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In der Kindheit besuchte mich oft ein und derselbe Traum. Am Anfang konnte ich mich nur an wenige Bilder erinnern, jedoch mit der Zeit erinnerte ich mich immer mehr und eines Morgens schrieb ich ihn auf, den Traum.
Nun, liebe Leserin und lieber Leser, hier ist seine Geschichte:

Ein weiser alter Mann begegnete mir in diesem Traum immer wieder, um mit mir zu sprechen. Auch konnte ich ihm alles erzählen, was mir wichtig erschien. Das Schönste allerdings waren seine Reaktion auf meine Fragen. Niemals hat er mich ohne Antwort gelassen und das machte mich sehr froh. Deutlich sah ich ihn, er stand vor mir ganz ruhig und zeigte mir seine Freude über die Begegnung.
Seine Stimme konnte ich allerdings nur in mir hören, denn sein Mund bewegte sich nicht. Auf diese gleiche Weise musste ich auch mit ihm sprechen, was natürlich einiger Übung bedurfte. Doch wie du weißt, lernen Kinder ja schnell.
Einmal, dass war am Anfang unserer Begegnungen und meine Übung in der geistigen Sprache war noch nicht groß, sprach ich laut mit ihm. Meine Stimme füllte sofort mein Traumzimmer mit ihrem Klang und erschreckte meine Ohren. Er schaute mich nur lächelnd an, um dann seine Botschaft an mich zu richten:

"Du musst die Stimme außer Acht lassen. Sie lenkt  dich nur von dem Wesentlichen ab. Konzentriere dich auf deine Gedanken und deine Fragen, und richte sie dann auf mich!" ...ertönte freundlich seine Weisung in meinem Geist.
Ohne sich weiter zu rühren, stand er wartend vor mir und sah mich an. Also konzentrierte ich mich erneut und übte mich in der ungewöhnlichen und faszinierenden Art, mich auf diese Weise mit dem alten Mann zu unterhalten. Immer wieder gab er mir freundlich, aber bestimmt Hinweise und bereits nach den ersten Nächten unserer Begegnung beherrschte ich die neue Form der Unterhaltung perfekt. Von diesem Tag an war es mir nie mehr in den Sinn gekommen ein lautes Wort an ihn zu richten. Im Traum lernte ich unglaublich schnell.
Einmal fragte ich ihn auch nach seinem Namen.
"Ich bin der Herr des Wissens" ...hörte ich seine Antwort im Geiste und sein Name erstaunte mich keineswegs. Mir war klar, dass alle ungewöhnlichen Menschen auch ungewöhnliche Namen haben. Und das er ein ungewöhnlicher Mann war, dass war für mich keine Frage, da er mir ja ausschließlich in meinen Träumen begegnete.

Er war anders als jeder Mensch, der mir jemals begegnet war, denn trotz meiner Jugend kannte ich bereits eine Menge Menschen. Keine meiner Fragen erstaunte ihn. Im Gegenteil. Es hatte eher den Anschein für mich, dass er sich über jede einzelne Frage freute. Er wusste immer eine Antwort und wich mir nie aus. Außerdem flößte er mir Vertrauen ein, denn die Art wie er mich behandelte, stellte mich zwar nicht mit ihm auf die gleiche Stufe, dennoch stärke und erhob sie mich. Er wusste wohl Dinge, die er mir half ebenfalls zu lernen, und trotzdem, trotz all seines Wissens, begegnete er mir immer sehr respektvoll. So wendete ich mich bald mit all meinen kleinen und großen Sorgen an ihn, nachdem ich die Erfahrung gemacht hatte, dass er mir besser raten konnte als irgend ein anderer Mensch. Selbst meine Eltern waren oft ratlos, wenn ich sie mit meinen Fragen nervte. Und noch öfter ertappte ich sie dabei, dass sie nur so taten, als ob sie mir zuhörten. So verlor ich immer mehr das Interesse mich mit ihnen zu unterhalten, denn sie schickten mich öfters mit einer Ausrede weg.

Er tat das nie!
Das Besondere an diesem alten Mann war auch, dass er nicht wirklich alt war. Wohl sah ich seine weißen Haare und einen langen weißen Bart. So hatte ich mir immer die Zauberer im Märchen vorgestellt. Aber je nach dem, worüber wir sprachen, sah ich ihn auch sehr jung. Du musst das so verstehen, lieber Leser, ich möchte eher sagen, der weise Mann war ohne Alter.
Es geschah einmal, ich war noch keine zehn Jahre alt, da bekam ich eine Aufgabe von ihm gestellt. Er zeigte mir eine kleine Dose, die golden glänzte. Als ich wissen wollte was in ihr ist, wies er mich an, es selbst herauszufinden. Im Augenblick seiner Anweisung war die Dose verschwunden. Gerade wollte ich ihn fragen, warum er sie entfernt, da ich doch in sie hineinsehen wollte, da ging das Licht an. Meine Mutter stand in der Tür und blickte direkt in meine weit aufgerissenen Augen.
Kannst du dir vorstellen, wie ich mich erschrocken habe?

Hast du denn mit deiner Mutter über deinen "Herrn des Wissens" gesprochen, wirst du mich sicher fragen wollen, lieber Leser.
Aber ja! Doch sie konnte zu dieser Zeit bereits keine Bilder mehr sehen. Sie hatte wohl ihre Kindheit lange schon vergessen, wie es üblich ist, wenn man erwachsen wird. Denn ein Mensch, der nicht vergessen hat wie er selbst als Kind gelebt hat, der besitzt ein großes Verständnis für alle Kinder die nach ihm kommen. Als Kind ist der Mensch noch frei und ehrlich. Erst die Erwachsenen mit ihren Verboten und Regeln und die daran geknüpfte Angst, lehren die Kinder lügen.

Als ich endlich wieder allein war und mich die Dunkelheit umgab, sah ich erst einmal nichts mehr. Der Abend war gelaufen. Es dauerte lange bis ich einschlafen konnte, denn ich versuchte immer wieder das Bildnis des Alten heraufzubeschwören, was mir nicht gelang. Erst Tage später konnte ich meine Neugierde befriedigen. Meine Eltern waren ins Theater gegangen und so hatte ich Gelegenheit mit aufgerissenen Augen und ganz ungestört nach dem alten Mann zu suchen. Endlich sah ich ihn. Doch der Alte erschien mir nur einen Moment, winkte mich mit seinem Finger zu sich, um gleich darauf wieder zu verschwinden.
„Suche die goldenen Dose und öffne sie!“
Ich hörte seine Worte in meinem Geiste verwehen und obwohl ich ihn nochmals rief, erhielt ich keine Antwort. Da ich, wie du weißt noch ein Kind war, hielt ich mich nicht lange damit auf sein eigenartiges Verhalten zu analysieren, sondern machte mich sprichwörtlich auf den geistigen Weg die goldene Dose zu suchen. Es ist wahr, dass ich mir nicht einmal die Frage stellte, warum es so wichtig für mich sei, in sie hinein zu schauen. Und es interessierte mich auch nicht eine einzige Sekunde, welche goldene Dose ich überhaupt suchen sollte. Es gab sie, dass war mir klar, denn ich hatte sie gesehen. Sie war mein Ziel, also machte ich mich auf den Weg.

In meinem Traum war es warm und die Sonne schien. Vor mir lagen Wiesen und Auen, die sich an Bachläufe schmiegten. Es war das Einfachste für mich sie zu überqueren, denn im Traum ist alles möglich. Bald kamen kleine Birkenwäldchen und wieder weite Wiesen. Ohne Schwierigkeiten gelangte ich bis an ihren Rand und gelangte in die Nähe der Sümpfe, in denen ich fast versank. Sie hatten mich getäuscht mit ihrem grünen und samtartigen Flaum. Ich hatte mich blenden lassen von den lieblichen zarten Blumen, die aus diesem Flaum ragten. Sie lockten mich mit ihrer Schönheit, sodass ich im Bedürfnis sie zu berühren, ohne Vorsicht näher trat. Bereits nach den ersten Schritten gab der Untergrund schmatzend nach und ich war gefangen. Sofort schrie ich um Hilfe. Doch wer hätte mir helfen können, da weit und breit kein Mensch war in meinen geistigen Welten? Ich war allein!
Je mehr Angst ich entwickelte, um so stärker zog der Morast an mir. Es dauerte nicht lange und meine Angst schlug in Panik um. Verzweifelt rief ich nach dem Alten, doch nur der Wind antwortete mir. Ich schrie und tobte und versank immer schneller. Mir war, als ob viele Hände an mir zogen. Doch trotz meiner Not dachte ich wieder und wieder an die goldene Dose und an des Alten Worte:
"Suche die goldene Dose!"

Mein Wunsch zu ihr zu gelangen wurde übermächtig. Deshalb konzentrierte ich meine gesamte Kraft nur noch auf meinen Wunsch die Dose zu finden, während mein Körper langsam versank.
Der Gedanke, dass ich niemals mein Ziel erreichen würde, wenn der Sumpf einen Sieg erringt, machte mich wütend. Doch die Wut hat eine ähnliche Kraft wie die Angst. Sie bewirkte, dass ich noch schneller sank und so dauerte es nicht sehr lange, und ich steckte bereits bis über meine Schultern in dem zähen Schlamm.

Da gab ich auf. Meine Wut und meine Angst waren angesichts der Tatsache, dass ich nichts mehr tun könnte um ein Versinken zu verhindern, verschwunden. Einzig und allein erfüllte mich noch die Sehnsucht nach der goldenen Dose. Tränen der Verzweiflung flossen über mein Gesicht und tropften von dort tonlos in den Morast. Ich sah die Dose im Geist vor mir, wie sie mir der „Herr des Wissens“ zeigte und versuchte dieses Bild in mir zu halten. So würde ich wenigstens im innerlichen mit ihrem Bild versinken.
Die Dose formte sich in meinem Geist und ich sah sie klar und deutlich in ihrer ganzen Schönheit vor mir. Und bevor ich mich versah, waren die Sümpfe verschwunden. Wie von Geisterhand angehoben, stand ich vor einer riesigen Treppe und wusste nur eines, ich musste diese Treppe hinauf. Doch ich sage dir, die Stufen waren einfach riesig. Sie waren wohl doppelt so hoch wie ich.

Als ich vor der riesigen Treppe stand und an ihr hinaufschaute, glaubte ich ganz sicher, sie reiche wahrhaftig bis in den Himmel. Den konnte ich zwar nicht erkennen, aber oben ist ja immer ein Himmel. Ich erinnere mich, wie verzagt ich wurde, da niemand bei mir war, den ich um Hilfe bitten konnte. Doch ich musste hinauf gelangen. So versuchte ich mit meinen kleinen Händen einen Halt zu finden, um zu klettern. Ich hatte ja bereits manchen Baum erklommen, und so hoffte ich auch diese Stufen zu schaffen. Aber es war unmöglich für mich. Ich erinnere mich meiner Trauer und meines Zorns, als ich nach endlosen Bemühungen immer noch auf der unteren Stufe saß. Da erschien mir das Bildnis der goldenen Dose wieder vor Augen und mein Wunsch in ihr Inneres zu sehen wuchs ins Unermessliche. Und ähnlich, wie es bereits im Moor geschah, lösten sich meine Widerstände auf und ich konzentrierte mich abermals auf meinen Wunsch. Mit dem Wachsen meines Wunsches, wuchs auch ich.

Ich wuchs und wuchs und plötzlich war ich groß genug die Stufen zu überwinden. Lachend vor Freude, als hätte ich niemals vorher mit ihnen Schwierigkeiten gehabt, sprang ich von einer zur anderen. Immer höher und immer leichter, bis zur letzten. Auf dieser fand ich schließlich die heiß ersehnte goldene Dose. Doch die Dose zu sehen, sie so nah vor mir zu sehen, war nur das Eine. Ich merkte sehr schnell, dass ich noch nicht am Ziel meiner Wünsche war. Die Dose war verschlossen und das stellte ein erneutes Hindernis dar.
Ich konnte keinen Riegel und kein Schloss entdecken. Dafür sah ich in das Gold gearbeitete Maserungen, die zur Zierde die Dose schmückten. Auch waren in ihren Deckel herrliche Intarsien eingelegt, die in vielen Farben bizarre Muster bildeten.
Als ich nun auf der obersten Stufe saß, die Dose in meinen Händen und doch nicht am Ziel, da weinte ich bitterlich. Nur aus meinem großen Wunsch und ohne, dass ich es bewusst wollte, versuchte ich mit meiner Phantasie durch sie hindurch zu sehen. Und was soll ich dir sagen, sie öffnete sich, um einem gleißenden Licht die Freiheit zu schenken. Inmitten dieses Lichtes erblickte ich mich selbst und nicht nur dass, nein ich sah mehr von mir, als ich zu jener Zeit verstehen konnte.
Überwältigt verharrte ich mit meinem Blick in meinem Ebenbild. So wurde diese goldene Dose mit ihrem lichtvollem Inhalt zu meinem Spiegel.

Fast flüsternd, doch mit glücklichem Lächeln erzählte ich mir den Traum am nächsten Morgen, während ich ihn aufschrieb.
Inzwischen sind viele Jahrzehnte vergangen. Inhaltsreiche Jahre. Den Traum aus meiner Kindheit habe ich nie vergessen, obwohl der alte weise Mann mich später nie mehr in meinen Träumen besuchte, kann ich mich an die goldene Dose, mein Kindergesicht und an ihn sehr gut erinnern.

 

Und es gibt sie, die Tage, an denen ich tief in mir ein Gefühl spüre, welches von dem erzählt, was ich damals noch in der Dose sah. Und dieses Gefühl zeigt mir, dass ich so wie ich bin nicht nur richtig bin, sondern dass noch viel Neues und auch Schönes mein Leben betreten wird.

 

Impressum

Texte: Alle Rechte bei der Autorin und Malerin.
Tag der Veröffentlichung: 18.10.2009

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