er krümmte sich immer noch.
„Das stimmt“. Er griff nach meinen Hüften und schmiss mich aufs Bett.
Ein langer zuckersüßer Kuss folgte. Und noch einer und noch einer.
„Wenn du wüsstest, wie süß du bist. Und unterhaltsam“, neckte er mich und kicherte wieder.
„Aber jetzt mal wieder zum ernsten. Ich glaube nicht, dass wir viel unternehmen können. Wir müssen abwarten und die Zeichen deuten. Dank meiner dunklen Energien, die ich im Moment habe, kann ich ziemlich gut fühlen, wenn jemand aktiv werden möchte. Lass uns einfach nicht so viel darüber nachdenken okay? Und was sehr wichtig ist, wir dürfen keine Angst haben, denn diese ist der beste Nährboden für jeden Dämon. Damit würden sie uns überall finden und wir wären eine leichte Beute. Wir sind zusammen und das ist das schönste, was zumindest ich mir vorstellen kann.“
„Das stimmt.“
Ich schmiegte mich fest an ihn, aber kam nicht zur Ruhe. Meine Gedanken überschlugen sich. Wie sollte ich denn keine Angst haben? Iljas wollte mich! Ich hatte eine Riesenangst! Es ist doch beinahe unmöglich, dass Daniel oder die Anderen nicht wussten welche Absichten er hegte. Warum er unbedingt mich als seine Gefährtin haben wollte. Sie waren doch Engel und Mary konnte sogar Gedanken anderer lesen. Und dann fand dieses viel zu aufgeregte „Gespräch“ heute Morgen unter ihnen statt.
Mein Gefühl sagte mir sehr deutlich, dass Daniel sehr viel mehr wusste, als er zugab.
Und wie aus dem nichts plapperte ich los.
„Daniel, worüber habt ihr euch heute Morgen noch am Frühstückstisch unterhalten?“
„Was meinst du damit? Das habe ich dir doch schon gesagt.“
Ich hasste es, wenn er mit mir so sprach. Ich löste seine Umarmung und setzte mich aufrecht hin.
Mein Temperament ging beinahe mit mir durch. Ich schaute ihm fest in die Augen und sah, oder eher wusste, dass er bereits meine Gedanken durchforstete.
„Ich fass es nicht, warum kannst du das bloß! So etwas kann kein Mensch wahrnehmen, Lila! Kannst du nicht einfach so sein wie alle anderen? Bitte!“ Er flehte mich mit seinen Augen an. Ich sah Verzweiflung und Trauer, was mein Gefühl noch mehr bestärkte. Es muss viel schrecklicher sein, als ich mir vorstellen konnte.
„Was heißt denn das schon wieder? Bin ich unnormal? Jetzt fang nicht du auch damit an. Langsam denke ich, dass ich von einem anderen Stern komme, oder so etwas.“
Daniel sah gequält aus. Uns beide nahm die Situation ziemlich mit. Dieses riesige Durcheinander. Und alles verursacht durch unsere Liebe. Aber an ihr habe ich keine Sekunde lang gezweifelt. Sie war immer klar und deutlich.
„Daniel, ich möchte doch nur wissen was hier läuft. Ich weiß doch dass du mehr weißt, als du zugibst. Du kannst mir doch nicht erzählen, dass Mary nicht Iljas Gedanken kennt. Warum will er mich?“
Egal wie die Wahrheit aussah, ich musste sie wissen. Es ging um mich!
„Ich kann dir das nicht erzählen, Lila! Es grenzt doch schon an einen Wunder, dass du bis jetzt noch keinen Nervenzusammenbruch erlitten hast! Du musstest doch schon so viel verkraften und verarbeiten. Ich habe einfach Angst, dass du es nicht überstehen wirst, verstehst du das?!“
Wieder flehte er mich an, aber ich war fest entschlossen und das wusste er.
Er stand auf und lief im Kreis herum. Völlig verzweifelt und nervös. Er wusste, dass er mir die Wahrheit sagen musste, obwohl er am liebsten weggeflogen wäre.
„Okay, ich erzähl es dir, auch wenn ich damit alles riskiere was mir lieb ist! Du setzt dich am besten hin.“
Ich tat was er mir sagte.
Daniel kniete vor mir und schaute mir liebevoll in die Augen.
„In dem Gespräch heute Morgen ging es darum, dass alle mich dazu drängten dir die Wahrheit zu sagen. Sie sind der Meinung, dass du sie wissen musst, schon allein um dich selbst schützen zu können. Mary sagte, dass du es verkraften wirst, obwohl ich immer noch anderer Meinung bin. Aber ich hoffe aus tiefstem Herzen, dass sie Recht behält. Du siehst die Situation ist sehr ernst.“
„Ich bin bereit Daniel.“
War ich es wirklich? Tief durchatmen und die Nerven sortieren. Es ging sowieso kein Weg daran vorbei, egal ob ich stark genug war oder nicht. Früher oder später wird die Wahrheit mich einholen und dann trifft sie mich wahrscheinlich noch härter.

12.
„Kannst du dich noch an unser Gespräch erinnern, in dem ich dir erzählte, dass Engel sich nicht verlieben können? Dass es ausgeschlossen ist sich in einen Menschen zu verlieben?“
Ich musste nicht lange überlegen, denn ich wusste noch von allen Gesprächen, die wir jemals geführt hatten.
Aber ich nickte nur als Bestätigung.
Daniel machte eine Pause. Das, was er mir als nächstes sagen musste schien für ihn beinahe unmöglich zu sein. Er suchte nach den richtigen Worten. Nach liebevollen, weichen Worten, die sich nicht wie ein Schlag ins Gesicht anfühlten. Er fing an zu stottern.
„Was… Was ist, wenn ich dir sage, dass du wahrscheinlich dafür verantwortlich warst, dass ich dich jetzt so unwahrscheinlich liebe?“
Ich sprang wie eine Rakete von meinem Bett hoch. Jetzt war ich diejenige die Kreise durchs Zimmer zog und wild mit den Armen fuchtelte.
„Ach, komm schon Daniel, das ist doch völlig absurd! Wie hätte ich das anstellen sollen? Bevor du in meiner Schule aufgetaucht bist, wusste ich noch nicht einmal von deiner Existenz! Ich bin doch nur ein ganz gewöhnliches Mädchen! Ein Mensch!“
Ich konnte meine Gedanken kaum noch zusammenhalten. Es herrschte so ein Durcheinander, dass noch nicht einmal Daniel durchgestiegen wäre.
Mein Herz schlug heftig und ich hörte mein Pulsschlag in den Ohren. So ähnlich muss man sich wahrscheinlich fühlen, wenn man weiß, dass man in wenigen Augenblicken hingerichtet wird. Mein Körper zitterte. War es Panik, die gerade in mir hochstieg? Wollte ich wirklich alles wissen?
Daniel kam auf mich zu und drückte mich fest an sich.
Er nahm mein Gesicht, was wahrscheinlich völlig entsetzt aussah in beide Hände und ich merkte seine wohlige Energie, die er immer ausstrahlte. Obwohl diese sich nicht mehr wie ein Adrenalinstoß anfühlte.
„Du bist kein gewöhnliches Mädchen. Glaube mir Lila, ich würde alles dafür tun, damit du es sein könntest. Aber du bist es nicht.“
„Was fehlt mir Daniel? Bin ich krank? Warum bin ich denn nicht normal? Ich fühle mich doch gut…“
Jetzt schossen die Tränen in meine Augen. Und noch etwas anderes breitete sich in meiner Brust aus. Wut. Über wen genau konnte ich nicht sagen, aber ich war auf einmal völlig außer mir. Vielleicht war diese Wut auch nur eine Art Schutzreaktion meines Gehirns. Die Tränen liefen, aber ich beachtete sie nicht, sondern schaute Daniel wütend an und fing an, ihn aus tiefster Kehle anzuschreien.
„Du hast Recht, ich ertrag das alles nicht! Weißt du was, ich denke langsam, dass ich in einem völlig durchgeknallten Traum feststecke. Ja, das ist das richtige Wort für das, was hier verdammt nochmal abläuft. Gibt es denn kein erwachen?! Und soll ich dir noch etwas sagen, ich spiele hier nicht mehr mit! Ich möchte aufwachen und feststellen, dass ich, ich bin und sich nichts veränderte. Keine Engel und auch keine Dämonen! Zum Teufel mit euch Allen!“
Ich brach schluchzend auf dem Fußboden zusammen. Wie viel konnte ein Mensch ertragen, bevor er wirklich die Nerven verlor? Ich glaubte an diesem Punkt angekommen zu sein. Aber dass der Knaller, der Höhepunkt dieses Albtraumes erst noch kommen würde, hätte ich in diesem Moment niemals erwartet.
„Komm her“- Daniel kniete neben mir und wusch mir die Tränen mit seinem Ärmel weg, was dafür sorgte, dass dieser jetzt zwei schwarze Kajal- Spuren hatte.
„Oh, mein Gott, Daniel. Es tut mir leid“, flüsterte ich.
Er drückte mich erneut an sich. Mich, das kleine hilflose Küken. Er tat es so liebevoll, so zärtlich. Mein Puls beruhigte sich langsam. Auch das war eine schöne Nebenwirkung der Egelenergie. Sie beruhigte und stimmte einen selig. Ich atmete tief seinen einzigartigen Geruch ein. Es war wie eine Sucht, die Sucht der Liebe.
„Nun, komm schon, erzähle es mir. Wie habe ich denn angestellt, dass du dich in mich verlieben konntest?“
Er ließ mich nicht los. Immer noch hielt er mich fest an seine Brust gedrückt. Ich hörte seinen Herzschlag der nun wesentlich schneller war.
„Es ist zwar nur eine Vermutung, aber die beste Erklärung, wie es gewesen sein könnte.“
Er machte eine Pause. In meinem Zimmer herrschte Totenstille. Ich schaute in seine wunderschönen Augen, die schönsten die ich je gesehen hatte, aber sie schauten nicht zurück. Sie waren traurig und von einem tiefen Blau.
Ohne mich anzuschauen sagte er;
„Ich erzähle dir jetzt eine Geschichte, höre gut zu Liebes.“
Eine kurze Pause und ein tiefer Seufzer folgten und dann fing er an.
„Vor ungefähr 19 Jahren hatte ein Dämon eine, wie es ihm vorkam, geniale Idee. Weil er es leid war alleine zu sein und selbst die ganze „Arbeit“ erledigen zu müssen, dachte er darüber nach sich eine Gefährtin zu suchen. Er dachte lange darüber nach und da kam ihm seine geniale Idee. Die beste Gefährtin wäre doch unumstritten ein menschliches Mädchen, dem er von Geburt an verbotenerweise die Wirkung eines Engels verlieh. Sie stünde den Menschen viel näher als er und hätte, gepaart mit ihrer Engelswirkung, unschlagbaren Erfolg. Sie könnte die Menschen reihenweise fürs Böse überzeugen und irgendwann wäre die Welt so, wie er sie gerne sehen würde. Grau und böse.
Und er würde über diese herrschen. Ein genialer Plan, dachte er und machte sich auf die Suche nach der Richtigen. Er ließ sich viel Zeit, sie sollte perfekt sein. An einem sonnigen Herbsttag, als er sich mal wieder in einem Hospital herumtrieb, wurde dort ein wunderschönes Mädchen geboren. Sie schrie nicht, wie er es mittlerweile von anderen Menschenbabys kannte und was ihn ziemlich nervte. Sie lag einfach nur da und erfreute sich daran- so schien es zumindest- auf dieser Welt zu sein. Dieses Verhalten machte ihn neugierig. Er schaute sich das Mädchen von Nahem an und sein Mund formte sich zu einem befriedigten, breiten Lächeln. Ja, sie war perfekt. Ihr Aussehen vereinbarte Gut und Böse. Blaue Augen eines Engels und pechschwarze Haare eines Dämons. Sein Lächeln wurde noch breiter, er war sehr zufrieden mit seinem Fund. Für eine Weile beobachtete er sie, um noch einmal sicher zu gehen. Und als die Mutter für einen Moment das Zimmer verließ, ging er zu dem Neugeborenen Mädchen und legte ihr seine Hände auf den Kopf. Er schloss die Augen und ließ ein Teil seiner Energie durch die Hände in ihren Körper fließen. Als die Tür wieder aufging und die Mutter wieder hereinkam, war er schon längst wieder weg und das Baby schrie zum ersten Mal aus voller Kehle. Die Mutter hatte viel Mühe das Kind wieder zu beruhigen.
So, jetzt war es vollbracht. Er wusste zwar, dass er keinen Menschen zu irgendetwas zwingen konnte, aber er war sich dennoch sicher, es hinbekommen zu können, dass dieses Mädchen irgendwann freiwillig seine Gefährtin werden würde. In den letzten Jahren sorgte er dafür, dass sich das Mädchen einsam fühlte. Unverstanden von ihren Eltern, kaum Freunde. Er versuchte sie auch immer wieder dazu zu bringen böse Dinge zu tun, aber dieses gelang ihm nicht so recht. Noch zu viel Gutes war in ihr. So war das mit dieser Engelsenergie. Es kam immer auf denjenigen an, der sie in sich trug.
Er entschied darüber, ob diese böse oder gut sein sollte. Und dieses Mädchen entschied viel zu oft gut zu sein, was ihn definitiv einfach nur nervte. Ab und zu zweifelte er auch, ob sie wirklich die Richtigen gewesen war.
Vor kurzem beschloss er sich ihr zu zeigen. Er wusste, dass er eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf die Menschen hatte.
Vielleicht gelang es ihm so, sie auf seine Seite zu ziehen, um seinen ausgeklügelten Plan durchzuführen. Eines Nachts schlich er sich in ihr Zimmer. Als sie ihn bemerkte, sah er in ihren Augen,- so wie er es sich erhofft hatte- Neugier und was noch viel wichtiger war, Verlangen! Innerlich jubelte er schon seinem Sieg entgegen, doch dann wurde er von einem Engel überrascht. Es war ihr Schutzengel! Er umklammerte voller Sorge das Mädchen und der Dämon sah aufrichtige Liebe in den Augen der beiden. Damit hätte er niemals gerechnet. Auch er wusste natürlich davon, dass sich Engel unmöglich in einen Menschen verlieben konnten. Er war so überrascht, dass er Hals über Kopf flüchtete. In dieser Nacht stellte er aus Zorn viele böse Dinge an. Er bereitete vielen Menschen Kummer, Schmerzen und brachte sogar den Tod. So wütend war er noch nie. Dennoch hatte er beschlossen um sie zu kämpfen. Egal was es kosten wolle, er würde seine zukünftige Gefährtin nicht einfach so aufgeben. Niemals. Er würde kämpfen bis zum Schluss. Und wenn er diesen Kampf verlieren würde, bräuchte er auch keine Gefährtin mehr. Aber davon ging er natürlich nicht aus. So einfach war das.“
Daniel machte eine Pause. Und erst jetzt schaute er mir wieder in die Augen. Ich dagegen saß beinahe versteinert neben ihm. Meine Gedanken ratterten wie ein Hamster im Laufrad. Ich versuchte irgendeinen festzuhalten, aber es gelang mir nicht. Mein Körper fühlte sich schwer an.
Ich war nicht in der Lage meine Glieder zu bewegen. Atmete ich noch? Ich wusste auch darauf keine Antwort. Meine Augen versuchten Daniel zu fixieren, aber ich schaute jedes Mal an ihm vorbei ins Leere.
Auch Daniel war ruhig. Er beobachtete mich besorgt. Sein Blick, den ich ab und zu durch den Nebel vor meinen Augen erhaschen konnte, zeigte mir, dass er versuchte meine Gedanken aufzufangen. Aber wie es aussah hatte auch er damit seine Schwierigkeiten. Ich hörte, wie sein Atem immer schneller wurde. Ein Zeichen für Aufregung.
Nach einer Weile, flüsterte ich etwas apathisch;
„Das ist meine Geschichte nicht wahr Daniel?“
Dies war wieder der erste klare Gedanke, den ich aus dem Laufrad befreien konnte.
Eigentlich war ich bislang ein sehr gefasster Mensch. Nichts und Niemand konnte mich so schnell aus der Fassung bringen. Es lag wahrscheinlich auch daran, dass ich auch nicht besonders- außer bei Daniel- emotional war. Ein Gefühlskrüppel zu dem mich höchst wahrscheinlich meine Eltern gemacht haben. Oder Iljas.
Aus diesem Grund habe ich vermutlich diese Engel und Dämonen Geschichte so gut verkraftet.
Nur keine Gefühle zulassen. Nur nicht zu sehr über etwas nachdenken, was andere Menschen schon fünfmal irre gemacht hätte. Ich dagegen war resistent.
Aber es gab in meinem Leben bis lang wahrlich nichts großartig Emotionales. Ich hatte noch nichts erlebt und auch keine Schicksalsschläge erleiden müssen- außer dem, dass meine Eltern so sind wie sie sind, gefühlskalt, verantwortungslos und desinteressiert- dies stellte für mich dann doch einen Schicksalsschlag dar.
Und des weiteren hatte ich seit dem ich denken konnte nur eine einzige Freundin Namens Kate- wenn in ihrem Wortschatz überhaupt das Wort Freundin vorkam, dann stand es vermutlich genau hinter Fingernägel und Ferrari.
Bislang hat sich auch nur ein einziger Junge- außer Daniel, aber das war ja ein anderes Kapitel- für mich interessierte.
Wie es aussah hatte ich wohl keine sonderlich starke Anziehung auf die Menschen in meinem Umfeld.
Wenn dieser Dämon mir wirklich eine Engelswirkung verpasste, dann war diese eher eine Abschreckung, als alles andere.
Wie sollte ich jetzt nur auf diese, also meine Geschichte reagieren? Ich musste ja schon zugeben, dass diese mich echt von den Socken haute. Hier konnte ich meinem Prinzip der Gleichgültigkeit nicht treu bleiben. Aber ausflippen wäre auch nichts für mich. Ich musste stark sein. Es so hinnehmen wie es nun einmal war und ist. Der einzige bittere Nachgeschmack, der mir wirklich Angst machte war, dass dieser Dämon mich vermutlich nicht in Ruhe lassen würde, bis er seinen Willen bekam. Dass ich seine von ihm auserwählte Gefährtin werde.
Was mich allerdings etwas beruhigte, war dass ich mittlerweile von den Engeln lernte, dass auch Dämonen sich an den freien Willen der Menschen halten mussten. Ich hatte also die Wahl.
Vielleicht wäre es das Beste, wenn ich einfach gehen würde. Ich könnte doch zum Beispiel zu Phil gehen. Er würde mich nehmen. Seine Gefühle zu mir waren wirklich aufrichtig, das wusste ich. Doch leider hegte ich nicht dieselben. Es wäre falsch ihm etwas vorzuheucheln. Er war ein lieber Kerl und hätte es nicht verdient.
Der Einzige, den ich- auch wenn ich so etwas zum ersten Mal in meinem Leben tat- liebte, war Daniel. Er war alles für mich. Er war der Sinn meines tristen Lebens, den ich auf keinen Fall aufgeben würde.
Für Nichts und Niemanden. Wenn ich diese Sache hier überstand, dann nur mit ihm.
Herrgott, ich musste so viele neue Gedanken sortieren. Alles in meinem Leben stand seit heute auf dem Kopf. Nicht, das es bereits vorher so war. Aber jetzt war es wirklich ernst.
Wie sehr hätte ich mir jetzt gewünscht, dass es an der Haustür klingelte und Kate mich vollquatschte und wir danach etwas, zumindest für mich, völlig unsinniges täten.
Ich stöhnte leise auf und bemerkte erst jetzt wieder, dass Daniel neben mir saß und mich immer noch anstarrte. Aber er starrte nur so, weil er versuchte, mit meinen Gedanken mitzukommen. Sein Anblick war wie immer göttlich, so wunderschön, dass noch nicht einmal diese nun wirklich schreckliche Situation ihn trüben konnte.
Er schmunzelte. Ja, auch diesen Gedanken hatte er gelesen.
Ich schuppste ihn an.
„Hör auf damit, hörst du“, sagte ich etwas beschämt.
„Tut mir leid, es war nur eine alte Gewohnheit“, erwiderte er und kratzte sich an der Nase.
„Geht es dir gut“, fragte er mich um sich noch einmal zu vergewissern.
„Ja… Naja, zumindest habe ich beschlossen nicht die Nerven zu verlieren und nicht auszuflippen. Ich werde kämpfen. Diesem Dämon werde ich mit Sicherheit keinen Gefallen tun“, beendete ich meinen Satz ziemlich entschlossen.
Daniels Augen wurde wieder klar und glänzend.
„So ist es gut Lila. Du bist wirklich stärker, als ich dachte. Ich bin froh, auf die Anderen gehört zu haben.“
Ich schmunzelte nur.
„Eines habe ich immer noch nicht kapiert, Daniel. Wie habe ich es denn nun angestellt, dass du dich in mich verliebt hast?“
Er stand auf und ging zum Fenster. Für einen Moment sagte er nichts. Dann, fast schwebend, drehte er sich zu mir um.
„Es ist nur eine Theorie, wie schon gesagt. Aber ich denke- und die Anderen übrigens auch- dass deine Engelsenergie- und bitte zweifle nicht an dieser, denn wir haben sie alle gespürt-schuld daran war. Denn was du glaube ich noch nicht weißt ist, dass Engel sich sehr wohl in andere Engel verlieben können. Das ist zulässig, denn die Liebe zu den Menschen in diesem Fall unberührt bleibt. Und da du ja von deiner Energie mehr Engel als Mensch bist, denke ich, dass ich mich deswegen auch in dich verlieben konnte.“
Ich musste gestehen, dass es sich auch für mich sehr logisch anhörte. Aber an diese Geschichte mit meiner angeblichen Engelsenergie musste ich mich erst gewöhnen.
Ich rieb mir nachdenklich das Kinn und bemerkte gar nicht, dass Daniel jetzt vor mir kniete und nur noch wenige Zentimeter vor meinem Gesicht entfernt war.
Etwas überrascht, wich ich nach hinten.
Er schaute mir tief in die Augen und strich mir sanft über die Wange.
„Und, soll ich dir noch etwas verraten?“- sagte er leise, ohne seinen Blick von mir zu lassen.
Ich nickte nur. Eigentlich hatte ich echt keine Lust mehr auf diverse Überraschungen. Aber er sprach weiter, obwohl er sicherlich meine Gedanken mitbekam.
„Wenn ein Engel sich mal verliebt, dann ist es für immer. Er geht eine tiefe Verbindung mit dem Anderen ein. Das heißt, ich könnte dich nie mehr verlassen. Ich bin für immer dein, verstehst du? Lieber würde ich mein Dasein aufgeben, als ohne dich weiter zu existieren, Lila! Und das ist keine dumme Floskel, die du von Menschen kennst. Ich sage es dir als Engel!“
Warum überraschte mich das nicht. Vielleicht, weil ich genauso dachte wir er?
Heftig schüttelte ich den Kopf- „ich könnte ohne dich auch nicht mehr leben Daniel! Wie du weißt, hat mein menschliches Dasein nie richtig Sinn ergeben. Ich habe mich als Mensch immer anders gefühlt. Und ich bezweifle, dass ich jemals ein völlig normales Leben führen könnte. Ich…ich glaube, dass du mein Schicksal bist. Du bist der einzige Sinn in meinem Leben und wirst es auch immer sein“- beendete ich etwas stotternd mein Geständnis.
Traurig, aber es war die Wahrheit. Daniel umschlang mich mit seinen Armen.
„Ich weiß. Und damit du wenigsten nicht mehr von diesem Dämon verfolgt wirst, müssen wir ihn so schnell wie möglich finden und uns einen Plan zurechtlegen, wie wir ihn zerstören können.
Und dann muss ich mich dem Hohen Rat stellen, um Klarheit zu haben, was jetzt auf mich zukommt. Denn eins ist ja immer noch Fakt. Ich habe mich in dich verliebt, was vielleicht -zumindest teilweise,- gegen die Regeln verstößt.
Bei diesen Gedanken bekam ich eine Gänsehaut. Ich hatte echt Angst davor, dass der Hohe Rat Daniel etwas antut, oder sogar vernichtet, oder so etwas. Mit all dem könnte ich nicht leben.
„Musst du das wirklich tun?“- sagte ich etwas wehmütig.
„Bislang haben sie ja auch nichts gegen dich unternommen. Vielleicht bleibt es ja so.“- ergänzte ich meine Gedanken.
Daniel schüttelte nur heftig den Kopf.
„Nein, Lila da täuscht du dich. Ich weiß zwar nicht, warum sie bislang nicht reagierten. Vermutlich haben sie es noch nicht mitbekommen, was sehr unwahrscheinlich ist. Ich denke, dass es viel eher darauf warten, dass ich mich „stelle“. Ich muss es tun. Für uns.“
Das klang sehr entschlossen. Leider.
„Hmm“- mehr viel mir nicht ein.
„Oh bitte Lila. Ich verspreche dir, egal was auf mich zukommt, ich werde immer bei dir sein. Und wenn ich es nicht kann, dann möchte ich auch nicht mehr existieren. Nicht als Engel.“
„Hast du denn eine Alternative?“
„Ja, zwei. Entweder ich lasse mich absichtlich von einem Dämon zerstören, oder ich werde ein Mensch. Ein sterblicher.“
„Nein, Daniel es kommt nicht in Frage! Bist du irre!“- schrie ich ihn an.
„He, lass uns doch erst einmal abwarten, was passiert, okay?- versuchte Daniel mich zu beruhigen.
„Konzentrieren wir uns lieber auf das andere Problem.“
Damit hatte er natürlich recht. Die Vernichtung dieses Dämons war tatsächlich dringlicher, als der Hohe Rat. Ich versuchte mich wieder zu beruhigen und nicht mehr an Daniels Worte denken. Jetzt war ich diejenige, die sich an seine Brust kuschelte.
In meinem Kopf ratterte es und ich versuchte mal wieder die Gedanken zu sortieren.
Also, schön eins nach dem anderen. Erstens, Iljas will mit aller Macht, dass ich seine von ihm auserwählte Gefährtin werde. Und als er in der Nacht, als er mich sonst wohin brachte und mir seinen „Stempel“ in die Brust brannte, ist er Daniel begegnet, der mich vor ihm rettete und höchst wahrscheinlich hat er sich eins und eins zusammenrechnen können. Vermutlich will er jetzt seinen Plan umso mehr durchsetzen. Er ist eifersüchtig, vermutlich. Und er will mich auf keinen Fall mit irgendwem teilen. Und dann gibt es ja noch für ihn den bitteren Nachgeschmack, dass ich einen freien Willen hatte, den er respektieren musste. Das heißt, ich muss zu ihm aus freien Stücken kommen.
Hmm, was ist wenn ich es wirklich täte? Wenn ich wirklich vortäusche nicht mehr mit Daniel zusammen zu sein? Darauf fällt er tausendprozentig rein. Und dann würde ich ihm eine Verabredung vorschlagen. Picknick im Freien wäre super, dann kriegt kein Mensch mit, wie wir ihn vernichten. Aber wie sollen wir das tun?
„Nein, Lila!“- sagte Daniel als ich meinen Mund aufmachen wollte.
„Doch! Und ich habe auch schon eine Idee, wie wir ihn an Ort und Stelle vernichten könnten.“
„Du bist wahnsinnig! Ich werde es nicht zulassen, dass dir etwas zustößt! Du machst mich irre Lila! Wirklich!“
Wie ein aufgescheuchtes Hühnchen lief er quer durch mein Zimmer und stolperte über diverse Gegenstände. Und ich lief ihm hinterher. Dem Hühnchen.
„Nun warte doch mal Daniel!“- bat ich etwas kurzatmig.
Die Luft in meinem Zimmer glich einem Adrenalin- Tornado. Es knisterte und nahm mir unter anderem den Atem. Aber ich gab nicht auf.
„Daniel, wir könnten doch mit Gabriels Hilfe die Zeit zurückdrehen und diesen Effekt der Überraschung dazu nutzen Iljas zu vernichten! Es ist unsere einzige Chance!“
„Nein! Lieber vernichtet er mich im Kampf, als dass ich dich als Köder benutze!“
Er breitete seine Flügel aus und schwebte in der Luft. Damit wollte er erreichen, dass ich ihm nicht mehr hinterher rannte. Also gut. Ich setzt mich aufs Bett und ließ ihn weiterhin an der Decke schweben. Ich würde von meinem Plan sowieso nicht abweichen.
Ich stellte mir bereits bildlich vor, wie ich Iljas davon überzeugte mit mir ein Picknick zu machen, als ich völlig real Vögel zwitschern hörte. Also das bildete ich mir jedenfalls nicht ein. Als ich mich aus meinem Gedanken losriss, sah ich Sand unter mir. Sand!?
Völlig überrumpelt schaute ich mich um. Es war nicht zu fassen, aber ich saß ganz real an einem Strand und das Wasser war weniger als 30 Meter vor meiner Nase!
„Daniel!“- rief ich. Wer sonst konnte das hier angerichtet haben. Ich schüttelte ungläubig den Kopf, als er auf einmal vor mir auftauchte.
„Was wird denn das hier?“-sagte ich und klopfte mir bei aufstehen den Sand von den Händen.
„Das hier ist der sicherste Ort auf dem ganzen Planeten!“
„Aha“
Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen schaute ich mich genauer um.
Dieser Ort war wirklich wunderschön. Hinter mir sah ich Bäume von denen ich nur wenige kannte. In der Luft schwirrten überall bunte Papageie und andere Vögel, die ich ebenso nicht kannte und auch noch nie sah. Sie zwitscherten fröhlich durcheinander. Der Strand machte in ca. 100 Metern eine Biegung, was mir sagte, dass wir auf einer Insel sein dürften. Ich atmete den blumigen Duft und die Wärme, die hier herrschte ein. Eines hatte ich noch bemerkt. Es war diese Energie in der Luft, die ich von Daniel kannte. Es war beinahe ein Paradies auf Erden.
Aber bevor ich mich weiter in der Schönheit der Insel vergaß, schaute ich rügend zu Daniel rüber.
Dieser schien sich zu amüsieren.
„Ich wüsste nicht, was hier so witzig ist“; sagte ich etwas schroff.
„Ach, komm schon. Ich weiß, dass du es hier genauso schön findest wie ich.“
Also langsam ging meine Geduld zu Ende.
„Daniel, hör auf abzulenken. Natürlich ist es hier wunderschön, aber ich hätte auch gerne gewusst was wir hier machen. Wie wir hierher gekommen sind brauche ich ja nicht zu fragen.“
„Nun“, sagte Daniel langsam und scheinbar siegessicher, „es ist ganz einfach. Dies hier ist der sicherste Ort auf der ganzen Welt. Die Energie, die diese Insel umgibt, würde keinem Dämon Eintritt gewähren. Das liegt daran, dass noch nie ein Mensch diese Insel betrat. Sie ist einfach nur vollkommen“, beendete er schwärmend seine Ausführung.
Langsam dämmerte es mir.
„Du weißt, dass ich hier nicht bleibe, oder? Ist dir das klar Daniel?!“
„Lila, ich versuche dich doch nur zu schützen! Dein Plan ist nicht umsetzbar, ich würde dich niemals freiwillig einem Dämon quasi vor die Füße werfen!!“
Er umklammerte so fest meine Handgelenke, dass ich einen unangenehmen Schmerz verspürte. In seinen Augen spiegelte sich wieder diese Panik.
„Lass mich bitte los, okay.“
Erschrocken ließ er meine Handgelenke los und entschuldigte sich sofort.
„Wie es aussieht haben wir zwei verschiedene Meinungen Daniel. Wenn du meinen Plan nicht akzeptieren kannst, dann lass dir bitte etwas anderes einfallen, denn bislang habe ich von dir- außer dass du mutig sterben willst- nichts Konstruktives gehört.“
Ich wartete gespannt auf seine Antwort.
„Ach ja“, sagte ich hinzufügend, „ich bleibe auf keinen Fall hier, wie du es dir so schön ausgemalt hast!“
Ich sah, dass es ihn traurig stimmte. Viele andere Möglichkeiten um Iljas zu Strecke zu bringen gab es nicht und das wusste er genauso gut wie ich.
Nach einer Weile nahm er sanft meine Hände in seine und ohne mich anzuschauen sagte er;
„Wir werden das schon irgendwie anders schaffen Liebes. Ich gebe dich nicht her. Das ist meine Bedingung.“
Wenige Sekunden nachdem er den letzten Satz aussprach, befanden wir uns wieder in meinem Zimmer, was in diesem Moment total modrig roch. Kein Wunder nach dieser schönen blumigen Luft, die ich noch in der Nase hatte.
Es war bereits dunkel und obwohl ich keinen Schimmer hatte, wie spät es war, merkte ich, dass es ziemlich spät sein musste. Ich war geschafft.
Unten vernahm ich die Stimmen meiner Eltern. Entweder sie sind früher als sonst zurück gewesen oder es war wirklich schon sehr spät. Ich brauchte noch eine Entschuldigung für die Schule. Schnellen Schrittes ging ich runter und verkündete, dass es mir nicht so gut gehe und ob sie mir für Morgen eine Entschuldigung schreiben würden. Nach kurzer Nachfrage, was mir denn fehle, wurde die Entschuldigung geschrieben.
„Ich bringe sie morgen früh bei der Schule vorbei Lieben. Und jetzt schlaf schön.“- sagte Ma und ich ging wieder hinauf.
Daniel knipste gerade die Tischlampe auf meinem Schreibtisch an.
Bevor ich den Mund öffnen konnte, um etwas zu sagen, kam er mir bereits zuvor.
„Es ist spät“, sagte er mit leiser Stimme, „du musst dich ausruhen und ich… muss nachdenken.“
Er schob mich zum Bett und als ich saß ging er in die Hocke und gab mir einen liebevollen Kuss.
„Es wäre besser, wenn du nicht zur Schule gehen würdest, solange diese Sache nicht ausgestanden ist. Tust du mir den Gefallen Schatz?“
„Ja.“
Ihm dies zu versprechen viel mir leicht, denn ich hatte ja selbst Angst vor Iljas.
Daniel strich über meine Locken und schaute mich so liebevoll und wehmütig an, sodass ich eine Gänsehaut bekam.
„Ich pass auf dich auch. Jede Sekunde werde ich über dich wachen, das verspreche ich dir.“
„Ich liebe dich Daniel.“
„Und ich dich erst! Träum was Schönes.“
Er machte das Fenster auf. Frische Luft ließ mich weiter unter meine Decke krabbeln. Ein kurzer Blick und dann war er auch schon verschwunden.

In dieser Nacht lag ich lange wach. Und obwohl ich wusste, dass Daniel jeden Gedanken von mir mitbekam, war mir das egal. Alles drehte sich um Iljas. Welchen Weg gab es noch, um ihn endlich zu vernichten. Viel zu vielen Menschen hat er schon Leid angetan. Ich musste unwillkürlich an Mary denken und dem was sie durch einen Dämon erleiden musste.
Vielleicht sollten wir sie fragen, ob sie etwas Bestimmtes in der Zukunft sah, was uns helfen könnte? Oder sollten wir vielleicht den Hohen Rat und Hilfe und Unterstützung bitten? Meine Idee fand ich auch immer noch gut, obwohl ich wusste, dass Daniel es niemals zulassen würde.
Ich wusste keine Lösung. Es war alles so furchtbar kompliziert. Irgendwann gab ich mich meiner Müdigkeit doch hin und schlief wie ein Stein.
Als ich die Augen wieder öffnete schaute ich in seine Augen. Daniels wunderschöne blaue Augen. Wie sehr hätte ich mir gewünscht, dass dieser Augenblick niemals endete. Ich schloss meine wieder und genoss seine Nähe.
„Liebes, Lila, mach die Augen auf.“
Ich lächelte in mich hinein und ließ seine Stimme auf mich wirken. Wie schön und melodisch sie doch war.
„Nein“; sagte ich und schmunzelte.
Er sagte nichts. Obwohl ich seine Energie spürte, öffnete ich dennoch die Augen, um mich zu vergewissern, dass er noch da war.
Daniel lächelte. Seine strahlend weißen Zähne kamen zum Vorschein.
„Also gut, ich bin wach“, sagte ich und streckte mich ausgiebig.
„Ich muss mit dir etwas besprechen.“
Etwas Dringliches lag in seiner Stimme.
„Ich höre es mir nur an, wenn es was Gutes ist.“
Er stand auf und spazierte durch´s Zimmer.
„Ich hoffe, dass es was Gutes ist.“
Jetzt setzte er sich wieder auf den Bettrand.
„Also, du hast mich letzte Nacht auf eine Idee gebracht.“
„Ich?!“
„Ja. Jetzt tu doch nicht so. Du weißt, dass ich deine Gedanken hören kann. Naja, jedenfalls hab ich über deine Idee mit dem Hohen Rat nachgedacht. Sie ist gar nicht so schlecht.“
Ich rieb mir das Gesicht und sagte unter den Händen;
„Oh man, ich werde mich nie daran gewöhnen können.“
„Willst du nun meine Idee hören oder nicht“, drängte Daniel wie ein kleiner Junge.
„Schieß los“, sagte ich immer noch mit den Hände auf dem Gesicht.
„Also, wir bitten den Hohen Rat um Hilfe. Denen stinkt es bestimmt genauso, dass Iljas noch frei herum läuft und Schande verbreitet.“
Ich schaute ihn fragend und etwas empört an.
„Aber dann wärst du doch der nächste, der auf deren Liste steht. Falls du es noch nicht tust. Du hast doch selbst gesagt, dass das was hier mit uns beiden passiert, niemals sein dürfte! Sie werde dich bestrafen, ist dir das klar? Oder gar vernichten! Sorry, aber damit bin ich nicht einverstanden!“
Mein Puls ging schneller und das merkte ich auch gleich, indem mir schwindelig wurde. Da muss man sich an frühen Morgen gleich so aufregen, weil der eigene Freund sich mal wieder freiwillig umbringen lassen will!
„Hättest du mir bis zum Schluss zugehört, dann wäre dir jetzt nicht schwindelig“, rügte er mich.
„Entschuldige“, gab ich kleinlaut von mir.
Er atmete tief ein und wieder aus.
„So, also hör jetzt bitte auch zu, ja? Natürlich würde ich denen nicht gleich unter die Nase reiben, dass ich mich verbotenerweise in dich verliebte. Viel eher würde ich dem Hohen Rat deine Geschichte erzählen. Das, was Iljas dir angetan hat. Und da ich ja dein Schutzengel bin, setze ich mich selbstverständlich für dich und die Gerechtigkeit ein.“
Ich grinste schämisch.
„Du kleiner Schuft. Du willst also allen Ernstes versuchen den Hohen Rat an der Nase herum zu führen?“
„Ja. Wenn du es so sehen willst.“
„Und was meinst du, mit welcher Hilfe du rechnen kannst? Auch wenn dein Plan aufgehen sollte, werden sie dir bestimmt nicht gleich zusagen und Iljas aus dem Weg räumen. Das wäre zu viel des Guten, findest du nicht?“
„Es ist meine einzige Chance Lila. Ich muss auf deren Hilfe bauen und hoffen, dass sie mir diese auch zusagen.“
Mittlerweile war ich gerade dabei mir ein Shirt überzuziehen.
So richtig war ich von dem Plan zwar noch nicht überzeugt, aber man konnte es zumindest versuchen, oder? Hm.
„Aber Daniel, dir muss auch klar sein, dass der Hohe Rat vielleicht bereits von uns weiß und dich bei der Gelegenheit gleich mit bestrafen!“
„Diese Gefahr muss ich einfach eingehen“, sagte er trocken.
Für eine Weile sagte keiner etwas. Daniel saß auf dem Bett und ich war im Bad um mich fertig zu machen.
War es denn wirklich notwendig unsere Liebe in Gefahr zu bringen?
Eins war klar, wenn er sterben muss, dann will ich das auch. Was sollte ich ohne ihn in dieser tristen Welt?
Vielleicht wäre mein Leben wirklich anders verlaufen, wenn Iljas es nicht von vornerein versaut hätte. Darauf würde ich wohl nie eine Antwort kriegen.
Aber es war so, wie es war. Und mein Leben glich einer Katastrophe. Ich hatte keine Anhaltspunkte, nichts wofür ich gerne gekämpft hätte. Bis Daniel in mein Leben kam. Ohne ihn gibt es mich nicht mehr. Und würde es in Zukunft auch nicht geben. Wenn unsere Liebe wirklich eine „Sünde“ ist, dann möchte ich mit Daniel gemeinsam für diese sterben.
Als ich den Raum wieder betrat, stand Daniel am geöffneten Fenster und schaute gedankenverloren hinaus.
Obwohl ich wusste, dass er meinen Gedanken lauschte, sagte er nichts.
Sollte es eine Zustimmung sein? Dachte er genauso wie ich?
Im nächsten Moment rügte ich mich gleich selbst.
Er war ein Engel. Ich ein Mensch. Wir konnten nicht gleich denken.
Daniel konnte nicht von sich behaupten, dass sein Leben nicht optimal verlaufen war. Er war die Ewigkeit in Person. Und ich war nur eine seiner Schützlinge, in den er sich fälschlicherweise verliebte.
„Kannst du bitte aufhören so einen Unfug zu denken!“
Ich schrak hoch viel zu sehr war ich damit beschäftigt gewesen, meine Haare zu bürsten.
„Kannst du bitte nicht ständig in meine Gedanken wühlen?!“
Er dachte kurz nach.
„Trotzdem. Du sollst so etwas nicht denken, hörst du?“
Ich antwortete nicht.
„Wann soll es denn los gehen? Ich meine, wann hast du vor den Hohen Rat zu besuchen?“
Ich hatte keinen blassen Schimmer, wie man es tat. Wie man zu dem Hohen Rat kam, wusste ich eben so wenig. Konnte man dort einfach so hereinspazieren, wie in ein übliches Büro, oder doch lieber mit Termin?
Daniel stand immer noch an dem geöffneten Fenster und regte sich noch nicht einmal, als er mir antwortete.
„So schnell wie möglich.“- sagte er ohne Regung.
Einen Augenblich schaute ich ihn, oder viel eher seinen Rücken an, bevor ich ihn von hinten umarmte.
„Was ist los? Worüber machst du dir Gedanken?“
„Um dich“, sagte er leise.
„Dass du mitkommen willst und ich dich nicht davon abhalten kann.“
„Versteh mich doch Daniel. Ich kann dich nicht allein gehen lassen!“
Er atmete tief ein und wieder aus.
Ich flüsterte; „Wenn sie dir etwas antun. Wenn ich dich nie wieder sehen könnte… Ich…ich könnte es keine Sekunde länger auf dieser Erde ertragen. Ohne dich. Lass es uns hinter uns bringen, denn für Morgen habe ich keine Entschuldigung mehr für das Fehlen in der Schule.“
Endlich drehte Daniel sich zu mir und schmunzelte über meine Aussage.
„Du hast Recht.“- sagte er wieder ernst.
„Wozu warten. Es kann nicht mehr schlimmer werden, als es jetzt schon mit diesen Dämon ist.“
Ich wusste zwar immer noch nicht, wie wir dort hin kamen, aber sagte vor Aufregung nichts.
Daniel umschlang mich mit seinen kräftigen Armen und sagte; „Schließ die Augen Lila.“
Ich tat es und bevor ich sie wieder öffnete, merkte ich, dass wir nicht mehr in meinem Zimmer standen, sondern an einem Ort wo sogar die Luft anders zu sein schien. Sie fühlte sich so an, als ob man im Nebel stand und tief einatmete. Sehr dick und schwer. Für einen Augenblick traute ich mich nicht sie zu öffnen.
„Na komm schon, du kannst sie wieder aufmachen“, hörte ich Daniels Stimme.
Ich lugte zuerst unter den Wimpern durch, sah aber keinen Neben oder etwas in der Art.
Wir standen in einem Flur. In einem vollkommen weißen Flur. Als ich mich umschaute, sah ich jede Menge Türen. Alle waren geschlossen.
Auf einmal, wie aus dem nichts, kam ein Mann Mitte dreißig, in einem schneeweißen Anzug auf uns zu. Ich musste grinsen. Alles war so unreal. Und weiß.
Der Mann lächelte uns an und sagte mit einem ausgestreckten Arm; „Kommen sie, sie werden bereits erwartet.“
Dann drehte er sich um und ging mit schnellen Schritten los.
Daniel und ich schauten uns besorgt an. Was sollte das heißen? Wieso wurden wir schon erwartet?
Wir gingen endlose Flure entlang und bogen mindestens 50 Mal um irgendwelche Ecken. Abrupt blieb der junge Mann auf einmal stehen. Wir standen vor einer riesigen Doppeltür. Natürlich in Weiß. Alles hier war weiß. An der Seite war ein leuchtendes Schild angebracht wodrauf stand: „Verhandlungssaal. Fall: Daniel und Delilah Smith“
Ich war schockiert. Daniel ging es nicht besser.
„Na sehen sie, wir haben es gerade noch so geschafft“, unterbrach der Mann in Weiß unsere Starre. Er lächelte uns an und ging so schnell wie er kam wieder davon.
„Ich habe Angst. Was soll das hier alles?“- sagte ich leise mit einer belegten Stimme.
Daniel sagte nichts und drückte nur meine Hand fester in seine.
„Wir gehen da jetzt rein. Sie erwarten uns. Wir könnten sowieso nicht mehr fliehen.“
Er schaute mich etwas beängstigt aber dennoch liebevoll an.
„Egal was hinter dieser Tür passieren sollte. Du sollst wissen, dass ich dich über alles liebe Lila!“
„Ich liebe dich auch Daniel. Bis ans Ende meines Lebens.“
Er griff nach dem Türknauf und drehte ihn. Die Tür ging auf und wir gingen mit unsicheren Schritten hinein. Der Raum glich tatsächlich einem Gerichtssaal nur gab es keine Anklagebank oder so etwas, sondern nur eine Art Erhöhung, ein Podest auf den wir uns stellten. Mein Herz raste und mein Körper bebte. Ich brauchte fast die ganze Kraft, um aufrecht stehen zu können. Hilfesuchen schaute ich zu Daniel rüber. Sein Kiefer malte vor Anspannung. Er wusste genauso wenig, was gleich passierte und das war schrecklich. Viel zu sehr hatte ich mich daran gewöhnt, mich auf ihn zu verlassen. Er wusste immer, was zu tun war. Nur jetzt nicht.
Meine Gedanken wurden von dem Öffnen einer Tür unterbrochen. Erschrocken starrte ich geradeaus, wo in dem Augenblick drei Herren auf einer gegenüber liegenden Erhöhung Platz nahmen. Alle drei hatten weißes Haar. Einer von ihnen, der in der Mitte saß, hatte obendrein einen schneeweißen Bart. Ihre Energie, die sie ausstrahlten, war so gewaltig, dass sich eine Art Heiligenschein um sie herum bildete. Sie erinnerten mich an Glühwürmchen. Ich konnte den Blick nicht senken. War es der Schock oder die Schönheit des Augenblickes? Keine Ahnung. Mein Kopf war einfach nur leer. Als ob ihn jemand ausgefegt hätte. Ich spürte Daniels festen Griff um meine Hand und das beruhigte mich ein wenig.
Alle Drei schauten auch uns an bis einer, der in der Mitte mit dem Bart anfing zu reden, ohne dabei seine Lippen zu bewegen. Der nächste Schock meinerseits ließ nicht lange auf sich warten. Mich durchfuhr bei dieser Eigenartigkeit eine gewaltige Gänsehaut. Ich wünschte mir in dem Moment, besser auf dieses Treffen vorbereitet gewesen zu sein.
„Nun, ich heiße sie im Namen Aller herzlich willkommen“, schallte es wie ein Echo durch den Raum.
Sowohl Daniel, als auch ich erwiderten die Begrüßung nur mit einem Nicken.
„Wir verstehen, dass ihr verwirrt seid und etliche Fragen an uns habt. Und ein Anliegen.“
Bei den Worten zuckte Daniels Hand und drückte so fest meine, dass es wehtat. Aber ich nahm es nur wahr ohne darauf reagieren zu können.
„Ja, ihr habt Recht, Hoher Rat“, antwortete Daniel.
„Dennoch, würden wir gern mit einer Geschichte anfangen. Dies ist eure Geschichte und wird euch einige Fragen beantworten“, schallte es wieder durch den Raum. Allerdings konnte ich diesmal nicht sagen, wem dieser drei Herren diese Stimme gehörte. Es war fast so, als ob sie allen gehörte.
Wir nickten wieder als Bestätigung.
„Seit 19 Menschenjahren beobachten wir den Fall Delilah Smith. Seit dem Tag, als ein Dämon, Namens Iljas, dieses Menschenkind zu seinem machte. Seit diesem Tag bestimmt er das Leben dieses Mädchens. Wenn auch nicht gut, denn das Mädchen ist so rein in ihrer Seele, dass es sich ihm fast immer entzieht. Seit diesem Tag überlegen wir, wie wir diesen Konflikt am besten lösen können. Es war nicht so leicht wie es schien. Auch wenn wir diesen Dämon vernichtet hätten, hätte das Mädchen immer noch seine Energie in sich. Also was sollten wir tun? Was war wohl das Beste? Wir kamen einfach zu keiner Lösung. Und dann passierte etwas, womit auch wir nicht rechnen konnten. Einer unserer Engel verliebte sich Hals über Kopf in sie. Er konnte nichts dafür, denn die Energie des Mädchen, die ihr der Dämon verlieh, ließ sie als eine Art Engel erscheinen. Zwischen den beiden entstand eine gewaltige Liebe. Eine Liebe, die wir nicht im Stande waren zu zerstören.“
Tränen kullerten über meine Wangen. Ich weiß nicht, ob ich eine Erleichterung spürte oder ob ich über mein misslungenes Leben weinte. Die Worte des Hohen Rates weckten in mir verschiedenste Gefühle. Vor allem zeigte sie mir nochmal ganz deutlich, wie sehr ich Daniel liebte, wie sehr ich ihn an meiner Seite brauchte und wie sehr ich mit ihm für immer zusammen sein wollte. In dem Moment war ich entschlossener denn je, ihm überallhin zu folgen.
Der Hohe Rat, also die drei Herren schauten mich für einen Moment an und es entging mir nicht, dass auch sie meine Gedanken lesen konnten.
„Entschuldigung“, sagte ich mit leiser, belegter Stimme und senkte den Blick.
„Diese Liebe wird ewig existieren, darüber sind wir uns im Klaren. Und deswegen möchten wir euch einen Vorschlag unterbreiten, der auch euer Anliegen miteinschließt.“
Jetzt wurde auch Daniel hellhörig und schaute interessiert alle drei an.
Sie lächelten uns an und beobachteten uns für einen Augenblick.
„Ihr müsst jetzt stark sein. Denn das, was wir euch jetzt anbieten erfordert auch Opfer.“
„Wir sind bereit“, sprach Daniel entschlossen.
„Nun gut. Dann wollen wir nicht länger um den heißen Brei reden. Wir bieten euch an, Iljas zu zerstören. Dies funktioniert nur, wenn du Delilah dein jetziges Dasein aufgibst.“
„Was!?“- schrie ich.
„Was soll das heißen? Wollt ihr mich umbringen? Nein! Das kommt nicht in Frage, ich gehe ohne Daniel nirgendwohin, hört ihr!? Und was wird aus meinen Eltern? Wollt ihr wirklich, dass sie leiden?“
In dem Moment bangte ich nicht so sehr um mein Leben. Ich konnte nicht ertragen, dass ich dann von Daniel getrennt wäre. Und das wäre schwerwiegender, als mein „Dasein“ aufzugeben.
„Daniel!“- schüttelte und zerrte ich an ihm.
„Das können die nicht machen! Ich werde nirgendwo ohne dich gehen, hörst du!? Nein, nein..“
Er rührte sich nicht, sein Unterkiefer malte immer noch vor Anspannung.
„Nimmt mich. Macht mit mir was ihr wollt, aber lasst sie gehen.“- schlug er dem Hohen Rat trocken und sachlich vor.
„Bist du jetzt völlig übergeschnappt!! Warum sagst du so etwas?“
Es war doch nicht möglich! Jetzt sind wohl alle wahnsinnig, dachte ich.
Der Hohe Rat beobachtete das Schauspiel und sagte erst wieder etwas, als ich verstummte. Nicht, das ich nichts mehr zu sagen hatte. Ich wusste aus Verzweiflung einfach nicht wo mir der Kopf stand.
Es hallte wieder diese eine Stimme durch den Raum; „Du solltest lernen zuzuhören, Delilah.“
„Vielen, Dank, aber ich habe genug gehört“, antwortete ich sarkastisch, was wahrscheinlich nicht ganz angebracht war.
Aber sie reagierten einfach nicht auf meine sarkastische Bemerkung und sprachen weiter;
„Delilah, du sollst nicht allein dein Dasein aufgeben. Eure Liebe soll doch schließlich eine reelle Chance bekommen. Also haben wir uns entschieden, Daniel aus seinen Diensten als Engel zu entlassen. Es ist nun mal nicht richtig, dass er sich als Engel in jemanden verliebt, der auch nur einen Funken Menschlichkeit in sich trägt. Diese Liebe würde immer verfolgt werden. Wenn nicht von einem Dämon, dann wahrscheinlich von anderen Kreaturen. Neid ist eine gefährliche Sache…“
Ich schaute wie eine Irre abwechselnd zu Daniel, dann zu dem Hohen Rat.
„Was wird dann aus mir, wenn ich kein Engel mehr bin?“- wollte Daniel wissen.
Die Stimme lachte.
„Da haben wir wieder den Beweis, dass eure Liebe wirklich über alle Grenzen geht. Du ziehst es noch nicht einmal für eine Sekunde in Erwägung ein Engel zu bleiben. Das ist wirklich unglaublich. Es bestätigt nur noch einmal die Richtigkeit unserer Entscheidung.“
Aus irgendeinem Grund erhellte sich Daniels Gesicht was ich nicht verstand.
„Soll das heißen, dass ich als Mensch wiederkommen kann!?“- fragte er mit einer fröhlichen Stimme.
„Ja. Genau das soll es heißen. Ihr geht beide. In ein neues Leben. Als Menschen.“
Ich kam nicht mit. Sollten wir jetzt beide als Menschen wieder geboren werden? Aber wie konnten wir dann zusammen sein? Wir konnten überall auf der Welt geboren werden! Sorry, aber die Wahrscheinlichkeit war mir zu gering.
„Dafür werden wir sorgen Delilah,“ unterbrach der Hohe Rat meine Gedanken.
Sie schauten uns beide abschätzend an. Daniel und ich schauten uns auch an.
„Ich würde es tun,“ sagte ich schlicht und einfach zu ihm.
Daniel war überrascht.
„Wirklich!?“
„Ja. Erstens. Wir würden Iljas dadurch zerstören. Und zweitens. Ich bin ein Mensch Daniel. Das hätte uns früher oder später sowieso voneinander getrennt. Wenn wir aber ein neues, gleichwertiges Leben beginnen, ist alles einfacher. Wir müssen uns nur wieder finden.“
„Genauso ist es,“ stimmte mir der Hohe Rat zu.
„Und wir versprechen euch, dass wir dafür sorgen, dass ihr euch wieder findet.“- ergänzten sie.
War ich etwa egoistisch? Ich wollte alles aufgeben, ohne mit der Wimper zu zucken. Aber in meinem Leben war vieles anders, als bei den meisten Menschen.
Die Frage war, wie viel gab ich tatsächlich auf und wie viel gewann ich durch meine Entscheidung?
Und die Antwort war für mich ganz klar. Ein Leben, ein gleichgestelltes Leben als Menschen mit Daniel überwog in jeder Hinsicht alles was ich zu verlieren hätte.
Dennoch fragte ich, aber eher aus Neugier und schlechtem Gewissen den Hohen Rat; „Was passiert mit denen, die mich kennen? Was erzählt ihr meinen Eltern zum Beispiel? Und Kate? Ich möchte einfach nicht, dass irgendjemand um mich trauert…“
„Was wünscht du dir?“
„Ich möchte, dass meine Eltern keine Erinnerungen mehr an mich haben. Und ich wünsche mir, dass ihr Leben mit einem anderen Kind bereichert wird. Einem, was nicht von einem Dämon geprägt wird und ein „normales“ Leben genießen kann.“
Nach kurzem Durcheinanderreden, nickte alle drei mit ihren Köpfen.
„Das ist ein guter Vorschlag Delilah. Wir sind einverstanden. Und was die restlichen Menschen, die dich kannten, angeht, so werden auch diese keine Erinnerungen mehr an dich haben. Dies ist nur die logische Konsequenz deines Vorschlags. Bist du damit einverstanden?“
„Ja. Ich bin einverstanden.“
„Nun. Dann haben wir alles geklärt.“
„Daniel, willigst du ein? Möchtest du als Mensch wiedergeboren werden und dein Engeldasein aufgeben?“
Er hatte in den letzten Minuten kein Wort gesagt. Und mir ist erst jetzt aufgefallen, dass er sich noch zu nichts äußerte, was mich ein wenig beängstigte. Wollte er vielleicht was anderes als ich? Vielleicht würde er mich ja auch für sein Engeldasein verlassen?
Daniel drehte sich zu mir und schaute mich eindringlich an.
„Ich hoffe, dass dir bewusst ist, dass es danach kein Zurück mehr gibt.“
Ich griff nach seinen Händen und küsste sie.
„Ich bin mir dessen bewusst Daniel. Und ich will es. Wenn du es auch willst natürlich…“
„Oh Gott Lila, ich liebe dich so sehr. Für dich würde ich es wollen. Ohne dich gibt es Nichts. Nirgendwo…“
„Dann soll es so sein,“ sagte der Hohe Rat am Schluss meines Lebens als Delilah Smith.
Ich schaute Daniel tief in die Augen.
„Wird es weh tun?“- flüsterte ich.
„Nein.“- sagte er und küsste mich sanft und zärtlich.
Als ich die Augen wieder aufschlug sah ich Daniel das erste Mal in seiner wahren Form als Engel.
Er leuchtete. Nein, er bestand vollkommen aus Licht. Wunderschönem Licht. Obwohl er immer noch so etwas wie einen Körper besaß, war das jetzt eher eine Nebensache. Vielleicht auch nur deshalb, damit ich ihn noch erkannte. Aber seine wahre Natur bestand aus wunderschönem warmen Licht.
„Du bist wunderschön…“, sagte Daniel mit so einer friedvollen, klaren Stimme.
Ich schaute auf meine Hände und erschrak im ersten Augenblick. Ich leuchtete genauso wie er. Wenn auch nicht so intensiv, aber auch ich hatte keinen menschlichen Körper mehr, sondern lediglich die Konturen meines früheren Körpers, die mit Licht gefüllt waren. Merkwürdigerweise fühlte es sich gut an. Sogar sehr gut. Ich musste lächeln, weil ich mir den Tod niemals so vorgestellt hätte. Wir verbinden immer Schlimmes mit ihm, doch es ist eigentlich genau das Gegenteil. Ich erkannte, dass das, was ich jetzt war, meinen tatsächlichen, echten Zustand darstellte. Dieser Körper aus Licht war meine wahre Natur und der menschliche Körper war wirklich nur ein Vehikel auf Zeit, dem wir uns bedienen, um auf der Erde verweilen zu können.
Es herrschte ein unglaublicher Frieden und eine Harmonie, wo sich jedes Wort erübrigte.
Daniel berührte mich mit seiner Hand aus Licht.
„Ich werde dich überall finden, hörst du. Wir sind unzertrennlich. Für immer und ewig.“
Ich küsste ihn ein letztes Mal und wir wurde eins. Unsere jetzigen Körper schmolzen zusammen und das Licht wurde eins.
Ein letztes Mal schaute ich ihm in seine wunderschönen Augen und versuchte sie mir so gut es ging einzuprägen, damit ich sie unter Millionen anderer Augenpaare wiederfand.
„Für immer und ewig“; waren meine letzten Worte, bevor wir nur noch aus Licht bestanden und uns auflösten, um in ein neues, unglaublich spannendes Leben zu starten.


Sag', was gleicht des Wiedersehens Stunde?
Lindert sie nicht jeden bangen Schmerz,
Heilt der Trennung tiefgeschlag'ne Wunde,
Und erfreut das schwer betrübte Herz?

Wer beschreibt des Augenblickes Wonne?
Wer umfasst des Wiedersehens Lust?
Es erwärmt gleich einem Strahl der Sonne,
Und belebet selbst die kalte Brust.

Wer durchdringt der Zukunft dichten Schleier?
Trennt das Schicksal nicht die Freundschaft oft?
Doch des Frohsinns angenehme Leier
Tönt ihr, wenn sie Wiedersehen hoft.

Reine Wonne fühlen wir auf Erden,
Wenn ein holder Engel uns vereint:
Wie viel größer muss sie jenseits werden,
Wo der Trennung Stunde nie erscheint!

Sagt mir nun, was gleicht der süßen Freude,
Die beim Wiedersehen uns durchglüht?
Froh erscheint es in bescheid'nem Kleide,
Gleich dem Veilchen, das im Stillen blüht.

Impressum

Bildmaterialien: Cover by Rowan92
Tag der Veröffentlichung: 21.02.2012

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