Höllensturm
Das erste Klopfen überhört Sibilla noch. Seit Stunden lässt der Sturm die schwere Holztür rattern, quietschen und ächzen; zudem klapperten die Ziegel, ächzten die Balken, und selbst die Mauern knirschen; so ging das erste, zaghafte Pochen am Eingang in der Lärmkulisse unter. Erst das zweite Klopfen ließ die Frau aufschrecken, und beim dritten, deutlich kräftigeren Hämmern ist sie sich sicher. »Wer zur Hölle ist denn bei diesem Wetter unterwegs?«
Sie steht vom Tisch auf, geht zur Tür hinüber und öffnet sie einen Spalt weit. Sogleich schreckt sie zurück: Nicht nur, weil ihr der heiße Wind ins Gesicht bläst, sondern auch, weil direkt vor, eher schon in der Tür ein Mann steht: »Scusi, Signora, ma ... La tempesta ...«
Ehe der Besucher so recht begreift, wie ihm geschieht, öffnet die Frau die Tür zwei, drei Spalte weiter, fasst ihn am Arm und zieht ihn ins Haus: »Get in!«
»Thanks!«, erwidert der Mann, sobald er sich von seiner Überraschung erholt hat, während die Frau die Tür gegen den Sturm zudrückt. »You speak English?«
»A bit«, erwidert die Frau, worauf sie zum Tisch zurückkehrt, auf welchem eine Weinflasche und drei Gläser auf sie warten. »We have a lot of tourists here.«
»Not as many as in Florence, I suppose? But ... Is my Italian that bad that your realised at once I am not from Italy?«
»Well, your accent ... Sie kommen aus Deutschland?«
»Stimmt! Sie sind ja wirklich polyglott.«
Während der Mann seinen Rucksack absetzt und sein durchgeschwitztes Shirt zurecht zupft, stellt die Frau ein viertes Glas auf den Tisch: »Oh, ich habe dreißig Jahre gearbeitet in Frankfurt. Setzen Sie sich! Unsere alte Mühle ist nicht klimatisiert, aber jedenfalls weht hier drin nicht diese ... Diese bufera infernal. Wie sage ich das auf Deutsch?«
Kaum dass sich der Mann an den grobgezimmerten Holztisch gesetzt hat, blickt er überrascht auf: »Bufera infernal? Höllensturm? Ja, das trifft es wirklich. Gut, es ist Juni, und unten in Florenz waren’s 35 Grad, aber trotzdem: Ich hätte gedacht, dass es hier in den Bergen kühler wäre. Aber dieser Wind ... Ich habe vor Jahren einen Sandsturm in der Sahara erlebt, aber das war gemütlich dagegen. Kommt so was hier öfter vor?«
»Nein, grazie a Dio!«, erwidert die Frau, während sie dem Besucher ein Glas einschenkt. »Sie nehmen ein Glas? Kommt von einem Weinberg in die Gegend.«
»Ja, gerne, danke. Aber ... Wo sind meine Manieren? Entschuldigung, dass ich hier – fast wortwörtlich – mit der Tür ins Haus falle, und danke für die Aufnahme! Und um mich auch ordentlich vorzustellen: Mein Name ist Gottlieb Elsheimer – übrigens auch aus Frankfurt.«
»Wie sagt man: Die Welt ist klein!«, erwidert die Frau schmunzelnd, während man sich über den Tisch weg die Hände schüttelt. »Sibilla Portinari. Es freut mich, mal wieder Deutsch zu sprechen. Aber wegen ... Wie sagten Sie? Höllensturm? Ja, auch hier wird es wärmer die letzten Jahre, aber dies Wetter ... Un vero inferno!«
Der Mann nickt, nachdem er den Wein gekostet hat: »Hm, der ist gut! Ja, der Klimawandel ... Stammen Sie aus der Gegend? Aus der Toskana oder der Emilia Romagna? Wir sind ja nahe der Grenze, nicht wahr?«
»Ich bin geboren in Florenz. Mit Zehn ging ich aber mit meinen Eltern nach Deutschland; vor zehn Jahren kam ich zurück. Seitdem arbeite ich hier. Ja, die Grenze ist nahe, nur eine passeggiata von hier. Heißt das ... Sie haben sich verlaufen?«
»Ich fürchte ja. Die GPS-Ortung auf meinem Handy spinnt, und da es rasch dunkel wird ... Ich habe vorhin von draußen kaum etwas von Ihrem Haus gesehen, um ehrlich zu sein. Es scheint ja wirklich alt zu sein. Wo genau sind wir denn hier?«
Er mustert neugierig die rustikale Einrichtung der weiten Stube, soweit das nur von mehreren Kerzen erzeugte Zwielicht dies zulässt. Seine Gastgeberin schenkt ihm und sich unterdessen je ein zweites Glas ein: »Das hier ist die Molin di Bucchio, die erste Mühle am Arno. Ja, sie ist alt, mehr als 700 Jahre.«
Der Mann nickt anerkennend: »Ah, ich las davon. 700 Jahre ... Dann könnte schon Dante hier gewesen sein.«
»Dante Alighieri? Sie lesen Dante? Sprechen Sie daher Italienisch?«
»So ist es. Natürlich bin ich eh ein Italien-Fan, aber Dante ist mein Spezialgebiet. Eigentlich bin ich hier, weil ich hoffte, eine Lücke in seiner Biographie füllen zu können. Dante schrieb in einem Brief, dass er nahe der Quelle des Arno lebe, vermutlich, um der Toskana, aus der man ihn verbannt hatte, nahe zu sein. Aber wo genau, weiß niemand. Unten in Porciano sagt man natürlich, er habe dort in der Burg gelebt, aber, nun ja ...«
»Bis zur Quelle – Capo d’Arno – sind es nur ein paar Kilometer«, erklärt die Frau nach kurzem Nachsinnen. »Da oben, am Monte Falterona. Aber hier leben nur wenig Leute, und Häuser aus der Zeit von Dante ... Oberhalb von Porciano ist da nur die Mühle. Und ich glaube nicht, dass Dante als Müller arbeitete.«
»Nein, wohl nicht«, stimmt Gottlieb schmunzelnd zu. »Und dass hier eher wenig los ist, davon habe ich mich selbst überzeugen können. Nun, bei diesem Wetter ...«
Eine Weile lauschen beide auf das Fauchen des Windes, der mit unverminderter Gewalt am Gebäude rüttelt, als hätte dessen letztes Stündlein geschlagen.
»Bei schönem Wetter kommen an einem Sommertag hundert Wanderer vorbei«, relativiert die Frau. »Oder mehr. Auf dem Weg zum Capo d’Arno, zum Lago degli Idoli oder zum Gipfel des Monte Falterona. Italiener und Touristen aus Europa, Amerika, Asien ... Heute aber nur vier.«
»Ah, zwei traf ich vorhin«, erinnert sich Gottlieb. »Während mich der Sturm bergab blies, kämpften sie bergauf gegen ihn an. Das heißt, eigentlich schien sie der Wind kaum zu stören. Ich wollte sie grüßen, aber ich brachte es nicht fertig, stehen zu bleiben, und auch sie ignorierten mich. Sonst traf ich niemanden.«
Darauf blickt Sibilla ihr Gegenüber forschend an: »Zwei Männer? Groß, schlank und jünger als wir? Der eine eher dunkel, der andere blass?«
»Na ja, ich sah nur flüchtig hin, aber das kann stimmen. Sie waren flott unterwegs, trugen seltsamerweise lange Mäntel, und der eine, blonde, trug etwas ... Ich bin mir nicht sicher ...«
»Eine ... Wie sagt man? Una spada?«
»Ein Schwert!? Ja, stimmt. Aber woher-«
»Das waren zwei von den vier. Seltsame Geschichte ... Die anderen zwei sind noch hier, im appartamento.«
Damit deutet sie mit dem Daumen nach oben, worauf ihr Gegenüber auf die teils mannsstarken Deckenbalken blickt: »Ach, Sie haben Gäste?«
»Nun, nicht die üblichen Gäste«, befindet die Frau kopfschüttelnd. »Ich glaube, es sind, äh, rifugiati.«
»Flüchtlinge? So weit weg von der Küste? Wie kommen Sie darauf?«
»Nun, sie sehen zwar europäisch aus, sprechen aber ein seltsames Italienisch. Vielleicht aus dem Maghreb? Es sind junge Leute; halb so alt wie wir; höchstens dreißig jedenfalls. Das seltsamste war: Sie waren nackt, als es sie hier rein wehte – wortwörtlich; der Sturm war da noch stärker. Sie waren völlig verwirrt. Erst, als ich ihnen Kleidung von unseren Mitarbeitern anbot, da verstanden sie nach und nach, wo sie waren.«
Gottlieb ist mehr als nur überrascht: »Nackt!? Sie meinen, sie werfen inzwischen nicht nur ihre Pässe weg, sondern auch ihre Kleidung, um ihre Herkunft zu verschleiern? Damit man sie nicht mehr abschieben kann?«
»Nun, wenn das ihr Plan ist, sind sie sehr ... Wie sagt man? Konsequent! Ich gab ihnen zu essen und zu trinken, dann zeigte ich ihnen unser Gästezimmer. Sie wirkten noch immer recht verwirrt, schliefen aber sofort ein, wie sie auf das Bett fielen. Als hätten sie nicht mehr geschlafen, seit sie aufgebrochen sind – von wo auch immer.«
»Sie sagen ›sie‹. Also zwei junge Männer?«
»Ein Mann und eine Frau. Beide ... Nun, auch im Halbdunkel war klar, dass sie ... Wie soll ich sagen? Sie machen bella figura.«
»Sehr attraktiv also?«, fragt Gottlieb schmunzelnd.
»Oh ja – und ein Paar. Es störte sie eher, sich vor mir, der Fünfzigjährigen, nackt zu zeigen, als voreinander.«
»Haben sie gesagt, wie sie heißen?«
»Ja, sie hatten sich italienische Namen gegeben: Paolo und Francesca.«
Gottlieb stutzt: »Wirklich? Bemerkenswert!«
»Nun, es sind altmodische Namen für junge Leute, oder? Jedenfalls: Kaum hatte ich sie zugedeckt und bin wieder hier unten, da standen schon die anderen zwei in der Stube. Sie hatten erst gar nicht geklopft!«
»Die zwei Männer? Il Biondo e l’oscuro?«
»Si, esattamente. Obwohl, eigentlich wirkten beide finster. Sie stellten sich nicht vor, sondern fragten gleich nach dem Paar. Sie wussten auch ihre Namen, ihre vollen Namen. Sicher Carabinieri, oder von irgendeiner anderen Einheit der Polizei.«
»Und wie lauten die vollen Namen?«
»Paolo Malatesta und Francesca da Polenta.«
»Sind Sie sicher?«
»Oh ja; ich bin doch nicht senil! Ich dachte mir noch: Wie kann man sich nur so auffällige Namen zulegen!«
Gottlieb fällt es merklich schwer, seine Neugier zu zügeln: »Und ... Was haben Sie geantwortet?«
»Ich habe ja gesagt. Warum soll ich zum Komplizen von Menschenschmugglern werden, und wer weiß, was die sonst getan hätten? Ich zeigte den Zweien also das Pärchen. Sie schauten nur kurz ins Zimmer. ›Da sind sie‹, meinte der Dunkle, und der Blonde nickte nur ernst. Sie ließen sie schlafen und gingen wieder runter in die Stube.«
»Und dann?«
»Nun, dann setzten sie sich an eben den Tisch hier und ließen sich Wein bringen; ihre Gläser stehen ja noch da. Und nachdem ich in die Küche gegangen bin, stritten sie: Leise, aber eindringlich.«
»Also konnten Sie sie nicht hören?«
Sibilla schmunzelt: »Oh, zum Teil schon. Mein Gehör ist sehr gut, grazie a Dio! Trotzdem; manchmal muss ich mich verhört haben ... Der Blonde wurde von dem anderen Michele genannt, der Dunkle aber Malacoda.«
»Malacoda? Sind Sie sicher?«
»Oh ja; der Name fiel mehrmals. Vielleicht ein Spitzname. Ich glaube, die zwei kennen sich gut, mögen sich aber nicht. Sie waren sich jedenfalls nicht einig, was zu tun sei. Michele meinte, dass Paolo und Francesca – er nannte sie peccatori-«
»Peccatori? Sünder?«
»Ja, genau. Nun, er meinte, dass sie nicht hier sein dürfen. Malacoda lachte höhnisch auf, und er meinte, es ist halt passiert, sie sind hier. So was musste früher oder später passieren; es war nur eine Frage der Zeit. Michele machte ihm Vorwürfe; dann verstand ich ein paar Sätze nicht. Malacoda verlor aber bald die Geduld, und er wurde lauter: ›Es ist eben viel zu viel los bei uns: Hundert Millionen, ja, nessun problema! Eine Milliarde, da wurde es schon schwierig. Aber jetzt, wo es über zehn Milliarden sind? Und täglich werden es mehr! Und weil es mehr werden, da wird der Wind immer stärker, und es wird auch immer heißer: Mehr als nur höllisch heiß!‹«
»Höllisch heiß? Das sagte er? Für zehn Milliarden ... Menschen?«
»Ja, das ist seltsam: Er sprach von ›spiriti‹, von Geistern. Vielleicht weil sie wegen der Hitze eher tot als lebendig sind. Sagen Sie ... Zehn Milliarden!? Damit kann er doch nicht l’Africa meinen? Oder Vicino Oriente? Vielleicht alle Menschen auf der Welt?«
Gottlieb zögert, ehe er antwortet: »Ich bin nicht sicher. Erzählen Sie weiter!«
»Nun, danach verstand ich wieder nicht alles. Michele verlangte, man muss den Zugang versperren; Malacoda meinte, sie versuchten das ja, aber vergeblich: Der Wind – eben ›la bufera infernal‹ – ist längst zu stark; sonst hätte er sich nicht an Michele wenden müssen. Der versprach schließlich, dabei zu helfen, den Zugang zu verschließen. Malacoda war zufrieden – jedenfalls für den Moment: ›Du weißt, das wird nicht lange helfen. Bald wird der Sturm an anderen Zugängen durchbrechen, mal hier, mal dort, zumal alle notte di San Giovanni.‹ Wie sagt man ...«
»Johannisnacht? Richtig; morgen ist der 24. Juni.«
»Ja, genau. Malacoda meinte, selbst wenn sie alle Pforten schließen-
›Wir dürfen nicht alle schließen‹, unterbrach ihn Michele. ›Wie sollen die Menschen‹ – li spiriti – ›denn sonst zu euch rein!?‹
›Nicht mein Problem!‹, meinte Malacoda. ›Wenn ihr uns jeden Tag Tausende schickt-‹
Dann stand Michele plötzlich auf: ›Alles zu seiner Zeit: Heute kümmern wir uns um dieses Tor!‹
Auch der Dunkle stand auf: ›Meinetwegen. Aber der Alte muss etwas ändern, damit künftig-‹
›Sprich nicht so über den Herrn!‹
›Ja, ja, reg dich ab: Bringen wir’s hinter uns! Und die zwei da?‹
Er meinte sicher Francesca und Paolo. Michele zögerte eine Weile. ›Sie sind hier; so Gott will, werden sie die Frist nutzen, die ihnen gegeben ist. Gehen wir!‹
Und ohne sich zu verabschieden, brachen die beiden auf. Das war vor einer Stunde.«
Eine Weile lauscht man wieder dem Sturm. Beide blicken überrascht auf, als sich ferner Donner unter das Fauchen des Windes mischt.
»›Hier schweigt das Licht, der dunkle Raum erbrüllt
so wie die See, wenn Stürme sich erhoben
und ihre Fläche wütend überschwillt.‹«1
Sibilla blickt überrascht auf: »Wie bitte?«
Gottlieb antwortet nicht direkt: »Sollte das wirklich möglich sein ... Die zwei redeten also von einem Zugang, die sie versperren wollen. Porta auf Italienisch?«
»Ja, genau. Aber was sie genau damit meinen könnten, und was das mit dem Sturm zu tun hat ... Vielleicht ein Versteck für illegale Flüchtlinge?«
»Gibt es hier in der Gegend ... Sagen wir, eine Art Höhle? Oder Stollen? Mit einem auffallenden Eingang? Womöglich mit einer Inschrift?«
Sibilla überlegt eine Weile; dann nickt sie zögerlich: »Ja. Ein altes Bergwerk, versteckt am Berghang. Mein Vorgänger hat es mir auf einer Wanderung gezeigt. Er stammt aus Porciano. Die Leute hier meiden die Gegend; es gibt viele Sagen über den Ort: Von Schätzen, Geistern, Zwergen – und Teufeln ... Meinen Sie, dass Paolo und Francesca sich da versteckt hielten? Und noch andere Flüchtlinge?«
»Tja ... Also ein Tor mit einer Inschrift?«
»Ja; nur schwer lesbar. Wie war das ... Irgendetwas mit Hoffnung.«
Wäre es heller in der Stube, sähe die Frau den Mann erblassen: »›Lasciate ogne speranza, voi ch’intrate!‹ Lasst alle Hoffnung fahren, die ihr hier eintretet.«2
»Ja, genau. Woher wissen Sie-«
Ein krachender Donnerschlag unterbricht die Erzählerin und lässt die Scheiben der Mühle scheppern. Kaum ist er verhallt, folgt ein dumpfes Grollen, das innerhalb weniger Herzschläge anschwillt, bis man die Vibrationen selbst in der Stube fühlt. Dem Crescendo folgt ein knappes Decrescendo; dann hört man, wie es an den Fenstern und auf den Dächern zu prasseln beginnt.
»Es regnet«, folgert Gottlieb. »Gott sei Dank!«
»Ein Gewitter«, mutmaßt Sibilla. »Seltsam; das war nicht vorhergesagt.«
»So wenig wohl wie der Höllensturm. Aber Gewitter; wer weiß ... Als ich vorhin an den zweien – Michele und Malacoda – vorbei kam, da hielt Michele seine Rechte an dem, was also ein Schwert ist, und es schien Funken zu sprühen. Als ich näher kam, steckte er das Schwert wieder in die Scheide, und es erlosch. Ich dachte, ich hätte was an den Augen, aber nun ... Wissen Sie, wer das war? Niemand anders als San Michele, der Erzengel Michael. Mit seinem Flammenschwert, mit dem er einst Adam und Eva aus dem Garten Eden vertrieb, hat er eben den Zugang zur Hölle verschlossen: Jene Höllenpforte, durch die einst Dante seine Reise durch das Inferno antrat. Und Malacoda, der Dunkle, das war einer der Malebranche, ein Dämon der Hölle. Wenn ich das richtig verstehe, ist die Hölle inzwischen arg überbelegt – und dementsprechend, sagen wir, überhitzt, und so brach die Höllenhitze zu uns durch, auf die Erde. Und zwar in Form jener bufera infernal, der im zweiten Kreis der Hölle tobt. Dort traf Dante jenes Paar, das es jetzt zu uns hinauf geweht hat, wortwörtlich geweht: Paolo Malatesta und Francesca da Polenta, besser bekannt als Francesca da Rimini.«
Sibilla blickt ihr Gegenüber ungläubig an: » È assolutamente impossibile.«
»Noch vor sechs Jahren hätte ich Ihnen zugestimmt. Aber nach dem Vorkommnis, das ich in Rom erlebt habe, bei einer Dante-Tagung zu Pfingsten 2013 ...«3
Er verstummt; so hakt Sibilla nach: »Was ist geschehen?«
»Da fragen Sie lieber meine Kollegin Lewitscharoff. Um es mit einem Großen zu sagen: There are more things in heaven and earth, than are dreamt of in our philosophy.«
Sibilla bohrt nicht weiter nach. Stattdessen stehen beide fast synchron auf, gehen zur Tür hinüber und treten aus der Mühle. Draußen erwarten sie zwei Überraschungen: »Es ist völlig windstill. Und bestimmt zehn Grad kühler als vorhin, als ich ankam.«
Die Frau nickt, während sie sich den Nieselregen ins Gesicht plätschern lässt. »Fünfzehn Grad, glaube ich. Und- Sehen Sie das?«
Sie deutet hangaufwärts, wo durch den Regen hindurch eine aufsteigende Staub- und Trümmerwolke erahnbar ist. Gottlieb nickt: »Ist das die Gegend, wo das Höllentor ist – war?«
»Ja, genau. Ich glaube-«
»Cosa è successo?«
Erst als sie so unterbrochen werden, merken die zwei, dass sie nicht mehr allein sind: Ein jüngeres Pärchen ist zu dem älteren Duo getreten. Gottlieb erkennt sofort, mit wem er es zu tun hat, und so wechselt auch er wieder ins Italienische: »Signor e Signorina Malatesta?«
Der Mann bejaht dies, während die Frau – Francesca – noch sehr desorientiert wirkt. Gottlieb glaubt, sie beruhigen zu können: »Mir scheint, meine Herrschaften, dass sie bleiben können.«
Die Frau versteht als erste: »Sie meinen ... Wir müssen fürwahr nicht zurück ins Inferno?«
»Jedenfalls nicht so bald.«
Gottlieb muss lächeln angesichts der Erleichterung des Paares – aber auch aufgrund ihres altertümlichen Italienisch. Dann bemerkt er die ›Gewandung‹ des Paares: »Sagen Sie, Frau Portinari: Sind das alte Handwerker-Trachten?«
Sibilla stutzt: »Ja, genau: Die Tracht eines Müllers und einer Bäckerin – etwa aus der Zeit von Dante. Wir benutzen sie für Vorführungen für Schulklassen hier in der Mühle. Seltsamer Zufall ...«
Gottlieb ist sichtlich amüsiert: »Sagen Sie, Signori: Haben Sie Erfahrung mit Mehl und Mühlen?«
Der Jung-Edelmann blickt sein Gegenüber verdutzt an: »Meine Familie nennt gar viele Mühlen ihr Eigen. Wieso?«
»Nun, mir scheint, Sie sind hier gerade richtig gelandet. Bestimmt können Sie hier der Nachwelt einiges beibringen über Ihre Zeit.«
Der Edelmann ist entrüstet: »Ich, Paolo Malatesta, soll in der Hitze einer Backstube schuften!? Wir-«
Aber Francesca unterbricht ihn: »Wir werden es tun! Es wird ein Labsal sein gegenüber dem, wo wir her kommen – und eine Mahnung für uns beide!«
Darauf blicken alle vier eine Weile den Berghang hinauf, wo sich die Trümmerwolke langsam legt.
Der Anschlag
Du schaffst das, sagt sich Josef immer wieder. Du schaffst das, Josef, sagt er, nur um sich dann auch immer wieder zu verbessern: nicht Josef, sondern Yussuf! Du schaffst das, Yussuf! Inschallah, Allahu akbar!
Vor einem Jahr konvertierte Josef zum Islam, und seitdem, da sollen ihn eigentlich alle, da sollen ihn Familie, Freunde und Fremde Yussuf nennen – sofern sie ihn nicht als »Herr Novak«, ansprechen, versteht sich. Josef – bleiben wir hier der Einfachheit halber bei Josef – meinte, er würde es allen sehr einfach machen: Yussuf, Yosef, Josip, Joe, José; das ist ja eh alles dasselbe. Inzwischen steht Yussuf Novak in seinem Pass, aber daheim, auf dem Bau, in seinem Grätzl, da nennen ihn alle Josef – oder, öfter noch, den Pepi. Er mag seinen Glauben gewechselt haben, er mag jetzt in die Floridsdorfer Moschee gehen anstatt in die Favoritener Pfarrkirche, aber er ist halt immer noch Österreicher, immer noch Wiener. Offenbar sieht man es ihm sogar an; selbst im Urlaub, auf Mallorca, in Antalya und, ja, selbst am Roten Meer – alles vor seiner Konvertierung, versteht sich, wobei, ans Rote Meer, dahin könnte er ja auch jetzt wieder fahren – also, selbst dort wurde Josef nie für einen Piefke gehalten; nicht einmal als Schweizer ging er durch. Immer wenn Josef in den Spiegel sah, so sprach er sich selbst jetzt zwar als Yussuf an, doch sein munter sprießender Bart machte ihn noch lange nicht zum Mullah oder Salafisten; eher wurde er mehr und mehr zum Qualtinger-Ebenbild; möge dieser in Frieden ruhen!
Selbst wenn sein Gegenüber noch irgendeinen Zweifel an Josefs Nationalität hegen sollte: Sobald Pepi den Mund aufmacht, ist es damit vorbei. Ja, wer sich in Wien gut auskennt, der hört ihm sogar an, dass zwar seine Mutter aus Favoriten stammt, sein Vater jedoch aus Meidling zugezogen war. Selbst in seinem Arabisch-Kurs ist es kaum anders; so sagte ihm ein türkischer Mitschüler: »Yussuf«, – dort nennt man ihn Yussuf; immerhin! – also, »Yussuf«, sagte Murad, »dein Arabisch ist toll, aber dein Akzent, dieser Wiener Akzent, der ist echt Scheiße!«, Denn natürlich lernt Josef jetzt Arabisch, naturgemäß erst seit einem Jahr, doch schon jetzt kann er den Koran – al-Qu’ran, so verbessert Josef jeden, der ihn darauf anspricht – recht flüssig lesen, auch rezitieren, und er hat sich sogar schon daran probiert, ihn auszusingen; schließlich war er mal Sängerknabe, nicht Wiener Sängerknabe, aber doch in Wien; immerhin. Josefs Kursleiter meinte sogar, er könnte ein prima Muezzin sein – der darf dort, in der Floridsdorfer Moschee, ja zum Gebet rufen, dreimal täglich, nur nicht zu laut, bitteschön –, wäre da nicht sein Wiener Akzent ...
Aber das wird heut keine Rolle spielen, sagt sich Josef. Heute, da wird er allen beweisen, dass er ein echter Muslim ist, bereit, für seinen Glauben sein Leben zu geben, ein echter Dschihadist also.
Und das kam so: In Josefs Arabisch-Kurs sitzt auch eine Sekretärin. Sie braucht solch spezielle Sprachkenntnisse für ihre Arbeit beim OFID, dem OPEC Fund for International Development, der – wie die OPEC selbst – seinen Sitz in Wien hat. Eines Abends nach dem Kurs, bei einem Glas Zweigelt – das heißt, eigentlich trank nur die Sekretärin Wein; Josef als echter Muslim trank Tee – also beim Wein, da erzählte die Sekretärin, dass die meisten Mitarbeiter beim OFID naturgemäß Muslime seien, abgesehen von den Nigerianern, Angolanern und Venezolanern. Freilich, deswegen verzichtet kaum einer dort auf Alkohol, und im Gebetsraum, da treffen sich gerade mal eine Handvoll von gut Hundert Mitarbeitern; höchstens zur Feier am Ende des Ramadans sind es ein paar mehr. Apropos Feier: Zu feiern verstünde man beim OFID, wozu lebe man schließlich im Westen? Man feiert die Feste, wie sie fallen, und feuchtfröhlich gehe es her. Und weil heuer das Neujahrsfest im islamischen Kalender mit Halloween zusammenfalle, da wolle man diesmal einen Maskenball feiern, eine Kombination aus Halloween- und Silvester-Party eben. Genaueres wusste die Frau auch nicht. Josef jedenfalls begriff dies als Wink des Schicksals, und er überredete sie, ihm eine Einladung zu verschaffen. Auf der Baustelle ›borgte‹ sich Josef einige Stangen Sprengstoff, und da es hieß, dass die Verkleidung zum Herkunftsland passen soll, warf sich Josef in bayerische Tracht – Berchtesgadener Tracht, um genau zu sein, komplett mit Krachlederner, Gamsbart und Joppe; denn Wiener Tracht, wie sollte die aussehen? Außerdem hatte Josef einen bayerischen Großonkel, und überhaupt, aus arabisch-nahöstlicher Sicht, da dürfte man das kaum so genau nehmen. Josef war das sowieso nicht so wichtig, denn, so sagte er sich: Es bleiben eh nur Fetzen übrig, sobald er den Sprengsatz unter der Joppe zündet, sobald dieser sein Inneres – wortwörtlich! – nach außen umstülpt. Dies sollte sein Maskenspiel beenden, und endlich würde jeder erkennen, jeder anerkennen, wer er, Josef, wirklich ist – beziehungsweise war, oder, noch genauer, gewesen sein wird: Yussuf nämlich, ein echter Muslim. Zugleich wird er Dutzende von diesen dekadenten Schein-Muslime zur Hölle schicken, während ihm das Paradies vergönnt sein würde, komplett mit Jungfrauen und allem.
Die paar Meter von der U-Bahn-Station Stubentor über den noblen, sündhaft teuren Stubenring bis zum OFID, die geht Josef zu Fuß. Es ist kalt, feucht und windig, und so schlottern Josef ein wenig die Knie in seinen kniefreien Beinkleidern, als er vor dem prächtigen Ring-Palais steht, das dem OFID als Sitz dient. Sie schlottern, ja, doch nur wegen des Wetters, nicht etwa aus Angst; und als er hinter der Drehtür seine Einladung abgibt, da zittert seine Hand nicht im Geringsten. Der stämmige Orientale am Eingang blickt zwar ein wenig verwundert, bleibt aber höflich, wünscht dem Gast Kathir Marah – Viel Spaß! – und deutet auf die Feststiege zur Linken der Eingangshalle.
Josef sieht sich um, und er staunt: staunt darüber, wie wenig das Äußere auch dieses Gründerzeitbaus über sein Innenleben verrät. Zwar stehen einige nah- und fernöstliche Mitbringsel in der Eingangshalle, doch passen die problemlos in ein historistisches Ambiente à la Makart.
Auf der Stiege überlegt sich Josef, ob er die Bombe sofort beim Reinkommen zünden soll, ob er warten soll, bis alle Gäste da sind oder bis Mitternacht, bis zum Jahreswechsel, obwohl, in islamischer Zeitrechnung, da beginnt der neue Tag mit Sonnenuntergang, und der war ja schon; auch wird man hier kaum zu Mitternacht Auld Lang Syne singen oder Ähnliches, aber mal sehen ...
Einige wohlgestaltete, höchst unverschleierte Damen weisen dem Neuankömmling den Weg in Richtung Festsaal, und diese bestärken Josef in seinem Plan. Freilich, es fällt ihm schwer, den Blick von ihnen abzuwenden, da sie alle wie ägyptische Bauchtänzerinnen gewandet sind; es fehlt eigentlich nur noch die richtige Musik, aber die scheint schon aus einem der nächsten Räume zu erklingen.
Als Josef dann den Festsaal betritt- Das heißt, zuerst bleibt er am Eingang stehen, wie festgewurzelt, doch liegt das weder an den nackten Putten an der Holzdecke noch an den Davidssternen im Parkett. Da Josef noch nie her gewesen ist, ist seine Überraschung auch nicht darauf zurückzuführen, dass man die geschwungenen Konferenztische aus dem Raum geräumt hatte; an deren Stelle dominiert nun ein Zimmerbrunnen den Saal, um den herum ein Buffet aufgebaut ist. Vor allem um dieses herum haben sich die gut fünfzig Anwesenden gruppiert; alles
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Olaf Lahayne
Bildmaterialien: Cory Thoman Illustration/ Olaf Lahayne
Tag der Veröffentlichung: 28.02.2017
ISBN: 978-3-7438-0005-2
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