Rita musste an diesem Morgen bereits sehr früh aufbrechen, um rechtzeitig an der Quelle das Osterwasser zu holen.
Der Glaube, dass der Trunk des Wassers Jugend und Frische in Verbindung mit dem Erreichen eines hohen Alters in Gesundheit bringe, war sehr alt. Das Wasser musste unbedingt vor dem Sonnenaufgang in den Becher fließen, sonst besaß es keine Magie.
Und Rita musste schweigen, sich still und gesammelt auf den Weg machen. Vom Aufstehen bis zur Quelle durfte kein Wort ihren Mund verlassen, ganz gleich, was geschah oder was ihr unterwegs begegnete.
Die Magie, die Magie…!
Ohne dieses geheimnisvolle Zauberwort hätte Rita nie den Mund gehalten, hätte sie es einfach nicht geschafft still zu sein. Sie sang immer morgens, wenn sie ihr Bett verließ und gelegentlich erzählte sie auch mit sich selbst.
Die Quelle lag hinter dem Kreuzweg. Rita musste den kleinen Pfad hinaufklettern, was ein wenig beschwerlich für sie war. Doch sie hatte einen starken Willen. Auch war sie nicht so allein, wie sie noch zuhause hoffte. Viele Frauen und auch sehr junge Mädchen schienen in diesem Jahr auf die Magie des Ostertrunkes zu vertrauen. Rita sah die verstohlenen Blicke, mit denen sie die anderen Frauen bedachten. Heute wollte sie nicht darauf reagieren, nein heute nicht. Auch nicht auf die verächtlich herabgezogenen Mundwinkel in manch hübschen Gesicht.
Ritas Hände waren über der Brust gekreuzt und hielten auf diese Weise den kleinen tonerdenen Becher der Großmutter fest. Es war der Osterwasserbecher, der seit Generationen an die Frauen in Ritas Familie weitergegeben wurde. Nun hatte sie ihn.
Langsam beugte sich Rita nach vorn. Die sorgfältig am Morgen geflochtenen dünnen Zöpfe fielen über die Quelle, ohne das die Haarspitzen das Wasser berührten. Sprudelnd füllte sich Ritas Becher mit dem magischen Osterwasser. Rita trat einen Schritt zurück, damit eine andere Hand ein Gefäß zum Füllen unter den Quell halten konnte. Ein seliges Lächeln breitete sich über Ritas Gesicht aus, als sie den Becher an die Lippen setzte und trank. Die Magie schien sofort zu wirken, wie jedes Jahr, denn als Rita den Becher gelehrt hatte, machte sie sich mit kraftvollen und schnellen Schritten auf den Heimweg. Sie fühlte sich wieder herrlich jung.
Alle Frauen, die noch auf dem Weg zur Quelle waren und ihr begegneten, schauten ihr nach. Manch eine unter ihnen spöttig grinsend, andere nur staunend oder kopfschüttelnd. Der Gestalt von Rita, die im langen wehenden Nachthemd, mit alten Pantoffeln und einer grauen gehäkelten Stola über den Schultern mit jugendlich beschwingten Schritten den geheimnisvollen Osterort verließ.
Das Rita in diesem Jahr ihren einhundertundzweiten Geburtstag gefeiert hatte, dass ahnte allerdings keine dieser Frauen.
Texte: Alle Rechte bei der Autorin
Titelbild gefunden bei: www.niederelbe.de
Tag der Veröffentlichung: 02.04.2010
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