Die Kinder des Ministers
Nach Motiven aus dem Alten Korea
Zu einer Zeit, als der große König Sejong noch jung war und erst wenige Jahre auf dem Thron in der Hauptstadt Hanseong saß, da war sein wichtigster Ratgeber ein Minister namens Hong. Dieser war viele Jahre älter als der König, doch blieb er lange kinderlos – sehr zu seinem Kummer und dem seiner Frau Choran. Sie befragten Ärzte, Akupunkteure, Mönche und Weise; sie empfingen viele Ratschläge, nahmen Tränke ein, vollzogen magische Riten und pflegten den Beischlaf an allen möglichen und unmöglichen Orten und Zeitpunkten, wo besonders gutes Chi zu finden sei. All dies hatte keinen Erfolg. Schließlich hörten sie von einem Taoisten, der am Fuße des Paektusan lebe und schon vielen kinderlosen Paaren zu Nachwuchs verholfen habe. So erbat sich der Minister Urlaub von seinem König, und zusammen mit seiner Frau pilgerte er gen Norden zu jenem Berg.
Nach vielen Wochen fand man die Einsiedelei des Taoisten, und der Minister trug dem Gelehrten sein Anliegen vor. Dieser meditierte drei Tage und drei Nächte, und am vierten Tag gab er dem Paar seine Antwort: »Minister Hong, Ihr seid ein mächtiger Mann, doch alle irdische Macht kann Euch keine eigenen Kinder verschaffen. Auch ich kann dies nicht, denn ich bin nur ein demütiger Gelehrter. Doch der Drachenkönig kann Euch helfen.«
Choran staunte: »Der Herrscher des Drachenreiches auf dem Grunde des Meeres? Meister, es war schon schwer, Euch zu finden; wie sollen wir jenen König aufsuchen?«
»Ihr braucht ihn nicht aufzusuchen«, erklärte der Taoist. »Ihr müsst ihm nur ein Zeichen Eurer Macht opfern, um zu beweisen, dass Ihr seine Macht anerkennt: Und zwar jenen Finger, mit dem Ihr den Pinsel führt, wann immer Ihr Erlässe im Namen des Königs schreibt und unterzeichnet. Für diesen Finger wird der Drachenkönig Euch ein Kind schenken.«
Damit wies der Gelehrte auf den Zeigefinger an der rechten Hand des Ministers. Dieser erblich, versuchte zu schachern, doch vergeblich: Dies, so der Taoist, sei der einzige Weg.
So brach man auf: Die Frau voller Hoffnung, der Minister aber voller Zagen. Auf der Rückreise kam man an die Bucht Tongjoson; dort bestieg man ein Schiff der königlichen Flotte und segelte aufs Meer hinaus. Als eine Flaute einsetzte, erkannte man darin ein Zeichen, und als das Meer so spiegelglatt war wie Quecksilber, ließ sich der Minister vom Kapitän ein Schwert reichen. Er trat allein an das Heck des Schiffes, doch er zögerte. Er zögerte lange. Erst als die Sonne über dem Festland versank, hörte man vom Heck her einen lauten Schrei, und das Schwert fiel klirrend zu Boden. Sofort stürzte Choran an die Seite ihres Gatten, und entsetzt sah sie, wie das Blut von der Rechten des Ministers ins Meer strömte. Doch das Blut war nicht der Grund für ihren Schreck: »Was tust du? Das ist der falsche Finger!«
»Auf diesen hat der Gelehrte gezeigt«, stammelte Hong halb ohnmächtig vor Schmerz.
»Er sagte ›der Finger, der den Pinsel führt.‹ Mag sein, dass er nicht weiß, dass du mit der Linken schreibst. Aber denkst du, der Drachenkönig weiß es nicht?«
Damit hob sie das Schwert auf, und zum Entsetzen der herbeieilenden Offiziere hieb sie ihrem Gatten auch den linken Zeigefinger ab. Er fiel ins quecksilbrige Meer, wo sich sogleich eine zweite blutige Lache abzeichnete.
***
Nach drei Wochen waren der Minister sowie seine Gattin wieder in Hanseong. Weitere drei Wochen später – der Minister lernte noch, mit nur vier Fingern zu schreiben – wusste Choran, dass sie guter Hoffnung war. Groß war die Freude in der Residenz der Hongs, und auch der König freute sich für seinen Minister.
Wieder drei Wochen später erschien Hong des Nachts im Traum ein blauer Drache. Dies schien seine Freude vollkommen zu machen; erfüllte sich doch damit die Prophezeiung einer Schamanin, die er Jahre vor jenem Taoisten befragt hatte: Sobald er von einem blauen Drachen träume, solle er noch am gleichen Tag den Beischlaf pflegen; dann würde sein Kind so weise und klug werden wie nur wenige auf Erden.
Als er dies seiner Frau erklärte, war diese jedoch wenig erbaut: »Was soll das? Ich bin schon guter Hoffnung!«
»Aber das Kind ist noch nicht geboren. Es kann doch nicht schaden, wenn-«
»Das kann es sehr wohl«, widersprach seine Gattin sofort. »Willst du, dass ich mein Kind verliere? Beherrsch dich gefälligst!«
Der Minister verließ das Schlafgemach seiner Gattin, und auf dem Weg über den Hof seiner Residenz sah er Chunseom, eine der Dienerinnen seiner Frau Choran; sie schöpfte gerade Kimchi aus einem der zahlreichen Vorratskrüge, die sich an einer Seite des Hofes aneinander reihten.
Es war nicht die Art des Ministers, ein gutes Vorzeichen ungenutzt verstreichen zu lassen; zudem hatten er und seine Gattin seit Wochen keinen Beischlaf mehr gepflegt. Schon vorher hatte Hong das eine oder andere Mal ein Auge auf die Dienerin geworfen, und ihm schien, dass auch sie ihn willkommen geheißen hätte. Bisher jedoch hatte er es nicht gewagt, Chunseom zu seiner Konkubine zu machen – oder auch irgendeine andere Frau; seine Gattin stammte aus einer mächtigen Familie, bedeutender als seine eigene, und ihre Brüder hatten Einfluss am Hof. Nun aber fasste sich Hong ein Herz, wandte sich an die junge Dienerin und erklärte ihr alles. Die Frau verstand, und sie verwehrte ihm den Zutritt zu ihrer kleinen Kammer nicht.
***
Acht Monate und acht Tage später schenkte Choran einem Sohn das Leben, und am gleichen Tag erblickte die Tochter Chunseoms das Licht der Welt. Den Sohn nannte man Yong Sun, die Tochter Mun Hee.
»Zwei Kinder für zwei Finger«, murmelte der Minister, und nun erschien ihm der Preis nicht mehr zu hoch. Er war glücklich über Sohn und Tochter, und selbst die Freude Chorans wurde kaum geschmälert durch die Geburt des Mädchens: Sie wusste, dass nun ihr Geschlecht und das ihres Gatten weiterleben würden. Sie war eine stolze Frau, stolz auf den Reichtum und die Macht ihrer Familie, und sie hoffte, dass ihr Gatte und einst ihr Sohn Macht und Reichtum noch mehren werden.
***
Die Kinder wuchsen heran, und wenn der Sohn der Augenstern seiner Mutter war, so war die Tochter der heimliche Liebling ihres Vaters: Mit Verständnis, aber auch mit etwas Ärger sah er, dass seine Gattin ihr Kind nach Strich und Faden verwöhnte; so saß Yong Sun am liebsten bei ihr in der Stube, und auch mit zehn Jahren war er so proper und rundlich wie ein Wickelkind. Seine Schwester Mun Hee hingegen sah man kaum je in der Kammer ihrer Mutter: Mal fand man sie bei den Knechten im Stall, dann bei den Wächtern am Tor, oft in der Küche, und manchmal entdeckte man sie gar auf dem Dach oder unter den Bodenbrettern in den Räumen des Ministers, wohin sie durch den Kamin der Bodenheizung schlich. Wenn ihr Bruder stets so gelassen wirkte wie ein junger Buddha, so erweckte seine Schwester den Eindruck eines schwerelosen Luftgeistes: Auch bei Windstille schien stets eine schwache Brise ihr Haar zu bewegen, und selbst im Schatten schimmerte es wie chinesische Seide.
So gegensätzlich die Kinder sein mochten, so sehr waren sie einander zugetan. Wenn jemand Yong Sun ins Freie zu locken vermochte, so war es seine Schwester, und wenn jemand Mun Hee dazu bringen konnte, den Geschichten seiner Amme oder eines alten Knechtes zu lauschen, so war es ihr Bruder. Beide waren sich ihrer schwierigen Verwandtschaft bewusst, und beiden war dies gleichgültig: Yong Sun in all seiner Gutmütigkeit war Hochmut ebenso fremd wie Ehrgeiz, und Mun Hee verlachte in ihrem Übermut alle künstlichen Schranken.
Ihr Vater – selber der Sohn eines kleinen Beamten – sah dies mit Wohlwollen, doch die Mütter eher mit Missvergnügen: Chunseom fürchtete die Eifersucht Chorans, doch vorerst ohne Grund. »Sie ist ein Bastard, und sie ist ein Mädchen«, sagte sich die Gattin des Ministers. »Nur mein Kind wird den Namen und die Würde der Familie Hong erben; nur er wird in Ehren am Hofe des Königs amtieren.«
Dafür musste jedoch auch Yong Sun die Prüfungen bestehen, in denen jeder Anwärter auf eine Beamtenstelle seine Kenntnis der Schriften des Konfuzius darlegen musste, und somit lernte auch der Sohn des Ministers zuerst Lesen und Schreiben. Dabei merkten seine Lehrer allerdings bald, dass Yong Sun zwar ebenso gutmütig wie gutwillig war, aber leider so begabt fürs Studieren wie ein Sack Reis. Bestenfalls lernte er in einer Woche drei oder vier von den vielen Tausend chinesischen Schriftzeichen, die man im Königreich Korea damals benutzte. Nur ab und an, da brachte der Junge gleich mehrere Zeichen in Folge mit sicherem Strich zu Papier. Zuerst erstaunte und erfreute das die Lehrer; bald aber entdeckten sie den Grund: »Mun Hee, komm heraus und hör auf, dem ehrenwerten Hong Yong Sun vorzusagen!«
Denn oft versteckte sich Mun Hee im Studierzimmer, sei es im Kasten mit den Bambusrollen, sei es hinter dem Paravent mit den Kalligraphien der Lehrer oder gar unter den Bodendielen, und nur indem sie die Anweisungen der Lehrer belauschte und hinterher deren Schriften studierte, lernte sie die Zeichen so rasch, dass sie ihrem Bruder bei seinen Übungen helfen konnte. Lange verheimlichte man dies vor dem Vater und den Müttern: Für die Geschwister war es deren Geheimnis und für die Lehrer eine Schmach.
Eines Wintermorgens aber beobachtete Choran von ihrem Gemach aus, wie sich die Kinder am Vorratslager zu schaffen machten: Sie gingen vor einem Tonkrug nach dem anderen in die Hocke, Yong Sun stets zur Linken und Mun Hee zur Rechten, denn wie ihr Vater gebrauchte sie bevorzugt die Linke. Beide schienen auf den frischen Raureif zu zeichnen, doch Genaueres konnte die Frau nicht erkennen. Als die Kinder weitergezogen waren, schlich Choran rüber zum Lager, und da sah sie es: Auf der rechten Seite stand jeweils der Inhalt der Krüge, fehlerlos in den Raureif geschrieben mit sicherem, flinkem, schlankem Finger. Auf der linken Seite stand das Gleiche, abgezeichnet mit breitem, zögerlichem Finger und dennoch voller Fehler.
Choran verstand sofort, und am Abend berichtete sie ihrem Gatten davon. Sie wollte, dass dieser seine Tochter bestrafe, falls sie sich je wieder mit dem Schreiben und Lesen befasse, doch der Minister lachte nur: »Soll sie doch! Vielleicht kann sie ihrem Bruder ja was beibringen. Und wenn nicht … Dann legt halt sie die Prüfungen ab an seiner Stelle!«
»Sie? Eine Frau? Ein Bastard!? Ich hoffe, du scherzt!«
»Selbstverständlich, meine Liebe …«
Aber Choran war alles andere als überzeugt, und in der gleichen Nacht beschloss sie: Mun Hee muss verschwinden!
Schon wenige Tage später ergab sich eine Gelegenheit: Yong Sun erkrankte; er lag auf seiner Matte, klagte lautstark über Schmerzen im Unterleib und schrie, dass er sterben müsse. Seine Mutter redete gut auf ihn ein; sie kannte Ähnliches von ihren jüngeren Brüdern her und wusste, dass es nur eine einfache, wenn auch unangenehme Verstopfung war. Als sie aber die verängstigte Mun Hee an der Tür erblickte, kam ihr ein Gedanke: »Kind, dein Bruder stirbt!«, rief sie, zum ersten Mal vor ihr das Wort ›Bruder‹ aussprechend. »Er wird seinen elften Geburtstag nicht mehr erleben, wenn nicht jemand rechtzeitig Medizin holt von Meister Jang; er heilte einst schon meine Brüder. Aber ach, was tun: Er wohnt am anderen Ufer des Flusses Han, und bei diesem Wetter …«
Sie blickte seufzend gen Süden, wo hinter dem nächsten Hügel der Fluss dahin strömte, und das Mädchen wusste, was sie meinte: Der Winter war streng wie seit Menschengedenken nicht mehr, und schon seit Tagen machte es das Eis auf dem Fluss unmöglich, diesen zu befahren oder auch nur per Fähre zu queren. Aber Mun Hee schreckte das nicht: »Ich werde die Medizin holen; sagt mir nur was, Herrin!«
»Du? Aber wie willst du das tun, Kind?«
»Der Han ist fast ganz von Eis bedeckt; ich kann drüber laufen. Ich tat das schon vorher.«
Das war gelogen, aber das Mädchen glaubte, sie müsse Choran beruhigen. Diese wirkte weiter besorgt, doch aus ganz anderem Grund. »Wirklich? Dann eile zu Meister Jang, mein Kind; er wohnt gleich am Flussufer, neben dem verlassenen Tempel. Sag ihm, wer dich schickt und dass er mir die gleiche Medizin schicken soll, die einst meinem Bruder half; er wird wissen, was gemeint ist.«
›Und es kann ja sein, dass es ihr glückt‹, sagte sich die Frau. ›Dann habe ich wenigstens etwas gegen Yong Suns Verstopfung.‹
So machte sich Mun Hee auf, ohne es jemandem zu sagen: Nicht ihrem Vater, der am Hofe des Königs war, und auch nicht ihrer Mutter, die in der Küche arbeitete. Nur der alte Wächter am Tor sah sie davon eilen; ihm rief sie zu, dass sie Medizin hole für ihren Bruder. Der Alte wunderte sich, doch ehe er das Kind vor erneutem Schneefall warnen konnte – »er spüre es in seinen alten Knochen«, – da war sie schon außer Sicht.
Nun war der Han in jenen Tagen nicht nur von Eis bedeckt, sondern er führte auch Hochwasser. So erblickte Mun Hee kaum das südliche Ufer, als sie am Nordufer stand; zudem begann es nun tatsächlich wieder zu schneien. Da wurde es dem Mädchen doch etwas bange, aber zurück wollte sie nicht mehr; zudem wirkte das Eis recht fest.
Einige Dutzend Schritt lief sie auf einer geschlossenen Eisdecke; dann übersprang sie einige Spalten, sie umkreiste mehrere Lücken, und ehe sie es sich versah, war sie schon mitten auf dem Strom. Weiter und weiter eilte sie hinaus; bald geriet das Ufer außer Sicht, und der Schneefall ward immer dichter. Mehrfach wechselte Mun Hee die Richtung, um Rissen und Löchern im Eis auszuweichen, und irgendwann merkte sie: Sie wusste nicht mehr, in welche Richtung sie gehen musste. Sie eilte dennoch weiter, und schließlich kam sie in einen Bereich, wo der Strom eine Reihe mächtiger Eisschollen voneinander entfernte, wieder gegeneinander drückte, erneut trennte, und so fort. Sie sprang von Scholle zu Scholle, sprang über eisfreie Lücken von ein, zwei und vier Schritt Breite, doch irgendwann gelang das nicht mehr; irgendwann fand sie sich auf einer einzelnen Scholle wieder, die im offenen Wasser dahin trieb. Nach einer Weile näherte sie sich einer Sandbank. Vor dieser hatte die Gewalt des Stromes einen mannshohen Stapel von Schollen aufgetürmt; auf diesen Stapel trieb nun Mun Hees Scholle zu. Als sie das Eisgebilde erreichte, richtete die Scholle sich auf, bis sie senkrecht stand; das Mädchen glitt hinab, verschwand im Wasser, und einen Augenblick später kippte die Scholle nach hinten auf sie nieder.
***
Groß war die Sorge des Vaters, als er zur gleichen Zeit vom alten Wächter erfuhr, was seine Tochter tun wollte. Er befragte Chunseom, doch die wusste von nichts und erschrak ebenso wie er. Auch Choran zeigte sich schockiert: Sie habe zwar gesagt, dass sie die Medizin von Meister Jang bräuchte, aber dass sich das Kind deshalb auf den Weg machen würde …
Noch in der gleichen Nacht machte sich fast jeder im Hause Hong auf die Suche nach Mun Hee. Mit Laternen und Fackeln lief man am Ufer entlang, rief ihren Namen und befragte jeden der wenigen Menschen, die man antraf – alles vergebens. Man hoffte noch, dass sie es womöglich wirklich ans andere Ufer geschafft hätte, doch niemand wagte es, ihr zu folgen. Nach drei Tagen gab man die Suche auf, und erst nach einer Woche gelangte der Minister mit dem stärksten Kriegsschiff des Königs ans andere Ufer. Aber Meister Jang hatte das Mädchen nicht gesehen, und auch sonst niemand, den man befragte.
Als er nach weiteren drei Tagen heim kam, konnte der Vater kaum die Tränen zurückhalten, und der längst wieder gesundete Yong Sun weinte bitterlich, als er vom Tod seiner Schwester erfuhr. Auch Choran zeigte sich erschüttert, doch innerlich triumphierte sie.
Ihre List schien gelungen, doch eines hatte sie nicht bedacht: Erhalten hatte man die Kinder dank des Opfers an den Drachenkönig, und im Reich des Drachenkönigs war Mun Hee nun entschwunden: Im Wasser des Flusses Han, der einige Meilen weiter ins Meer mündete.
Man hatte weder einen Körper zum Begraben noch ein Grab, das man pflegen konnte; dennoch wurden im Hause Hong die Trauerzeremonien für Mun Hee streng eingehalten. Zu Beginn des Frühjahrs ließ der Minister eine Tafel für seine Tochter am Begräbnisplatz seiner Familie am Westabhang des Berges Nam aufstellen – durchaus zum Unwillen seiner Frau, doch schwieg sie; viel wichtiger war ihr, jenes Stiefkind los zu sein.
Einige Tage später machte sich Yong Sun allein auf dem Weg: Er war ernster geworden in den letzten Wochen; er fühlte sich allein und er wollte am Grab einige Stück Honigkuchen darbringen; die mochte seine Schwester besonders gern.
Dort angekommen, legte er den Kuchen vor die Tafel von Hong Mun Hee, wie sie hier das erste Mal genannt wurde. Als er etwas ratlos überlegte, welche Gebete denn nun wohl zu sprechen wären, legte sich plötzlich ein großer Schatten über die Grabhügel vor ihm. Der Junge drehte sich um, und zuerst begriff er nicht, was er da sah: Es war groß wie ein Baum; es schimmerte blauweiß wie Eis in der Sonne und es bewegte sich wie-
»Ein Drache!«, schrie Yong Sun, und auf allen Vieren kroch er rückwärts, bis er gegen ein Grabmal stieß. »Papa, Mama; Hilfe!«
Das Wesen schaukelte seinen schlangenartigen Körper langsam vor und zurück, hin und her, doch die leuchtenden, gelben Augen hielt es stets auf den Jungen gerichtet. Dann öffnete es das Maul; es begann zu zischen, zu fauchen, zu knurren, aber nach und nach verwandelten sich die Laute, und Yong Sun meinte, einzelne Worte zu verstehen: »… ichchch … wirrrr … Muuuun … Muuun Heeee …«
Es dauerte einige Zeit, bis der Junge etwas erwidern konnte: »Was … Wer bist du? Bist du …«
Nach kurzem Krächzen wurde die Sprache des Drachen verständlicher: »Ich bin esssss: Mun Hee!«
Zögerlich kroch der Junge einige Schritt auf das Wesen zu: »Schwester? Aber wie …«
»Meine sterbliche Hülle ruht im Reich des Drachenkönigs«, erklärte Mun Hee mühsam. »Doch er hat mir gestattet, in dieser Gestalt zurückzukehren – solange es nötig sein wird.«
»Solange es- Was heißt das?«
»Ich weiß es nicht; das waren seine Worte. Aber ich werde euch schützen und beistehen. Vor allem dir, Bruder.«
»Aber … Wenn die Menschen dich sehen … Was werden sie sagen? Was wird Vater sagen? Was Mutter?«
»Sie dürfen mich nicht sehen – niemand außer dir. Das war das Gebot des Drachenkönigs.«
»Aber wie soll das gehen?«
»Hole das Buch der Wandlungen. Du weißt, es liegt im Studierzimmer bei den Schriften der Lehrer.«
Somit eilte der Junge heim, und wenig später kehrte er mit dem Buch zurück. Dieses zu lesen und zu deuten, fiel Yong Sun schwer, doch mit der Hilfe seiner Schwester gelang es ihm, die Orakel zu werfen und die rechten Sprüche zu finden. Sobald er einen davon – im neunten oder zehnten Versuch – richtig aufsagen konnte, wandelte sich die Gestalt des Drachen, und einen Augenblick später stand Mun Hee wieder in ihrer alten Gestalt vor ihrem Bruder, nur etwas transparent und verschwommen, als wäre sie mit zu wässriger Farbe gemalt. Mit einem anderen Spruch nahm sie wieder die Gestalt eines Drachen an, doch war sie nun kleiner als ein Regenwurm. So musste Yong Sun sie im Gras suchen, und erst als er sie an sein Ohr hielt, verstand er sie: »So bin ich stets bei dir, ohne dass jemand etwas ahnt.«
***
Und so geschah es: In den nächsten Monaten saß Mun Hee stets im Ohr ihres Bruders, wenn dieser Unterricht hatte; so konnte sie ihm helfen, ihm vorsagen, ihn korrigieren und die rechten Pinselstriche beim Schreiben vorgeben. Prompt schien sich der bisher so langsame Bube in einen höchst talentierten Schüler zu verwandeln – sehr zur Freude seiner Lehrer und seiner Mutter, und da es dem Vater Trost spendete, war auch Yong Sun zufrieden. Nur wenn die Geschwister unter sich waren, nahm Mun Hee wieder ihre Gestalt an – oder die des großen, blauen Drachen, die Yong Sun immer mehr imponierte, je weniger Scheu er empfand. So nahmen die Eltern auch erstaunt und erfreut zur Kenntnis, dass ihr Sohn immer öfter Streifzüge durch die Umgebung unternahm, und das ganz allein – scheinbar allein!
Eines Tages entschlüsselte man einen weiteren Spruch im Buch der Wandlungen, und dieser verwandelte Mun Hee in eine Zikade. In dieser Gestalt konnte sie sich rasch und unauffällig durch das Haus bewegen; noch immer war sie so neugierig und unternehmungslustig wie einst. So saß sie an einem warmen Sommertag – Yong Sun badete im Fluss – auf einem Dachbalken im Gemach von Choran und zirpte leise: Sehr leise, denn unter ihr saßen Choran und ihre beiden Brüder beieinander, und diese wollte sie nicht stören. Als sie dann aber darauf achtete, was diese besprachen, verstummte sie vor Schreck: »Es wird immer schlimmer mit König Sejong«, sprach einer der Brüder. »Er, der Erbe des Hauses Yi, der Höchste und Oberste unter dem Adel des Landes, er sollte seine Mächtigen und Großen auch stets nur aus den Reihen des Adels erwählen. Aber was sehen wir stattdessen? Ein einfacher Soldat wird General, der Sohn eines Bauern wird Gouverneur, und im Rat sitzt der Sohn eines Webers!«
»Vergiss nicht den Kaufmann, den er letzten Monat zum Minister machte«, ergänzte dies Choran. »Dies erstaunte gar meinen Gatten, so geduldig und fügsam er sonst auch sein mag.«
Der zweite, ältere Bruder hatte bisher geschwiegen; nun meldete er sich zu Wort: »Viele denken so wie wir. Mit manchen sprach ich, und viele führten Reden wie ihr. Aber was bringen Reden? Es ist Zeit zu handeln!«
Dann entwickelte man einen Plan, der Mun Hee erzittern ließ: Man plante, König Sejong zu ermorden und seinen halbwüchsigen Sohn an seine Stelle zu setzen; für den könne der Bruder Chorans als Regent agieren, und auch für andere Verschwörer fand man Posten.
Als sich das Trio trennte, hüpfte Mun Hee so schnell als möglich zu ihrem Bruder zurück, und sobald sie wieder ihre Schattengestalt hatte, berichtete sie atemlos von dem Plan.
Yong Sun zweifelte nicht an ihren Worten, doch weder er noch seine Schwester wussten, was man tun sollte: Wen sollte man warnen? Wer würde ihnen glauben? Man hatte keine Beweise!
Schließlich beschloss man: Man müsse die Verschwörer beobachten, man müsse den König beschützen, und dies sei nur im Palast Gyeongbokgung möglich, seiner Residenz. Wollte sie nicht in ihrer Gestalt als blauer Drache erscheinen, so konnte Mun Hee dort nur mit Yong Suns Hilfe hinkommen; daher musste auch ihr Bruder im Palast sein. Die einzige Möglichkeit dazu war der Besuch der Palastschule. Dort wurden die Begabtesten und Besten darauf vorbereitet, als Magistrate und Offiziere in den Dienst des Königs zu treten.
Natürlich war es immer der Wunsch der Eltern gewesen, ihren Sohn auf diese Schule zu schicken, und zuletzt schien dies auch erreichbar. Die Aufnahmeprüfung war aber erst fürs nächste Jahr geplant; so überraschte es alle, als Yong Sun Lehrern und Eltern seinen Wunsch vortrug, noch in diesem Jahr die Prüfung zu absolvieren. Man wollte jedoch diesen unerwarteten Ehrgeiz nicht dämpfen: Der Minister versprach, seinen Sohn für die Prüfung anzumelden, wenn dieser so fleißig wie nie zuvor lernen würde.
Yong Sun versprach es, und er tat es. Nie hatte er so viel Eifer gezeigt; man las, schrieb und studierte von Sonnenauf- bis -untergang und darüber hinaus.
So ging man schließlich voller Zuversicht in die Prüfung, und in dieser musste Mun Hee ihrem Bruder weniger helfen, als sie erwartet hatte; dennoch war es selbst für sie nicht einfach, und alleine hätte er es nie geschafft.
So aber zog Yong Sun zu Beginn des Herbstes in die Palastschule, und damit konnte sich seine Schwester in ihren Gestalten als Zikade und Miniatur-Drache dort jederzeit ungesehen umschauen und umhertreiben. Aber der Gyeongbokgung ist eine riesige Anlage: Wochen brauchte Mun Hee, um in Erfahrung zu bringen, in welchem Gemach, Seitenflügel oder Nebengebäude sich die Verschwörer trafen; dann wieder kam sie zu spät; sie wechselten den Ort oder sprachen über unverfängliche Dinge. Erst zu Beginn des Frühjahrs hatte sie Glück: Die Zikade wärmte sich gerade auf den Steinstufen vor der Thronhalle des Königs, als Choran mit ihren Brüdern ins Freie trat. Kaum waren die Wächter außer Hörweite, wandte sich der jüngere Bruder an Choran: »Und dein Gatte? Er wird ja auch mit an Bord sein.«
»Sorge dich nicht wegen ihm!«, antwortete die Schwester. »Kümmert ihr euch um den General; er ist bewaffnet, und er ist fähig, für den König zu töten – und zu sterben. Aber was soll Hong tun? Und selbst wenn, so werde ich mich drum kümmern. Wichtig ist allein der König.«
Dies richtete sich offensichtlich an den älteren Bruder: »Lasst das nur meine Sorge sein. Ich …«
Den Rest verstand Mun Hee nicht mehr, und als sich ihre Schreckensstarre gelöst hatte, waren die drei schon durch das nächste Tor verschwunden. Aber sie wusste nun, dass bald etwas passieren sollte, und von ihrem Bruder erfuhr sie am gleichen Abend mehr: Da nun die Kirschblüte begann, war für den nächsten Tag ein Ausflug des Herrschers mit der königlichen Barke auf dem Fluss Han geplant. Damit war Mun Hee klar, dass an diesem Tag der Anschlag erfolgen sollte. Sie drängte Yong Sun, dass er seinen Vater darum bitten solle, ihn mitzunehmen; so könne auch sie selber mit an Bord sein. Ihr Bruder zögerte, da er Schiffe eher mied, doch sagte er zu; auch ihm war klar, was auf dem Spiel stand. Noch am gleichen Abend trug er seinem Vater diese Bitte vor. Seine ebenfalls anwesende Mutter lehnte dies brüsk ab, doch sein Vater war erfreut und erteilte ihm gern die Erlaubnis.
So trafen am nächsten Morgen alle an der Anlegestelle ein: Der König mit kleinem Gefolge – wenige Offiziere, Ratgeber und Höflinge – sowie die Familie Hong: Der Minister, seine Gattin, deren Brüder, sowie Yong Sun. Letzterer hatte ein großes Bündel dabei, und leutselig fragte der König, was er denn da mit sich führe. Der Junge wollte zuerst nicht heraus mit der Sprache; auf einen strengen Blick seines Vaters hin wickelte er das Bündel dann aber aus: Es enthielt das Buch der Wandlungen sowie einen kleinen, zierlichen Käfig, in dem eine Zikade saß.
Der König nahm dies mit einem erstaunten Lächeln zur Kenntnis: »So bist du tatsächlich so fleißig, wie dein Vater und deine Lehrer sagen? Aber heute brauchst du nicht zu studieren, mein Sohn; lass das Buch nur hier! Und die Zikade soll dir wohl Glück bringen? Es sieht nicht so aus, als würden wir es brauchen!«
Er ließ seinen Blick über Fluss und Ufer schweifen, und tatsächlich: Eine milde Brise trug von Süden her wenige Wölkchen über das Firmament; sie bescherte den ergrünenden Auen einen Kirschblütenschauer und kräuselte sanft das Wasser des Flusses. Yong Sun verstand, aber wie sollte er den König retten ohne seine Schwester? Und wie sollte sie ihre Gestalt ändern ohne die Sprüche aus dem Buch der Wandlungen? »Gewiss, Herr. Aber ich fühle mich wohler mit Buch und Zikade.«
»Nun, dann nimm die Zikade mit, aber lass das Buch hier: Es ist kostbar und sollte nicht nass werden.«
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Olaf Lahayne
Bildmaterialien: Cory Thoman Illustration
Cover: Grit Richter, Art Skript Phantastik Design
Tag der Veröffentlichung: 05.11.2014
ISBN: 978-3-7368-5359-1
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