Cover


Oft sagte ich in meiner Verzweiflung:
"Das darf mir nicht geschehen, nicht jetzt.

Und mein Leben antwortete mir:
"Mache Dir keine Sorgen, alles ist richtig
und die Zeit reicht!"


Unter meinem Himmel

Ein Stück Leben – ein Stück Biografie.
Wir wollten die DDR verlassen und es war klar, dass wir viele Schwierigkeiten bekommen würden. Wie schlimm es dann aber wirklich wurde, hätte ich mir nie ausdenken können. Umso mehr wollte ich weg.

Lange vor der Wende. Wir schrieben das Jahr 1981.
Es war so viel geschehen, seit wir offiziell unseren Antrag gestellt hatten, das Land zu verlassen. Und dann kam der Tag, von dem ich hier erzählen möchte!
Mir war inzwischen klar geworden, dass ich reagieren wollte. Vor Ort hatte ich das zwar bereits getan, aber ich spürte auch eine Gefahr für die Familie und besonders für meine Kinder. Meine neunjährige Tochter hatte in der Schule unter unserer Entscheidung sehr zu leiden. Die Lehrer ließen es an ihr aus, dass ihre Eltern nicht staatstreu waren. Sie konnte es nicht verstehen, war ja ein kleines Mädchen und stolz darauf, in der Schule zu lernen.
Es waren ihr schlimme Dinge geschehen und ich wollte, dass auch andere Menschen von uns und all dem Geschehen erfuhren. In Gera konnte ich nichts mehr tun, also wollte ich nach Berlin. Dort gab es einen Rechtsanwalt Vogel, der irgendwie zwischen den beiden deutschen Hälften vermittelte.
Genaues wusste keiner, allerdings war er im Westfernsehen aufgetreten und hatte sich dort in einer Sendung für politische Häftlinge und deren Ausweisung in die BRD verwendet. Zu ihm wollte ich, er sollte auch mir und meiner Familie helfen. Dass ich damals ziemlich naiv war, wusste ich zu diesem Zeitpunkt nicht. Ich wollte diesem Rechtsanwalt alles schildern und auf unsere persönliche Situation aufmerksam machen. Auch hoffte ich, dass die Stasi das schon mitbekamen, denn ich entdeckte oft in der Stadt, dass ich überwacht wurde. Wahrscheinlich deshalb, weil ich nach Außen immer eine große Klappe hatte. Ich wollte Freiheit auch für meine Kinder und das sagte ich auch. Damit war ich sozusagen schon ein Klassenfeind und untragbar für die Gesellschaft. Für eine Umerziehung war ich zu alt, also gab es nur den Druck und die Verbreitung von Angst. Sie sollten sehen, dass ich mich nicht einschüchtern lies.
Nach all dem, was sie meiner kleinen Tochter zugefügt hatten, war ich wie eine bissige Tigerin geworden. Ich kämpfte mit allen Mitteln, die mir zur Verfügung standen, und das waren wenig. Also blieb die nur die Möglichkeit, mit allem Geschehen in die Öffentlichkeit gehen. Zeitungen waren für meine Belange tabu, es gab nur sozialistische Zeitungen und kein Redakteur wären für einen solchen Artikel in den Knast gegangen. Aber in Berlin, da gab es diesen Anwalt und auch die damals „Ständige Vertretung der BRD“ – anstelle einer Botschaft. Dort wollte ich unbedingt hin.

Über die Gefahren, die letztendlich auch in meinem Handeln lagen, konnte und würde ich nicht nachdenken. Das hatte ich mir fest vorgenommen, denn sonst würde ich keinen Schritt von meinen Kindern gehen können. Die tiefliegende Angst, verhaftet zu werden und somit von den Kindern auch getrennt zu sein, hatte durchaus ihre Berechtigung. Solche Dinge waren schon geschehen und niemand konnte damals etwas über den Verbleib der Eltern offiziell erfahren. Also galt es immer die Angst zu verdrängen und wenn, dann heimlich zu weinen.
Nach Außen hin stark und sicher wirkend, hatte ich mir verboten Gefühle der Angst zu fühlen. Sie würden mich nur zum Opfer machen und hätten jeden Schritt blockiert.
Mein damaliger Mann ging seinen eigenen Weg, das heißt, er arbeitete, so wie ich auch, kümmerte sich um die Kinder, wenn ich Dienst hatte. Die Wege zur Stasi und auch jeden anderen musste ich allein gehen. Er nahm das alles nicht wirklich ernst. Nur weg, dass wollte er auch.

Also mit dem Trabbi einer Freundin auf nach Berlin! Ich brauchte nicht allein fahren, Freunde fuhren mit. Es war alles nicht so einfach gewesen, damit meine ich die Vorbereitungen. Das Internet gab es damals noch nicht und die Recherche gestaltete sich als äußerst schwierig. Allein die Tatsache, nach bestimmten Adressen oder Personen zu fragen, machte schon verdächtig, wenn die nicht einer sozialistischen Kontrolle standhielten. Ich kann mir schon vorstellen, dass sich das heutzutage keiner so recht vorstellen kann, aber so war es gewesen. Nie wusste ich genau, wer die Spitzel in unserem Freundeskreis waren. Wir wollten alle das Land verlassen und trafen uns regelmäßig. Oft sprach das einer lachend an, dass bei so vielen Menschen – wir waren mehr als zehn – mindestens drei für die Stasi lauschten. Und ob jeder von uns tatsächlich auch vorgeladen wurde und wirklich weg wollte, war nie zu prüfen. So war das halt damals. Wir lebten mit dem Wissen, was hätten wir auch sonst machen sollen. Ein wirklich tiefes Vertrauen konnte es nie geben.

Wie ich also zu den gewünschten Adressen in Berlin kam, dass kann ich heute nicht mehr sagen, aber eines Tages hatte ich sie. Meine Kinder würden beim Vater bleiben, damit sie geschützt waren. Es gab genügend Geschichten darüber, dass Eltern „verschwanden“ und keiner wusste, wohin die Kinder kamen. Ein Elternteil musste unbedingt immer bei den Kindern sein. Diese Gedanken musste ich denken, sonst wäre ich nie losgefahren. Heute weiß ich, dass auch das nicht wirklich ein Schutz gewesen war, sondern ein hilfloses Denken und Wünschen. Eine Hoffnung. Wenn die Stasi eingegriffen hätte, wäre jeder ohne Hilfe gewesen, die Kinder und auch die Eltern.

Die Fahrt nach Berlin war heiter. Wir erzählten uns Witze, um die Spannung ein wenig zu lösen. Blödelten rum und ich malte mir schon aus, welche Hilfe ich erhalten würde. Ich hatte mir Mut gemacht und meine Freunde hatten mich kräftig darin unterstützt, während der Trabbi Richtung Berlin schnurrte. Sie waren unglaublich mutig, diese Freunde, denn wenn ich tatsächlich mit meiner Familie das Land verlassen konnte, dann blieben diese Freunde in Gera. Sie hatten keine Anträge gestellt und mussten mit Repressalien gegen sich rechnen. Diese Folgen waren nicht einmal ansatzweise zu erahnen.

In Berlin waren wir beeindruckt. Es gab damals ja auch noch kein Navi, keiner konnte sich übers web eine Adresse und den Weg zu ihr ausdrucken. Wir hatten lediglich einen Straßenatlas und fragten uns durch. An diese Suche in der Stadt, die so riesig war, kann ich mich auch eher weniger erinnern. Dass wir alle aber sehr beeindruckt waren, das ist mir geblieben. Und wir fanden die Kanzlei und den Rechtsanwalt. Ich hatte keinen Termin, damals hatte kaum einer ein Telefon und irgendwie war ja eh alles sehr geheim. Dennoch wurde ich nicht weggeschickt. Eine freundliche Sekretärin hörte mich an und bat mich zu warten.

Ich hatte es geschafft! Ich saß ihm tatsächlich gegenüber, dem Anwalt Vogel, und er hörte mir zu!
Als ich ihm davon erzählte, dass die Stasi in Gera meine Tochter als Druckmittel gegen mich benutzte (sie war nicht das leibliche Kind meines Mannes), hörte er mir Anteil nehmend zu. Er könne sich nicht vorstellen, dass die Stasi kleine Mädchen vergewaltigen ließ, um Druck auszuüben. So etwas könne doch nicht sein, er habe noch nie von solchen Mitteln gehört.
Als ich ihm davon berichtete, dass ich bei der Kripo war und die Stasi angezeigt habe, wurde er sehr ernst. Klar wusste ich, dass die Kripobeamten das nicht weiter gegeben hatten. Das geht nicht, hatten sie mir gesagt. Dennoch bin ich dort gewesen und habe auf meiner Anzeige bestanden. Ich erzählte ihm, dass ich eine Gefahr spürte und dass sie feige auf die kleinen Kinder ausgeübt wurde, auf meine Kinder!
Der Anwalt hörte mir zu, schrieb auf, was er aufschreiben wollte und nahm meine Petition entgegen. Ein Schriftstück, in welchem alles zusammengefasst war, was damals auf meine Familie einwirkte und geschah, und in dem ich um Hilfe bat.

Als ich wieder im Auto saß und meinen Freunden berichtete, war ein großer Teil Anspannung einem guten Gefühl gewichen. Ich hatte es echt geschafft. Der Anwalt hatte mich ernst genommen und das fühlte sich gut an. Wir fuhren erst einmal Richtung Zentrum und von dort aus dann in den Teil Ost-Berlins, in dem sich diese „Ständige Vertretung der BRD“ befinden sollte.

Immer wieder, seit wir von Gera losgefahren waren, wurde rückwärts kontrolliert, ob wir „begleitet“ wurden. Klar waren wir auch unerfahren, was diese Beschattungen betraf, dennoch hofften wir, sie zu entdecken.
Die Geschichte, die ich hier erzähle, mutet sicher viele Leser eher seltsam an. Aber so ist das. Was wir nicht selbst erleben, ist oft schwer vorstellbar. So ging es mir immer mit den Kriegsfilmen, sie zu sehen war das Eine, aber wie Krieg sich anfühlte, konnten nur die wissen, die ihn erlebt haben. Mit meinen Erlebnissen in der DDR ist es ähnlich – nur hier war ich es, die erlebte.

… ich wusste, wie es sich anfühlte, wenn es abends spät an der Wohnungstür schellte und klopfte. Wenn im Treppenhaus kein Licht angemacht war, was ich nicht sehen konnte, da ich keinen Spion in der Tür hatte.
Und ich wusste, wie ich mich fühlte, wenn dann nach meinem vorsichtigen Öffnen ein Schuh in den Spalt drängte und auf einmal die Männer mit den langen Ledermänteln im Korridor standen und mir von Verhaftung erzählten. Dann musste ich meine Kinder wecken, mein Sohn ging noch in den Kindergarten und meine Tochter, fünf Jahre älter als er, bekam schon alles mit. Sie standen dann im Flur und weinten und ich musste sie anziehen, denn wir sollten ja mitgenommen werden.
Alles nur Schikane. Psychoterror.
Immer dann, wenn mein Mann Spätdienst hatte und ich mit den Kindern allein zu Hause war. Diese Männer erinnerten mich an die Nazis aus den Filmen. Sie sahen diesen mit ihren Ledermänteln nicht nur ähnlich, sie verhielten sich ebenso. Drangen einfach in unsere Wohnung ein, waren unbarmherzig zu meinen Kindern und wollten uns ängstigen. Einmal, mein kleiner Sohn war außer sich vor Angst und meine Tochter stumm, sagte ich den Männern auch, „Sie sind schlimmer als die Nazis, denn wir leben ja in einem sozialistischen Land – Schlimmer!“

Eine Verhaftung hat nie stattgefunden, Gott sei Dank! Die Kinder durften wieder ins Bett und ich stand den Männern „tapfer und stolz“ gegenüber. Wollte mich nicht klein kriegen lassen, fragte immer klar und deutlich nach dem Verhaftungsgrund, der mir nie genannte wurde, und trug mein Herz klopfend in den Füßen, solche Angst hatte ich. Ich habe sie nie gezeigt.
Dann gingen sie wieder und ich wusste, sie kommen wieder.

Zu dieser Zeit war ich schon lange allein mit der Verantwortung. Es gab nie eine Option, dass mein Mann mir zur Seite steht. Er hat das alles eher lächerlich gemacht. Klar, er war ja nie dabei. Irgendwie war es unausgesprochen klar, dass ich das aushalte, regele und erlebe.

Aber das war etwas anderes, als in einem Auto vielleicht verfolgt zu werden.

Wir waren in dem Stadtteil angekommen und parkten um uns dann in einem Café zu beraten. Wir alle hatten schon viele Filme gesehen, alte und neue. Irgendwie hatte ich die Idee, mich zu verkleiden, damit niemand meine wahre Absicht errät. Wie gesagt, ich war wirklich sehr naiv. Im Auto hatte ich mich schon geschminkt. Ich wollte wie zufällig dort herumspazieren, als ob ich einen Freier suchte. Was wusste ich schon? Nicht wirklich viel. Dann war es soweit. In diesem Café würden meine Freunde auf mich warten. Ich musste die nächste Kreuzung überqueren und dann rechts in die Straße einbiegen. Dort würde ich dann die Vertretung der BRD finden.

Also auf dem Klo nochmals nach schminken, Minirock und High Heels anziehen. Die kleine rote Handtasche einer Freundin nicht vergessen.
Im Café waren wir uns schon nicht mehr sicher, ob wir nicht tatsächlich beobachtet wurden. Doch es gab nun kein Zurück mehr, Zu vieles und zu Schlimmes war geschehen, und ich ging los. Damit vielleicht wichtige Persönlichkeiten von mir und meiner Familie erfuhren und wir nicht einfach verschwanden. Damit meine Tochter Gerechtigkeit erfahren konnte.

Als ich die Kreuzung überquerte, hatte ich schlimmes Herzklopfen, denn schon von der anderen Straßenseite sah ich den bewaffneten Posten, der in einem kleinen Wachhäuschen stand. Mit einem Blick entdeckte ich, dass es nur eine einzige Villa in der Straße gab, an die sich eine endlose Fabrikmauer anschloss. Egal. Meine rote Handtasche schwingend, stöckelte ich an der Bordsteinkante einfach in die Straße hinein. So als wäre ich in Gedanken und sorglos. Aus dem Augenwinkel sah ich sofort, dass der Posten aus dem Wachhäuschen trat und ging schneller.
Sein Befehl:
„Bürgerin, bleiben sie stehen!“, ließ mich rennen und er rannte inzwischen auch, hinter mir her.
Ich hatte beide Schuhe in der Hand und rannte auf die Treppe zu, die mit einigen breiten Stufen geschwungen vor dem Eingang sichtbar wurde. Weit, in der Ferne meines Bewusstseins, hörte ich das Gewehr klicken, das war zu viel. Mein Herz raste und ich hatte nicht wirklich Kondition, aber einen unglaublichen Willen und dieser verlieh mir Kraft, denn ich lief nicht nur für mich – ich lief für meine Kinder. Und ich war allein, wie so oft schon in meinem Leben. Aber ich hatte auch Angst, dass der Posten mir in den Rücken schießen könnte. Als ich die erste Treppenstufe hoch stolperte, fühlte ich ganz kurz seine Hand an meinem Arm und entwischte ihr. Außer Atem stürzte ich durch die sich automatisch öffnende Tür in den Vorraum, wo ich freundlich erwartet wurde. Ich war nicht die Einzige, die hier auftauchte. Und spektakulär war es sicher auch immer, sonst gäbe es ja nicht einen bewaffneten Posten an der Kreuzung.
Beruhigend wurde mir erklärt, dass bereits die Treppe zum Hoheitsgebiet der BRD gehöre und ich erst einmal in Sicherheit wäre. Hieß, man könne mich hier nicht mit Gewalt herausholen. Ich bekam einen Kaffee aus einer Maschine, neben der Plätzchen und Schokolade sowie viele Sorten Säfte in kleinen Flaschen standen. Heute würde ich sagen, ganz normal, aber damals hatte ich solche Dinge noch nie gesehen.
Ich könne soviel davon essen und trinken, wie ich möchte, oder mir auch gerne mitnehmen, sagte der freundliche und sehr elegant gekleidete Herr vom Empfang. Und ich solle mich erst einmal beruhigen, er würde Bescheid sagen.

Irgendwie war alles sehr beeindruckend für mich. Die Gerüche, die Möbel und besonders die Sicherheit. Die Tatsache, dass ich tatsächlich in der „Ständigen Vertretung der BRD“ saß. Ich hatte auch das geschafft! Ich war echt hier!
Dann kamen die Tränen und ich fühlte die unglaubliche Anspannung, die wie eine Zentnerlast auf mir lag. Erst zitterten mir die Beine und dann alles.
Ja, so war das. Und ich hatte Zeit mich zu beruhigen, bevor ich in ein Besprechungszimmer geführt wurde. Da saß er, der Botschafter – oder so ähnlich, denn es war ja keine Botschaft. Aber er war aus der Bundesrepublik und er vertrat sie hier. Für mich war dieser Mann in dem Augenblick alles!
Hoffnungsträger, Beschützer, Retter und was weiß ich noch. Der Mensch, der den anderen Teil Deutschlands hier in Berlin vertrat und dem ich alles schildern wollte.

Bevor ich etwas sagen konnte, legte er einen Finger auf die Lippen und schob mir einen Zettel über den Tisch.
„Wir wissen nicht, ob wir abgehört werden.“ stand auf dem Zettel.
Fast trotzig antwortete ich laut. „…mir ist egal, ob hier jemand mithört, ich habe keine Angst und werde alles laut erzählen.“ … und dann erzählte ich vom Psychoterror, von dem Missbrauch an meiner neunjährigen Tochter, davon, dass abends diese Männer von der Stasi kamen und ich erzählte auch von der Stimme, die näselnd und grinsend mich am Telefon auf der Arbeit fragte: „ und glauben Sie, dass Sie Ihre Tochter heute wieder sehen? Man weiß ja nie, wer ihr nach der Schule begegnet. Auf dem Weg von der Schule ist sie doch allein, oder?“
Erzählte von meinen Panikattacken, die mich dann jedes Mal befielen und von der unglaublichen Angst, mit der ich dann zur Schule eilte. Dass ich meinen Kindern immer wieder regelrecht „einimpfte“ nicht mit jemandem mitzugehen, dass wir Mama und Papa sind, weil ich gehört hatte, dass Eltern in den Knast kamen und deren Kinder zur Adoption freigegeben wurden.
Ich erzählte und erzählte und mir wurde sehr ernsthaft zugehört.

Wie lange ich dort war, weiß ich nicht mehr. Mir wurde nichts versprochen, dennoch fühlte ich mich besser, stärker und erleichtert, als ich die Treppe hinunterstieg.
Ach ja, der Militär, seine Waffe und die Kreuzung rückte nun wieder in den Fokus. Aber das war mir nun relativ egal. Schlimmsten Falls würde ich verhaftet. Auch dieser Gedanke konnte mir damals mein Hochgefühl nicht nehmen. Ich hatte es geschafft. Hatte dafür gesorgt, dass das Schlimme, welches auch meiner kleinen Tochter geschah, bekannt wurde. Und wenn die Stasi tatsächlich dieses Gebäude abhörte, dann wussten sie noch mehr, dass ich nie aufgeben würde. Ich hatte einen persönlichen Sieg errungen.

An der Kreuzung kam der Soldat nicht auf mich zu. Ich konnte die Straße ohne Störung überqueren und ging Richtung Café. Doch schon wenige Schritte später wurde ich von einem Zivilisten angehalten, der mir irgendeinen Ausweis kurz zeigte, und meinen Ausweis verlangte. Den gab ich gerne. Auf seinem Reverse entdeckte ich ein kleines Mikro – als Knopf getarnt und musste grinsen.
Seiner Aufforderung, meinen Namen zu nennen, kam ich erst einmal nicht nach. Ich sah ihm in die Augen. „Sie können doch lesen, hoffe ich“, gab ich ihm kess zur Antwort. Ich fühlte mich so befreit und der konnte mir keine Angst machen, nicht in diesem Augenblick. Da er mich weiterhin aufforderte meinen Namen zu nennen, beugte ich mich vor und nannte ihn nun ins Mikro hinein. Ich sprach mit seinem Knopf und lachte ihn dann an. Er hatte sein Gleichgewicht für Augenblicke verloren und schaute sehr verdutzt.
So ging aber die Befragung weiter. „Wo wohnen Sie?" – Antwort laut und deutlich zum Mikro und so weiter, bis er mir meinen Ausweis endlich zurückgab und ich gehen konnte.
Im Café habe ich dann ein großes Stück Kuchen verdrückt und dann sind wir schnell zum Auto gelaufen und nach Hause gefahren. Ich wollte schnell zu meinen Kindern!

Auf der Rückfahrt habe ich sehr ernsthaft und berührt von allem erzählt.
Wir sind gut und ohne Zwischenfall in Thüringen angekommen. Klar ging der Terror weiter, bis wir 1984 dann endlich das Land verlassen konnten.
Noch Jahre habe ich unter Angstattacken gelitten, konnte mich nicht unter vielen Menschen aufhalten und konnte erst über viele Jahre zumindest die Ängste vergessen. Verarbeitet habe ich diese Zeit wohl nie.
Während des Schreibens habe ich viele Gefühle durchlebt und bin froh, dass ich all diese Erlebnisse nun zu Papier bringen konnte.

Sie sind ein Stück meines Himmels, meines Lebens.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 10.08.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für meine Kinder und für all jene Menschen, denen Ähnliches geschah.

Nächste Seite
Seite 1 /