Mit einem leisen Quietschen der Räder rollt der Rollstuhl durch das Kirchenportal nach innen. Die Hände, die den Rollstuhl mit den großen Rädern bewegen, sind nur noch wenig geschützt. Die Handschuhe haben einfach zu viele Löcher. Der Mann, der im Rollstuhl sitzt, ist schwer zu schätzen. Zwischen seinen buschigen Augenbrauen und dem Revers der alten Jacke verdeckt der dichte Bart so ziemlich alles. Die kleinen Augen haben ihren listigen Ausdruck verloren und blicken stattdessen eher ängstlich in die Kuppel der Kirche hinauf.
Aha, von da oben soll er also hier hineinschauen auf die Menschen. Und sogar bis in die Herzen. Na, wer´s glaubt. Er jedenfalls nicht. Der Mann senkt seinen Blick und richtet nun seine Aufmerksamkeit, durch den schmalen Gang, zwischen den Holzbänken, nach vorn. Er war noch nie in einer Kirche gewesen und wäre nicht sein Schicksal so hart mit ihm verfahren, dann hätte sich daran auch nichts geändert. Als könnte sich der Mann nicht zu weiteren Handlungen entschließen, blickt er nun auf seine Hände. Diese liegen auf seinen Oberschenkeln, oder dem, was von seinen beiden Beinen noch übrig geblieben ist. Der linke Stumpf ist etwas länger als der Rechte, aber was nützt ihm das? Nichts! Nie mehr wird er gehen können. Er hat seine Arbeit verloren und Frau und Kinder nie besessen. Wofür sollte sich sein Lebenskampf noch lohnen?
Langsam, fast wie von selbst, rollt der Rollstuhl nun doch nach vorn. Immer wieder hebt der Mann seinen Blick nach oben. Vielleicht würde er etwas Mystisches spüren können. Es heißt ja wohl, dass besonders die Kinder, Kranken und die Krüppel bedacht werden von ihm. Der Rollstuhl rollt langsam aus und bleibt abrupt stehen. Trotzig und auch ein wenig neugierig schaut der Mann aus dem Rollstuhlhoch zum Altar. Ein Kreuz aus Holz mit einem hölzernen Mann daran, Kerzen, ein dickes Buch und Blumen. Mehr nicht?
Nur kurz schaut er nach links und rechts. Dann blickt er wieder zu dem Mann aus Holz, der fast nackt und nach seinem Geschmack in einer eher grotesken Haltung auf dem Holz des Kreuzes angebracht ist.
<<Nun, hier bin ich>> sagt er zu ihm in Gedanken. <>.
Der Mann fühlt innerlich, wie wütend er ist. Wie er schreien könnte und es doch nicht kann. Stattdessen schickt er all seinen Zorn in Gedanken zu dem hölzernen Mann, und seine Gedanken sind laut, sehr laut. Es vergeht fast eine ganze Stunde, bis der Mann mit einem tiefen Seufzer seinen Rollstuhl leise wendet und Richtung Kirchentür rollt.
Ja, er fühlt sich besser, nicht gut, aber besser. Er wird wiederkommen und dem Hölzernen solange seine Not schildern, bis er sich gut fühlt. Auf diese Weise kann er sich vielleicht von dem großen Druck erlösen, der seit dem Unfall auf ihm lastet. Und dann, wenn die Last nicht mehr so schwer ist, dann kann er sicher überlegen, wie es weiter geht.
Von der Empore erhebt sich, von zarter Stimme gesungen, ein Ave Maria. Chorprobe!
Der Mann im Rollstuhl lauscht. Sein Blick ist wieder nach oben gerichtet, als suche er den Ort, zu dem die Klänge schweben. Die Sängerin kann er nicht sehen. Die letzen Töne sind noch nicht verklungen, als sich die Tür hinter dem Rollstuhl schließt.
Ernsthaft und mit einem nachdenklichen Gesicht blinzelt der Mann in die Sonne.
Texte: Copyright by Gabriele EndeAlle Rechte für Text und Titelbild verbleiben bei der Autorin und Malerin
Tag der Veröffentlichung: 15.05.2009
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