Cover

Mein Blick schweift in die Ferne. Ich stehe inmitten eines weiten Feldes umgeben von flachem Land. Von hier aus kann ich bis zum Horizont schauen. Die Erdkruste um mich herum wurde beackert und ruht. Erst im neuen Jahr werde ich wieder das Wachsen der kleinen Getreidepflanzen beobachten können. Noch ist tiefer Friede um mich, kein Bauer stört meine Ruhe. Ich liebe diese stille Zeit.
Hier ist mein Platz.
Ich bin ein Baum, ich atme - ich lebe!

Meine Äste bewegen sich mit dem Wind, sie fühlen sich einfach gut an. Die vielen Nadeln ergeben in ihrer Vielzahl ein Kleid für jeden meiner Äste und umhüllen sie besonders im Winter kuschelig.
Nebel hat sich tief über die Wälder in der Ferne gelegt und nährt jedes einzelne Gewächs mit seinem köstlichen Trunk. Sicherlich wird der Nebel auch bald bei mir sein, denn ich bin durstig und mein Nadelkleid ist trocken. Deshalb ersehne ich den Nebel herbei. Wenn er sich dann ebenso tief über dem Feld ausbreitet, kann ich mich in ihm verstecken und in seinen feuchten Wasserperlen schwingen. Sie tun mir gut. Für eine kleine Zeit fühle ich mich wie ein verborgenes Geheimnis, denn keiner kann mich sehen. Liebvoll erspüre ich meine Äste, die Nadelblätter und den Boden, in dem sich meine Wurzeln ausbreiten. Ich fühle Kraft und Stärke durch meinen Stamm pulsieren. Dass ich alleine stehe und keine anderen Bäume in meiner Nähe sind, macht mich nicht traurig.
Ich lebe, ich atme, ich bin ein Baum. Wäre ich ein Mensch, würde ich sagen, ich bin glücklich.

Oft besuchen mich die Vögel und andere kleine Tiere. Sie erzählen von ihren täglichen Erlebnissen und ich höre ihnen gerne zu. Ihre Geschichten erfreuen mich und lassen mich lächeln. So erfahre ich viel, ohne dass ich meinen Platz verlassen muss. Wie gut, dass ich hier stehe. Weit weg von den anderen Bäumen, biete ich all meinen Besuchern einen Ort zum ausruhen.
Fernweh besitze ich nicht. Ich liebe es, meine Wurzeln gerade hier in die Erde zu strecken. Wenn sich die Nacht über das weite Land senkt, schau ich immer noch einmal in die Ferne, verabschiede die Sonne und begrüße den Mond und die Sterne. Schüttle all meine Äste ganz sacht, um mich zu entspannen und anschließend in einen neuen Tag zu träumen.
Besonders in diesen Augenblicken erkenne ich das Glück, das in meinem Leben liegt. Die Kraft, die durch meine Wurzeln in mich strömt, und ich wünsche mir noch viele dieser schönen Tage hier zu stehen.
Die Welt ist um mich und ich bin ein Teil von ihr.

Frühjahr:
Die Vögel sind alle fort. Statt ihrem Gesang höre ich das Kreischen einer Säge und spüre einen großen Schmerz in meinem Stamm. Bevor ich mich zur Erdscholle neige, schaue ich noch einmal wehmütig zum Horizont, dann schlage ich auf.
Die Finsternis kommt langsam und tröstend. Sie nimmt alle Erinnerungen und Bilder mit sich und bringt Stille und tiefen Frieden zu mir.

Impressum

Texte: Cover by Gabriele Ende
Tag der Veröffentlichung: 02.02.2011

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