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Ich lausche dem Rattern der Räder. Eine häuplige Fahrt ist das. Ich spüre das Vibrieren unter mir und sogar in meinem Kopf. Die Räder sind aber nicht der Grund für das Vibrieren meines Kopfes, nein, das wäre schön. Ich schaute aus dem Fenster. Es war gerade erst 16:35 und es war schon kurz davor dunkel zu werden. Ich sah die Dämmerung, wie sie die Umrisse der Berglandschaft entlang glitt. Außerdem schneite es. Ich liebte Schnee, er erinnerte mich an Zuckerwatte. Ja richtig, Zuckerwatte. Es war ein schöner Abend. Abegsehen davon ,wollte ich weg. Flüchten von alle dem. Von Gestern, von Heute. Der Schmerz, der durch meinen Körper drang, glich nicht einem Funken, den man zufällig beim Anheizen eines Feuers abbekommen würde, nein, das wäre schon. Der Schmerz glich auch nicht einer pochenden Hand, die anfing zu schwelen, nachdem sie in der Tür eingequetscht worden war. Nein, der Schmerz war unbeschreiblich. Ich war in Gedanken vertieft, in meinen Gedanken, die ich am liebsten fortschicken wollte, eintauschen wollte. Das schien auch die Frau mir gegenüber zu merken. Ich spürte ihren Blick, schaute sie aber nicht an. Sicher fragte sie sich, über was ich wohl nachdenken würde, aber ich konnte ihr diese Frage sowieso nicht beantworten, da ich selbst keinen Schimmer hatte. Es waren 999 Gedanken, gar 9999 Gedanken, die in meinem Kopf rumschwirrten und eine Antwort suchten. Eine Antwort darauf, wieso das alles passiert war. Ich kriege diese Bilder nicht aus meinem Kopf. Wie er mich ansah, wie sie weg sah und wie er genau hin sah. ,,Fahrkarten, bitte!",ließ die noch etwas weit entfernte Stimme des Schaffners die Bilder vor meinen Augen verschwinden, in Luft auflösen. Dafür war ich ihm dankbar. Doch ich hatte ein Problem. Voller Verzweiflung hatte ich vergessen, mir eine Karte zu besorgen. Ich dachte nur daran, weg zu gehen, zu flüchten und nie wieder zurück zu kommen. Mein besorgtes Gesicht schien der Frau mir gegenüber wohl auch aufzufallen, denn sie hatte mich schon eine Weile lang ununterbrochen beobachtet. ,,Du hast wohl keine Karte, Kleines?'', hörte ich ihre Stimme sagen, die so sanft klang, wie sich ein Kopfkissen anfühlte. Zum ersten mal schaute ich hoch und sah sie an. Sie war eine ältere Dame, die Mengen an Freundlichkeit ausstrahlte. Sie kam mir vertraut vor. Als kannte ich sie bereits. Sie hatte trotz der Wärme im Wagon 12 ihre Winterkleidung angelassen. ,,J-Ja.'',murmelte ich schüchtern. ,,Das ist kein Problem, ich leihe dir etwas Geld.'' Noch bevor ich aus Höflichkeit das Angebot ablehnen konnte, öffnete sie ihre braune Handtasche, holte ihr Portmonaie raus und nahm ein wenig Geld raus. ,,Fahrkarten, bitte!'' Die Stimme des Schaffners kam immer näher. Noch bevor ich antworten konnte, ging die Tür auf und der Schaffner trat ein. Sie und ich waren die Einzigen in Abteil 3, Wagon 12. ,,Dürfte ich bitte ihre... Oh, Madame Clarisse, welch eine Freude sie hier zu treffen. Geht es Ihnen gut? Und Frohe Weihnacht', wünsche ich Ihnen.'' Es war ja Weihnachten, das hatte ich vollkommen vergessen. ,,Guten Abend, Winfrey. Ach, wie soll es schon einer alten Lady wie mir gehen? Frohe Weinnachten wünsche ich Ihnen auch, und grüßen sie ihre Frau und die Kinder ganz lieb von mir.'', antwortete ihm die alte Dame, deren Name ich jetzt kannte, und zeigte ihre Fahrkarte schon fast mit Genuss. Sie fügte hinzu ,,Ach, und die junge Dame gehört zu mir. Leider hat sie ihre Fahrkarte verloren, als wir eilig zum Zug rannten um ihn nicht zu verpassen. Es geht doch sicher in Ordnung, ihr jetzt noch eine Karte zu kaufen, nicht?'', fragte sie, mit einem freundlichen Lächeln. ,,Natürlich, Madame.'',gab der Schaffner zurück und lächelte mich an. Ich schaute zu ihr und sie zwinkerte mir zu, so dass der Schaffner es nicht bemerkte, denn er war mit dem Abreißen einer neuen Karte beschäftigt. Und so schnell er die Karte abriss, verabschiedete er sich von uns und war auch schon wieder aus der Tür verschwunden. ,,Danke, das war wirklich sehr nett von Ihnen, Madame Clarisse'',bedanke ich mich. Ich hatte mir ihren Namen gemerkt. ,,Das ist doch kein Problem, Kleines, und nenn' mich doch bitte Clarisse. Madame klingt so...alt.'', gab sie kichernd zurück. Ich musste grinsen, ja wirklich grinsen. Das letzte mal als ich ein ernsthaftes Lächeln im Gesicht hatte, war das vor 1ner Woche, als noch alles wundervoll war, zwischen ihm und mir. Ich wollte mich nicht wieder daran erinnern und konzentrierte mich stark auf die alte Lady. Clarisse faszinierte mich auf irgendeine Art und weise. Und das sie mich "Liebes" nannte, schenkte mir ein Gefühl des Vertrauens. Das sie mich "Kleines" nannte, fand ich widerum witzig, ich war immerhin schon 19 Jahre alt, doch ich nahm es ihr nicht übel, es war eine Nette Geste und außerdem sah ich für mein Alter aus, wie eine Halbpupertierendes Mädchen. Und als ich sie ansah, kam mir der Gedanke wieder auf, sie schon mal getroffen zu haben. Sie kam mir so bekannt vor... ,,Mein Name ist Eleisa. Eleisa Nouelle. Kann ich mich denn vielleicht irgendwie bei Ihnen revangieren?'',fragte ich sie. ,,Das ist lieb von dir,aber das habe ich gerne getan. Du musst dich nicht revangieren.'',antwortete Sie. Doch ich ließ nicht locker. ,,Ich bestehe darauf.'' Clarisse schaute mich ununterbrochen an. ,,Nun ja, vielleicht könntest du mir helfen meinen Weihnachtsbaum zu schmücken, wenn du nicht irgendwo erwartet wirst.'' Ich hatte ja gar kein Ziel gehabt. Darüber hatte ich noch überhaupt nicht nachgedacht. Wo wollte ich eigentlich hin? Ich hatte sogar den Namen des Ortes vergessen, wohin der Zug führte. Und da ich keine genauen Pläne hatte, willigte ich mit Begeisterung ein. Eine Ablenkung tat mir gut, vor allem einer alten Lady zu helfen. Ich merkte wie der Zug sich verlangsamte und hörte auch kurze Zeit drauf die Stimme des Lockführers durch den Lautsprecher sagen. ,,Sehr geehrte Damen und Herren, Wilkommen in Lyon. Wir sind erflogreich angekommen und sie können in etwa 5 Minuten aussteigen. Ich wünsche Ihnen einen schönen Aufenthalt. Danke!''

Clarisse und ich hatten es nicht weit vom Bahnhof zu ihrem Haus zu gelangen. Ich sah es schon von weitem. Es lag neben fünf anderen Häusern, die alle an den Wald grenzten, der mit Schnee bedeckt war und deswegen schon fast strahlte. Hatte ich schon erwähnt, dass ich Schnee liebte? Ihr Haus hatte eine schöne beige Farbe und sah überhaupt nicht alt und abgelegen aus. Es strahlte in aller Hinsicht. Vielleicht lag das auch an dem Wald. Wir traten ein und ich nahm ihr ihren Mantel ab und hing ihn mitsamt meinem an dem Hacken gleich neben der Tür auf. Und da stand er schon vor mir, der Baum. ,,Wir können auch schon gleich anfangen.'',hörte ich Madame Clarisse sagen. Ich legte meinen Rucksack ab und erst dann fiel mir auf, das Clarisse ja gar keinen Koffer dabei gehabt hatte, aber ich machte mir nicht allzu viele Gedanken darüber, weder noch über die Gedanken die mich innerlich quälten. Jetzt zählte nur noch der Baum für mich. Den Baum glücklich aussehen zu lassen. Mit den schönsten Farben, den schönsten Kugeln, den schönsten Lichtern. Clarisse holte eine Kiste heraus, in der sich sämtlicher Baum-Schmuck befand, von Metta über Kugeln und Kerzen bis zu Lichtern. ,,Nun, bedien dich. Ich werde uns in der Zwischenzeit Plätzchen und warme Milch holen.'' Ich gab ein warmes ,,Ok'' zurück, mit einem sanften Lächeln. Ich sah ihr nach, wie sie sich in die Küche begab. Ich nahm die erste Kugel raus. Sie war mit einem sanften blau überzogen und hatte seit dem letzten Weihnachten den Glanz trotzdem nicht verloren. Das Glänzen erinnerte mich an etwas... und ich sah sein Gesicht wieder vor mir. Seine Augen, um genau zu sein. Das Glänzen seiner himmelsblauen Augen. Wie sie mich ansahen, genau in meine Augen. Ich merkte selber nicht, wie eine Träne meine Wange runter lief. Darauf folgte noch eine, dann noch eine, und ich fing an zu weinen, aber leise, so das Clarisse nichts merkte. Ich fiel in Gedanken zurück und versuchte wieder zu verstehen. Wie konnte er mich bloß so verletzen. Und wie konnte sie mich bloß so verletzten? Wie konnten sie beide nur ?! Meine beste Freundin, ich sollte eher sagen, meine ehemalige beste Freundin, die mich meine Kindheit lang begleitet hatte und mein (Ex-)Freund, mit dem ich schon 2 Jahre meines Lebens geteilt hatte. Ich erinnerte mich wie sie da standen, Arm in Arm, unter dem Nistelzweig. Nie hätten sie gerechnet, auf mich zu treffen, mich dort zu sehen, wo sie genau standen. Und auch ich, hätte nie gerechnet weder mich dort aufzutreffen oder sie. Ich hatte mich von meinen Eltern überreden lassen auf den Weihnachtsmarkt zu gehen, obwohl ich Weihnachtsmärkte hasste. Sie waren doch sowieso nur ein Mittel zum Zweck, wenn würde man da schon auffinden außer diese alten Männer, mit ihren Bierbäuchen und Glühwein-Gläsern in den Händen. Alexandre und Adelina, wer hätte das gedacht? Und welche Blamage das war, auch noch vor meinem kleinen Bruder, sie so zu sehen. Zum Glück hatten sich meine Eltern und ich und mein Bruder aufgeteilt. Hätten meine Eltern gesehen, was ich gesehen hatte, es wäre einfach peinlich,abstoßend und zu Boden schämend. Sie kannten Adelina schon so lange wie ich und Alexandre sahen sie schon praktisch als ihren Schwiegersohn an. Ihr Kuss wurde unterbrochen von mir, die fassungslos da stand, mit einem Blick der die beiden durchbohrte und in Zwei hälften teilte. Er schaute mich an, dieser Blick, er sagte mehr als tausend Worte. Er suchte eine Ausrede, einen Satz, ein "es-ist-nicht-so-wie-du-denkst-elly". Und sie, sie schaute weg. Sie hatte nicht einmal den Mut gehabt mich anzusehen. Doch ich spürte ihren Blick im Nacken, als ich weg rannte. Ich rannte und rannte. Mein Rennen wurde von Clarisse unterbrochen die das Tablett mit Plätzchen und warmer Milch abstellte und schon zu mir stürmte. ,,Aber Eleisa, was ist denn los??'',hörte ich ihre sanfte Stimme fragen, die schon allein ein kleiner Trost für mich gewesen war. Ich hatte sie vor lauter Tränen gar nicht bemerkt und wischte die Tränen fluchtartig weg und antwortete ,,Nichts, Madame Clarisse. Es ist alles in Ordnung, wirklich.'' Dabei versuchte ich zu Lächeln, doch dieses Lächeln sah eher aus als würden meine Mundwinkel gleich wieder hinunterfallen. ,,Mit wem kann man besser über Kummer reden, als mit einer alten Frau, wie mir, die die Hälfte ihres Lebens schon überwunden hat?'' Da hatte sie recht. Außerdem kam sie mir doch so bekannt vor. Und ohne jenen Versuch, zu tun als wäre alles in Ordnung, fing ich ihr an zu erzählen. Von Alexandre, von Adelina, von mir. Als ich fertig war, bemerkte ich, das ich die sanft-blaue Kugel immer noch in der Hand hielt. Clarisse nahm sie mir ab und holte die restlichen Kugeln auch aus der Kiste. Sie legte sie alle auf den Boden und dann kam eine Reihe von Worten aus ihrem Mund, deren Zusammenhang ich vorerst nicht verstand. ,,Im Leben strahlen die Dinge, die dich faszinieren ein Licht aus. Natürlich schien Alexandre für dich so, als würden in ständig Scheinwerfer umgeben. Und Adelina ebenso. Doch jetzt herrscht Dunkelheit um sie beide, so gleich um dich, aber das ist nicht schlimm.'', ich schaute sie mit einem Blick an, wobei ich hoffte sie würde ihn nicht bemerken, denn der Blick sprach förmlich "Wovon redet die da?". Sie fuhrt for:,,Jeder von uns trägt ein Licht in sich, aber du darfst das bedeutendste Licht nicht vergessen. Es steckt in dir allein. Im Moment scheint es erloschen zu sein, doch es ist einfach nur eine winzige kleine Flamme, die noch leuchtet, so wie bei Adelina und Alexandre. Und wenn du zulässt es wieder aufleuchten zu lassen, gibst du anderen automatisch und unbewußt die Erlaubnis es auch zu tun. Und wenn du dein Licht wieder leuchten lässt siehst du vielleicht wieder klarer, auf deinem weiteren Weg und entdeckst neue Möglichkeiten, neue Perspektiven, neue Menschen, die dir gut tun. Nun, Liebes, lass dein Licht nicht erlöschen, ich weiß wovon ich rede.''
Ich verstand.
Und so schaffte Madame Clarisse es, aus dem schlimmsten Weihnachten, dass ich je erlebt hatte, das Wundervollste

und Strahlendste

zu machen.

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Tag der Veröffentlichung: 27.12.2009

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