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Es liegt Stille über dem Tal und die Sonne ist noch nicht bis zu seinem Boden vorgedrungen. Auf den Gräsern glänzen Tautropfen. Ringsum erheben sich die hohen Berge bis in Gottes Himmel. Kein Mensch wird je dort sein, wo ihre Chakren den Himmel berühren, dass könnte auch kein Mensch aushalten. Die Energie ist einfach zu hoch – dort, wo sich die Berge mit dem Höchsten verbinden.

 

Mein Name ist Ämina und in ihm liegt mein ganzes Leben. Es ist der Name meiner Großmutter. Das ich in tragen darf, geht mit dem Segen einher, den mir meine Mutter Ama bei meiner Geburt gab. Ich bin wie sie, ich höre die Stimmen der Vergangenen und sehe Bilder aus dem Leben der Lebenden. Schon als ich klein war, kamen die Menschen zu mir und zu Großmutter, die diese Gabe auch besaß und an meine Mutter weiter gab.

Meine Ama starb kurz nach meiner Geburt und Großmutter erzählte mir immer wieder von ihrer Schönheit, Wärme und Güte, mit der sie in der Welt gewesen war.

All das habe sie in meine Seele gelegt, bevor sie ging.

<<Ämira ist mein Geschenk an die Welt>>, waren ihre letzten Worte.

Ama, die Dienerin des Himmels, so nannte sie liebevoll meine Großmutter, und mit ihren Worten kamen Wärme und ein Leuchten in mein Herz. Und ich sah das Glitzern der Tränen in ihren Augen, wenn sie mir von meiner Mutter erzählte. Mein Vater war noch vor Ama gestorben. Kurz nachdem er mein Leben in sie gab, und als ich gerade begann in ihr zu wachsen, starb er bei einem Unfall in den Bergen.

Meine Ama und mein Vater sind nah bei mir, ich kann sie spüren, so wie ich auch meine geliebte Großmutter spüre. Sie verließ mich im letzten Herbst und ging heim in die lichte Welt.

 

Hier, am Rande des kleinen Dorfes, geborgen und geschützt von den heiligen Bergen, lebe ich in der Hütte meiner Großeltern. Seit ich hier im Tal lebe, wechselt das Jahr zum zweiundzwanzigstem Male.

Wie meine Eltern und Großeltern zuvor, lebe ich mit meinen Ziegen und von dem, was unser Land hergibt. Die Menschen, die zu mir um Rat kommen, bringen Wolle, Felle und die Dinge zum Leben mit, die ich selbst nicht habe. Mein Leben ist gefüllt, schlicht und schön.

Wie meine Eltern und Großeltern, steige ich einmal in der Woche hinauf in die Berge. Was ich selbst nicht benötige, teile ich dort mit den Männern, die für uns alle in Meditation und Stille versinken und beten. Ihr Glaube ist stark, denn sie sind viele. Es ist diese Kraft, die uns Menschen verbindet. Aber bei den Mönchen ist nicht alles im Licht. Es gibt sie, die Tage, an denen ich mich von ihrer Energie zurück ziehe. Sie senkt sich wie ein dunkles Tuch hinab ins Tal. Oft spüre ich schon den Beginn der Wandlung, lange bevor das Dunkel unser Tal einhüllt.

Dann kommen alle aus dem Dort zu mir. Es ist wohl mehr eine innere Ahnung als ein Wissen, die sie zu mir führt. Weil meine Hütte zu klein ist für uns alle, sitzen wir mit den Ziegen im Stall. Jeder trägt ein Talglicht und wenn alle da sind, dann befestigen wir unsere Lichter in der Mitte des Stalles auf dem großen Stein.

Schon seit jeher gibt es diesen Stein hier im Tal. Meine Großeltern haben den Ziegenstall vor langer Zeit um ihn herum gebaut. Im Tal gab es immer sehende Frauen, lange vor meiner Großmutter und Ama, die diese Gabe an mich verschenkten. Sie ist es, die Gabe des Sehen, die mich warnt und für uns alle sorgen lässt.

Auch wenn unser Dorf eingebettet zwischen den hohen Bergen liegt, liegt auch das Tal schon hoch über den Ebenen, auf denen die kleinen Pferde in Herden leben. Ich bin nie dort gewesen, aber die Menschen erzählen mir von den Ebenen. Wenn ich mich dann in sie versenke, dann sehe ich die Herden und die Menschen, die dort mit ihnen leben.

 

Heute werde ich wieder aufsteigen. Ich habe Ziegenkäse eingepackt und gekoche Wurzeln, Beeren und von den Fladen, die Lhaina mir brachte. Sie sorgt sich um ihre kleine Tochter, die so schmal bleibt und oft erkrankt. Ich verbinde mich mit ihren Ahninnen und bitte eine davon, zu gehen. Sie tut dem Kind nicht gut. Diesmal konnte ich die Botschaft der Ahnin deutlich verstehen und ihre Bitte an die Mutter des Mädchens weiter geben. Wenn diese die Bitte erfüllt, dann wird ihre Tochter heilen.

 

Die Mittagssonne hat die Nebel aufgelöst und schon lange alle Tautropfen von den Gräsern und Pflanzen getrunken. Der Aufstieg ist auch diesmal beschwerlich, denn der Korb, den ich auf dem Rücken trage, ist schwer. Ich mache eine kleine Rast. Aus dem Berg ist eine Steinzunge gewachsen, die frei über dem Tal zu schweben scheint. Hier ruhe ich immer aus. Auf dieser Höhe hat Gras und Moos noch genügend Halt auf dem Stein, und ich lasse mich gerne auf diesem weichen Teppich nieder. Weiter höher wird es karger werden. Ich liebe diesen stillen Platz, über dem sich im Fels weit oben ein Adlerhorst befindet.

Die Rufe der Jungen hallen durch das Tal.

Alles ist Energie. Die Sonne, die Tiere, ihre Stimmen, die Stille und auch ich. Selbst meine Gedanken sind Energie. Und die Bilder und Schemen aus einer lang vergessenen Zeit sind Energie. Nie bin ich allein.

Wesen, lichtvoll und oft auch dunkel, sind bei mir, aber nichts ängstigte mich jeh. Ich kann sie fühlen und oft auch sehen und hören.

 

Als ich oben am Kloster ankomme, bin ich dankbar, meinen Korb vom Rücken nehmen zu können. Der Mönch, der mir den Korb am Tor abnimmt, schaut mich erstaunt an und bedankt sich. Ich warte vor dem Tor, denn Frauen ist das Betreten des Klosters verboten. Es ist nicht immer der gleiche Mönch, der mir den Korb abnimmt, und dieser kannte mich noch nicht. Ich kann sein Staunen gut verstehen. Mein Vater kam aus einem anderen Land. Ich trage Haare wie er sie hatte. Sie sind hell und meine Augen haben die Farbe des Sommerhimmels, so beschrieb sie meine Großmutter.

Ich habe mein Tuch um meinen Hals gelegt, damit der Wind die Anstrengung des Aufstiegs fort tragen kann. Wie sehr mein Haar im Sonnenlicht glänzen kann, habe ich oft im Wassertrog meiner Ziegen gesehen. Ja, und dieses Leuchten hat auch mich immer wieder staunend gemacht. Die Menschen hier haben dunkle Haare und auch eine andere Augenform und Augenfarbe.

 

Während ich auf meinen Korb warte, sitze ich am Rand des Felsen, der hier ein kleines Plateau bildet. Hier wächst kein Moos und nur wenige dünne Pflanzen haben sich in den schmalen Zwischenräumen verwurzelt. Um so mehr bin ich in ihre blauen Blüten verliebt. Sie verzaubern mich, weil sie aus dem Kargen solch Schönheit entwickeln.

Gottes Welt ist wunderschön – mit allem, was in ihr ist.

Ich sitze auf einem Tuch und schaue über die Welt. Versunken in meinen Empfindungen und Gedanken, erschrecke ich mich leicht, als ich mich an meiner Schulter berührt fühle. Ich hebe meinen Blick und schaue in zwei gütige Augen, die zu einem jungen Mönch gehören, den ich nicht kenne.

Er reicht mir seine Hand, damit ich leichter aufstehen kann. Mein leerer Korb steht neben ihm.

Als unsere Hände sich berühren, hört der Wind auf. Um uns ist tiefe Stille und es scheint mir, als ob wir gemeinsam durch die Zeit reisen. Ich sehe seine Ahnen hinter ihm, um dann weiter in die Reise seiner Seele zu schauen. Manches zeigt sich sehr deutlich, anderes nur als Schemen. Ich betrachte alle Bilder aufmerksam und staunend, während sich zwischen uns ein magisches Feld öffnet. In ihm fühle ich das Aufgehen der Sonne, das Nährende des Regens. Geburt und Tod und Wiederkehr.

Das Sehen erfasst mein ganzes Sein und als sich unsere Blicke begegnen, erkennen wir einander. Alles ist sichtbar und fühlbar – nichts ist verborgen. Dieses Erkennen sehe ich auch in den Augen des Mönches. So stehen wir, immer noch hält er meine Hand und immer noch halten wir einander im Blick.

Dann lässt er schnell meine Hand los und geht ohne einen weiteren Blick. Das Tor schließt sich hinter ihm.

 

Es ist Abend und schon lange ist das Tal in der Umarmung der Dunkelheit verschwunden. Ich liebe diese Stille und sitze vor dem Stall der Ziegen auf meiner Bank, als sich von den Bergen eine Stimme zu mir senkt. Ich höre sie deutlich in mir und ich weiß, es ist die Stimme des jungen Mönchs. Diese Stimme kommt aus seiner Stille und ich höre sie in meiner Seele.

Er erzählt mir aus seinem Leben, davon, wie er zu den Mönchen kam und er nennt mir seinen Namen; Sangpo. Er erzählt mir von seinem Erkennen, und dass er schon lange in seinem Herzen von mir weiß.

 

 

Von diesem Tag an ist Sangpo immer am Tor, wenn ich mit meinem Korb komme. Er bringt den Korb ins Kloster und setzt sich dann zu mir an den Rand des Felsen.

Dort sitzen wir still und blicken über die Welt.

Ohne Worte zu benutzen, wissen wir, dass wir uns wieder begegnet sind, wie schon viele Male zuvor. Und es kam der Tag, als wir dort Seite an Seite saßen, wo Sangpo mit seiner Hand nach meiner griff.

Wir sitzen, schauen über die Welt und er hält meine Hand.

Diese reine Berührung unserer Hände enthält alle Innigkeit und Liebe, die wir füreinander in unseren Seelen tragen.

Dennoch kann er nicht zu dieser Berührung seinen Blick in meine Augen versenken, denn dann wäre nichts mehr, wie es für ihn ist. Ich weiß um seinen inneren Kampf. Würde er meine Hand berühren und in meine Augen schauen, würde er das Kloster verlassen. So viele Leben schon waren wir einander begegnet, ohne als Mann und Frau miteinander zu sein. Es gab sie immer, die Wahl, die Entscheidung zu treffen, und wir wissen beide in der Tiefe unserer Seele, dass es immer um diese eine Liebe ging.

 

Viele Monde waren vergangen, als Sangpo wieder mit mir zusammen ist, wie immer, vor dem Kloster. Inzwischen ist es so kalt, dass wir beide eingehüllt in Ziegenfellen nebeneinander stehen. Es ist zu kalt, um uns auf den Felsen zu setzen. Unter uns sind die Nebel, die das Tal verbergen, über uns der klare Himmel und um uns die hohen Berge.

Er erzählt mir von seiner Entscheidung im Kloster zu bleiben, und ich kannte seine Worte, bevor er sie spricht.

Er schaut mich nicht an, sondern spricht in das Tal, in den Himmel und zu den Bergen, und ich, ich fühle seinen inneren Kampf. An diesem Tag hält Sangpo lange meine Hand und er geht mit mir den Weg abwärts. Lange schon war das Kloster nicht mehr zu sehen, als er mich küsst.An diesem Tag gibt er zum ersten Mal seinen Blick in meine Augen während er meine Hand hält. In diesem Moment haben wir beide eine Ahnung, von der Liebe, die für uns möglich ist.

Eine Liebe, die uns durch die Zeit und all die Leben begleitet und darauf wartet, zu sein.

 

Abschied

 

… es war der letzte gemeinsame Tag, die letzte gemeinsame Zeit, das letzte Treffen, auf das ich schaue. Lange noch saß ich dort und schaute auf den Weg, der nach oben zum Kloster führte. Sangpo war nicht mehr zu sehen. Ich blieb sitzen, obwohl die Dunkelheit mich mahnte, saß ich auf der Felsenzunge, dem kalten Moos – umhüllt von der hereinbrechenden Nacht.

Ich kann nicht davon berichten, was genau geschah, dass ich nicht mehr zurück fand.

Außer, das ich wohl abglitt, vom glitschigem Felsen und in die Tiefe stürzte. Genau erinnern kann ich mich aber daran, wie ich Abschied nahm vom Tal, meinen Ziegen – die mich ganz sicher sahen, denn sie um umringten meine Lichtgestalt, die so hell war, dass in ihrem Licht der Stall von innen leuchtete.

Ich besuchte alle Bewohner des Dorfes um Abschied zu nehmen, und stand lange am Lager von Lhainas kleiner Tochter, die erwachte und mich lächelnd anschaute. Sie hatte zugenommen und war gesund. Ihr legte ich meine Hand auf ihr Herz und lies mein Licht und meine sehende Gabe zu ihr fließen. Als ob sie wusste, was ich tat, schloss sie die Augen und lächelte still.

 

Einige Tage später, mein Körper war gefunden worden, beweint und betrauert, verließ ich das Tal und erhob mich ein letztes Mal, um nun auch von Sangpo Abschied zu nehmen. Das es keinen Abschied für immer gibt, dass wusste ich schon zu Lebenszeiten.

 

 

 

 

 

Dieses Mal „betrat“ ich das Kloster.

Es gab keine Hindernisse, Verbote oder Mauern mehr.

Als ich den kleinen Raum betrat, in dem Sangpo mit anderen Mönchen im Gespräch war, hörten alle Worte auf. Sie hoben erstaunt die Köpfe und schauten sich fragend an, als suchten sie, die letzten Sätze zu finden.

Es war still. Für einen Moment.

In dieser Stille stand Sangpo auf und ging mit mir nach draußen, bis vor das Tor. Er setzte sich auf seinen Platz und ich mich neben ihn, auf meinen.

Seine Hand suchte nach mir, strich über den leeren Stein, wo ich immer neben ihm gesessen hatte.

Als ich meine Hand auf sein Herz legte, begann er zu weinen. Er nannte meinen Namen und ich erzählte ihm, dass wir einander erkennen werden, wenn es an der Zeit ist.

Lange noch saßen wir beisammen und schauten über die Welt.

 

Als ich ging, begleitete mich seine sanfte Stimme, die mir von all dem erzählte, was er mir nie erzählt hatte. Von seinen Gefühlen, seinem inneren Kampf, seiner Hoffnung und seiner Verzweiflung. Ich hörte alles und entfernte mich langsam.

 

Ämina....Ämina....

 

… leiser und leiser wurde seine Stimme, mit der er mich liebevoll nannte, bis sie verging.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 21.11.2014

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