Die Kinder des Ministers
Nach Motiven aus dem Alten Korea
Zu einer Zeit, als der große König Sejong noch jung war und erst wenige Jahre auf dem Thron in der Hauptstadt Hanseong saß, da war sein wichtigster Ratgeber ein Minister namens Hong. Dieser war viele Jahre älter als der König, doch blieb er lange kinderlos – sehr zu seinem Kummer und dem seiner Frau Choran. Sie befragten Ärzte, Akupunkteure, Mönche und Weise; sie empfingen viele Ratschläge, nahmen Tränke ein, vollzogen magische Riten und pflegten den Beischlaf an allen möglichen und unmöglichen Orten und Zeitpunkten, wo besonders gutes Chi zu finden sei. All dies hatte keinen Erfolg. Schließlich hörten sie von einem Taoisten, der am Fuße des Paektusan lebe und schon vielen kinderlosen Paaren zu Nachwuchs verholfen habe. So erbat sich der Minister Urlaub von seinem König, und zusammen mit seiner Frau pilgerte er gen Norden zu jenem Berg.
Nach vielen Wochen fand man die Einsiedelei des Taoisten, und der Minister trug dem Gelehrten sein Anliegen vor. Dieser meditierte drei Tage und drei Nächte, und am vierten Tag gab er dem Paar seine Antwort: »Minister Hong, Ihr seid ein mächtiger Mann, doch alle irdische Macht kann Euch keine eigenen Kinder verschaffen. Auch ich kann dies nicht, denn ich bin nur ein demütiger Gelehrter. Doch der Drachenkönig kann Euch helfen.«
Choran staunte: »Der Herrscher des Drachenreiches auf dem Grunde des Meeres? Meister, es war schon schwer, Euch zu finden; wie sollen wir jenen König aufsuchen?«
»Ihr braucht ihn nicht aufzusuchen«, erklärte der Taoist. »Ihr müsst ihm nur ein Zeichen Eurer Macht opfern, um zu beweisen, dass Ihr seine Macht anerkennt: Und zwar jenen Finger, mit dem Ihr den Pinsel führt, wann immer Ihr Erlässe im Namen des Königs schreibt und unterzeichnet. Für diesen Finger wird der Drachenkönig Euch ein Kind schenken.«
Damit wies der Gelehrte auf den Zeigefinger an der rechten Hand des Ministers. Dieser erblich, versuchte zu schachern, doch vergeblich: Dies, so der Taoist, sei der einzige Weg.
So brach man auf: Die Frau voller Hoffnung, der Minister aber voller Zagen. Auf der Rückreise kam man an die Bucht Tongjoson; dort bestieg man ein Schiff der königlichen Flotte und segelte aufs Meer hinaus. Als eine Flaute einsetzte, erkannte man darin ein Zeichen, und als das Meer so spiegelglatt war wie Quecksilber, ließ sich der Minister vom Kapitän ein Schwert reichen. Er trat allein an das Heck des Schiffes, doch er zögerte. Er zögerte lange. Erst als die Sonne über dem Festland versank, hörte man vom Heck her einen lauten Schrei, und das Schwert fiel klirrend zu Boden. Sofort stürzte Choran an die Seite ihres Gatten, und entsetzt sah sie, wie das Blut von der Rechten des Ministers ins Meer strömte. Doch das Blut war nicht der Grund für ihren Schreck: »Was tust du? Das ist der falsche Finger!«
»Auf diesen hat der Gelehrte gezeigt«, stammelte Hong halb ohnmächtig vor Schmerz.
»Er sagte ›der Finger, der den Pinsel führt.‹ Mag sein, dass er nicht weiß, dass du mit der Linken schreibst. Aber denkst du, der Drachenkönig weiß es nicht?«
Damit hob sie das Schwert auf, und zum Entsetzen der herbeieilenden Offiziere hieb sie ihrem Gatten auch den linken Zeigefinger ab. Er fiel ins quecksilbrige Meer, wo sich sogleich eine zweite blutige Lache abzeichnete.
***
Nach drei Wochen waren der Minister sowie seine Gattin wieder in Hanseong. Weitere drei Wochen später – der Minister lernte noch, mit nur vier Fingern zu schreiben – wusste Choran, dass sie guter Hoffnung war. Groß war die Freude in der Residenz der Hongs, und auch der König freute sich für seinen Minister.
Wieder drei Wochen später erschien Hong des Nachts im Traum ein blauer Drache. Dies schien seine Freude vollkommen zu machen; erfüllte sich doch damit die Prophezeiung einer Schamanin, die er Jahre vor jenem Taoisten befragt hatte: Sobald er von einem blauen Drachen träume, solle er noch am gleichen Tag den Beischlaf pflegen; dann würde sein Kind so weise und klug werden wie nur wenige auf Erden.
Als er dies seiner Frau erklärte, war diese jedoch wenig erbaut: »Was soll das? Ich bin schon guter Hoffnung!«
»Aber das Kind ist noch nicht geboren. Es kann doch nicht schaden, wenn-«
»Das kann es sehr wohl«, widersprach seine Gattin sofort. »Willst du, dass ich mein Kind verliere? Beherrsch dich gefälligst!«
Der Minister verließ das Schlafgemach seiner Gattin, und auf dem Weg über den Hof seiner Residenz sah er Chunseom, eine der Dienerinnen seiner Frau Choran; sie schöpfte gerade Kimchi aus einem der zahlreichen Vorratskrüge, die sich an einer Seite des Hofes aneinander reihten.
Es war nicht die Art des Ministers, ein gutes Vorzeichen ungenutzt verstreichen zu lassen; zudem hatten er und seine Gattin seit Wochen keinen Beischlaf mehr gepflegt. Schon vorher hatte Hong das eine oder andere Mal ein Auge auf die Dienerin geworfen, und ihm schien, dass auch sie ihn willkommen geheißen hätte. Bisher jedoch hatte er es nicht gewagt, Chunseom zu seiner Konkubine zu machen – oder auch irgendeine andere Frau; seine Gattin stammte aus einer mächtigen Familie, bedeutender als seine eigene, und ihre Brüder hatten Einfluss am Hof. Nun aber fasste sich Hong ein Herz, wandte sich an die junge Dienerin und erklärte ihr alles. Die Frau verstand, und sie verwehrte ihm den Zutritt zu ihrer kleinen Kammer nicht.
***
Acht Monate und acht Tage später schenkte Choran einem Sohn das Leben, und am gleichen Tag erblickte die Tochter Chunseoms das Licht der Welt. Den Sohn nannte man Yong Sun, die Tochter Mun Hee.
»Zwei Kinder
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Olaf Lahayne
Bildmaterialien: Cory Thoman Illustration
Cover: Grit Richter, Art Skript Phantastik Design
Tag der Veröffentlichung: 05.11.2014
ISBN: 978-3-7368-5360-7
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