„Zeig mal! Zeig doch mal!“ Rüdiger schubst mich beinahe vom Stuhl.
Ich gebe den Löffel ab. Also ich gebe Rüdiger den Löffel, denn er ist als Nächster mit Bleigießen dran.
Momentan hängt er allerdings noch halb auf mir, um in mein Wasserschälchen zu schauen. Ich drücke ihn sanft zur Seite und schaue nun selbst erst einmal nach, was ich da gegossen habe.
„Ich meine, das ist ganz klar ein Nashorn!“, lacht Rüdiger. Ich gucke noch mal und noch mal, aber es will sich mir kein Nashorn zeigen. „Selber Nashorn.“, schäkere ich ihn an. „Wenn das ein Nashorn ist, dann bin ich ein Grottenolm.“
„Hallo Frau Grottenolm, wennse mal schauen wollten?“ Er zeigt mit dem Löffelstiel auf einen besonders schönen Auswuchs am gegossenen Bleigebilde und macht plötzlich große Augen. „Aber nein! Das ist ja…ich glaub es nicht…Ooooohhhh! Das wird ja ein spannendes Jahr für dich, Rike!“ Er reibt sich die Hände und sinniert dann.
„Aha.“, staune ich, denn ich kann mir nicht vorstellen, was mir ein Nashorn verheißen will, bei aller Liebe und Fantasie.
Rüdiger freut sich für mich. „Du wirst eine Reise machen, Rike. Eine ganz besondere Reise.“
„Auf einem Nashorn??“
„Aber nicht doch, nicht doch. Ich habe mich geirrt. Das ist einwandfrei eine Lokomotive. So eine richtig alte Lok mit Schornstein.“
Nun kommen plötzlich auch die anderen Silvesterpartygäste vom Balkon (geraucht wird nur auf dem Balkon!!) und wollen die alte Lokomotive sehen.
„Klar!“, lacht Jörn. Jörn ist Rüdigers Frau, obwohl er natürlich ein Mann ist. Glaube ich jedenfalls. Auf alle Fälle sind beide leider so schwul, dass ich es mir leisten kann, sie schamlos anzuschäkern.
Also Jörn lacht jedenfalls über meine Nashorn-Lokomotive und tippt Rüdiger leicht auf die Nase. (Welch zärtliche Geste…schmelz….) „Ein Nashorn, Schatz, also. Nein, es ist wirklich eine Lok. Woran erinnert mich das nur?“ Er zwirbelt mit Daumen und Zeigefinger an seinem Kinnbärtchen. Dabei könnte ich ihm übrigens stundenlang zusehen…
„Aaah ja! An das Feldbahnmuseum in Rommerskirchen! Weißt du noch, Rüdi? Da haben wir uns doch die restaurierten Lokomotiven angesehen.“
„Rommerskirchen???“ Ich springe von meinem Stuhl hoch und meine Lok schaukelt im Wasserglas. „Rommerskirchen? Jungs! DAS ist ein Zeichen! Ein ZEICHEN!“
Meine Freundin Lena schaut an die Zimmerdecke und verdreht die Augen. „Ach du dicket Ei, auch das noch.“
„Lenchen, hast du gehört? Rommerskirchen! Ich werde nach Rommerskirchen fahren. Zu MEINEM Horsti!“ Nun hält mich ja gar überhaupt nichts mehr. Ich springe übermütig herum und singe und tanze zu „Waka waka“.
Lena nippt an der Zitronenbowle und bekommt einen kleinen Schluckauf, da sie eigentlich keinen Alkohol verträgt. „Na guck mal an. Hicks. Und wie kommst du dahin, bitte schön?“
Ich sehe sie kurz verständnislos an. „Na mit der Bahn. Sag mal, passt du eigentlich gar nicht auf? Habe ich vielleicht eine Lokomotive gegossen?“
Sie schaut mich mitleidig an. „Ähm, Schnubbelito, das ist ein Spiel. Weißt du? Ein blödes, albernes Spiel, hicks, welches Kinder und Erwachsene seit eh und je am Silvesterabend spielen.“ Sie lässt sich in den Sessel sinken und trinkt nun ihr Glas gänzlich leer. „Bo! Was ist die sauer!“ Sie verzieht das Gesicht.
Verkannt verschränke ich die Arme. „Ich bin überhaupt nicht sauer. Ph. Nur weil DU so eine komische Tasche…“ „Koffer!“, unterbricht mich Lena. „Nur weil du so einen komischen KOFFER gegossen hast, willst du mir jetzt meine Lokomotiven-Verheißung madig machen!“
„Hä?“ Lena schüttelt den Kopf. „Du doch nicht. Die Bowle ist sauer! Und anstelle des Koffers hätte ich auch genau so gut eine linksdrehende Joghurtkultur gießen können. Ich glaub da eh nicht dran.“
Mir ist es gerade sehr Wurst, ob Lena daran glaubt, dass vom Löffel tropfendes Blei die Zukunft vorhersagen kann. Mein Blei kann das. Es ist schließlich eine alte Lokomotive geworden, die mir sagt, dass ich im neuen Jahr endlich meinen Horst kennen lerne. HORST LICHTER. Wenn ich ihn im TV sehe, oder in seinen Büchern lese, bricht es mir jedes Mal das Herz, weil ich ihn niemals kennen lernen werde. Ehrlich. Das ist ein Mensch durch und durch, mein Horst.
Aber nun wird ja alles anders. Meine Gedanken schleichen sich aus dem Zimmer, über den Balkon, die verschneite Straße entlang, zum Bahnhof, in einen Zug der nach Rommerskirchen fährt.
Ja wirklich. Ich sehe Horst Lichter, wie er in seiner „Oldiethek“ steht und aus seinem Leben erzählt.
Ich hänge an seinen Augen und an seinem Schnäuzer und er legt seinen Arm um meine Schulter und erzählt und menschelt, was das Zeug hält.
Und dann fragt er mich, in diesem Dialekt, mit dieser Stimme und mein Herz brennt „lichterloh“,: "Schätzelein, was hast du denn Leckeres in dem Köfferschen?“
Ich schaue an meinem linken Arm herunter - und da halte ich wirklich einen Koffer in der Hand.
Ich erröte und senke mein Haupt. Das kann ich ihm niemals sagen! Nein, nein und tausendmal JA! In dem Koffer ist eine märchenhafte Überraschung. Ein silbergewirktes Aschenbrödelkleid, mit Schleppe und rosa Schleier. Aber einer Prinzessin gehört das nicht, mein holder Herr….
„Nun mach ihn doch mal auf, mein Röschen. Isch bin ja nun doch jeschpannt, weißte?“, schmachtet mich Horst an.
Ich bücke mich grazil und versuche den Verschluss an dem Koffer zu finden.
Da! Na, den hat Lena aber gut versteckt…
Aber nun geht der Koffer auf, klappt auseinander und alles purzelt raus.
Alles… Also drei Haselnüsse.
Ich nehme eine der Nüsse, werfe sie, Kraft meiner Zitronenbowle, auf den Boden und … vor mir liegt das Jägerkostüm.
Irgendetwas stimmt hier nicht. Damit kann man doch keinen Walzer tanzen!!!
Ich will mir den Schleier, den ich ja noch nicht mal im Traum trage (also, woher kommt der??) vom Gesicht reißen.
„Rike? Rike?“
Ich kneife die Augen zusammen und erkenne Lena.
Benommen schüttele ich mir die Gedankenreise und die Haselnüsse von den Schultern.
„Ja?“
„Du, Mausi, wir wollen dir doch noch dein nachträgliches Weihnachtsgeschenk geben. Du bist doch noch nich übern Jordan??“ Sie schaut skeptisch drein.
Und dann legt sie mir einen Gutschein in den Schoß.
Er ist golden und mit einer dicken roten Schleife verschnürt.
Und ich sehe nur vier Buchstaben hinter der dicken roten Schleife hervorblinzeln.
ROMM
Rüdi und Jörn wischen sich die Augen. Rüdiger schluckt und meint: “Und bitte, gib ihm einen Kuss von mir, gell.“
Texte: Rechte am Text liegen bei mirBilder/Fotos über google
Tag der Veröffentlichung: 08.01.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Vorgegebenes Thema zur 26. WS-Runde :
Eine alte Lokomotive, ein geheimnisvoller Koffer und ein gebrochenes Herz