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Der Apfelbaum

Er war ein ganz besonderer Baum.

Sein kurzer Stamm war leicht gekrümmt und wuchs noch dazu schräg empor, wie eine schief in die Erde gesteckte Banane.
Dafür neigte sich wiederum seine Krone gänzlich auf die andere Seite, wo die Äste fast bis auf den Boden hingen. Wenn ich mich an den mit dickem, weichem Moos bewachsenen Stamm lehnte, wölbte sich seine gesamte Krone über mir - eine von stetigem leisen Rauschen und heiterem Vogelgezwitscher erfüllte, grün-goldene Kuppel. Ich hatte den Eindruck, dass der Baum mir mit den starken Armen seiner Äste Schutz und Zuflucht gewährte.
An diesem Platz, in einem alten Obstgarten, auf einem Hügel, am Rand des schönen Bodensees, war nie ein Mensch ausser mir selbst.
Dies war mein ganz geheimer Platz zum Träumen und Entspannen: Hinter mir die sanften Hügelketten, voller blühender, duftender Apfel- und Kirschbäume, unter mir der glitzernde See, gesprenkelt von weissen Segeln, dahinter das mächtige Massiv der Alpen mit ihren schneebedeckten Gipfeln.

Kurz nach meinem Auszug von "Zuhause", dem Ort von dem ich bereits das Meiste vergessen hatte, habe ich den Baum entdeckt. Hatte ich eine Kindheit gehabt? Hatte ich einmal reden und lachen können, wie andere Menschen? Auch wenn ich mich bemühte, konnte ich mich nicht mehr an recht viel erinnern.
Nun wurde der Apfelbaum mein Freund. Ich besuchte ihn täglich, nächtigte unter seiner Kuppel geborgen, im unwirklichen Schein des bleichen Vollmondes. Die Hügel wurden vom bläulich-weissen Mondlicht in eine so traumhafte Märchenlandschaft verwandelt, wie ich es nie mehr wieder erlebte. Undurchdringliche Nebelschwaden zogen durch die Niederungen und liessen einen glauben, auf einer Insel inmitten eines Wolkenmeeres zu treiben. Dennoch ging der Blick in die Weite, man konnte das Glühen des erleuchteten Fensters der Berghütte am höchsten Gipfel des Kammes erblicken und durch das Watte-Meer tief unten die vielen Lichter der Fähre verschwommen wahrnehmen. Sie erschienen mir, wie die eines Geisterschiffes. Denn alles rundherum war in vollkommene Lautlosigkeit getaucht, als wäre die Zeit stehengeblieben.

Ich habe auch mit meinem Baum geredet - in Gedanken natürlich - und seinen Stamm gestreichelt und umarmt. Und manchmal streichelte er mich mit den feinen herabhängenden Astspitzen, die im Wind wehten.
Doch seltsamerweise habe ich nie einen Apfel von ihm gegessen. Obwohl ich im Herbst Fallobst gesammelt habe in allen umliegenden Gärten der Stadt - ich kann mich nicht erinnern, je einen Apfel von ihm gepflückt zu haben. Vielleicht trug er auch keine in diesem Jahr, er war ja schon so alt.
Die Strudel des Lebens haben mich weiter getragen, fort von den schönen Orten und den verdrängten Erinnerungen. Aber ich habe nie den Baum vergessen, der mich behütet hat, und mir Geborgenheit zeigte, als ich keinem Menschen mehr vertrauen konnte.
Der mich so zärtlich zurück ins Leben gestupst hat. Seine Botschaft war: Vergebung.

Nach vielen Jahren hatte ich wieder die Gelegenheit, in diese Stadt am Bodensee zurückzukehren. Obwohl ich nun erwachsener geworden war und nicht mehr mit Bäumen redete, habe ich doch noch einmal nach diesem Ort suchen müssen, um zu sehen ob 'mein' Apfelbaum noch am Leben sei. Und tatsächlich: ich habe den alten Weg und die Wiese auf dem Hügel wiedergefunden.
Und da war er auch noch: mein Baum. Und weil ich alleine war, lehnte ich mich noch einmal an seinen weichen, breiten Stamm, sah in die Kuppel hinauf und atmete tief ein, während die kleinen Lichtblitze der Sonnenstrahlen über meinen Körper huschten.
Ich hob die Hand um noch ein letztes Mal einen seiner Äste zu streicheln.
Da passierte es: Oben im Baum knackste und raschelte es leise, und etwas glitt durch das Astwerk der Baumkrone.
Ich erschrak, als dieses Etwas mit einem Knall auf meiner nach oben geöffneten Handfläche aufschlug.
Es war ein Apfel.
Der allerletzte Apfel, der in diesem Herbst noch im Baum hängen geblieben war.
Und der Erste und Letzte, den er mir geschenkt hat.

Danach habe ich meinen Baum nie wieder gesehen.
Doch ich habe nie mehr aufgehört Bäume zu lieben.
Und zu vergeben.


Die alte Schreibmaschine

Teil 1: Der Fund
Wie die Worte Flügel bekamen...

In den Jahren nach dem zweiten Weltkrieg waren meine Eltern sehr arm. Das Haus meiner Großeltern mütterlicherseits wurde ausgebombt, als diese (glücklicherweise mit ihren Kindern, sonst gäbe es mich nicht) vorübergehend in Metz waren. Alles war verbrannt und zerstört, nur das hauchfeine chinesische Porzellan im Küchenschrank hatte es überlebt.
Die Familie meines Vaters war lange auf der Flucht - eine abenteuerliche Geschichte, bei der sie oft nur knapp dem Tod entronnen sind.
Heim gab es also keines mehr.
Mein Vater kehrte mit einer schweren Tuberkulose und einer tief verletzten Seele aus dem Krieg zurück. Er hatte noch - mit 16 Jahren - als Anführer einer Gruppe der "Volksfront" dem Moloch dienen müssen.
Meine Mutter war eine junge Lehrerin, und da mein Vater zu krank war um arbeiten gehen zu können, verdiente sie das Geld. Sie zogen in ein winziges Hexenhäuschen im Odenwald. Dort trat meine Mutter ihre erste Stelle als Lehrerin in einer kleinen Grundschule an.
Auf dem Dachboden dieses alten Schulhäuschens hat mein Vater - oh was hatte er für scharfe Augen, wie ein Adler! - bei einem Rundgang die ALTE SCHREIBMASCHINE entdeckt. Halb zerstört lag dieses antiquarische Gerät auf dem Kopf stehend in einer verstaubten Ecke des mit Gerümpel vollgestopften Bodenraumes. Er entfernte vorsichtig die Spinnweben, stellte sie richtig herum auf und - es muss Liebe auf den ersten Blick gewesen sein.
So trug er das schwere, gußeiserne Monster im Beisein meiner Mutter zur Rektorin der Schule und fragte, ob er das morsche Gerät behalten dürfe. Ein Blick der alten Dame auf das kaputte, verdreckte Ding, welches der junge Mann da schleppte - so ein Blick wie auf einen Regenwurm, den ihr ein Schulkind begeistert unter die Nase hielt - und die gestrenge Frau winkte ihn mit einer schnellen Handbewegung hinaus.
Die Schreibmaschine wurde mit viel Mühe und Unterstützung meiner Mutter auf das Fahrrad gespannt und mein Vater nahm sie triumphierend mit nach Hause. Nun muss ich noch erzählen, dass mein Vater nach dem Krieg noch ein Ingenieursstudium begonnen hatte, in dessen Rahmen er innerhalb eines "Praktikums" (es war wohl eher ein Arbeitseinsatz) Telefone repariert hat. In einem Bergwerk, tief unter Tage musste er dafür sorgen, dass die alten Telefonanlagen stets funktionsfähig waren - eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe, es gab ja noch viel häufiger Grubenunglücke.
Mein Vater stellte also seinen Fund daheim auf dem einzigen Tisch ab, reinigte das Monster erst Mal gründlich und zog dann sein Werkzeug hervor, welches er noch von dieser Arbeit her besaß. Liebevoll, kreativ und gründlich reparierte er das flügellahme Schreib-Utensil. Da er ja keine Ersatzteile hatte, musste er sich mit Anderem behelfen: Ein zerschnittener alter Fahrradschlauch diente als Keilriemen, Drähte ersetzten fehlende Verbindungen zwischen den Tasten und den Druck-Stempeln. Ein neues Farbband musste man sich dennoch leisten, und jedes Häkchen, Rädchen und Hebelchen in dem wirren Innenleben des Patienten wurde sorgsam mit Nähmaschinenöl geschmeidig gemacht.
Nach seiner Invalidität wurde mein Vater Naturwissenschaftler aus Passion im Selbst-Studium. Astronomie, Mathematik, Botanik interessierten ihn, doch seine Leidenschaft war die Mykologie. Ein paar sehr sehr seltene Pilze, die er sozusagen entdeckt hat wurden später sogar nach ihm benannt: ...waßmuthii, am Ende der lateinischen Bezeichnung.
In dem Hexenhäuschen hat er auf der alten Schreibmaschine seine Aufzeichnungen begonnen. Seinen Traum wahr gemacht.
Und weil mein Vater zwei Seiten hatte - eine beängstigende, eiskalte und eine herzliche, kindlich romantische - gab er ihr auch einen Namen und ein Wappentier. Er nannte sie liebevoll "EMMA" nach den Möven in einem Gedicht von Christian Morgenstern.
Sie ist ja auch eine Möve des Schreibens für ihn gewesen, seine Flügel in die Welt der Wissenschaften.
Darum hat er auch mit weisser Lackfarbe auf das schwarze Metall einen Namen geschrieben: EMMA. Und eine Möve gezeichnet, mit ausgebreiteten Schwingen.


Teil 2: Das Abenteuer
...das Abenteuer des Schreibens beginnt


Nach dem Krieg war alles am Fortschritt orientiert. Die technischen Entwicklungen wurden rasant vorangetrieben, und EMMA gehörte bald ins Museum. Zunächst musste die Ärmste jedoch einfach wieder in die Rumpelkammer, in unserer Wohnung in einem Neubaugebiet auf dem Dorf.
Meine Schwester und ich waren nun gerade so alt, dass wir lesen und schreiben konnten, aber noch gerade klein genug um noch nicht das Interesse an magischen Märchenwelten verloren zu haben.
Wir waren Abenteurer, die ferne Kontinente bereisten, Zigeunermädchen die frei in der schönen Natur lebten und den Menschen die Zukunft vorraussagten, Piraten in schwarzen Schaluppen auf hoher See. Indianerinnen waren wir, die auf ihren Pferdchen durch die Prärie ritten - selbstverständlich hatten wir auch ein Tipi, wo wir abends am wärmenden Lagerfeuer sassen. Als Meerjungfrauen erkundeten wir die Tiefsee und freundeten uns mit den Delfinen an, als Astronauten bereisten wir ferne Galaxien.
Bei unserem Spiel waren die Aufgaben folgendermassen verteilt: Meine Schwester, ein Jahr älter und viel mutiger als ich, war dafür zuständig reale Umsetzungsprobleme zu beheben und mir in Gefahren beizustehen. Ich hingegen sorgte mit meiner ausufernden Phantasie für Drehbuch, Regie und Ausbildung der Schauspieler.
Bei einer Reise ins dämmrig-grüne Halbdunkel des afrikanischen Dschungels (die Rumpelkammer mit einer schwachen Glühbirne) stiessen wir auf ein eigenartiges Artefakt. Möglicherweise war es eine Zeit-Maschine.
Mit vereinten Kräften beförderten wir das mysteriöse Maschinenwesen in unser Basislager. Dort inspizierten wir unseren Fund. An der einen Seite waren viele Knöpfe, wenn man sie drückte, bewegten sich Hebel im Inneren des Gerätes. Auf dieser Seite war auch etwas mit weisser Farbe aufgemalt: Linker Hand stand in großen Lettern: EMMA. Rechts war eine fliegende Möve zu sehen. Dies bestätigte unsere Ansicht, dass es sich mit allergrösster Wahrscheinlichkeit um ein magisches Instrument handeln müsse. Sicherheitshalber fragten wir dann doch unsere Eltern - man kann ja nie wissen.
Unser Vater (der längst eine modernere Schreibmaschine besaß), setzte sich mit uns hin und zeigte uns wie EMMA funktionierte:
Oben gab man Papier hinein. Dann musste man an einem Rädchen drehen, so dass das Blatt von der Maschine gefressen wurde, und woanders wieder herauskam. Beim Drehen klickerte es ganz lustig: "Krrrrrrr!"
Dann durften wir auf die Knöpfe - welche 'Tasten' hiessen - drücken, ganz fest und mit einem gewissen 'Schwupp'. Dabei tat einem der Finger ein bisschen weh. Aber dafür schnalzte ein langer Metallarm aus dem Ungetüm hervor und hämmerte mit einem Knall auf das Papier ein, wonach er wieder schlapp in das Halbrund seiner Kollegen zurück fiel. Dieser Effekt faszinierte uns kolossal. Zudem hinterliess dieser Hammer-Arm einen schwarzen oder roten Abdruck auf dem Papier, der dem Buchstaben glich, der auf der gedrückten Taste aufgemalt war.
Die Maschine sorgte zudem dafür, dass die Rolle auf die das Papier aufgespannt war, jedes Mal ein winziges Stück weiterrückte, so dass sich die aufgestempelten Buchstaben nicht über- sondern ordentlich nebeneinander reihten. War dann eine Reihe voll, so musste man an einem langen, silbernen Hebel ziehen. Wann das soweit war meldete einem das Zauberding ganz beflissen durch das Erklingen einer Glocke, die in ihrem Inneren angebracht war. Durch das Betätigen des Hebels wurde sowohl die Papier-Rolle wieder in die Anfangsposition befördert, als auch geschickterweise die Rolle ein winziges Stück gedreht. So begann die nächste Reihe mit Buchstaben genau unter dem allerersten Zeichen und es konnte wieder weitergehen.
Meine Schwester und ich sahen uns an. "Dürfen wir sie haben?" Wir durften. Mit leuchtenden Augen nahmen wir sie in Besitz. Nun gab es aber ein Problem, das wir durch ein wahrhaft salomonisches Urteil lösten:
Unsere beiden Zimmer lagen nämlich gegenüber auf den beiden Seiten eines langen Flures. Und die Maschine welche man 'Schreib-Maschine' nannte, war viel zu schwer um sie noch einmal herumtragen zu können. Wer also sollte das magische Gerät in seinem Zimmer behalten dürfen?
Wir entschieden uns nach längerem Hin- und Her für Folgendes: EMMA sollte uns Beiden gehören, jede durfte sie je einen Tag besitzen, dann gehörte sie der Anderen. Wie aber sollten wir sie täglich hin und her transportieren?
Schliesslich hatte meine praktische Schwester den rettenden Einfall: "Wir stellen sie auf meine Wolldecke und ziehen sie!", entschied sie. Und tatsächlich, es klappte. Nachdem wir sie auf die Decke geruckelt hatten, rutschte sie von uns Beiden gezogen - sanft wie ein kleiner Dampfer auf der spiegelglatten Oberfläche des Ozeans - übers Linoleum.
Jeden Abend vor dem Zubettgehen durfte nun EMMA durch den Gang ins jeweils andere Zimmer Schlitten fahren . Und wer sie dann hatte, besass auch die alleinigen Rechte zur Veröffentlichung und vor allem Herstellung wichtiger Dokumente, auf denen so etwas stand wie:

fie gx/et esss diR ?
BiEn kra´3d iN mainäm simmeR

Am nächsten Tag erfolgte dann die Antwort auf diese spannende Botschaft mit der darin enthaltenen tiefschürfenden Lebensfrage.
Dazu mussten wir nicht einmal das Papier wechseln, denn die Botschaft wurde ja mitsamt der Maschine transportiert, und konnte daher in der nächsten Zeile beantwortet werden.

Das hat uns eine ganze Weile ausgefüllt. Wir fühlten uns sehr wichtig, da unsere Texte mit der Zeit auch immer verständlicher wurden, so dass die Erklärung der rätselhaften Geheimschrift nicht mehr mündlich erfolgen musste. Ausserdem waren die Buchstaben, wie in einem richtigen Buch. Nicht so wie unsere eigenen windschiefen und verwischten Schreibbemühungen.

Aber, wie das bei Kindern nun mal so ist: nach einer Zeit war EMMA wieder sich selbst überlassen und kämpfte ihren einsamen Kampf gegen den Staub und die Verharzung des Nähmaschinenöls. In die Rumpelkammer musste sie allerdings nicht mehr, schlussendlich blieb sie dann doch bei mir stehen. Und als ich in der achten Klasse das Wahlfach 'Maschinenschreiben' nehmen durfte, habe ich es ausgewählt, obwohl es von dem Lehrer geleitet wurde, den ich am leidenschaftlichsten hasste. Endlich wollte ich lernen, richtig mit EMMA umzugehen. Inzwischen gab es schon elektrische Kugelkopfmaschinen, die wir auch im Unterricht benützten. Sie gingen so leicht und schnell, wie heute ein PC. Aber ich übte weiterhin fleissig auf EMMA mit ihren meterhohen Tasten, für die man spezielles Finger-Bodybuilding benötigte um sie zu bewegen. Ich liebte die verschnörkelten Buchstaben, die sie aufs Papier warf, das Sammelsurium von eigenartigen Geräuschen, die sie während des Schreibens von sich gab und ihren Geruch nach Druckerschwärze und Nähmaschinenöl. EMMA war eine lebendige Schreibmaschine. Ich war mir nicht ganz sicher ob sie nicht nachts heimlich selber Texte verfasste, während ich in tiefem Schlummer lag.

Mit meinem Auszug von Zuhause liess ich auch EMMA endgültig hinter mir. Oft habe ich mit einem Anflug von Wehmut an sie gedacht.
Auf ihr haben meine Finger gelernt von ganz alleine zu schreiben. Meine Finger haben Flügel bekommen. Mövenflügel, mit denen ich mich erheben möchte, um die Welt des Schreibens zu erobern.


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 24.09.2011

Alle Rechte vorbehalten

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