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Leseprobe

Schwarmverhalten

 

Ginge es ruhiger zu im Café d’Abeilles, dann würde womöglich irgendwer das Knirschen, Knacksen und Knistern in der Decke noch rechtzeitig registrieren. So aber wird es übertönt vom Geplapper der Gäste, vom Geklapper des Geschirrs, vom Surren der Klimaanlage, vor allem aber vom Surround Sound der gerade laufenden Sportübertragung. Selbst als an einem Ecktisch auf das Kokos-Schoko-Eis eines Gastes einige Kalkbrösel niederrieseln, bleibt dies unbemerkt; es sind gerade noch der Geschmacks- und der Tastsinn des Eiskonsumenten, die sich mit seiner Mahlzeit befassen. Alle anderen Sinne werden von der Übertragung beansprucht: Schließlich läuft das Finale der Darts-WM, natürlich in 3D, und die Kamera-Mikro-Drohnen wetteifern darin, wer schneller und länger um die Spieler herum kreisen kann. So verliert man zwar ab und an die Zielscheibe aus dem Blick; dafür sausen die in das Café hineinprojizierten Wurfpfeile oft knapp über die Köpfe der Zuschauer hinweg. Das sorgt regelmäßig für amüsiert-erschrockene Ausrufe, und vor allem bei Zeitlupen greifen einige Zuschauer gar kühn in die Flugbahn der Geschosse. Das hat freilich nur ein kurzes Aufflackern der Pfeil-Bilder zur Folge. Als die mit dem Eis-Esser am Ecktisch sitzende Frau nach einem weiteren Flugobjekt über ihrem Kopf schlägt, bekommt sie aber plötzlich etwas zu spüren – und mehr als nur etwas: »Was soll- Aua! Verflucht, was ist das!?«

Ihr Begleiter erkennt rasch, was da an der Rechten der Frau haftet: »Eine Mecha-Bee!? Wo kommt die denn her? Hat sie dich gestochen, Liebling?«

Eine höchst überflüssige Frage: Da die Frau ihre zitternde Hand auf Augenhöhe hochhält, kann ihr Gegenüber unschwer erkennen, was vorgefallen ist – und ebenso die Gästeschar ringsum: Das kinderfingerlange, chromglänzende Flugobjekt hat beide Minirotoren gestoppt, die vier Flügel angelegt sowie die hinteren Körpersegmente teleskopartig ausgefahren. Diese Segmente verjüngen sich bis zum Körperende, doch dieses selbst hat sich bereits in den Daumenballen der Frau gebohrt. Am vorderen Körperende fixieren drei schwarze Knopfaugen das Opfer. Dieses vermag erst dann den Blick von der Mecha-Bee abzuwenden, als am Nachbartisch ein Anzugträger nach oben deutet: »Da sind noch mehr davon!«

Prompt taucht er unter den Tisch ab, und seine hosenbeanzugte Begleiterin tut es ihm umgehend nach. Die anderen Anwesenden folgen seinem Fingerzeig und entdecken so, was er sah: Aus einem Loch in der Decke, das sich mit dezentem Knacken weiter öffnet, quellen im Sekundentakt Mecha-Bees hervor. Ehe die Gäste so recht begreifen, was vor sich geht, haben die Angreifer schon über allen Café-Tischen Stellung bezogen. Dann stürzt ein Dutzend Fliegerstaffeln, begleitet von Mini-Stuka-Summen, synchron auf die Tische hinab – beziehungsweise auf die sich dort darbietenden, zumeist sehr zuckerreichen Mahlzeiten und Getränke.

Nach ein, zwei Schrecksekunden bricht im Publikum prompt Panik aus: Wer kann, eilt zu den Türen; andere kriechen unter Tische, Stühle und Bänke; einige erstarren einfach. Ein besonders verwegener Gast greift nach einem Plastiktablett: »Verdammte Robo-Brummer: Von mir kriegt ihr nichts!«

Damit schwingt er das Tablett nach zwei Angreifern, die seine Sahnetorte umkreisen. Die Brummer weichen nach oben und unten aus, doch der zweite Schwinger erwischt zumindest einen der Eindringlinge: »Volltreffer!«

Der Mann dreht das Tablett um, erwartend, auf der Rückseite ein zerschmettertes Mecha-Insekt vorzufinden. »Nanu?«

Erst als sich das Objekt bewegt, bemerkt der Torten-Verteidiger, dass das Wesen stattdessen auf dem Handrücken seiner Rechten sitzt. Rasch nimmt er das Tablett in die Linke, doch während er noch zum Schlag ausholt, biegt das blank-blinkende Krabbeltier den Hinterleib schon nach unten und aktiviert seinen Stachel. »Au! Verdammt, tut das weh!«

Unterdessen drückt sich der Besitzer des Cafés gegen eine Zimmerpalme im Zentrum des Etablissements. Erst auf diesen Schmerzensschrei hin überwindet er seine Erstarrung, und er dreht sich zur Glastheke um. Hinter dieser kann man nicht nur Torten, Kuchen und andere Köstlichkeiten entdecken, sondern auch einen kauernden Angestellten: »Fritz: Lös den EMP aus; mach schon!«

Trotz des herrschenden Tohuwabohus bekommen das viele Gäste mit, und die Mehrzahl ist nicht sonderlich angetan von der Idee: »Nein, nicht: Mein Smartphone!«

»Meine neue Uhr!«

»Mein Computer!«

Eine ältere Frau ist ebenfalls alles andere denn erbaut – allerdings aus anderem Grund: »Sie können einen elektromagnetischen Puls abfeuern!? Ja, worauf warten Sie denn noch? Stoppen Sie diese Technik-Monster!«

Der Angestellte namens Fritz zögert freilich: »Chef!? Soll ich wirklich?«

»Zehn Sekunden!«, schreit darauf der Besitzer in die Runde. »Wer dann nicht draußen ist … Meine Versicherung zahlt nicht! Los, Fritz!«

Drei Glücklichen gelingt es gerade noch, Tablet, Handy und Computer zu krallen und zur Tür hinauszustürzen. Dann betätigt Fritz einen grellroten Taster gleich neben der Kasse. Erwartungsvoll blickt sein Chef zur Decke hoch, und zwei Dutzend Blicke folgen ihm: Denn dort fahren nun aus einem rauchmelderartigen Objekt zwei Drähte hervor. Ehe die meisten Zeugen sich die Ohren zuhalten oder den Blick abwenden können, zuckt zwischen den Drähten ein fingerdicker Blitz, begleitet von einem Donnerschlag, der die Scheiben scheppern lässt.

*

Sobald Gäste und Personal wieder etwas sehen und hören können, stellen sie fest, dass der Mini-EMP höchst wirksam war: Die Sportübertragung ist gestoppt; in nur wenigen Ecken des Cafés brennt noch Licht; ein Putzroboter rotiert unter einer Bank um sich selbst, und auf dem Boden liegen Dutzende Mecha-Bees, einige noch zuckend, andere leicht qualmend. Weitere Un-Artgenossen rutschen langsam von Eiskugeln hinunter, klatschen in Tassen, Gläser und Flaschen oder gleiten quietschend an der Sichtscheibe der Theke hinab. Während der Besitzer erleichtert seufzt, schreien einige Gäste erneut auf: Teils aus Frust über ihre geschrottete Technik, teils aber auch triumphierend; sodann werden viele der bruchgelandeten Flugobjekte zertreten und zertrampelt, bis auf dem bisher so blanken Granitboden die Funken stieben.

Nach und nach beruhigt sich die Menge. Auch der Anzugträger sowie seine Begleiterin nehmen schließlich wieder ihre Plätze ein.

»Siehst du, Helene: Alles halb so wild«, befindet der Mann, während er seinen ein wenig derangierten Anzug wieder zurechtzupft.

Die Frau wirkt weniger gelassen: »Mag ja sein, Kurt. Aber gewöhnen möchte ich mich an so was echt nicht.«

»Brauchst du auch nicht; wirst schon sehen.«

Unterdessen eilt auf einen Wink des Besitzers hin eine Mitarbeiterin mit Besen und Kehrschaufel durch das Café, um die Mini-Wracks zusammenzukehren. Der Eis-Esser verfolgt dies schadenfroh, während er und seine ebenso rundliche Begleiterin sich wieder an ihren Ecktisch setzen. »Die hätten mal lieber bleiben sollen, wo sie herkamen.«

Die Frau, die gerade jenen Erstangreifer aus ihrer Hand zupft, versteht nicht gleich: »In der Fabrik? Beim Hersteller?«

»Nein, bei den Bäumen, Blumen und Blüten da draußen«, erklärt der Mann, während er mit spitzen Wurstfingern einen Robo-Brummer aus seiner Cola fischt. »Schließlich sind die Dinger ja zum Bestäuben da – und um Honig zu liefern.«

Die Frau kühlt unterdessen ihre anschwellende Hand mit Vanilleeis: »So was wäre nie passiert, wenn wir die richtigen Bienen, Wespen und Hummeln nicht ausgerottet hätten.«

»Ach Gott; das geflügelte Kroppzeugs konnte auch recht lästig sein. Hallo! Hier sind noch zwei Teile!«

Letzteres richtet sich an die Sauberfrau. Die offeriert darauf dem Pärchen nicht nur einen bereits halb vollen Abfalleimer, sondern auch ihre Sicht der Dinge: »Tja, die Mecha-Bees wurden halt darauf programmiert, stets die ergiebigste Nahrungsquelle anzusteuern. Und es ist es eben effizienter, an einer Cola zu nippen, anstatt bei hundert Blüten Nektar einzusammeln.«

»So was kann ja passieren.«

Der Mann quittiert diese Bemerkung seiner Begleiterin mit einem unwilligen Blick, während beide je ein Brummer-Wrack in den Eimer schleudern: »Ach ja? Na, dann waren die Programmierer aber ziemlich dämlich! Und noch dämlicher war’s, diese Teile so zu bauen, dass sie sich allein vermehren können.«

»Tja, das ist halt künstliche Intelligenz«, meint die Café-Angestellte, während sie die Überreste im Eimer scheppern lässt. »Müsste man die alle einzeln fertigen, womöglich noch warten und reparieren … So können sie sich nicht nur eigenständig reproduzieren, sondern als Kollektiv auch lernen.«

Am Nebentisch hat der Anzugträger namens Kurt diesen Dialog verfolgt: »Sie scheinen sich gut auszukennen?«

»Oh, ich studiere eigentlich Informatik. Aber irgendwie muss man halt die Uni-Gebühren finanzieren.«

Die Eis-Esserin nickt verständnisvoll, während sie sich den geröteten Daumenballen reibt: »Ja, das ging mir auch so; damals- Aber was brummt da eigentlich so? Sind da noch irgendwo Mecha-Bees am Leben?«

Die Angestellte blickt zuerst in den Abfallbehälter; dann sieht sie sich suchend um: »Kann eigentlich nicht sein. Der Chef hat den Mini-EMP ja erst letzten Monat besorgt, als klar war, dass solche Attacken keine Einzelfälle bleiben würden. Das Modell sollte auch gegen die jüngste Generation der Mecha-Bees wirksam sein, meinte der Hersteller; immerhin liefert der 20 Kilovolt pro Meter.«

Der Gast bestätigt das, indem er auf seine Uhr blickt: »Keinen Schimmer, ob das viel ist. Aber selbst meine teure IT-Watch ist hinüber – und die sollte EMP-proof sein. Sind Sie sicher, dass das Teil da oben legal ist?«

»Davon gehe ich mal aus«, entgegnet die Teilzeitstudentin, bei der der Groschen unterdessen centweise fällt. »Wir … Scheiße, nicht das! Fritz, ist der EMP wieder aufgeladen?«

Der Mann hinter der Theke blinzelt seine Kollegin verständnislos an: »Aufladen? Was meinst du, Iffi? Ich habe den noch nie benutzt – bis eben, heißt das.«

Der Cafébesitzer hat sich zwischenzeitlich um die Kasse gekümmert; nun eilt er an die Seite seiner Angestellten: »Der braucht eine Viertelstunde zum Aufladen, meinte der Vertreter. Wieso?«

Die Frau namens Iffi blickt nun wieder zur Decke hoch, zu einem Punkt unweit des Loches, durch das die Angreifer in das Café gelangten: »Kürzlich gab es doch Berichte, dass manche Mecha-Bee-Schwärme angeblich erst eine kleine Angriffswelle losschicken. Wird am Ziel ein EMP ausgelöst, so erfolgt dann in der Nachladezeit die eigentliche Attacke.«

Der Anzugträger zeigt sich skeptisch: »Klingt doch arg nach Urban Legend.«

»Unter anderen Umständen würde ich Ihnen zustimmen. Aber nun …«

Sie zeigt nach oben, und da begreift auch ihr Chef: »Fritz: Lade das Teil wieder auf – sofort!«

»Äh … wie geht das denn?«

Aber da ist es ohnehin zu spät: Nur einige Handbreit entfernt vom ersten Loch tut sich knirschend eine zweite Öffnung in der Decke auf, kaum mehr als daumendick, doch noch ehe die Kalkbrösel auf dem Fußboden aufschlagen, quellen die ersten Eindringlinge aus dem Loch hervor. Mit jeder Sekunde folgen zehn und mehr Mecha-Bees. Freilich nimmt sich niemand die Zeit, sie zu zählen: Stattdessen stürzen die wenigen Glücklichen, denen nicht sofort der Rückzug abgeschnitten ist, zum Ausgang; alle anderen retten sich wieder unter die Tische, zwischen die Stühle und hinter die Theke. Unter Ecktisch und Eckbank drängen sich Iffi, ihr Chef und die beiden Gästepaare: »Zum Teufel, wo kommen die her!?«

Ebenso wie der Besitzer muss auch seine Angestellte schreien, um das Summen, Brummen und Surren der Angreifer zu übertönen; man könnte meinen, ein Dutzend im Leerlauf ratternde Bohrmaschinen würden quer durchs Café flattern. »Die müssen sich in der abgehängten Decke eingenistet haben, zwischen all den Installationen.«

»Warum hat sie der EMP nicht alle erledigt?«

»Vielleicht wegen der Wärmedämmung? Das Metall der Folien …«

»Wen schert das?«, brüllt der erneut um Eis und Cola geprellte Gast. »Wichtig ist: Wie werden wir die wieder los?«

»Solche Attacken dauern nur zehn, fünfzehn Minuten, hieß es; eben so lange, wie das Aufladen braucht. Dann ist meist eh alles erbeutet, was verzehrbar ist.«

Iffis Auskunft ist nicht gerade angetan, ihren Chef zu beruhigen: »Die ruinieren mich! Zum Teufel, wer erfindet so etwas!?«

Dass Helene und Kurt darauf rasche Blicke wechseln, entgeht den anderen. Auch die Gegenfrage der Frau versteht man kaum: »Wären Ihnen denn diese Gen-Monster echt lieber?«

»Gen-Monster!?«

Kurt findet wenig Gefallen an dieser Bezeichnung: »Nun, es gibt ja auch Bestrebungen, die Honigbienen durch andere Insekten zu ersetzen. Durch speziell gezüchtete, genetisch optimierte Arten.«

Der Eis-Esser begreift nun: »Meinen Sie dieses gentechnisch gebastelte Kroppzeugs? Halb Wespe, halb afrikanische Killerbiene, halb Urzeitinsekt?«

Ehe Kurt etwas erwidern kann, setzt die Eis-Esserin noch eins drauf: »Wurde das nicht eh verboten?«

»Nicht für den kommerziellen Einsatz genehmigt«, präzisiert Kurt. »Tests sind gestattet – habe ich irgendwo gelesen … Wenn ich mich nicht täusche, sah ich sogar einen Schwarm ganz in der Nähe.«

Er blickt die Studentin bedeutsam an. Darauf nickt diese eifrig: »Ja, stimmt. In dem Baum beim Bäcker auf der anderen Seite vom Platz. Bei denen mag schon niemand mehr draußen vorm Laden sitzen: Angeblich wittern diese Tiere Süßwaren auf hundert Meter.«

Ihr Chef ist alles andere als begeistert: »Gott, das wird ja immer besser. Die sollen doch auch Menschen attackieren!?«

Kurt schüttelt energisch den Kopf – soweit das in seiner kauernden Position möglich ist: »Ach was, Schauermärchen! Wetten, die werden mit den Mecha-Bees im Handumdrehen fertig?«

Der Eis-Esser ist skeptisch: »Im Ernst?«

»Finden wir’s raus!«

Und ehe womöglich jemand widersprechen kann, schiebt sich die Teilzeitstudentin vorsichtig unter dem Tisch vor. Die anderen fünf verfolgen mit angehaltenem Atem, wie die Frau zur Kuchentheke hinüberrobbt, wobei mehrere Mecha-Bee-Staffeln knapp über sie hinwegsummen.

»Zum Teufel, was hat sie vor?«, murmelt ihr Chef.

Die anderen antworten nicht; stattdessen beobachten sie, wie Iffi an der Theke abwartet, bis gerade kein Flugobjekt in Reichweite ist. Dann richtet sie sich auf und stemmt die armlange Granitplatte, die den Abschluss der Theke bildet, aus der Halterung. »Achtung!«

Mit diesem Ausruf schleudert sie die Platte zur Fensterfront direkt hinter dem Ecktisch hinüber. »Was tust du-«, kann ihr Chef gerade noch ausrufen; dann klirrt es krachend; die fünf unter dem Tisch drücken sich noch tiefer zu Boden und schützen ihre Köpfe mit den Armen vor den herabscheppernden Scherben.

Nachdem das Klirren geendet hat, scheint für einige Atemzüge Stille zu herrschen. Dann merkt man, dass das mechanische Summgebrumm zwar kurz gedimmt, aber nicht gestoppt ward. Ehe irgendwer das kommentieren kann, nimmt man ein anderes Geräusch wahr: auch dies eine Art Summen, Brummen und Sausen, aber dissonanter, unregelmäßiger und weniger synchron als das der Mecha-Bees. Deren Geknatter verlagert sich daraufhin; so wagt es der Chef, unter dem Tisch hervorzuspähen: »Zum Teufel, Iffi, was sollte das? Jetzt hast du die Killerbienen angelockt!«

»Das wollte ich ja, Chef!«, antwortet es von der Theke her. »Eben Teufel mit Beelzebub austreiben und so. Und es funktioniert: Da, schaut!«

Darauf wagen sich auch die beiden Pärchen wieder ein wenig vor; so können sie mit angehaltenem Atem verfolgen, was Iffi meint: Rund um jenes Austrittsloch schwärmen Hunderte echte, lebendige Insekten, gefärbt wie Bienen, doch deutlich größer und in tieferer Tonlage brummend. Einige sind bereits dabei, in die Öffnung einzudringen. Gleichzeitig eilen ihre mechanischen Un-Artgenossen herbei.

»Warum wollen die Biester ausgerechnet da rein?«, fragt sich darauf der Eis-Connaisseur.

Seine Begleiterin ist schon einen Schritt weiter: »Die Killerbienen wittern garantiert das Honiglager – und die Mecha-Bees verteidigen es!«

»Wenn das mal gut geht!«, murmelt Helene, wobei sie einen besorgten Blick auf den neben ihr kauernden Kurt wirft. Der bemerkt dies jedoch gar nicht; stattdessen verfolgt er gebannt, wie die neuen Angreifer bemerkenswert behände in die Behausung der Konkurrenz eindringen. Die artifiziellen Ex-Angreifer wechseln darauf in den Verteidigermodus und folgen den schwarz-gelben Flugobjekten. Schließlich verlagert sich das Summgebrumm zum Großteil in das Innere des Gemäuers; dort dröhnt es derart munter weiter, dass es den Kalk von der Decke rieseln lässt.

Kurt zeigt sich angesichts dessen geradezu begeistert: »Was für ein Fight: Großartig!«

»Schön, wenn es wenigstens einem gefällt«, entgegnet der Inhaber. »Mein Gott, die zerlegen mir den Laden!«

Aber auch andernorts bleibt Kurts Bemerkung nicht unbemerkt: Ein paar Dutzend Insekten, die vorher das Einflugloch umkreist haben, ändern schwärmenderweise ihre Flugrichtung und streifen für einige Augenblicke durchs Café, ehe sie sich über eben jenem Ecktisch sammeln. »Zum Teufel, was-«

Aber ehe der Inhaber den Satz beenden kann, stoßen die Insekten hinab: nicht auf ihn, sondern auf Kurt: »Au! Was-? Lasst mich!«

Helene rückt so weit als möglich von ihrem Begleiter ab, doch befassen sich die Angreifer ohnehin nur mit Kurt. Wie der sich in die Ecke getrieben sieht und bereits einige Stiche abbekommen hat, springt er unter Bank und Tisch hervor: »Ihr undankbaren Monster; haut ab!«

Er eilt in Richtung Ausgang, wobei er panisch mit den Armen die Insekten abzuwehren versucht. Dies misslingt jedoch; stattdessen handelt er sich so in rascher Folge weitere Stiche an Händen und Armen ein. Auch unter die Hosenbeine krabbeln einige Angreifer, und als Kurt sie abzustreifen versucht, stürzt er – auf halbem Weg zur Tür, aber fast unter der Deckenspalte – der Länge nach über einen Stuhl. Erst darauf stürzen sich alle Insekten in Reichweite auf dieses neue Opfer, und während Kurt brüllt, zappelt und sich hin und her wälzt, kommt aus dem Loch sogar noch Verstärkung herbei.

Helene ist froh, dass das folgende Geschehen durch Tische und Stühle ihrem Blick entzogen ist; Kurts Gebrüll langt ihr. Aber auch das endet nach ein, zwei Minuten. Dann lassen alle Angreifer von dem Mann ab und verschwinden wieder in der Spalte. Dahinter summt und brummt es noch einige Minuten weiter, aber nach und nach wird es auch dort leiser; so wagen sich mehr und mehr Gäste aus der Deckung hervor. Schließlich herrscht Stille, doch es dauert noch geraume Zeit, bis die Überlebenden dem Frieden trauen.

*

Einige Stunden später haben fast alle Gäste das Café verlassen; zurückgeblieben ist ein mittleres Chaos sowie eine auffallend leere Stelle auf dem Boden, wo Kurt niedergestürzt ist. Nur noch eine Person sitzt auf den Sitzmöbeln: nämlich Helene, die mit starrem Gesichtsausdruck einsam an jenem Ecktisch verharrt. Alle anderen Anwesenden – Iffi, Fritz, ihr Chef, einige Feuerwehrleute sowie zwei Polizisten – umstehen eine Leiter; auf dieser steht ein Mann im Schutzanzug mit einer Axt in den Händen unter den Ein- und Ausfluglöchern. Ehe er aber die letzten Sprossen erklimmt, blickt er fragend den Brandmeister an, der zu seiner Rechten steht. Der wiederum wendet sich an einen Kollegen, der einen Taster in der Hand hält, welcher mit seinem Rucksack verkabelt ist: »Ist der EMP aufgeladen?«

Der Befragte checkt darauf nochmals die grün blinkende LED am Taster: »Alles bereit.«

»Okay. Sobald da oben irgendwas hervorkommt, was Flügel hat … Du weißt, was zu tun ist. Noch eine Leiche können wir hier nicht gebrauchen.«

»Alles klar, Chef.«

Darauf blickt der Brandmeister zum Schutzanzugträger hinauf: »Also gut. Herr Spinnweb, guter Mann, nehmen Sie Ihre Waffe zur Hand, erschlagen Sie mir eine rotbeinige Hummel auf einem Distelkopf und bringen Sie mir den Honig!«

»Äh … Häh?«

»Hau einfach ein Loch in die Decke, Mann!«

Prompt beginnt der Feuerwehrmann, die Decke mit der Axt zu traktieren. Es braucht nur wenige Schläge; dann quillt eine zähe, goldgelbe Masse hervor, durchsetzt mit den Überbleibseln echter und künstlicher Insekten. Schnell springen die Zuschauer zurück, sodass das Gemenge ihnen nicht auf den Kopf, sondern auf den Steinfußboden tropft.

»Schade um den Honig«, befindet Iffi, nachdem sie – höchst vorsichtig – den kleinen Finger in die Masse gesteckt und abgeleckt hat.

»Hätten den besser woanders gehortet«, erwidert der Besitzer des Cafés. »Dass das wirklich klappt, den Teufel mit Beelzebub auszutreiben … Nun gut; an die Arbeit!«

Darauf machen er und Fritz sich daran, das Chaos zu beseitigen. Die Feuerwehrleute vergrößern es allerdings fürs Erste noch, indem sie weitere Löcher in die Decke schlagen, was jedoch nur noch wenige Insekten zutage fördert. Die Polizisten verfolgen dies eine Weile; dann sichern sie Spuren, indem sie die ›Leichen‹ einiger geflügelter ›Täter‹ eintüten.

Iffi hat sich unterdessen neben Helene gesetzt. Nachdem sie sich davon überzeugt hat, dass niemand auf sie achtet, legt sie ihre Linke auf die leicht verkrampft verschlungenen Hände der jungen Witwe: »Alles okay bei dir?«

»Ja, ja; danke«, entgegnet Helene ebenso leise und ohne ihre Haltung zu ändern.

»Tut es dir leid? Leid um ihn?«

Erst auf diese Frage hin blickt Helene Iffi an. Sie überlegt eine Weile; dann schüttelt sie nachdrücklich den Kopf: »Nein. Es war richtig. Es war nötig. Kurt …«

Iffi nickt; sie glaubt zu verstehen: »Jetzt ist es geschafft: Nach der Geschichte ist sein Projekt ebenso tot wie Kurt selbst. Sorry, wenn das jetzt hart klingt: Aber die Idee, genmanipulierte Insekten freizusetzen und dann auch noch auf die Mecha-Bees zu hetzen, um deren Unterlegenheit zu beweisen … Hätte dein Mann mich gebeten, ihm dabei zu helfen, hätte ich ihm meine Meinung gegeigt. Aber da der Vorschlag von dir kam – und da du ja auch gewisse Hintergedanken dabei hattest …«

Iffi lächelt zweideutig. Das bringt die andere Frau eher in Verlegenheit: »Um ehrlich zu sein, assistierte ich Kurt früher auch ganz regulär bei solchen Feldtests: Rekrutierung von Mitarbeitern, Planung, Dokumentation … Solche Tests waren unter Bienenzüchtern gang und gäbe. In Kurts Unternehmen war das Routine.«

»Tja, als es nur um ›normale‹ Bienen ging, hatte auch wohl kaum wer ein Problem damit. Aber so … Ein Wahnsinn! Ich hoffe nur, sie erwischen auch noch die letzten Test-Schwärme!«

Damit blickt sie zu den Feuerwehrleuten hinüber, die immer noch dabei sind, Insektenüberbleibsel ans Tageslicht zu bringen. Auch Helene verfolgt dies eine Weile, ehe sie antwortet: »Ob Kurt echt wusste, was er da tat? So sterben zu müssen …«

»Es war widernatürlich, was sein Unternehmen mit diesen Insekten tat, und die Natur hat sich gerächt«, erklärt Iffi nachdrücklich. »Zumindest wird diese Botschaft in der Öffentlichkeit ankommen, und das war ja das Ziel, nicht wahr? Keine Sorge; niemand wird je herausbekommen, dass die Insekten vom Pheromon-Konzentrat in Kurts Atem angelockt wurden. Also, theoretisch wusste ich ja, dass das Pheromon das Signal zur Drohnenschlacht gibt, aber dass das so heftig sein würde … Apropos, nur der Neugierde halber: Wann hast du ihm das Konzentrat eigentlich verpasst?«

»Als er zur Toilette war, da gab ich’s in seine Limo«, erklärt die Witwe mit einem flüchtigen Blick auf die Uhr. »Mein Gott; ist das wirklich erst sechs Stunden her?«

»Tja, inzwischen dürften die letzten Pheromon-Reste schon zerfallen und zersetzt sein«, befindet Iffi. »Jedenfalls meint Alexander, dass nach spätestens fünf Stunden nichts mehr nachweisbar sein sollte. Also, auch auf die Gefahr hin, pietätlos zu sein: Meinen Glückwunsch zum Millionenerbe!«

Helene nickt nur und schluchzt ein letztes Mal.

 

 

Himmelsboten

 

Wenn Sie, geschätzter unbekannter Finder dieser Luft-Flaschenpost, meine Aufzeichnungen lesen, werde ich längst tot sein – und höchstwahrscheinlich nicht nur ich allein. Wie ich sterbe, wie viele mit mir sterben werden, das werden die nächsten Stunden entscheiden.

Aber zur Sache. Mein Name ist Georgij Antonowitsch Herschel. Womöglich sagt Ihnen mein Name etwas. Falls nicht, dürfen Sie sich gerne an der Akademie der Wissenschaften zu Sankt Petersburg erkundigen, wo ich zwanzig Jahre Astronomie gelehrt habe. (Ich hoffe, dies wird noch möglich sein!) Eventuell haben Sie auch von meinen Verwandten gehört, die in Deutschland und England ebenfalls als Wissenschaftler tätig waren und sind. Womöglich wissen Sie auch von dem Projekt, zum ersten Mal ein astronomisches Teleskop auf einem Luftschiff zu betreiben; ein Projekt, das die Professoren Ziolkowski, Ogilvi sowie meine Wenigkeit über Jahre vorangetrieben haben. Vielleicht haben Sie sogar mitverfolgt, wie vor zwei Jahren dann die ›Serafim‹ in Sankt Petersburg zum ersten Mal aufstieg; schließlich waren neben dem Zaren und allen Professoren der Akademie auch mehrere Zehntausend Schaulustige anwesend. Auch auf die Gefahr hin, unbescheiden zu wirken: Ein Luftschiff wie unseres gab es noch nie: 300 Meter lang, 400.000 Kubikmeter Traggas, eine Nutzlast von 1000 Tonnen, eine 30köpfige Besatzung … Aber ich will Sie nicht mit Details langweilen; zudem ist die Zeit knapp. Jedenfalls befinde ich mich nun an Bord der ›Serafim‹, und neben mir, im Zentrum der Observatoriums-Plattform auf der Oberseite des Luftschiffes, steht der 50-Zentimeter-Refraktor, an dem ich seitdem arbeite.

In letzter Zeit mag es recht still geworden sein um unser Schiff: Erstens gab es keine spektakulären Pannen; zweitens ist unsere Arbeit den Blicken der Öffentlichkeit weitgehend entzogen. Wir reisen in Höhen von mehreren Tausend Metern; außerdem ist das Observatorium dank der kardanischen Aufhängung sowie der Dampf-Düsen passiv und aktiv stabilisiert. Daher haben wir fast jede Nacht gute Beobachtungs-Bedingungen, zumeist Bedingungen, wie sie im Russischen Reich sonst nirgends herrschen und selbst im Ausland nur an wenigen entlegenen Orten. So ist es auch mit unserem eher bescheidenen Teleskop möglich, die überfällige Revision des Sternenkatalogs der Nordhalbkugel vorzunehmen.

Da die Akklimatisation an die dünne Luft einige Zeit braucht, wird das Personal nur selten gewechselt; auch landete die ›Serafim‹ nur, wenn es unumgänglich war. Meine Professur an der Akademie habe ich aufgegeben, um mich ganz dieser Arbeit zu widmen. Unterstützt werde ich von zwei Assistenten, Alexander Iljitsch Abakowski und Julija Alexandrowna Kowalewskaja. Um die Wetterbeobachtungen kümmert sich Gawriil Gawrilowitsch Schukowski. Ansonsten sind noch zehn Mann von der kaiserlichen Marine an Bord, kommandiert von Kapitän Wolossow, fünf Techniker, drei Stewards, zwei Köchinnen, vier Reinigungskräfte, ein Arzt und eine Ärztin. Die Mediziner kümmern sich vor allem um die Symptome der Höhenkrankheit. Um diese in Grenzen zu halten, bleiben wir zumindest tagsüber unter 5000 Metern; wir sind bei günstigen Bedingungen aber auch schon bis über 7000 Meter aufgestiegen. Dort lassen sich die Sternpositionen dank der geringeren Szintillation noch genauer bestimmen; allerdings kann man kaum länger als zehn Stunden in solch einer Höhe bleiben. Für größere Höhen haben wir Sauerstoff-Atemgeräte an Bord; damit kamen wir kurzfristig schon über 10.000 Meter. Aufgrund des Gewichts der Gasflaschen ist der Vorrat aber begrenzt.

Wegen der besonders stabilen Wetterlage im Sommer befinden wir uns gegenwärtig wieder im zentralasiatischen Teil des Zarenreiches. Kontakt mit der Außenwelt halten wir über den Austausch von Morse-Funknachrichten mit den Stationen des Telegraphennetzes. Post und Proviant übernehmen wir an den Stationen der Transsibirischen Eisenbahn, und zwar über zwei Transport-Luftschiffe, die ›Daidalos‹ und die ›Ikaros‹. Sie sind nur halb so lang wie die ›Serafim‹, doch können sie immerhin gut 50 Tonnen transportieren. Der Transportraum liegt – so wie das Observatorium auf der ›Serafim‹ – auf der Oberseite des Tragkörpers; bei allen drei Schiffen befinden sich in der Gondel an der Unterseite die Quartiere und die technischen Einrichtungen; so können die Transporter unten an die ›Serafim‹ ankoppeln und die Ladung direkt übergeben. Nur bei diesen Gelegenheiten wird auch das Personal gewechselt. Das Traggas Wasserstoff wird bekanntlich über Elektrolyse direkt an Bord erzeugt, indem das gesammelte Regenwasser– aber ich schweife ab; zurück zur Sache!

Beginnen wir beim letzten Rendezvous mit der ›Ikaros‹ am 15. Juni über Irkutsk. Es verwunderte mich nicht, dass bei der Gelegenheit auch ein Passagier an Bord kam; es überraschte mich nur, dass es sich um einen Angehörigen der Armee handelte; ansonsten stellt ja, wie erwähnt, die Marine die Crew der ›Serafim‹. Der Neuankömmling erklärte dies jedoch gleich bei der Begrüßung: »Professor Herschel, nehme ich an? Ist mir eine Ehre! Wenn ich mich vorstellen darf: Wladimir Borissowitsch Kachowski, Oberleutnant beim Ingenieurkorps. Bitte um Entschuldigung, dass ich unangemeldet an Bord komme, aber meine Order kam erst gestern per Telegramm in Irkutsk an.«

»Kein Problem, Herr Oberleutnant«, erwiderte ich, während wir Hände schüttelten. »Wir sind hier eher schwer zu erreichen, wie Sie schon gemerkt haben werden. Was bringt Sie zu uns?«

»Nun, angesichts der bisher so erfolgreichen Mission der ›Serafim‹ regte der Kommandant unseres Korps – General Nemzew – an, dass man Ihr wunderbares Schiff doch auch für andere Zwecke nutzen könnte.«

»Und zwar?«

»Nun, wie Ihnen gewiss bekannt ist, ist das russische Reich bisher in weiten Teilen kaum bis gar nicht erschlossen oder auch nur erkundet; speziell in Sibirien. Es wurde daher angeregt, doch Luftaufnahmen der überflogenen Areale anzufertigen, die später für die Kartierung verwendet werden können. Da ich ein wenig Erfahrung mit der Photographie habe, wurde diese Aufgabe mir anvertraut. In der Fracht sind bereits eine Spezial-Kamera und einige Dutzend Photoplatten enthalten. Mit Ihrer Genehmigung würde ich dies gerne an Bord bringen. Soweit ich unterrichtet bin, haben Sie ja das eigentliche Kommando an Bord.«

Da war er korrekt unterrichtet: Bei Antritt dieses Postens hatte ich mir ausbedungen, dass ich seitens des Militärs keine Einmischung zu dulden habe. Dennoch war ich stets um eine gedeihliche Kooperation speziell mit Kapitän Wolossow bemüht, und auch hier sah ich keinen Grund, mich diesem Ansinnen zu verweigern. Eigentlich wunderte es mich, dass man nicht schon längst auf solch eine Idee gekommen war. »Gerne. Allerdings wird unsere Dunkelkammer weitgehend mit der Entwicklung der Aufnahmen am Teleskop ausgelastet sein. Auch verwenden Sie wohl andere Formate und Produkte?«

»Gewiss; die Entwicklung soll ohnehin erst später erfolgen. Aber eventuell kann ja zumindest einer Ihrer Mitarbeiter behilflich sein, soweit es seine Zeit erlaubt? Alexander Iljitisch ist doch an Bord, nicht wahr?«

»Doktor Abakowski? Sie kennen sich?«

»Wie es der Zufall so will, sind wir zusammen zur Schule gegangen.«

»Wie klein dieses Riesenreich doch manchmal ist! Ich werde ihm gleich Bescheid sagen; er hat ohnehin erst heute Abend wieder Dienst.«

Damit verabschiedeten wir uns vorerst voneinander.

Ich habe dieses Gespräch so wortgetreu wiedergegeben, wie es mein Gedächtnis erlaubt, um nachvollziehbar zu machen, warum ich seinerzeit keinen Verdacht geschöpft habe. Auch Abakowskis Überraschung, als ich ihm gleich darauf im Bug-Salon davon erzählte, erstaunte mich nicht; es wunderte mich nur ein wenig, wie rasch er in den Frachtraum hinab eilte. Ich meinerseits stieg über den Verbindungsschacht durch den Tragkörper ins Observatorium hinauf, um mit Doktor Kowalewskaja die Aufnahmen der vorigen Nacht auszuwerten.

Nach gut zwei Stunden unterrichtete uns Kapitän Wolossow über das Bord-Telephon, dass der Transporter abgekoppelt habe; aufgrund der Lagerung der Observatoriums-Plattform bekommen wir das sonst kaum mit. Routinemäßig war Schukowski ebenfalls am Apparat; er empfahl uns, nach Norden zu steuern, da dort Windstille und ein wolkenloser Himmel zu erwarten seien. Da seine Prognosen zumeist sehr verlässlich waren, stimmte ich zu, und so legte der Kapitän den Kurs entsprechend fest. Als eine Viertelstunde später die ›Serafim‹ nach Norden abdrehte, waren Kowalewskaja und ich schon wieder mit den Photographien beschäftigt. Nur die Änderung des Sonneneinfalls und ein kaum hörbares Brummen der Elektromotoren an der Gondel verrieten, dass wir auf Kurs waren. »Das wird den Oberleutnant freuen.«

Auf diese Bemerkung hin blickte meine Mitarbeiterin kurz auf: »Wieso das, Herr Professor?«

»Nun, das Gebiet nördlich des Baikalsees ist ja praktisch noch terra incognita; da können sie Luftbilder von Gegenden machen, die womöglich noch nie ein Mensch betreten hat.«

»Und vielleicht auch nie betreten wird«, antwortete Kowalewskaja.

Ich schmunzelte dazu nur. Wie wichtig dies womöglich noch werden wird, ahnte ich nicht.

In der folgenden Nacht hatte plangemäß Abakowski Dienst im Observatorium. Natürlich hatte ich keinen Einwand, als Kachowski darum bat, ihm Gesellschaft leisten zu dürfen. Die nächtliche Arbeit am Teleskop kann recht ermüdend sein, nicht zuletzt infolge der dünnen Luft; da ist es von Vorteil, wenn man Gesellschaft hat.

Am nächsten Morgen erwachte ich mit heftigen Kopfschmerzen. Beim Frühstück in der Messe erfuhr ich nicht nur, dass es Kowalewskaja und einigen anderen ebenso erging; der Kapitän klärte mich auch über die Ursache auf: »Wir sind heute Nacht bis auf 6700 Meter aufgestiegen. Doktor Abakowski brauchte, meinte er, besonders stabile Beobachtungsbedingungen. Inzwischen sind wir aber wieder unter 5500 Meter.«

Das überraschte auch Kowalewskaja: »6700 Meter? Was stand denn für letzte Nacht auf dem Programm?«

»Eigentlich nichts Spezielles«, erklärte ich. »Aber ich bin sicher, es gab dafür einen guten Grund.«

So recht mochte ich das selbst kaum glauben, und so stiegen Kowalewskaja und ich, sobald sich unsere Kopfschmerzen dank reichlich Kaffees halbwegs gelegt hatten, zum Observatorium hinauf.

Dort empfing uns Tee-Duft: In der Ecke blubberte der Samowar, und am Arbeitstisch für die Auswertung der Himmelsaufnahmen saßen Abakowski und Kachowski. Auch diesmal lagen einige Photos auf dem Tisch, umgeben aber von zahlreichen Blättern mit Notizen und Rechnungen, Rechenschieber, Tabellenwerken sowie von mehreren leeren oder halbleeren Teetassen. »Guten Morgen, meine Herren. Eine arbeitsreiche Nacht?«

Die zwei Männer schreckten erst auf diese meine Begrüßung hin aus ihrer Tätigkeit auf. Abakowski musste sich erst sammeln, ehe er meinen Gruß erwidern konnte: »Oh, guten Morgen, Herr Professor; guten Morgen, Julija Alexandrowna. Arbeitsreich … In der Tat.«

Er wechselte Blicke mit seinem Schulfreund. Der zuckte mit den Schultern: »Jetzt kann man ohnehin nichts mehr tun. Wir müssen es ihnen sagen.«

»Was sagen?«

Kowalewskaja war unterdessen an den Tisch herangetreten und hatte sich über die Photos gebeugt: »Nanu? Könnte es sein, dass Sie einen Kometen entdeckt haben, Alexander?«

Darauf trat ich neben sie, und tatsächlich: Auf zwei Photos zeichnete sich jeweils eine fingerlange Linie zwischen den punktförmigen Fixsternen ab: »Sieht wirklich danach aus. Nun, wie werden wir ihn nennen? Den Kometen Abakowski-Kachowski?«

Die potentiellen Namensgeber erwiderten mein Lächeln nicht; der Oberleutnant schüttelte den Kopf: »Ich fürchte, wir sind nicht die Erst-Entdecker.«

»Ach nein?«

»Nein. Er wurde vor zehn Tagen am Observatorium von Azabu entdeckt.«

Das überraschte mich: »Im Kaiserreich Japan? Aber … Woher wissen Sie jetzt schon davon? Mal ganz abgesehen von der Entfernung dauert es für gewöhnlich Monate, bis eine Veröffentlichung in-«

»Es wird keine Veröffentlichung geben«, unterbrach mich der Offizier. »Schon allein, weil bis dahin … Nun, die Sache erledigt sich eh bald von allein.«

Allmählich witterte auch Kowalewskaja Unheil: »Die Sache? Welche Sache?«

Der Offizier zögerte etwas, nickte dann und begann: »Nun gut. Sie müssen wissen, dass ich zwar tatsächlich Oberleutnant in der Armee bin. Außerdem arbeite ich aber für die Sicherheitsabteilung des Innenministeriums.«

Kowalewskaja erblasste: »Für die Ochrana? Sie sind vom Geheimdienst?«

»So ist es. Vor fünf Tagen erhielten wir eine Nachricht von einem unserer Agenten in Japan; wie Sie sich denken können, haben wir dort nicht erst seit dem Krieg eine Reihe Agenten. Einer davon ist Mitarbeiter an der Universität von Tokio, und er hörte ein Gerücht, wonach an der Sternwarte von Azabu ein Komet entdeckt worden sei. Interessant wurde das erst, als das Militär sämtliche Unterlagen dazu beschlagnahmte und sogar die Wissenschaftler unter Hausarrest stellte. Unser Agent konnte die mutmaßlich erste, recht grobe Bahnbestimmung des Himmelskörpers aus dem Müll klauben. Dies erklärte einiges.«

Abakowski hat unterdessen in den Unterlagen gewühlt; nun zog er ein einzelnes, eng beschriebenes Blatt hervor, das er mir reichte: »Das ist die Übersetzung des Agenten. Wie Sie sehen, verläuft die Bahn zur Zeit fast parallel zur Erdbahn. Daher konnte der Komet relativ zeitig entdeckt werden, obwohl er recht klein und lichtschwach ist.«

»Dann dürfte es sich doch kaum um einen Kometen handeln?«, gab Kowalewskaja zu bedenken.

»Es ist vielleicht ein weitgehend entgaster Kometenkern«, stimmte Abakowski zu. »Oder ein Asteroid, vielleicht hundert, höchstens zweihundert Meter groß. Das ist schwer zu sagen, ohne die Albedo zu kennen.«

Unterdessen hatte ich die Zahlen überflogen: »Wenn ich das richtig sehe … Der Komet – oder was immer es sein mag – wird der Erde sehr nahe kommen?«

Kachowski nickte: »Genauer gesagt: Schon die erste Bahnbestimmung ergab, dass er mit der Erde kollidieren wird.«

Kowalewskaja sank auf den letzten freien Hocker nieder: »Wann?«

»Ich fürchte, schon morgen. Morgen früh.«

»Oh Gott!«

Ich ließ das Blatt sinken und blickte auf die anderen Rechnungen hinab: »Und … Sie haben letzte Nacht die Bahn genauer bestimmt?«

Abakowski nickte: »So genau es die Umstände erlaubten. Und das heißt: Genauer, als es mit irgendeinem anderen Teleskop auf diesem Planeten möglich wäre.«

Damit zog er unter den Photos und Papieren eine Karte hervor, wie sie von der Crew zur Navigation verwendet wird. Sie zeigte das gesamte Zarenreich, und quer über die Karte verliefen drei fette, leicht geschwungene Linien: Eine durchgezogene und zwei gestrichelte Linien links und rechts davon in einem Abstand von einigen Dutzend Kilometern. Alle drei Linien endeten links oben auf der Karte an einer leicht zittrig gezogenen Ellipse. Mir war sofort klar, was dies bedeutete: »Ist dies der Kurs des Kometen? Und dort wird er einschlagen?«

Abakowski nickte nur. Auch Kowalewskaja hatte sich über die Karte gebeugt: »Aber … Mein Gott! Da ist Sankt Petersburg, mitten in der Ellipse! Sind Sie sicher?«

Kachowski nickte erneut: »Nun, selbst mit diesem Teleskop können wir die Bahn kaum präziser als bis auf zwanzig, dreißig Kilometer bestimmen. Aber er wird einschlagen; das ist gewiss.«

Abakowski bestätigte das: »Vielleicht im Ladogasee. Vielleicht in der Ostsee. Aufgrund des sehr niedrigen Eintrittswinkels schafft er es vielleicht sogar bis Helsinki. Eher aber trifft es Sankt Petersburg.«

»Und vermutlich ahnen das die Japaner bereits«, ergänzte wiederum Kachowski. »Aber sie werden ihre Feinde gewiss nicht warnen.«

Darauf sprang Kowalewskaja wieder auf: »Aber wir müssen sie warnen! Hundert, zweihundert Meter … Mein Gott! Was könnte der anrichten?«

Sie blickte mich flehentlich an, doch konnte ich sie nicht beruhigen: »Schwer zu sagen; so was ist seit Menschengedenken noch nie geschehen. Aber falls er wirklich in der Stadt einschlägt … Von Sankt Petersburg wird nicht viel übrig bleiben.«

»Mein Gott … Und schon morgen!? Wir müssen sie alarmieren!«

Sie raufte sich die bisher sorgfältig zurückgebundenen Haare, doch der Agent blieb kühl: »Nun, mittels des Bord-Telegraphen könnten wir die Stationen in Ust-Kut oder Kerensk erreichen. Von dort müsste die Nachricht weitergeleitet werden, und selbst falls sie rechtzeitig jemanden erreicht, der sich zuständig fühlt und Ihnen glaubt … Wie wollen Sie zwei Millionen Menschen so rasch in Sicherheit bringen? Wir können ja nicht einmal sagen, in welche Richtung sie fliehen sollen.«

»Aber … Mein Gott; meine Eltern wohnen auch dort!«

»Das tut mir leid, Frau Doktor. Aber auch der Zar wohnt dort. Seine ganze Familie, um genau zu sein.«

Mir war nicht gleich klar, was er damit sagen wollte: »Die Romanows? Ja und?«

Darauf erhob sich der Agent, um im Observatorium hin und her zu marschieren: »Ich will ganz offen sein, Herr Professor, Frau Doktor; es spielt ohnehin keine Rolle mehr: Ja, es stimmt, dass Alexander und ich gemeinsam zur Schule gegangen sind. Wir haben damals freilich nicht nur Mathematik, Französisch und all das andere gelernt; wir haben auch die Schriften von Bakunin und Kropotkin studiert.«

»Sie sind Anarchist!?«

Auch Kowalewskaja mochte es nicht glauben: »Aber Sie sagten, Sie wären bei der Ochrana?«

»Bin ich. Uns – und nicht nur uns – wurde bald klar, dass die Despotie nicht mit ein paar Bomben vernichtet werden kann. Alexander hier flüchtete sich in die Wissenschaft – und ich beschloss, das System von innen zu studieren und auf meine Chance zu warten. Nun, ich hätte nie damit gerechnet, dass sie sich auf diese Weise ergeben würde! Wegen der Mathematik bekam glücklicherweise ich als erster den Bericht unseres Agenten auf den Tisch. Sofort machte ich mich auf, um es hier zu überprüfen. War nicht einfach; vier Tage und Nächte war ich ohne Unterbrechung unterwegs. Aber das war es wert: Wenn die Romanows beseitigt sind, zusammen mit der gesamten reaktionären Regierung … Welch eine Chance für ganz Russland!«

»Aber … Mein Gott, auf Kosten von zwei Millionen Menschenleben!? Alexander, sag was!«

Sie rüttelte ihren Kollegen an der Schulter, doch der reagierte nur mit einer ratlosen Geste: »Ach, Julija … Es tut mir wirklich leid wegen deiner Familie, aber-«

»Nein, wir müssen sie warnen«, unterbrach ich ihn. »Wir müssen es zumindest versuchen. Ich werde Kapitän Wolossow Bescheid sagen, dass er den Funker-«

Ich stand auf, um an das an der Wand hängende Bord-Telephon zu treten. Kachowskis Entgegnung stoppte mich allerdings nach wenigen Schritten: »Das hat keinen Zweck, Herr Professor. Sehen Sie das hier?«

Wie ich mich umdrehte, holte er unter dem Tisch ein faustgroßes, zylindrisches Objekt hervor. Ich brauchte einige Augenblicke, bis ich es identifizieren konnte: »Eine Induktionsspule? Etwa aus dem …«

Ich wagte es nicht auszusprechen, aber Kachowski nickte: »Die Spule des Telegraphen der ›Serafim‹; ich habe sie in der Nacht ausgebaut. Ohne sie ist das Gerät nutzlos, wie Sie wissen.«

Und ehe irgendwer von uns reagieren konnte, eilte er an eines der Fenster auf der anderen Seite des Observatoriums und riss es auf. Die einströmende kalte Höhenluft löste bei Kowalewskaja die Schreckensstarre: »Nein!«

Sie eilte ebenfalls ans Fenster, aber ehe sie es erreichte, schleuderte der Anarchist die Spule hinaus. Uns allen stockte der Atem; so hörten wir, wie das Metall-Objekt an der Aluminium-Hülle der ›Serafim‹ entlang schrammte. Das Quietschen wurde innerhalb von zwei, drei Sekunden rasch leiser, dann endete es. Kowalewskaja starrte einen Augenblick in die Leere; dann stürzte sie sich auf Kachowski: »Verbrecher! Mörder!«

Der Anarchist war zu überrascht, um sich gegen die Schläge der Frau zu wehren; erst Abakowski vermochte die zwei zu trennen. Unterdessen hatte ich das Fenster geschlossen. »Damit hat sich das erledigt.«

Während Kowalewskaja zum Tisch zurück wankte und auf dem Hocker niedersank, bemühte sich Abakowski um eine positive Sicht: »Sehen wir es doch so: Vielleicht ist dies ein Zeichen des Himmels? Man bezeichnet Kometen ja oft als Himmelsboten – so wie auch die Seraphim, nach denen unser Schiff benannt ist.«

»Du wirst doch jetzt nicht zum Frömmler, Alexander?«, spottete der Anarchisten-Agent. »Aber da ist was dran: Selbst falls der Komet mit einem Riesen-Platsch im Wasser landet, so glauben die abergläubischen Bauern gewiss, dass der Himmel ihrem Herrscher zürnt. Dann bekommen wir eine Revolution, gegen die die Aufstände von vor drei Jahren harmlos waren.«

In mir war unterdessen ein Entschluss gereift. »Nun denn: Angesichts der Lage wird es das Vernünftigste sein, wenn wir zumindest als Wissenschaftler diese Gelegenheit so gut als möglich nutzen. Einen in die Atmosphäre eintretenden Kometen zu beobachten ist schließlich noch nie geglückt, und wer weiß, wann das wieder möglich sein wird.«

Kowalewskaja blickte entsetzt auf, Kachowski dagegen war erleichtert: »Das ist die richtige Einstellung, Herr Professor.«

»Womöglich können wir sogar Ihre Kamera zum Einsatz bringen, Herr Oberleutnant?«

»Das wäre sensationell!«

Abakowski und vor allem Kowalewskaja starrten mich dagegen ungläubig an: »Herr Professor …«

Ich gab mich zynisch: »Was denn? Akzeptieren wir das Unvermeidliche und machen uns an die Arbeit!«

Somit berechneten wir einen Kurs, der uns möglichst dicht an den Kometen heranbringen sollte – doch nicht zu dicht. Dies bedurfte einiger Kalkulationen, aber zu viert hatten wir das bald erledigt: Wir planten, einen Kurs in nordnordwestlicher Richtung einzuschlagen, auf dem am nächsten Morgen gegen sieben Uhr der Komet direkt über uns hinweg fliegen würde, und zwar in einer Höhe von »gut elf Kilometern«, wie Kachowski meinte. Ich wollte es freilich genauer wissen: »Was heißt ›gut‹? Wie groß ist die Unsicherheit?«

»Aufgrund der Unbestimmtheit der Bahndaten etwa eineinhalb Kilometer«, befand Abakowski. »Die größere Rolle dürfte freilich spielen, wie stark der Komet von der Atmosphäre abgebremst wird. Das hängt primär von Größe und Dichte ab – über die wir momentan wenig sagen können.«

Das war mir klar: »Nun, man wird in der nächsten Nacht den Kometen ohnehin kontinuierlich observieren müssen. So gesehen ist es günstig, dass der Eintritt in die Atmosphäre morgens erfolgen wird. Damit sollten wir ihn sogar während der Dämmerung beobachten können.«

Kowalewskaja hatte unterdessen Mühe, die Tränen zurückzuhalten: »Wie könnt ihr nur so zynisch sein! Morgens um sieben, da dürften die meisten Bewohner von Sankt Petersburg noch in ihren Häusern sein – die dann über ihnen zusammenbrechen!«

Ich ging darauf nicht direkt ein, als ich ihr die Hand begütigend auf die Schulter legte: »Werden Sie mir dennoch bei den Vorbereitungen helfen? Ich denke, unsere Kollegen sollten sich einige Stunden ausruhen.«

Tatsächlich war Kachowski gerade daran gescheitert, ein Gähnen zu unterdrücken: »Eine gute Idee. Es war wirklich eine lange Nacht …«

Somit erhoben sich die zwei Männer. Ich verabschiedete sie direkt am Schacht, der hinunter in die Gondel führt, lauschte noch, bis ich hörte, dass fünfzig Meter tiefer die Bodenklappe des Schachtes geschlossen wurde; dann schloss ich meinerseits die Einstiegsklappe. Endlich wandte ich mich an Kowalewskaja: »Ihre ganze Familie wohnt also in Sankt Petersburg?«

Nun vermochte die Frau ein Schluchzen nicht mehr zu unterdrücken, und sie musste vorübergehend die Brille absetzen: »Ich habe einen Onkel in Moskau, aber sonst … Meine Eltern, zwei Brüder, eine Schwester mit Gatten und zwei kleinen Kindern …«

»Wozu sind Sie bereit, um sie zu retten? Und natürlich auch all die anderen Bürger der Stadt.«

Kowalewskaja stutzte, setzte die Brille wieder auf und blickte mich einige Augenblicke fragend an, ehe sie antwortete: »Zu allem. Ich würde mein Leben geben.«

»Sind Sie sicher?«

»Oh ja. Aber wieso fragen Sie, Herr Professor?«

»Weil wohl genau das nötig sein wird. Ihr Leben- Unsere Leben gegen die von zwei Millionen potentieller Opfer.«

»Das wäre … Aber … Wie?«

»Ich weiß nicht, ob es gelingen wird – aber ich denke, es ist die einzige Option, diese Katastrophe womöglich noch abzuwenden. Sie wissen natürlich, dass bei der ›Serafim‹ Wasserstoff als Traggas fungiert?«

Kowalewskaja begann zu ahnen, worauf ich hinaus wollte: »Ja, sicher. Ein … Ein hochexplosives Gas. Sie meinen … Verstehe ich Sie richtig? Sie würden die ›Serafim‹ mit dem Kometen kollidieren lassen? In der Hoffnung, dass die Explosion des Wasserstoffs den Kometen ablenkt?«

»Oder womöglich gar zerstört; das kommt auf die Beschaffenheit des Himmelskörpers an. Aber mit 400.000 Kubikmetern Wasserstoff kann man schon einigen Schaden anrichten.«

»Sicher. Mein Gott, wenn das gelänge … Aber der Komet rast ja mit gut 10 Kilometern pro Sekunde relativ zur Erde einher – dreihundertmal so schnell wie wir. Könnte man nicht genauso gut versuchen, eine Kanonenkugel im Flug mit einem Schneeball zu treffen?«

»In gewisser Weise schon. Aber falls wir die Flugbahn der Kugel gut genug kennen … Um im Bild zu bleiben: Wir müssen nur einen Schneemann an der richtigen Stelle bauen, damit er die Kugel abfängt. Dazu ist es natürlich nötig, die Bahndaten so lange als möglich zu korrigieren und den Kurs entsprechend anzupassen.«

Kowalewskaja überlegte eine Weile, ehe sie fortfuhr: »Das ist sicher richtig. Aber … Wenn der Komet am Rendezvous-Punkt noch in einer Höhe von elf Kilometern oder mehr ist … Wie hoch könnte die ›Serafim‹ denn steigen?«

»Im Testbetrieb kam man bis knapp über 10.000 Meter.«

»Das würde ja nicht-«

»Mit der unteren Gondel, versteht sich«, unterbrach ich sie. »Wie Sie wohl wissen, kann diese vom Tragkörper abgesprengt werden, um dann an Fallschirmen zu Boden zu sinken.«

»Ach ja, für den Fall, dass sich der Wasserstoff entzünden sollte. Und ohne deren Gewicht …«

»Ich schätze, dass dann zwölf Kilometer Höhe möglich sind. Eventuell mehr.«

»So hoch war noch niemand – selbst mit Sauerstoff nicht. Ist das überhaupt möglich?«

»Das wird sich zeigen. Solange der Kurs stimmt, ist es womöglich sogar eine Gnade, wenn man dann ohnmächtig wird, bevor … Bei Windstille, da sollten jedenfalls die Dampf-Düsen zum Manövrieren ausreichen.«

»Das heißt … Jemand müsste hier oben bleiben – bis zum Schluss.«

»Ich natürlich.«

»Sie, Herr Professor? Sollte nicht lieber ich …«

»Seien wir ehrlich, Kollegin: Falls es uns tatsächlich gelingt, den Komet zur Explosion zu bringen, dann wird keiner von uns dies überleben. Ehe die Gondel auch nur am Boden ankommt, kann die Druckwelle sie zerfetzen – und alles im Umkreis vieler Kilometer.«

Es dauerte wieder etwas; dann nickte Kowalewskaja erneut: »Sie haben sicher recht. Hm … Aber was ist mit den anderen?«

Ich wusste, was sie meinte: »Ob wir ihnen Bescheid sagen sollen? Ehrlich gesagt: Ich würde eher darauf verzichten. Das heißt natürlich, dass wir de facto 30 Leute mit in den Tod reißen werden – 30 Menschen, die wir andernfalls in Sicherheit bringen könnten, falls wir umdrehen.«

»30 … Oh mein Gott! Sind wir dann überhaupt besser als dieser Kachowski? Er ist bereit, zwei Millionen zu opfern, um 160 Millionen aus der Despotie des Zaren zu befreien. Und wir …«

»Wir werden 30 Menschen töten – um eben jene zwei Millionen zu retten. Moralisch fragwürdig, keine Frage.«

»Aber haben wir eine Wahl?«

»Ja – aber wir müssen wählen. Und dies ist nicht alles, was ich von Ihnen verlangen muss. Die Ablösung der Gondel kann nur im Ruderhaus ausgelöst werden. Falls dies nicht geschieht, falls die Crew merkt, was wir planen und sich dazu entschließt, umzudrehen …«

Ich beendete den Gedankengang nicht; Kowalewskaja war ohnehin klar, worauf ich hinaus wollte: »Ich soll das Ruderhaus unter meine Kontrolle bringen? Allein?«

»Ich weiß, das ist viel verlangt. In der Nacht sind im Allgemeinen nur zwei Mann am Ruder, unbewaffnet, aber im Kartenraum nebenan lagern je zwei Revolver und Karabiner im Waffenschrank. Zu diesem hat nur Kapitän Wolossow einen Schlüssel – und ich als wissenschaftlicher Leiter. Im Ruderhaus müssten Sie sich dann verbarrikadieren, und

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Olaf Lahayne
Bildmaterialien: Cory Thoman (Clipartof.com), Das Wortgewand (Pixabay.com)
Cover: Olaf Lahayne
Tag der Veröffentlichung: 30.06.2018
ISBN: 978-3-7438-7374-2

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