Bei einer Reise in Nepal traf ich in den Bergen einen Eremiten und ich bat ihn, mir einige seiner Weisheiten zu sagen und mich in der Meditation zu unterweisen.
Er schaute mich lange an, dann begann er zu sprechen:
„Wenn du nur einen deiner vielen Wünsche, die du in deinem Leben hast verwirklichst, dann hast du viel erreicht. Ihr Menschen aus Europa habt aber zu viele Wünsche. Sie alle füllen euch aus und treten nacheinander in euren Geist, um sich ebenso schnell wieder aus ihm zurückzuziehen. Deshalb wird selten wirklich ein Wunsch erfüllt. Ihr gestattet nur einem kleinen Teil des Wunsches lebendig zu werden, dann tritt bereits ein anderer Wunsch an seine Stelle und der Wunsch verliert sein Leben. Unzufriedenheit und Leere sind die Folge. Neue Wünsche müssen her und reihen sich ein in die Menge der bereits bestehenden oder schon lang wieder vergessenen Wünsche.
„Gut,“ sagte ich ihm, denn diesen Gedankengang konnte ich einsehen. Was er über die Wünsche sagte war logisch, auch wenn ich es bisher noch nie so gesehen hatte. Er war ein Philosoph, so viel war klar. Seine Art Dinge zu betrachten war einfach unglaublich und faszinierte mich wegen der Einfachheit, die in ihr lag. Nun wollte ich aber noch prüfen, wie weit seine Klarsicht ging.
„Was soll ich also deiner Meinung nach tun?“
„Ich werde dir einen Weg zeigen. Ob du ihn bis zu seinem Ende gehst, wird darüber entscheiden welchen Erfolg du hast,“ sprach er und versank dann erst einmal wieder für mehrere Minuten hinter seinem stillen Gesicht. Ich saß ungeduldig neben ihm und wartete. Jede Minute wurde für mich zur Ewigkeit.
Der Einsiedler war ebenso Mensch wie ich, doch er besaß die Fähigkeit über sich und seinen Körper zu bestimmen. Es war ihm möglich, die menschlichen Bedürfnisse wie essen und trinken auf das geringste zu reduzieren und es sah nicht aus, als ob er darunter leide. Er hatte es bereits gelernt. Sein Körper war schlank und drahtig. Die Bewegungsmöglichkeit seiner Gelenke ging über die meinen weit hinaus. Mit Hilfe seines Willens und wie ich seit damals weiß, auch seiner geistigen Kräfte, war er äußerst diszipliniert.
Ich konnte in den Tagen unseres Zusammenseins nicht erlernen meine Bedürfnisse derartig unter Kontrolle zu bekommen, wie dieser Eremit. Dafür war die Zeit zu kurz und meine Gewohnheiten und Bedürfnisse einfach zu groß. Meine Bewunderung wuchs, je mehr ich von seinem Wesen kennenlernte.
Ich saß von jenem Tag an zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang an seiner Seite. Stunde um Stunde versuchte ich mit der Natur zu verschmelzen, so wie er. Des Nachts legte ich mich zur Ruhe und schlief vor Erschöpfung wie ein Stein. Ich vermag es nicht mehr zu sagen, an welchem dieser Tage mir die ersten Erfolge gelangen, aber sie geschahen. Sie geschahen tatsächlich und wie die meisten Erfahrungen der Menschen zu einem Zeitpunkt, als ich bereit war meine Wünsche aufzugeben. Um mich herum die Geräusche der Natur und auf meinem Kopf die Bewegungen des Windes, der mit meinen Haaren spielte. Dennoch war es so mühselig und meine Erfolglosigkeit ließ mich fast verzweifeln.
"Suche dir einen natürlichen Bruder und vereine dich mit ihm im Geist. Sei wie er!" ertönte die Stimme des Eremiten eindringlich. "Wenn du keine Fremde mehr zwischen euch spürst, dann bist du sehr nahe bei dir," ertönte die Stimme des Eremiten eindringlich.
Das war wohl die schwerste Aufgabe für mich und irgendwie auch die Reizvollste. Also versuchte ich Baum zu sein. Doch der Baum, den ich mir ausgesucht hatte, der war noch zu groß für mich. Seine Größe ist mir allerdings erst durch diese Übung bewusst geworden. Er war alt und stark.
Nachdem ich gesichert hatte, dass ich bequem saß schloss ich also wieder meine Augen und begann von neuem. Ich stellte mir vor, dass ich auf den Baum zugehe und ihm gleich wäre. Nun gut, dachte ich damals, wenn er mein Bruder sein soll, warum nicht? Ich hatte ja bereits schon einige sonderbare Dinge in meinem Leben erlebt und wollte die Erfahrung des Nepalesen teilen. Also machte ich mich auf, meinen ersten Schritt im Geiste zu vollziehen, und erkannte ich im gleichen Augenblick meine eigene Schwäche.
Der Baum stand vor mir in seiner Größe und Schönheit, und schien mir Hunderte von Jahren alt. Seine Wurzeln waren stark und seine Arme gewaltig. In einem bruchstückhaften Bildnis ließ er mich in sich schauen, denn im Geiste ist nichts unmöglich. Ich sah unzählige Jahresringe und riesige Adern die den Stamm durchzogen, prall gefüllt mit Lebenssaft. Die Spannweite seiner kraftvollen Arme war wie die Schwingen von riesig großen Vögeln, und er teilte mit ihnen gelassen die Lüfte. Ich sah mich zu seinen Wurzeln stehen und sah an ihm empor. Es war mir unmöglich seine Gesamtheit mit meinem Blick zu erfassen, und konnte nicht das Ende seines Stammes entdecken. Nicht einmal das Grün seines Blätterdaches war für meinen Blick geöffnet, und ich konnte das Darüber nur vermuten. Sein Blätterdach war breit und dicht und verbarg das Blau des Himmels vollkommen.
Ich fühlte mich sehr, sehr klein, wie ich da so vor ihm stand. Wie ich, wenn auch nur im Geiste, ehrfürchtig an ihm emporschaute.
Vergessen waren in diesem Augenblick die realen Bilder des Plateaus, ich war zu sehr mit mir und dem Baum beschäftigt. Doch eines war für mich klar. Die Erkenntnisse, die ich am Stamm des Baumes in mir fand, konnten mich niemals hin führen zu einem glückseligen Lächeln. In diesem Augenblick war ich froh, dass der Baum kein Gesicht hatte, denn ich war sicher dass er mich belächeln würde. Mich, den Menschen, der sich vergeblich bemühte ihm gleich zu sein.
Bald schliefen mir die Arme und die Beine ein. Mein Rücken begann immer öfter und sehr stark zu schmerzen. Deshalb stand ich wieder und wieder auf, lief auf und ab und drehte größere Runden. Wenn ich der Meinung war, dass ich wieder sitzen konnte, ging ich zurück. Bewegte mich hin zu jenem Baum den ich erwählt hatte und berührte ihn. Ich hoffte auf diese Weise einen besseren Kontakt zu ihm zu bekommen und meine Scheu zu verlieren. Wenn ich ihn berührte könnte er mir vielleicht von seiner Stärke geben. Doch eigentlich wusste ich nicht einmal genau, wie ich diese Bruderschaft im Geiste bewerkstelligen sollte. Als ich mich wieder setzte, beschränkte ich mich nach abermaliger Konzentration auf nur einen Zweig von ihm.
Da gelang es mir!
Genau in dem Augenblick, in dem ich bereit war meinen Versuch aufzugeben. Ich fühlte mich leichter werden und versank derartig in dem Phänomen, dass ich tatsächlich in das Gefühl eintauchte, ein lebendiger Teil dieses Baumes zu sein. Sicher, es war eine Illusion, doch sie war vollkommen. Ich stellte mir vor, ich wäre ein Arm von ihm. Mit ihm am Stamm verbunden und mit dem ganzen Körper frei schwebend in der Luft. Willenlos!
Seine Adern flossen nun auch durch mich und füllten mich mit der Kraft seines Lebenssaftes den sie bargen. Mir wurde heiß und ich fühlte die Stärke des Baumes mich anfüllen. Das Geschehen vereinnahmte mich vollkommen und bald war ich es, der auf der Erde stand. Stark und von kräftiger Gestalt. Von oben sah ich über den Rand des Plateaus, über die Ebene im Tal und weit darüber hinaus. Ich fühlte den Wind in meinem Gezweig und gab mich seinem Wiegen hin.
Meine Wurzeln steckten tiefer in der Erde, als ich je hätte vermuten können. Sie lagen wie ein riesiger Teller unter dem Erdreich und bedeckten eine große Fläche. Einzelne Wurzelarme waren über zehn Meter lang. Andere Arme meiner Wurzeln erstreckten sich tief ins Erdreich und saugten das Wasser in mich hinein. Ineinander verzweigt hielt sich jeder Wurzelarm am anderen fest und so bildeten sie eine Einheit.
Oh, welch ein Gefühl.!“
Ich, der Baum, war gar nicht so hölzern wie ich glaubte, sondern ständig in sanfter Bewegung. Leichte Schwingungen hoben und senkten meinen gesamten Körper. Selbst der dicke Stamm stand nicht starr zwischen dem Geäst sondern bewegte sich. Alles an mir war ständig in Bewegung. Nichts, nicht die kleinste Ader war starr.
Ich war das pure Leben!
Die zart gezackten Blätter, die reichlich meine kleinen Abzweigungen füllten, kitzelten mich sanft mit jeder Bewegung. Ihre Flächen bewegten sich mit dem Lauf der Sonne, die am Himmel ihre Bahn zog. Sie machten Geräusche, wenn der Wind durch sie rauschte und für Sekunden hörte ich die Musik, die dabei entstand. Diese Musik war mein Leben. Sie floss im Einklang mit dem Lebenssaft und verband mich mit dem Himmel und der Erde.
Die Phantasie eines Menschen ist unerklärlich und ich hätte diese Größe nicht in mir vermutet. Ich war Teil geworden mit der Natur, wenn auch nur für Augenblicke. Teil zwischen Himmel und Erde. Und in diesen schönsten Augenblicken waren auch die Gedanken still. Es war einfach nur schön.
Nun wusste ich, was den Einsiedler selig machte. Nun ahnte ich auch, was er mit seinem Geiste wahrnahm. Er, der diese Übungen tagtäglich lebte. Wer weiß, wo er sich hinbewegte. Damals hat sich meine Einstellung zum Glück vollends geändert.
Es ist mir leicht geworden, meine Schwingungen zu spüren.
Meine Wurzeln zu fühlen und über meine Welt zu schauen.......
Tag der Veröffentlichung: 15.07.2009
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