Da !
Da geht sie schon wieder. Die kleine Frau. Sie ist sicher sehr, sehr alt.
Ich habe schon viele meiner Bekannten gefragt, aber keiner kennt sie. Weshalb kennt sie denn hier keiner?
Sie geht doch jeden Tag hier durch die Stadt. Mit ihrem Rollator.
Jetzt, in der kalten Jahreszeit, trägt sie einen altlilafarbenen Mantel, der fast bis zur Erde reicht.
Das Hütchen passt farblich zum Mantel.
Sie hat so ein liebes Gesicht, so rund und voller Falten.
Immer lächelt sie. Sie hält den Kopf meist etwas schräg, so als würde sie alles, was ihr begegnet, näher betrachten.
Wir hatten noch nie Blickkontakt. Immer geht sie auf der Straßenseite, auf der ich gerade nicht gehe.
Auf einem unserer Adventskonzerte saß sie ganz hinten in der Kirchenbank. Ich war mir so sicher, dass sie hier jemand kennt.
Aber meine Freunde meinten nur, sie hätten sie auch schon öfter gesehen, wüssten jedoch nicht wie sie heißt.
Und heute sehe ich sie wieder. Der Rollator kann kaum so schnell fahren, wie sie geht. Sie ist sehr lebendig und geht voller Kraft ihren Weg.
Sie ist so klein. Hat sie Familie? Weshalb geht denn niemand mit ihr?
Sie lächelt, wie immer.
Wieder frage ich mich, woher sie kommt und wohin sie geht.
Die kleine alte Frau ist wie ein Engel. Ich sehe sie, aber ich weiß nicht, wer sie ist und warum sie mich derart in den Bann zieht.
Möchte ich so sein, wenn ich alt bin?
Ja, ich möchte so sein. Ich möchte, dass mein Gesicht auch dann noch so strahlt und sich Menschen für mich interessieren.
Das ist es wohl.
Ist es das?
Ich verliere sie aus den Augen.
Mist !
Ich möchte ihr gern eine schöne Weihnachtszeit wünschen.
Ich muss in die Drogerie gehen, Besorgungen machen.
Vor dem Regal mit den Weihnachtsartikeln verbringe ich mehr Zeit, als angemessen.
Engel, Rentiere, Schneemänner, Sterne...
Schöne Dingelchen.
Ich gehe mit meinen Besorgungen an die Kasse und lege alle Artikel auf das Band.
Ganz leise spielt im Hintergrund „Driving home for christmas“.
Aus dem rechten Augenwinkel heraus sehe ich eine Bewegung am Packtisch und schaue automatisch hin.
Da steht die kleine Frau in ihrem altlilafarbenen Mantel, mit dem passenden Hütchen und einem herzallerliebsten Lächeln im Gesicht.
Sie legt vorsichtig und in aller Seelenruhe ihre Einkäufe in den Beutel.
Ich hadere mit mir. Sie kommt sehr gut allein zurecht. Wenn ich ihr jetzt meine Hilfe anbiete, nur um mit ihr ins Gespräch zu kommen...
Ich halte ihren Beutel ein wenig weiter auf und sie packt fröhlich die restlichen Dinge hinein.
Mir ist ganz warm ums Herz.
Als letztes legt sie vorsichtig eine Duftkerze in den Beutel, schaut mich an und sagt freundlich: „Die mag ich besonders zur Weihnachtszeit, sie duftet nach Zimt und Zitrone.“
Mein Gott, ich könnte dieses liebe Gesicht einfach nur streicheln. Und nun hat es auch eine Stimme bekommen.
Die Stimme passt genau zu ihrer Erscheinung.
„Ja. Das ist wirklich ein schöner Duft, ich mag ihn auch.“ Mehr sage ich nicht.
Mehr fällt mir in diesem Moment einfach nicht ein.
Aber ich werde meine Augen weiter offen halten, ich muss ihr ja noch frohe Weihnachten wünschen.
Texte: Cover und Text by laemmchen
Tag der Veröffentlichung: 13.12.2011
Alle Rechte vorbehalten