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Das Tor der unerfüllten Wünsche



Inmitten der Vergangenheit und der Zukunft liegt ein großer Platz.
Seine Mitte wiederum wird geteilt durch ein riesiges Tor. Es ist so breit, dass die Enden seiner beiden Türen nicht mit dem bloßen Auge zu erkennen sind. Und seine Höhe ist so gewaltig, dass es bis hinauf in die höchsten Wolken ragt und darüber hinaus.
Hier treffen sich die unerfüllten Wünsche der Menschen. Denn wenn das große Tor sich öffnet, beginnt ein neues Jahr. Dann streben alle Wünsche, die in den zwölf Monaten des vergangenen Jahres keine Erfüllung finden konnten, durch das Tor in die Zukunft der Zeit.

Nun musst du dir vorstellen, dass unglaublich viele Wünsche im Laufe eines Jahres geboren werden. Die Menschen haben immer irgendwelche Wünsche. Manche von ihnen sprechen sie aus. Andere Menschen wiederum, flüstern ihre Wünsche heimlich des Nachts in die Dunkelheit. Auf dem Platz vor dem Tor herrscht ein buntes Treiben. Manche Wünsche waren bunt und farbenprächtig. Andere wiederum eher grau und unansehnlich.

Und dort gab es auch einen Wunsch, der war so unscheinbar, dass man ihn fast übersehen konnte. Klein, fast farblos und zerbrechlich erscheinend, drückte er sich zwischen zwei großen und lärmenden Ansammlungen hindurch. Sein Gesicht war schmerzlich verzogen und seine zierliche Gestalt schien sichtlich gequetscht.
Schließlich blieb er gezwungener Maßen stehen, denn vor ihm stand eine einsame dunkelblaue Gestalt. Ebenso hin und her gezerrt wie er selbst, doch anscheinend ohne jede Anteilnahme an ihrer Umgebung.
Es war die Gestalt eines sehr traurigen Wunsches.
„Nun will ich ja nicht sagen, dass ich sehr glücklich bin, da ich am Ende dieses Jahres keine Erfüllung fand, aber du siehst mir noch unglücklicher aus, als ich mich fühle“. Der kleine Wunsch hatte seine Stimme so laut als möglich erhoben.
Als der Traurige noch immer nicht reagierte, stupste ihn der kleine Wunsch noch einmal in die Seite. Die Reaktion, die daraufhin erfolgte, war sehr gering. Nur kurz schaute der Traurige mit äußerst unglücklichen großen Augen in die Farblosigkeit des kleinen Wunsches. Dann atmete er schwer aus und starrte erneut wieder vor sich auf den Platz.

Nachdenklich betrachtete ihn der Kleine. Er überlegte gerade, womit er den traurigen Wunsch aus seiner Starre locken konnte. Auch er war schließlich traurig, denn seine Zartheit lies auf einen zaghaft geäußerten Wunsch schließen. Und wenn er Pech hatte, lag eine sehr lange unerfüllte Zeit vor ihm, denn er war der Wunsch eines Mannes, der sichtlich ungeübt im Wünschen war. Der kleine Wunsch hustete ein wenig, um die Aufmerksamkeit des Traurigen erneut auf sich zu lenken.
„“Na hör mal auf so vor dich hin zu starren. So schlimm kann es doch gar nicht sein. Was ist denn eigentlich los, dass du so unsagbar traurig bist?“ frage er nun.
    „Du hast ja keine Ahnung wie traurig ich bin. Ich bin der Wunsch eines kleinen Jungen,“ stöhnte er. „...auch wenn ich nicht so bunt bin wie all die anderen hier…“ mit diesen Worten wies er in die wogende Menge, „…bin ich doch ein inbrünstiger Wunsch und von kräftiger Gestalt.“
Er zeigte auf seine äußere Form. „Ich bin gut sichtbar, viel mehr als du und trotzdem ging ich nicht in Erfüllung. Sollte ich durch das Tor müssen, ist alles zu spät!“
Mit einem Schluchzen wendete sich der Traurige wieder ab. Sein Blick verlor sich in der Menge und der kleine Wunsch konnte deutlich spüren, wie sehr der Traurige um Fassung rang.
     „Der kleine Junge wartet darauf, dass ein Versprechen eingelöst wird. Er ist sehr krank und sehr allein. Sein bester Freund hatte ihm bereits vor langer Zeit versprochen ihn zu besuchen. Nun sind die Monate vergangen und er ist nicht gekommen. Noch vor einer Woche,“ erzählte der traurige Wunsch weiter, „hatte der kleine Junge mit ihm telefoniert. Und sein Freund hatte ihm erneut versprochen ihn zu besuchen, bevor das Jahr zu Ende geht. Doch sein Freund ist immer noch nicht gekommen. Schau mich an. Schau wie sehr der kleine Junge die Erfüllung seines Wunsches wünscht.“ Wieder stöhnte er.
     „Jede Minute schaut der Junge zur Uhr und zur Tür. Sollte ich da nicht traurig sein? Das Jahr ist gleich vorbei, schau auf das Tor. Es beginnt sich sicher gleich zu öffnen!“ Erschöpft beendet er seine Worte.

Mitfühlend schaute der kleine Wunsch zu ihm auf.
Was für ein Wunsch! Was für ein Unglück!
Was war er schon dagegen? Der Mann der ihn gewünscht hatte, glaubte nicht einmal an seine Erfüllung. Er schaute nicht auf seine Uhr, er schaute nirgendwohin!
Kein Wunder das er so klein und unscheinbar war.

Das Gedränge auf dem Platz wurde immer stärker. Es waren tatsächlich nur noch wenige Minuten bis zum Jahreswechsel. Mit einem lauten Knarren begannen sich die Torflügel zu öffnen.
In der Mitte des riesigen Tores entstand ein Spalt, durch dessen Mitte goldenes Licht flutete. Das neue Jahr zeigte sich kraftvoll im gebündelten Licht.
Eine unsichtbare Uhr begann laut zu ticken. Schlagartig wurde es auf dem Platz still. Alle Wünsche hielten den Atem an.

 In diese Stille hinein erklang das Seufzen des traurigen Wunsches. Doch es klang nicht aus. Plötzlich veränderte sich sein Ton. Erstaunt blickte der kleine Wunsch zur Seite. Der traurige Wunsch veränderte sich nun auch äußerlich. Seine Farben wurden kräftiger und begannen zu leuchten. Kein Seufzer war mehr in seiner Stimme.
     „Schau!“ rief er stattdessen zum zaghaften Wunsch. „Schau, ich bin erfüllt. Soeben kommt der Freund des kranken Jungen ins Zimmer.“
Jubelnd zeigte der Wunsch auf seine Gestalt. Er war nun kein trauriger Wunsch mehr. Jetzt war er erfüllt und musste nicht durch das Jahrestor gehen. Seine Farben wurden brillant. Sie leuchteten in den herrlichsten Tönen. Schöner und bunter als jeder anderer Wunsch auf dem Platz. Die Freude über seine Erfüllung stand ihm im Gesicht geschrieben. Er war glücklich.

„Ja, sicher werde ich auch bald erfüllt. Sicher bereits im neuen Jahr“ sprach sich der kleine farblose und zaghafte Wunsch Mut zu. Hatte doch der traurige Wunsch sein Glück gefunden, warum sollte es ihm nicht ebenso ergehen? Irgendwann!
Eine kleine Träne rollte über seine Wange und er schien sie nicht zu bemerken. Ohne, dass er sich selbst anstrengen musste, bewegten ihn die anderen Wünsche hin zum Tor. Der kleine Wunsch konnte den Weg nicht verfehlen.
Kurz vor dem Tor wischte sich er sich die Träne ab. Er richtete sich auf und machte sich so groß er konnte. Nur kurz drehte er sich um, als wollte er sich nochmals überzeugen, dass der traurige Wunsch nicht doch noch hinter ihm stand.
Er sah bewusster als je zu vor, die vielen unerfüllten Wünsche, wie sie laut und bunt in die Richtung des Tores drängten. Jetzt wusste er sehr genau, dass er alles daran setzen musste, um in Erfüllung zu gehen. Nur noch wenige Schritte trennten den kleinen Wunsch vom neuen Jahr.

Das Licht des Tores hatte ihn bereits erreicht und er sagte laut: „Ich muss mich in den Träumen des Mannes zeigen. Muss ihn neugierig machen auf die Erfüllung seines Wunsches. Das wäre doch gelacht, wenn ich nicht bald in Erfüllung ginge...“
Mit diesen Worten gelangte er durch das Tor und war sofort im Licht des neuen Jahres verschwunden.



Ich habe ihm lange nachgeschaut. Nun werde ich, wenn das Jahr wieder wechselt, abermals dabei sein und nach ihm Ausschau halten. Ich bin mir sicher, der kleine Wunsch wird dann nicht mehr unter den unerfüllten Wünschen sein.

 

Und wenn auch du einen Wunsch in dir trägst, dessen Erfüllung dir wichtig ist, dann stelle keine anderen Wünsche neben ihn. Damit hilfst du nicht nur ihm, dass er sich erfüllt, damit machst du auch euch beide glücklich.

 

 

 

 

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Tag der Veröffentlichung: 09.12.2010

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