ANDERS
Miriam bleibt atemlos vor dem Haus mit der Nummer 8 stehen.
Sie zittert und kann vor Aufregung den Zeigefinger, mit dem sie an den Namensschildern entlang fährt, nicht ruhig halten.
Da !
BONDIAK, MARK
Ihr Magen verkrampft sich. Diese übergroße Freude, dass es wirklich wahr ist, dass es ihn WIRKLICH gibt , wirklich und zum Greifen nah…
Dieses Gefühl, dass sie ihn jetzt gleich sehen wird, berühren, umarmen…
Sie muss sich an der Hauswand abstützen und lacht und weint und hat Angst, vor Glück einen Schreikrampf zu kriegen.
Ihr Herz klopft bis zum Hals, als sie auf den Klingelknopf drückt. Das Summen dringt bis in ihre Zehen, in die Beine, den Magen.
Tief atmet sie ein und aus.
Es fällt ihr schwer, dieses Atmen. Fast hat sie Angst, vor Euphorie ohnmächtig zu werden.
Gleich, gleich wird sie seine Stimme hören. Hier aus dieser Anlage. Er wird oben an seiner Tür stehen und ahnungslos fragen : „Ja? Bitte?“ Was wird sie nur antworten? Oh Gott, gleich, gleich…
Sie sieht sein Bild vor sich, sie hat es bei sich. Sie trägt es immer bei sich, seitdem sie es von ihm bekommen hatte.
Schon jetzt kann sie seine lachenden Augen vor sich sehen, die sicher im ersten Moment ungläubig und weit aufgerissen auf sie herab schauen werden.
MARK ! Mein sanfter Riese!
Die Zeit läuft ihr davon. Sie kann nicht mehr warten, bis er an die Tür geht und den Summer betätigt. Es ist auch gar nicht nötig. Als Miriam gegen die Haustür drückt, öffnet sich diese mit einem leisen Quietschen.
Jemand kommt ihr auf der Treppe entgegen. Sie hört laute, freundliche Worte, bleibt stehen und sieht in ein runzliges Gesicht. Es gehört einer Frau. „Na Frolleinchen, zu wem wollen SIE denn? Sie kommen bestimmt jrade von hinter der Mauer, wa? Na denn ma herzlich willkommen! Nu weenen Se doch nich, nu wird ja allet jut!“
Miriam kann nicht anders. Sie drückt die ältere Dame kurz an sich und springt dann, immer drei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf.
Unten fällt die Haustür ins Schloss.
„Ich, ich will zu Mark! Zu Mark!“, schreit sie der Frau hinterher und lacht endlich befreit auf.
Fast fällt sie die letzten Stufen hinauf.
Jetzt gibt es nicht einen einzigen Augenblick des Zögerns mehr. Sie klopft mit der Faust an die Tür. Mit der geballten Faust. Fingerknöchel reichen hier nicht, um zu sagen: Mach auf! Mach endlich auf! Jetzt beginnt unser Leben!
……..
Mark hört das Trommeln an der Tür. Sehr, sehr langsam drückt er die Klinke herunter und zieht die Tür nach innen auf.
Auch sein Herz klopft bis zum Hals.
Das Lachen auf Miriams Gesicht stirbt. Erst wird es zu einem hilflosen Lächeln, und dann ist es tot.
Außer Atem und unfähig, noch einen Schritt zu tun, flüstert sie gequält: „Ist Mark da? Bitte, ist Mark hier? Ich bin Miriam.“
„Nein. Mark ist nicht hier. Er ist zur Mauer gegangen. Ich glaube auch nicht, dass er wieder kommt.“
Er schlägt die Tür zu und wendet seinen Rollstuhl.
………
Miriam steht vor der geschlossenen Tür. Um nicht laut los zu schreien, steckt sie sich ihren Schal in den Mund.
Sie muss sich an die Wand lehnen und gleitet langsam daran herunter.
ALLES ist anders, alles. Auf einen Schlag.
Er sitzt im Rollstuhl. Er ist kein sanfter Riese mit breiten Schultern und starken Armen. Mit diesen starken Armen, mit denen er sie durchs Leben tragen wollte…irgendwann einmal…
Kein Tanzen im Mondlicht bei Rotwein und Santana.
Kein Schlendern, Arm in Arm.
Warum? Warum diese Briefe? Warum?
Sie ist wie vor den Kopf geschlagen. Alles dreht sich vor ihren Augen.
……
Mark fährt zur Toilette und erbricht sich.
Noch nie in seinem Leben war ihm derart schlecht, wie gerade eben, als Miriam, seine kleine geliebte Miri, vor seiner Tür stand.
Es waren die schönsten vier Monate seines Lebens, diese letzten Vier.
Wie hat er jeden Donnerstag an der Wohnungstür gewartet, bis sein Nachbar kam und ihm die Post brachte.
Wie sehr hat er den Duft ihres Briefpapiers geliebt, ihre Bilder, ihre herzerwärmenden Zeilen.
Es war göttlich, sich eine Zukunft mit ihr vorzustellen. Er log sich sein Leben schön. Wunderschön. Zu schön, um wahr zu sein.
Ihr vorletztes Briefchen machte ihm Bauchschmerzen. Es bestand nur aus wenigen Zeilen. Er wusste, es würde nicht mehr lange dauern, bis Miriam darauf bestand.
Wie sie wieder auf die Straße gekommen ist, weiß sie nicht.
Sie weiß auch nicht, wohin sie jetzt gehen soll, lässt sich von den Fußgängern mit ziehen, die nur ein Ziel kennen: das Brandenburger Tor.
Ein junger Mann mit breiten Schultern und Tränen in den Augen nimmt sie in den Arm und ruft: „He! Komm, nun freu dich! Ist das nicht Wahnsinn? Ist DAS nicht Wahnsinn? Jetzt wird alles, aber auch alles anders!“ Er dreht sie im Kreise herum und brüllt: „Mensch, nun lach doch mal! Los komm, wir gucken uns zusammen West-Berlin an!“
„Da war ich schon.“, flüstert Miriam. „Da war ich schon 28 Jahre lang.“
…..
Plötzlich dreht sie sich um. Sie läuft los. Zurück! Sie muss zurück! Mark!
„Mark ich komme!“
Texte: Copyright an Text und Cover liegt allein bei mirBeitrag zur 22. Wortspiel-RundeVorgegebenes Thema:Der Abend des 9.11.89 war gekommen, und von nun ab war für Miriam B. nichts mehr wie früher.
Tag der Veröffentlichung: 08.09.2010
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