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Als die Himmelswale in das Meer zogen



„Vor langer, langer Zeit lebten die Wale nicht im Meer, so wie heutzutage, sondern sie schwebten hoch über den Wolken im blauen Himmel.“ Sara kuschelte sich in ihre Decke. Allein schon von der Stimme ihres Uropas wurde ihr ganz wohlig warm. Die Geschichten, die ihr Uropa jeden Abend erzählte waren meistens ziemlich merkwürdig. Sara war erst fünf, aber selbst sie wusste das Wale viel zu groß und schwer waren um fliegen zu können. Obwohl ihr der Anfang dieser Geschichte diesmal noch merkwürdiger als sonst vor kam, lauschte sie gespannt den Worten ihres Urgroßvaters.
„Die Wale liebten den Sonnenschein“, begann ihr Uropa mit seiner ruhigen, wissenden Stimme zu erzählen. Ein jeder von ihnen versuchte so hoch wie möglich in den Himmel zu steigen um der Sonne nahe zu sein. In der warmen Luft konnten sie einfach ihre großen Flossen ausbreiten und ein stetiger Wind trug sie empor. Die Nacht jedoch, die mochten die Himmelswale überhaupt nicht. So bald die Sonne blutrot unter den Wolken unterging, wurde es sehr kalt und die Wale mussten kräftig mit ihren mächtigen Flossen schlagen, um nicht auf die Erde hinabzustürzen. Nun war es auf der Welt nicht überall gleich warm. Die Himmelswale die weiter im kalten Norden lebten musste sich mehr anstrengen als die, die in der warmen Luft im Süden ihre Kreise zogen. Und so kam es, dass die Wale im Norden neidisch auf das leichte Leben ihrer Artgenossen im Süden waren. Durch das harte Leben über den Eiswolken des Nordens waren die Himmelswale viel größer und Stärker geworden als ihre Vetter im Süden. Zu tausenden machten sie sich auf den weiten und beschwerlichen Weg. Sie hatten jedoch nicht vor mit ihren Brüdern und Schwestern im Süden friedlich zusammen zu leben. Sie dachten, da sie so lange gelitten und ein so anstrengendes und entbehrungsreiches Leben geführt hatten, währe es ihr Recht, den Himmel unter der Sonne des Südens ganz für sich allein zu beanspruchen.
Zuerst waren die Himmelswale des Südens so überrascht, dass sie ihren einfallenden Brüdern aus dem Norden nicht viel entgegen setzen konnten. Doch mit der Zeit wehrten sie sich immer erbitterter gegen die Eindringlinge. Immer größer wurden die Verluste auf beiden Seiten. Die Wale des Südens waren zwar kleiner und schwächer als ihre Gegner aus dem Norden, doch dafür war ihre Anzahl viel größer und sie konnten ihre stärkeren Feinde leicht ausmanövrieren. Auf beiden Seiten stürzten Tausende mit gebrochenen Flossen in das Meer aus Wolken. Die Himmelswale glaubten daran, dass unter den Wolken das Reich der Toten lag. Starb einer von ihnen, dann tauchte sein Körper in die Dunkelheit ein, die unter den Wolken lag und aus dieser Dunkelheit war noch keiner jemals wieder zurück gekehrt.
Nach einer besonders erbitterten Schlacht geschah es, dass sich zwei Kinder, eines aus dem Norden und eines aus dem Süden, begegneten. Beide waren in deinem Alter Sara und sie wussten nicht so recht, was sie mit einander anstellen sollten. Eine Weile umkreisten sie einander vorsichtig. Keines der Kinder war bereit den ersten Schritt zu tun und den anderen anzugreifen. Wie bei uns Menschen, waren ihre Eltern der Meinung, dass sie noch zu klein waren um die Bedeutung des Wortes Feind wirklich zu verstehen. Dafür brauchten Himmelswale genauso wie Menschen ein bestimmtes Alter.
Sie hätten einander einfach ignorieren und in entgegengesetzte Richtungen weiter fliegen können, doch beide hatten Angst ganz alleine zu sein. So blieben sie beieinander, gerade mit soviel Abstand, dass sie den anderen nicht aus den Augen verlieren konnten. Als die Dämmerung herein brach und das tiefe blau des Himmels der Nacht mit ihren funkelnden Sternen wich, waren beide viel zu nahe an die Wolken gesunken. Die dunkle Grenze zwischen Leben und Tod vor Augen suchten sie die Nähe zu einander. Vereint in dem Glauben, dass es ihr Ende bedeuten würde, wenn sie unter die Wolken sanken, versuchten sie gemeinsam die Kraft zu finden wieder hinauf zu den Sternen zu steigen. Doch beide waren zu geschwächt und schließlich berührten ihre Flossen die fasrige Wolkendecke. Sie schwebten nun ganz dicht beieinander durch die Dunkelheit. Ihr ganzes kurzes Leben war begleitet von einem stetigen Licht, dass ihnen Wärme spendete und sie am Leben erhielt. Die Himmelswale ernährten sich ähnlich wie die Pflanzen von dem Licht, dass ihnen die Strahlen der Sonne und die Sterne in der Nacht schenkten. Deswegen wurden sie in der tiefen Dunkelheit immer schwächer, so dass der Schlag ihrer Flossen immer unregelmäßiger wurde und schließlich vollständig ausblieb. Sie segelten nun nur noch in weiten Kreisen immer tiefer in die Dunkelheit hinab. Plötzlich sahen sie, dass sich unter ihnen etwas bewegte. Es dauerte eine Weile, bis sie merkten, dass die Dunkelheit nicht vollkommen war und es so aussah, als währe unter ihnen eine zweite Wolkendecke, die von schwarzen Wellen durchzogen zu sein schien. Als sie schließlich auch in diese zweite Grenze eintauchten, überwältigte sie eine stechende Kälte, die durch ihre Körper flutete und sie vollkommen einhüllte. Es war, als währe die Luft flüssig geworden, schlugen sie mit ihren Flossen, so schnellten sie auf einmal in die Höhe. Die flüssige Luft, die wir Menschen Wasser nennen, konnten sie von da an jedoch nie wieder verlassen.
So Sara, sind die Himmelswale vom blauen Meer über den Wolken in das blaue Meer unter den Wolken gezogen. Egal ob an Land, im Wasser oder in der Luft, nirgends kann man dadurch etwas Gewinnen, das man anderen etwas weg nimmt. Am Ende verlieren alle. Die Wale wissen das, sie haben das Sonnenlicht verloren. Den Krieg über den Wolken führten sie gegeneinander solange bis keiner von ihnen mehr übrig war. Nur die zwei Kinder im Ozean überlebten. In ihren Liedern singen die Wale noch heute von der Zeit, als sie über den Wolken schwebten und sich vom Licht und der Wärme der Sonne ernährten.
Sara gähnte und schloss die Augen. Sie fand die Geschichte war traurig, aber irgendwie auch schön. Sie hatte sich schon immer gefragt warum sich Wale so traurig anhörten, wenn sie sangen.
Ihr Urgroßvater schaltete das Licht aus und gab seiner Urenkelin einen Kuss auf die Stirn. An der Tür zum Kinderzimmer gelehnt bemerkte er seine Enkelin, Saras Mutter, die von dort der Geschichte gelauscht hatte. Ein Lächeln lag auf ihren Lippen als er sich ihr näherte. „Die Geschichte kommt mir bekannt vor, Opa“, sagte sie. „Bei mir waren es damals Flugzeuge und Menschen die in den Krieg zogen und schließlich aus ihrer Heimat vertrieben wurden.“ Er sah sie nachdenklich an. Als er ihr damals die Geschichte erzählt hatte, war sie 16 Jahre alt gewesen und brauchte einen Zeitzeugenbericht von einem ehemaligen Soldaten für ein Geschichtsreferat. Seltsam dachte er, alles war anders geworden, der Hass auf den Feind im Krieg war jetzt, am Ende seines Lebens, einer tiefen Traurigkeit gewichen.
Als Kind kann man fliegen, frei von Vorurteilen, Hass und Wertigkeit schwebt man unter der Sonne. Dann gibt es eine Zeit im Leben, in der Man seine Flügel verliert und im Fallen alles und jeden mitreist den man zu fassen bekommt. Manche stehen nach dem sie auf den Boden aufgeschlagen sind auf und beginnen damit, wie ein Baum, in Richtung der Sonne zu wachsen. Mit genügend Zeit, Glück und viel Licht ist es möglich so groß zu werden, dass keine Wolke mehr die Sonne zu verdecken mag. Ein Lächeln erstrahlte auf seinem Gesicht. Am Ende war er wieder dort angekommen, über den Wolken schwebend der Sonne zugewandt. Er umarmte seine Enkelin: „
Damals war ich auch noch nicht groß genug um so eine Geschichte erzählen zu können.“

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Tag der Veröffentlichung: 17.06.2012

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