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Glück gefunden



„Ähren sind vom Wagen gefallen!“ rufen die Kinder dem Kutscher hinterher. Doch der hört sie nicht und schon bald ist der alte Wagen hinter der nächsten Biegung verschwunden. Eilig schieben die Mädchen die vielen Ährenbündel an den Wegesrand. Dann läuft eines von ihnen schnell nach Hause, um Körbe und ein Messer zu holen. Mit flinken Händen schneiden sie die prallen Ährenköpfe ab und es dauert nicht lange, da sind die Körbe gefüllt. Die Halme wollen sie später in den Stall bringen. Es ist warm und die Sonne scheint herrlich. Unter einem Busch versteckt, wird sie keiner entdecken.

Flink schaffen die Mädchen Korb um Korb zum alten Bauernhof und dort auf die Tenne. So viel Getreide hatten sie lange nicht mehr. Das gibt sicher Mehl für ein oder zwei Brote. Es ist Krieg und Brot ist eine Kostbarkeit. Sie wohnen hier hinter dem Stall in einer kleinen Hütte. Der Bauernhof selbst ist zerstört und verweist. Sie sind Flüchtlinge und froh, hier eine Bleibe gefunden zu haben.

Unten im Tal ist eine alte Mühle. Der Müller ist Soldat geworden, aber seine Frau bedient das Mahlwerk weiter. Sie wird ihnen helfen.

Mutter liegt bei der Hebamme im Hinterzimmer mit dem kleinen Bruder. Vater hat nur noch ein Auge, aber er kann helfen, die Getreidekörner von den Ähren zu lösen. Geschäftig steigen die Mädchen immer wieder die Leiter hinauf und hinab. Sie sind stolz, als sie am nächsten Tag mit Vater den Eimer zur Mühle tragen. Er ist randvoll!


Einen Tag später:

Es duftet nach frischem Brot. An Mutters Brust der kleine Bruder, auf dem Tisch steht etwas Schmalz vom Nachbarsbauern und für Vater eine Bohnensuppe. Glücklich erzählen die Mädchen der Mutter vom Fund der Ähren, von der Freundlichkeit der Müllerin und wie die Nachbarin ihnen half, die Brote zu backen. Für eine kurze Zeit senkt sich das Glück über die kleine Familie und lässt sie für Augenblicke den Krieg mit seinem Elend vergessen.

Das große Glück liegt oft in den kleinen Dingen.




ENERGIE


„Du musst nur glauben, dass alles gut wird!“


Auch heute sitze ich wieder auf der Oberleitung. Manches Mal, wenn ich mich hier ausruhe, sind sehr viele verschiedene Vögel da und sitzen ebenso wie ich auf der dicken Leitung. Ich bin eher still, sage nicht viel und beachtet werde ich sowieso nicht von ihnen, denn ich bin eher klein und unscheinbar. Aber ich höre gut zu. Interessiere mich für vieles und staune, wie weit manche Vögel bereits gereist sind.

Gerne würde auch ich ferne Länder sehen, doch ich kann nicht so viele tausend Kilometer fliegen. Mein rechter Flügel ist nicht ganz in Ordnung. Als Junges wurde ich von meinem älteren Bruder aus dem Nest geschubst. Bin damals tief gefallen und es brauchte lange, bis der Flügel heilte. Meine Eltern haben mich noch einige Wochen ernährt, dann habe ich sie nicht mehr gesehen. War ganz allein! Unten, am Waldboden, hatte ich großes Glück, dass ich nicht von irgendeinem Tier gefressen wurde.


Eine alte Ente, die noch schlimmer dran war als ich, hat mich damals gerettet. Sie lebte im Wald am Rande des kleinen Sees, denn sie konnte nicht mehr schwimmen. Ihr Schicksal werde ich nie vergessen. Diese Ente hatte bei einem Unfall mit einem Boot beide Füße verloren. Sie war es, die mir damals immer Mut zugesprochen hatte und von den Brocken und Leckereien abgab, die sie von den Spaziergängern erhielt.

„Du musst nur glauben, dass alles gut wird!“ sagte sie immer und in der Erinnerung höre ich heute noch ihre Stimme. Sie macht mich immer noch glücklich. Tatsächlich heilte mein Flügel mit der Zeit wieder, sie hatte Recht behalten.
Gut, er war nie wie bei Vögeln meiner Art geworden, aber ich kann kurze Strecken fliegen. Auf Bäume, über Flüsse und auf Oberleitungen. Letztere sind meine Lieblingsplätze geworden, denn hier treffen sich alle und ich erfahre immer die neuesten Neuigkeiten. Dass Strom unter meinen kleinen Krallen hindurchfließt, habe ich schon gehört und ich habe auch verstanden, dass er den Menschen das Licht bringt. Abends und wenn die Nacht beginnt ist es sehr hell in den Häusern und Städten.

Also ist in der Leitung unter mir viel Energie! Ich sitze hoch oben, kann weit über das Land schauen und höre den Geschichten der anderen Vögel zu. Vielleicht bekomme ich eines Tages auch ein wenig von der vielen Energie ab, die unter meinen kleinen Krallen fließt, und ich kann weiter fliegen als bisher. Und wenn nicht, auch nicht schlimm!

Die Energie ist ja da. Umbringen kann sie mich nicht, also kann sie mich nur stärken.

„Du musst nur glauben, dass alles gut wird!“ höre ich wieder die alte Ente in meinen Gedanken sprechen, schaue links und rechts zu den anderen und dann über das weite Land und bin glücklich.


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Texte: Copyright by Gabriele EndeAlle Rechte für Text verbleiben bei der Autorin.
Tag der Veröffentlichung: 20.06.2009

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