Die Erleuchtung
"Rotzpopel und SchneckenSchleim!" fluchte Karlchen Kakerlak, der beim Naschen von der übriggebliebenen Suppe der Familie Häberlein, das Gleichgewicht verloren und kopfüber hineingepurzelt war. "Nu lern ich auf meine alten Tage noch das Schwimmen!"
Doch dazu und glücklicherweise zum Ertrinken, reichte die Pfütze von Kartoffelsuppe auf dem Topfboden nicht aus.
So musste Karlchen Nichtschwimmer bleiben und wurde anstelle dessen Schriftsteller.
Er kam nämlich aus dem Topf nicht mehr heraus. Und da die Familie Häberlein selten abzuspülen pflegte, für ziemlich lange.
Wussten die überhaupt was das Wort 'Abwasch' bedeutete? Darüber hatte sich Karlchen bisher keine Gedanken gemacht, doch nun, da er Zeit zum Nachdenken hatte, genug zu Essen und keine Fluchtmöglichkeit, begann es in seinem kleinen Gehirn zu knistern, und Hirnströme liefen plötzlich durch Kanäle, von denen er davor nie etwas geahnt hatte. Irgendjemand schien da auf einmal im Oberstübchen das Licht aufgedreht zu haben, und über Karlchens Gesicht breitete sich ein breites Lächeln aus.
Statt sich übers Fressen und Zertreten werden oder die rasche Vermehrung seiner vielköpfigen Familie Gedanken zu machen, erschienen auf seinem inneren Bildschirm die Fragen des Lebens:
Wer bin ich? Woher komme ich? und wohin gehe ich?
Stundenlang saß Karlchen Kakerlak auf dem Boden des Suppentopfes grinste, und dachte nach.
Schliesslich nickte er weise mit dem Kopf und seine Fühlerchen zitterten vor Dankbarkeit und Rührung über den Gewinn grosser Erkenntnisse.
Karlchen war erleuchtet.
Und er beschloss das Bewusstsein der Welt nun ebenfalls auf eine höhere Ebene zu katapultieren.
Um nun seine Erkenntnisse für alle Zeiten festzuhalten erfand er in aller Eile eine Kakerlakenschrift, die er mit Kartoffelsuppe an die Innenwände des Suppentopfes pinselte.
So verbrachte er seine letzten glücklichen Tage, bis die Suppe vermalt, ausgegessen und verfestigt war. Danach verabschiedete er sich vom Leben als Kakerlake und seine Seele wanderte weiter.
Da der Topf, wie bereits vorausgesehen, niemals abgespült, sondern mitsamt der darin enthaltenen, friedlich verstorbenen und im getrockneten Suppenrest eingebackenen, Kakerlake direkt aus dem Fenster flog -
(Orginalzitat der Menschenfrau: AAAAAhhiiiiiiiiaaaaaigittegittegitt!!!! Eine Kakerlake!!!!!) - ja, dank dieser göttlichen Fügung blieben Karlchens Aufzeichnungen für die Nachwelt erhalten.
Nur dass sie niemand lesen konnte.
Es kannte ja keiner Karlchens Kakerlakenschrift. Und keine andere gewöhnliche Küchenschabe hatte so viel Intelligenz um sie entschlüsseln zu können. Was jetzt nun wieder ein Problem gewesen wäre. Wenn nicht Häberleins kleiner Sohn dahergekommen wäre, um im Garten zu spielen. Sein scharfes SachenfinderAuge entdeckten sofort in dem zerbeulten Topf einen äusserst nützlichen Gegenstand.
"Uuui, ein toller Käfer!", klaubte er Karlchens sterbliche Überreste aus dem ausgedienten Küchengerät.
"Mein Name ist Karlchen Kakerlak und ich habe eine wichtige Botschaft für Dich!", piepste eine Stimme im Kopf des Jungen.
Erstaunt blickte dieser zwischen dem suppenbekleckerten Vorderbeinchen des Insektes und den spinnwebfeinen geheimnisvollen Zeichen auf der Innenwand des zerbeulten Topfes hin und her.
"Bist Du ein toter Käfer, der sprechen und schreiben kann?" wunderte er sich. "Unsinn, was Du hörst ist meine Seele, tote Käfer sprechen im Allgemeinen noch seltener als lebende Käfer!" erwiderte Karlchen im Kopf des Jungen. Ich channele Dir nur gerade mein Kakerlaken-alphabet, damit Du meine 'Ode an das Leben' lesen, und an die Nachwelt weiter geben kannst!" Die Seele räusperte sich und der Junge wartete aufmerksam und gespannt. "Nun hör mir gut zu..." und Karlchens aufgestiegene Seele flüsterte dem Jungen alles ins Gehirn, was er wissen musste. Dieser entzifferte daraufhin die 'Kakerlaken-Hüroglüfen' und übersetzte sie in seine Sprache.
Zunächst durfte er niemandem etwas davon verraten. Aber als er grösser war, schenkte er die Gedichte dem Mädchen, welches er liebhatte. Die es dann (viele Jahre, nachdem er mit einer ganz anderen Frau verheiratet war) veröffentlichte. Und hier ist sie, die
Ode des Lebens von Karlchen Kakerlak:
In einem Küchenschrank geboren,
ganz hinter Speckresten versteckt,
hab ich - zu Höh'rem auserkoren,
dereinst das Licht der Welt entdeckt.
Ich rieb mir meine glänzend' Augen
mit meinen winz'gen Fühlerlein
und konnt' zuerst es gar nicht glauben,
als Kakerlak gebor'n zu sein
Erinnerung an ferne Zeiten
schwebten noch sanft an mir vorüber.
Sah mich über diese Erde schreiten,
als Mensch, als Baum und auch als Biber.
Als Baum da schritt ich freilich nicht,
da Bäume keine Füsse kennen.
Ich blieb nur steh'n im Sonnenlicht
wollt' lieber wachsen, als zu rennen.
Als Mensch, das muss ich noch erwähnen
war ich den ganzen Tag verknallt.
Und war ich's nicht so flossen Tränen,
ritzt' Herzen in den Baum so alt.
Als Biber musst' ich ständig nagen
an Bäumen und auch an der Zeit,
und Stöckchen in den Fluss rein tragen.
Mein Schwanz war platt und auch sehr breit.
Das Alles hatt' ich schnell vergessen,
denn meine Welt, die war nun klein,
klein mein Gehirn, dacht' nur ans Essen
mehr passte leider nicht hinein
Doch für ein Kakerlakenleben
hat dies doch allemal gereicht!
Nur denk ich heute, ob dies eben
nicht auch dem Menschenleben gleicht.
Ich seh' sie wandeln mit Gehirnen
vielmal so groß, wie ich es bin
und frag: "Was ist bloss in den Birnen,
dass sie nicht wissen woll'n wohin?"
Sie kamen um sich zu erfüllen
den einen wicht'gen Seelentraum.
Doch mangelts leider an dem Willen
daran zu glauben, zu vertraun.
Sie halten sich für Kakerlaken,
die Welt für einen Abfallhügel,
sehen durch Seelenmüll sich staken,
leben völlig ohne Zügel.
Bevor ich mich damit befasse,
wie Menschen sich im Unrat wähnen,
wie Schaben laufen in der Masse,
sich ihres Wach-traums nicht mal schämen,
will ich erzählen von den Welten,
die ihrem Aug verborgen blieben,
weil sie nur Streben nach dem Großen
und niemals nicht das Kleine lieben.
Das Unscheinbare, Unsichtbare,
die Welten hinter dieser Welt!
Das Schöne und das wirklich Wahre,
stattdessen lieben sie das Geld!
Ode an das Leben Teil 2
Wie ich Euch hab' demletzt versprochen,
erzähl' ich weiter - ungelogen!
Denn ich bin über diese Welt GEKROCHEN,
nicht hoch zu Ross und nicht geflogen!
Drum fiel mir auf, dass viele Dinge,
für mich - den Kleinen - grösser sind.
Wenn ich in Schuh'n von Riesen ginge,
wär' der grösste Mensch für mich ein Kind!
Die Kinder - wo wir grade dabei sind,
erkennen Vieles noch ganz klar:
Dass Sonne Mond, der Baum, der Wind,
auch Wesen sind, ist für sie wahr.
Sie wissen, dass ein Engel schützt,
und neben Ihnen schreitet,
dass Beten selbstverständlich nützt,
da Gott sie stets begleitet.
Nein, nicht im All, das wär' zu fern,
doch wohl in ihrem Herzen!
Da hat der liebe Gott sie gern
und heilt auch ihre Schmerzen!
Die Kirchen schöne Häuser sind,
wo Erwachs'ne ihn gern suchen.
Die Kinder sehen Gott auch blind,
unter Eichen, Birken, Buchen!
Dem Kind vertraut noch ist der Wald,
die Rehe, Füchse, Hasen.
Sie wissen um das Schöne halt,
was Ält're schnell vergassen.
"Ein Kleeblatt oh! - das bringt mir Glück!"
so spricht ein Menschenkind.
Erwachs'ne finden nicht zurück,
weil sie verbittert sind.
Sie glauben an das Gute nicht,
'Irrglaube, trügerischer Schein!'
Sie seh'n den Wald vor Bäumen nicht,
können nicht glücklich sein.
Dafür ist 'Zweifel' nun ihr Gott,
und 'Sorge' ihr Gebet!
Sie klagen täglich ihre Not
von morgens früh bis spät!
Mißtrau'n dezent mit Hass durchsetzt,
und Angst mit Wut durchzogen,
ein jeder schnell das Messer wetzt:
"Du Böser hast betrogen!"
Betrogen haben sie sich selbst,
um uns're schöne Welt.
Denn wenn die Augen zu Du hältst
ist's schlecht um Dich bestellt!
Drum höre einem Käfer zu,
der diese Welt durchschritten:
"Nur kindlich find'st Du Deine Ruh',
darum will ich Dich bitten:
Hör' auf die Kinder und Dein Herz,
vergiß doch das Geschwätze
von Traurigkeit und Weltenschmerz
und wütendem Gehetze!
Ob man Dich für verrückt erklärt,
das sei Dir doch gesch******.
Das reine Glück sei es Dir wert,
ich möcht' es nimmer missen!
Ergreif' nun stark den Wanderstab
und hebe stolz das Haupt!
Ich - KARLCHEN - nun gesprochen hab!
Und wer der Schabe glaubt,
der gehe flugs den Weg zurück!
Der werde wieder Kind!
Der finde jeden Tag sein Glück,
in Sonne, Mond und Wind!"
Ode an das Leben von Karlchen Kakerlak, Teil 3
Da ich zuletzt von Menschen sprach,
will ich noch weiter plaudern,
und holen das Versäumte nach,
mit Ehrlichkeit nicht zaudern.
Ein Thema, das Hom' sapiens
von früh bis spät beschäftigt,
ist 'LIEBE' darum frag' ich jetzt:
"Ist er dazu berechtigt?"
Hat er gesorgt, dass diese Welt,
kein Leid mehr musst' ertragen?
dass Einer zu dem Ander'n hält?
Beantwortet die Fragen!!!
Er hält sich noch als höh'res Wesen
der LIEBE allein mächtig
doch wie ist er bisher gewesen?
Doch eher niederträchtig!
Er tötete nicht nur den Feind,
der ihn direkt bedrohte.
Nein, oft sogar wer ihm vereint
in 'LIEBE', die ihm lohte!
Er frass nicht nur, allein zum leben,
er schlachtete nur zum Genuß!
Er glaubt' dass für die Schönheit eben,
er tot- uns quälen muss.
Wir Tiere und die Pflanzenwesen,
und das System NATUR
sind wichtig ihm noch nie gewesen
er sieht sich selber nur!
Er glaubt sich gross, doch muss ich sagen:
die seine Welt ist klein!
regiert vom Herz nicht, nur vom Magen
wo ALLES stopft er rein!
Der Mensch ist gierig und gefrässig!
Er kriegt niemals nicht genug,
dabei doch immer noch gehässig,
Meister des grossen Selbstbetrug.
Ich sag', der Mensch hält meist für LIEBE,
was jedes Tier VERMEHRUNG nennt.
lebt lediglich die süssen Triebe,
wobei er auch kein Mitleid kennt:
Er nimmt sich, raubt sich ohne Fragen,
auch die nicht will, sogar ein Kind!
Ich frage mich in diesen Tagen,
ob Tiere auch so liebend sind.
Dies Thema könnt ich endlos führen
ich denk', ihr wisst schon was ich mein'.
Will schwafeln nicht, nur Euch berühren,
will klopfen an die Herz-Tür klein.
Ein Meister sprach vor langer Zeit:
"Kommt, seht mir ins Gesicht!
Wer nicht zuerst sich selbst befreit,
der kennt die LIEBE nicht!"
Die LIEBE ist ein breiter Strom
entspringt dem Lebensquell'
der jedem Ding zu eigen ist,
drum sagt mir auf der Stell:
Könnt lieben ihr das Angesicht
das Gott euch hat geschenkt
und lieben seine sanfte Kraft
die euer Leben lenkt?
Seht liebend auf die Kakerlak'?
Und auf den Kieselstein?
Grüßt liebend ihr den neuen Tag?
Und jedes Wesen klein,
das über diese Erde kriecht
schwimmt, fliegt oder nur steht?
Nein? Dann habt ihr der LIEBE nicht!
Doch halt: Noch ist es nicht zu spät!
Ich war doch auch nur eine Schabe,
bevor das Glück mich hat ereilt!
Nun weiss ich endlich was ich habe,
an dieser Welt, in der IHR weilt.
Der Tod, das Ende dieses Traumes,
hat mir das Alles jetzt gezeigt,
gefangen in des Topfes Raumes,
mein Leben sich zu Ende neigt.
Für Euch bin ich nur Ungeziefer,
ihr wisst um meine LIEBE nicht,
mein Leben neigt sich und wird schiefer
ich spreche euch ins Angesicht:
Wollt ihr vertrödeln Eure Stunden
mit LIEBE, die nicht ALLES meint?
Wie oft noch wollt' ihr dreh'n die Runden,
nicht seh'n die Sonne, die Euch scheint?
Ihr seid ALLEIN zur LIEB' bemächtigt,
die Euch BEWUSST, nach freiem Will'
Ich sag: Drum seid ihr auch berechtigt,
zu LIEBEN, ach nun werd ich still!
Mein Fühler senkt sich auf die Augen,
mein Füsschen kann nicht schreiben mehr!
Bevor zu gar nichts mehr sie taugen,
schreib' ich noch rasch: Ich LIEB Euch s....
Hier enden die Aufzeichnungen von Karlchen Kakerlak, gepinselt mit Kartoffelsuppe auf die Wände eines alten Suppentopfes.
Gerne hätte ich noch mehr von seinen Erkenntnissen erfahren, doch zu kurz war sein kleines Leben. Gut, dass das Unsere noch eine Weile währt...
Doch manchmal ist mir, als würde ich ein zartes Krabbeln auf meiner linken Schulter spüren. Ein feines Wispern hören, ein zartes Stimmchen, welches mir ins Ohr raunt. Mit aller meiner Kraft versuche ich seinen Worten zu lauschen, und ich spüre wie es in meiner Brust ganz warm wird.
Tag der Veröffentlichung: 24.09.2011
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