Sommer 1897
Elsa schaute durch das kleine Fenster in die Ferne. Sie hatte sich entschieden. Frei wollte sie sein, frei von körperlicher und seelischer Pein. Lange hatte sie mit sich gehadert. Nicht gewusst, wie sie sich befreien konnte. Schließlich war der Peiniger ihr Mann. Ihm hatte sie sich freiwillig versprochen, war jung gewesen und ahnte nichts von seiner wahren Natur.
Ganz sicher gab es viele Frauen, die wie sie alles erduldeten, sich aufgaben, aber keine redete darüber. Unter Tüchern wurden schamhaft die blauen Flecken versteckt, damit niemand sie sah. Eine von ihnen war sogar vor Gram gestorben, sie wohnte auf einem Bauernhof der etwas entfernt lag. Einmal hatte diese sich ihr anvertraut und konnte ihr nicht in die Augen sehen, als sie von ihrer Geschichte erzählte. Irgendeine Krankheit kommt immer, wenn man die Seele genug quält und das ganze Leben nicht mehr erträglich ist. Ein Mensch kann vieles aushalten, aber nicht alles.
Sie, Elsa, war eine einfache Frau, das Kind von Bauersleuten. Sie konnte weder schreiben noch lesen. In einer Stadt war sie nie gewesen, hier lebte man zurückgezogen. Städte waren weit weg und ihre Eltern schon lange tot.
Mit einem Ruck setzte sie sich auf.
Nein, sterben, dass wollte sie nicht. Sie liebte das Leben, die Natur mit all ihren Schönheiten. Sie wünschte sich eine Familie, Kinder, aber nicht mit ihm, nicht mit ihrem Mann. Zu oft hatte er sie geschlagen, auf dem Heuschober eingesperrt, ihr Nahrung und Wasser verwehrt. Beim letzten Mal, war sie fast gestorben, hätte sie nicht der Pfarrer gesucht. Aber geholfen hatte ihr das nicht wirklich, denn ihr Mann war so wütend, dass er sie am gleichen Abend noch einmal schlug um dann anschließend über sie herzufallen.
Mit einer unruhigen Geste strich Elsa ihren Rock glatt und stand auf. Die Erinnerungen ließen sie immer noch zittern. Sie konnte einfach die Beine nicht still halten, obwohl sie mit beiden Händen die Knie umklammerte. Das Zittern wanderte von den Beinen über den ganzen Körper und schließlich hockte sie sich auf dem Boden zusammen und weinte still in sich hinein.
In der Ferne schrie eine Eule, es begann bereits langsam zu dämmern. Erschrocken ergriff Elsa das zusammen gebundene Tuch, in welches sie ihre wenigen Habseligkeiten gepackt hatte und verließ die Hütte. Sie musste sich beeilen, denn er kam schon am nächsten Tag zurück. Sofort lief sie los. Ihr Herz klopfte bis in den Hals hinauf und in ihren Ohren rauschte das Blut. Nur nicht schwach werden, nur nicht zurückschauen.
Nach einer Stunde Fußweg lag der kleine Hof weit hinter ihr. Sie ging atemlos weiter, durch Felder, über kleine Hügel.
Der Wald, dessen Saum sie bereits erblicken konnte, war tief und machte ihr Angst. Dennoch, durch ihn musste sie durch. Hinter ihm war sie noch nie gewesen und sie hoffte dort in Sicherheit zu sein. Vielleicht konnte sie auf einem Bauernhof Arbeit finden, sie war schwere Arbeit gewohnt und bald war Erntezeit. Und danach konnte sie mit dem Verdienst versuchen noch weiter weg zu kommen. Vielleicht konnte sie sogar eine Kutsche bezahlen. Es musste ihr gelingen, sonst war sie verloren. Bis zur Nacht musste sie den Wald erreichen und im Schutz seiner Bäume auch die Nacht verbringen. Sicher. sie hatte auch große Angst vor den Tieren die im Wald lebten, doch die Angst vor ihrem Mann war viel größer. Würde er sie finden, dann wäre ihr Leben vorbei. Er würde sie dieses Mal töten. Zu oft schon hatte er ihr gerade damit gedroht.
Elsa rannte los. Immer wieder blieb sie kurz stehen um Atem zu holen. Das schnelle Gehen war sie nicht gewohnt. Auch musste sie sich immer wieder vergewissern, dass er sie nicht verfolgte, die Unruhe in ihr war sehr groß. Vielleicht war er doch schon eher gekommen und hatte ihr Verschwinden bemerkt. War ihr schon auf der Spur und hatte sie in der Ferne entdeckt.
Erschrocken hockte sie sich hinter einen Busch und lauschte, lauschte, lauschte.....
...dann lief Elsa weiter.
Endlich, die Sonne war bereits vor längerer Zeit hinter den Bäumen verschwunden, erreichte sie den Wald. Sie war total erschöpft, legte den Beutel unter ihren Kopf und kuschelte sich zwischen zwei starke Wurzeln eines großen Baumes. Sofort schlief sie ein.
"Komm, stell dich nicht so an, Weib!" befahl die Stimme ihres Mannes.
Er stand hinter ihr, hatte sie an ihren Haaren gepackt und drang in sie ein. Sie hatte sofort Schmerzen wie jedes Mal, wenn er sie an der falschen Stelle bedrängte und sie schämte sich. So konnte sie nie Kinder haben. Er hatte Freude daran sie zu quälen und wollte es nur noch so. Die Schmerzen wurden unerträglich, er riss ihr fast die Haare aus und Übelkeit schwappte in ihren Hals. Ein Schrei löste sich in der Tiefe ihres Wesens und gellte nun auch in ihren Ohren....<<
Mit einem Ruck und immer noch schreiend setze sie sich auf. Um sie herum war es stockdunkel.
Ein Traum! Nur ein Traum. Sie weinte vor Trauer und Angst – und schließlich schluchzte sie nur noch vor Freude und Erlösung. Nur ein Traum!
Einschlafen konnte sie nicht mehr. Sie lehnte sich an den Stamm des Baumes und lauschte ihrem Herzklopfen und der Nacht.
Als es hell wurde, machte sie sich sofort wieder auf den Weg. Vögel zwitscherten in den Bäumen, die Luft war frisch und klar. Irgendwie fühlte sie sich gestärkt, mutvoller und sicherer.
Das, was sie im Traum noch quälen konnte, wird ihr nie mehr geschehen. Sie wird weit weg gehen, weiter als sie denken konnte. Sie wird solange weiter gehen, bis sie fühlte, sie war in Sicherheit.
Elsa spürte in sich eine neue Kraft und diese kam aus ihrem Innersten. Sie war ja noch jung, sie konnte arbeiten und sie würde ihr Glück finden. Nie mehr wollte sie daran zweifeln und dann würde sie es schaffen. Über ihr zwitscherte ein kleiner Vogel auf einem Zweig und begrüßte den Tag!
Die Sonnenstrahlen reichten inzwischen bis auf den Waldboden. Mit kräftigen Schritten schritt Elsa aus und bald schon war sie hinter den Bäumen verschwunden.
Ein neuer Morgen!
Texte: Copyright by Gabriele Ende
Alle Rechte für Text verbleiben bei der Autorin
Bildquelle:www.mein-ostdeutschland.de
Tag der Veröffentlichung: 04.06.2009
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Widmung:
Sommer 1897