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Die Fremde in mir


Der Anfang allen Endes

Elaina riss die Augen auf und unterdrückte einen Schrei. Sie setzte sich in ihrem Bett auf. Der Traum vernebelte noch ihren Kopf und ihr war schwindelig zumute. Ihr Atem ging schnell und flach und sie hatte das Gefühl noch in ihrem Traum gefangen zu sein. Sie sah sich um, konnte jedoch nichts Außergewöhnliches feststellen. Ihre Schultasche lehnte immer noch an ihrem unordentlichen Schreibtisch, seit sie sie gestern abgelegt hatte. Die Türen ihres Kleiderschranks standen speerangelweit offen, aus irgendeinem Grund störte sie das und sie stand auf um sie zuzuschließen. Neben ihm hang ein einfacher Spiegel. Sie betrachtete ihre dunklen, vor Schrecken geweiteten Augen, ihre langen, gelockten schwarzen Haare, die ihr bis zur Hüfte reichten, ihren schlanken Körper, der sich schwach unter ihren grauen, weiten Schlafanzug zeichnete. Sie wandte den Blick ab und sah sich in ihrem Zimmer um, während ihr Herz sich langsam wieder beruhigte. Die Raumausstattung war karg, die Wände grau und ihr Zimmer wirkte meist wie verlassen, deswegen achtete sie darauf, dass stets Unordentlichkeit herrschte; das machte es irgendwie wohnlicher.
Noch etwas verwirrt von ihrem Traum, an den sie sich nicht erinnern konnte aber von dem ein Unbehagen zurück geblieben war, trat sie aus ihrem Zimmer und ging die Treppen hinunter zur Küche. Wie erwartet stand ihr Ziehonkel am Herd und bereitete das Frühstück, mit der Begeisterung eines Hobbykochs, vor. Mit einem wehmütigen Lächeln betrachtete Elaina „Onkel Ced“, so wie sie ihn, seit sie klein war, nannte. Eigentlich hieß dieser Cedric Coleman, war gebürtiger Amerikaner, hielt aber nicht viel von seinem Vaterland, weshalb er nach Deutschland ausgewandert war. Seiner Meinung nach, herrschte hier nicht so viel Rassismus – denn, er war ein Afroamerikaner. Schon aus diesem Grund, hatte Elaina nie irgendjemandem erzählen können, dass er ihr leiblicher Vater wäre und ihre Mutter eines Nachts abgehauen wäre. Nein, sie war Vollwaise, sie hatte keine Verwandten, wusste nicht einmal wer ihre wahren Eltern waren. Sie wurde als Neugeborenes in eine „Babyklappe“ gelegt, jeder Versuch einen Verwandten aufzuspüren war zwecklos. Doch bevor man dem kleinen Mädchen auch nur einen Namen hätte geben können, war Cedric aufgetaucht um sie zu adoptieren. Niemand wusste, wie er davon in so kurzer Zeit erfahren hatte, doch es kümmerte keinen. Sie waren froh, dass so schnell jemand, ohne Vorstrafenregister und mit einer angemessenen Arbeit, aufgetaucht war. Er hatte Elaina ihren Namen gegeben und ihr immer erzählt: „Es war wie Liebe auf den ersten Pups“, anscheinend war das damals ihre Begrüßung an ihren neuen Vormund. Es war nicht so, dass sie Onkel Ced nicht über alles liebte, er sorgte gut für sie und pflegte sie, als wäre sie sein eigenes Kind. Dennoch, sie spürte ein Verlangen ihre wahren Wurzeln zu ergründen, zu wissen warum man sie wie Dreck einfach weggeworfen hatte. So stand sie manchmal an der Küchentür und wünschte sich, dass dort am Herd nicht er stehen würde, sondern ihre Mutter.
Onkel Ced hatte sie wohl bemerkt, denn er drehte sich mit einem Lächeln um.
„Oh, Elaina, guten Morgen. Ich habe Spiegeleier, mit Pancakes und Bacon gemacht, das liebst du doch so sehr.“ Einmal Ami, immer Ami, dachte Elaina lächelnd. Auch wenn er, im völligen Gegensatz zu ihr, seine Wurzeln versuchte zu vergessen, waren manche Sachen eben geblieben, wie zum Beispiel das Essen.
„Ja klar, danke, ich nehm’ gleich zwei Eier.“
Er häufte das Essen auf die viel zu kleinen Teller, und setzte sich ihr gegenüber. Er hatte ein warmes Lächeln, das jedem zu sagen schien, dass er willkommen sei. Ebenso war auch sein Charakter, doch sie wusste, dass er, wenn es darauf ankam, auch ganz anders sein konnte.
„Und hast du wieder einen neuen Fall, Onkel Ced?“ Cedric war ein leitender Kommissar und ließ es sich nie nehmen, mitten im Geschehen zu sein. Er hatte bisher seine Fälle immer zu Ende gebracht, nie einen abgelehnt und war, egal wie gewichtig der Fall war, immer mit Leidenschaft dabei gewesen.
„Nein, im Moment ist alles ruhig. Ist doch auch mal schön, nicht wahr?“ Sein Blick glitt ins Leere. Manchmal kam auch dieser Ced zum Vorschein. Meist war er der herum albernde und lustige Ced, der in einen Fall versessene Ced oder der traurige Ced. Er liebte seinen Job, hasste aber den Grund, weshalb es diesen überhaupt gab. Menschen hätten die Wahl, ob sie in die Hölle oder in den Himmel gelangen. Unschuldig schuldig? Das hörte er nur zu oft und es brachte ihn zur Weißglut. Elaina blickte über Onkel Ceds Kopf auf die Wanduhr und stellte mit Schrecken fest, dass sie mit ihrem besten Freund Jack in einer halben Stunde verabredet war.
„Hey Ced, ich muss los, ich treff’ mich noch mit Jack okay?“ Sie wartete seine Antwort nicht ab sondern stürmte, ihren Teller halb aufgegessen liegen lassend, nach oben in ihr Zimmer zu ihrem Kleiderschrank. „Mist, alles in der Wäsche, was zieh ich nur an?“, murmelte sie vor sich hin. Sie durchwühlte ihren Schrank, fand dort ein altes Oberteil, da mal eine Hose, die ihr längst zu klein war, aber nichts Brauchbares. Dann ergriff sie ein Kleid, das sie seit einer Ewigkeit nicht mehr getragen hatte. Es war blutrot, hatte einen V-Ausschnitt, ging bis zu den Knien und wurde mit einem dunkelroten Satinband um die Taille geschnürt. Sie seufzte und ergab sich ihrem Schicksal. Sie hasste Kleider, darin sah sie so mager aus. Elaina warf sich das Kleid über und band eine Schleife an ihrer rechten Seite und fuhr sich kurz mit dem kam durch ihre Haare. Sie schnappte sich all ihre wichtigen Habseligkeiten, wie Handy und Autoschlüssel, bedachte den Kleiderhaufen neben ihrem Schrank mit einem wohlwollenden Lächeln und flog, nur jede vierte Stufe nehmend, die Treppen runter. An der Haustür zog sie sich schnell ihre schwarzen Ballerinas an und rannte hinaus. Onkel Ced rief ihr noch etwas hinterher, aber sie drehte sich nicht mehr um. Sie erkannte ihren kleinen Ford von weitem und rannte auf ihn zu. Schon saß sie hinter dem Lenkrad und startete mit einem lauten Brummen den alten Wagen und fuhr mit quietschenden Reifen davon. Sie lachte bei der Vorstellung, wie die Nachbarn wohl schon wieder ans Fenster stürmten und laut ihrem Ärger über diese Ruhestörung an einem Sonntagmorgen Luft machten.
Sie fuhr durch die Innenstadt, vorbei an den kleinen Boutiquen und den großen Kaufhäusern, an gehetzten Menschen, die selbst an einem Sonntagmorgen Termine zu haben schienen. Ihr Treffpunkt war immer derselbe gewesen: Starbuck’s. Da sonst immer schwer Parkplätze zu finden waren, stellte sie sich auf eine längere Suche ein, doch- sie konnte ihr Glück kaum fassen- direkt vor ihrem Lieblinkstreffpunkt wurde gerade einer frei. Das Einparken bereitete ihr nie große Probleme, doch an diesem Tag war sie noch zu durcheinander von dem Traum, der ihr einfach nicht einfallen wollte. Sie konnte sich nur vage an einen Stimme erinnern, die ihr grauenhafte Dinge zugeflüstert hatte. Sie wollte, dass Elaina fürchterliche Dinge tat und schreckliche Szenen voll von Blut tauchten plötzlich vor ihrem Gesicht auf, ihr Onkel Ced ausgeweidet, als hätte man ihm seine Eingeweide heraus gerissen. Jack lag wimmernd am Boden, über und über mit Blut, auf seinem Körper zeichneten sich lange oberflächliche Schnitte, wie von einer Folterung und er flehte um Erbarmen, sein Gesicht verzerrt von blankem Entsetzen. Sie schreckte auf, kniff die Augen zusammen und wurde von einem schwarzen Nebel eingehüllt.

Elaina hob ihren Kopf. Sie fühlte sich merkwürdig. Was war geschehen? Sie lag auf etwas weichem- vielleicht ein Bett? War es ihres? Nein, das fühlte sich anders an. Plötzlich wurde ihr unbehaglich zumute. Sie versuchte sich auf ihre guten Ohren zu verlassen und horchte aufmerksam. Leise Stimmen waren zu vernehmen, mehrmals fiel auch ihr Name, doch was genau besprochen wurde konnte sie nicht verstehen. Sie war noch etwas benommen und ihr Kopf drehte sich. Durch ihre Neugier angetrieben, die jede Angst bezwang, schlug sie die Augen auf. Sie sah eine weiße Decke, weiße Wände, weiße Betten, weiße Stühle und weiße Tische. Einigermaßen sicher, wo sie sich befand richtete sie sich langsam auf. Ihre Vermutung bestätigte sich. Sie war in einem Krankenhaus, hatte jedoch keinerlei Erinnerung an was davor geschehen war. Langsam durchforstete sie ihr Gedächtnis. Nacheinanderfolgende Bilder tauchten auf, ihre Schultasche, Onkel Ced beim Frühstück machen, der Ford- Onkel Ced! Sie sprang aus dem Bett auf, taumelte kurz gegen die Wand, wegen eines plötzlichen Schwindelanfalls. Sie hielt sich den Kopf und blieb kurz schwankend stehen um sich zu fassen. Als sich ihr Gleichgewichtssinn mehr oder weniger wieder normalisiert hatte, riss sie den Kopf hoch, rannte zur Tür und lief mit schnellen Schritten den Gang entlang, da sie zum Rennen körperlich noch nicht bereit war. Mehrere Schwestern sprachen sie an, aber sie war taub für alles Außenstehende. Was zählte war Onkel Ced und… Was war da noch gewesen? Während sie nach einem Doktor suchte versuchte sie sich alles wieder in Erinnerung zu rufen. Sie hatte eine Stimme gehörte, sah Onkel Ced tot und…und Jack! Er war verletzt. Und dann... An mehr konnte sie sich nicht erinnern. Wie erstarrt blieb sie abrupt stehen. Sie tastete ihren Körper ab, aber fand keine Verletzungen. Was also war geschehen? Ein junger, gut aussehender Doktor, mit braunem vollem Haar, einem sanftmütigen Lächeln aber mit wachsamen Augen, kam ihr entgegen, sie stürmte auf ihn zu.
„Doktor! Bitte, wissen sie was mit Onkel Ce- ich meine mit Cedric Coleman ist? Ist er verletzt? Lebt er? Wo ist er?“ Der Arzt blickte sie einen Moment lang verständnislos an, sein Blick bewegte sich über ihren Körper, der, wir ihr nun auffiel, nur mit einem Kittel bekleidet war und blieb dann auf ihrem Gesicht ruhen. Peinlich berührt verschränkte sie die Arme vor der Brust. Plötzlich hellte sich sein Gesicht auf.
„Ah, Sie müssen Frau Coleman sein, nicht wahr? Ich bin Doktor Wolf. Wie fühlen Sie sich?“ Im Moment war wirklich keine Zeit für einen Plausch. Ungeduldig unterbrach sie ihn. „Ja, ja, aber das ist jetzt unwichtig, wie geht’s ihm?“
„Aber warum denn ihm? Sie hatten doch den Unfall! Ihm geht es ausgezeichnet, er ist im Moment in der Kantine und Sie sollten übrigens noch im Bett liegen. Sie müssen sich noch eine Weile ausruhen. Sie hatten eine Gehirnerschütterung.“ Verblüfft suchte sie in seinem Gesicht nach einem Anzeichen von einem falschen Lächeln. Nahm er sie auf den Arm? Was für ein Unfall? Der Arzt schien keinen Widerstand zu akzeptieren und Elaina ließ sich von ihm in das Zimmer bugsieren.
„So, und jetzt auf ins Bett. Brauchen Sie etwas? Haben sie vielleicht Hunger?“
Verwirrt schüttelte sie stumm den Kopf.
„Na gut, dann werde ich sie jetzt mal ruhen lassen.“ Noch im Sprechen verließ er den Raum, nicht ohne ihr noch zuzuzwinkern.
Unfall? Die Kinnlade klappte ihr herunter. Natürlich! Siedendheiß fiel es ihr wieder ein. Nach dem sie völlig verschreckt Onkel Ced und Jack vor sich gesehen hatte wollte sie eine Vollbremsung machen, erwischte aber das Gaspedal. Sie rammte einen Honda mit voller Wucht und danach war alles schwarz geworden. Sie stöhnte auf. Plötzlich bemerkte sie, wie erschöpft sie eigentlich war und ließ sich in das weiche Kissen zurück fallen und wurde von einem wohligen Schlaf übermannt.

Eine kühle Brise umwehte Elaina. Sie fühlte sich müde und ausgehungert, obwohl sie geschlafen hatte. Sie stellte fest, dass sie auf etwas sehr hartem lag. Asphalt? Ihre Kleidung fühlte sich schwer, nass und klebrig an. Was war geschehen? Sie schlug die Augen auf und rappelte sich hoch. Um sie herum waren Hochhäuser zu sehen, es war dunkel und aus vielen Wohnungen strahlten die Lampen und Fernsehlichter. Sie selbst saß auf einem verlassenen Dach eines Wolkenkratzers. Wie war sie dahin gekommen, eben gerade hatte sie sich doch noch im Krankenhaus befunden. Sie befühlte ihre Kleidung und stellte fest, dass sie sich nicht getäuscht hatte, es fühlte sich nass und klebrig an, ihren Kittel hatte sie allerdings noch an, das konnte sie spüren. Er war an einigen Stellen zerrissen. Doch im Dunkeln war es nicht einmal möglich ihre eigene Hand richtig zu erkennen und sie wollte heraus bekommen was passiert war. Zögernd stand sie auf und blickte sich um. Das Dach hatte ein flaches Geländer und in der Mitte war ein kleines Haus mit einer Türe. Wahrscheinlich das Treppenhaus, dachte sie erleichtert und schritt darauf zu. Die Tür war zu ihrem Glück nicht abgeschlossen und sie trat ins Licht. Erstarrt blickte sie an sich herunter. Der einst weiße Kittel war getränkt mit Blut, auch an ihren Händen und Füßen klebte es. Sie hob langsam die Hände und beobachtete wie das Blut langsam an ihren Armen hinunter floss. Wie lange sie dort so stand konnte sie nicht mehr sagen, sie wusste nur noch, dass sie wie taub gewesen war. Sie hatte weder etwas gefühlt noch bemerkte den Mann der direkt hinter ihr auftauchte.
„Willst du hier Wurzeln schlagen?“, tönte eine provozierende Stimme hinter hier. Sie erschrak heftig zusammen und riss den Mund auf um zu schreien. Doch schon hatte der Mann seine Hand darauf gepresst und zog sie an sich, es passierte so unglaublich schnell. Sie wand sich heftig und versuchte sie zu befreien, kniff, biss und schlug um sich, doch ziemlich bald merkte sie, dass er um einiges stärker war und sie aus irgendeinem Grund auch nicht in die nächste Ecke gezogen hatte um sie zu vergewaltigen.
Sie hörte auf sich zu wehren. Ihr Herz hämmerte gegen ihre Brust und ihr Atem ging schnell und unregelmäßig. Er beugte seinen Kopf zu ihrem Ohr hinunter und sagte: „Kann ich dich jetzt endlich loslassen ohne, dass du ein riesen Geschrei loslässt und die ganze Stadt auf uns hetzt? Und so nebenbei, du bist die, die voller Blut ist, nicht ich. Glaubst du nicht das könnte etwas Aufsehen erregen? Also beruhig’ dich und hör mir zu.“
Sein entschiedener Tonfall machte ihr Angst. Er zögerte nicht, zitterte nicht und wusste genau was er wollte. Von Ced wusste sie, dass dies die gefährlichsten sind, da sie weniger Fehler bei ihren Taten begehen, da sie rational handeln können und nicht die Leidenschaft ihre Sicht auf die Dinge trübt. Elaina nickte. Sie zitterte am ganzen Körper und überlegte, wie sie am schnellsten flüchten könnte. Sie sah leider nur zwei Fluchtwege: Die Treppe oder sich vom Dach stürzen; keine wirklich gute Aussichten. Langsam nahm er die Hand von ihrem Mund, hielt sie aber dennoch fest, sodass sie sein Gesicht nicht erkennen konnte. Sie reckte ihr Kinn vor, versuchte aufmüpfig und provozierend zu wirken, selbstbewusst.
„Was ist passiert? Wie bin ich hier hergekommen? Falls Sie mich entführt haben, dann seien sie gewarnt, mein Vater ist-“
„Ich weiß was dein Vater ist.“, antwortete er ruhig. „Und ich weiß, dass er nicht dein Vater ist. Merk dir, ich bin immer über alles informiert. Ich bin die Perfektion. Aber ich habe dich nicht hierher gebracht.“
Einen Moment hielt sie kurz inne doch dann lachte sie laut auf. „Natürlich, und jetzt wollen Sie mir wahrscheinlich noch klar machen, dass ich selbst hier hoch gelaufen bin. Okay gut, dass wir das geklärt haben, und woher dann das Blut?“ Ihre Stimme triefte nur so von Sarkasmus und sie war auch nicht gewillt, ihm Schwäche zu zeigen, auch wenn sie innerlich Todesangst ausstand.
„Nun, zum ersten Punkt: Ja, du hast Recht, du bist hier selbst hoch gelaufen, allerdings bist du nicht schlafgewandelt aber das erzähl ich dir irgendwann Mal, vielleicht kommst du auch selbst darauf.“ Elaina unterbrach ihn. „Irgendwann Mal? Haben Sie vor wiederzukommen? Nein, ich will mit Ihnen nichts zu tun haben. Ich will jetzt nach Hause – und zwar sofort!“ Die letzten Worte spie sie fast aus. Der Mann antwortete ihr mit derselben besonnen Stimme wie zuvor.
„Ja, ich werde dich öfters besuchen und glaube mir, du wirst mich sogar irgendwann darum anflehen wieder aufzutauchen. Nun, Punkt zwei: Das Blut stammt von jemand anderem, mal schauen wie schnell du heraus bekommst, woher. Abschließend möchte ich noch hinzufügen, dass alles was passiert nicht meine Taten sind, du wirst mir aber aller Wahrscheinlichkeit nach nicht glauben.“ Elaina spürte einen Windhauch und eine Last fiel von ihrem Körper ab. Einen Moment später bemerkte sie, dass sie sich besser fühlte, weil der Mann, der eben noch hinter ihr gestanden hatte, einfach verschwunden war.
Sie seufzte erleichtert und ließ sich gegen die Wand fallen. Ihr war alles egal, sie wollte nur noch nach Hause in ihr Bett. Langsam torkelt sie die Treppen des Hochhauses hinunter und war froh, dass sie keinem begegnet war. Sie lief durch die Straßen ohne auf den Weg zu achten, so erschöpft war sie. Doch irgendwann stand sie vor ihrem Haus und blickte an der Fassade hoch. Sie bemerkt, dass die Farbe langsam abblätterte. Fasziniert betrachtete sie die weißen Flecken die unter der roten Farbe heraus schienen. Irgendwann setzten sich ihre Beine von alleine in Bewegung. Das Haus war dunkel, Ced war wahrscheinlich auf einem Einsatz, weshalb ihm das Fehlen von Elaina nicht aufgefallen war. Den Kittel schmiss sie in die Waschmaschine und legte sich dann in ihr Bett, es kam ihr alles so unwirklich vor, wie in einem Traum, der entweder zu schön oder zu schrecklich war, als dass er wahr sein könnte.


Am nächsten Morgen fühlte sie sich ausgeruht und bei vollem Verstand. Sie verdrängte die Gedanken an den Tag zuvor und wurde vom Duft angezogen, der wahrscheinlich von unten aus der Küche kam. Sie zog sich schnell eine schwarze Jogginghose und einen grauen „Schlabberpulli“ über und ging nach unten. Sie lächelte Onkel Ced übermütig an und ging auf ihn zu um ihn zu umarmen. Doch irgendetwas war an diesem Morgen anders. Nichts kam zurück. Sein Körper war vollkommen steif. Sie ließ von ihm ab und sah ihm ins Gesicht. Sein Gesichtsausdruck war verbissen, seine Lippen zu einem Strich gepresst.
„Onkel Ced, was ist denn los?“ Er wandte sein Gesicht zu Elaina, seine Augen blitzen vor Wut, doch als ihre Augen seine suchten, verrauchte diese und wich einem zärtlichen, wehmütigen Ausdruck, sie glaubte in seinen Augen auch Verzweiflung zu sehen.
„Wir haben einen neuen Fall. Elaina, setzen wir uns bitte kurz.“ Es war keine Frage, aber auch kein Befehl. Etwas in seinem Tonfall machte ihr Angst, doch sie folgte seinem Wunsch. Sie saßen sich gegenüber und er ergriff ihre Hand.
„Elaina…Nun, ich wurde gestern Nacht zu einem Haus gerufen. Der Anruf ging um genau Mitternacht ein.“ Ced stockte nach jedem Satz und er schien außerstande sie anzuschauen.
„Er ist direkt in mein Büro gestellt worden, er hat nach mir verlangt. Es war ein Mann. Er sagte, dass ich zu dieser Adresse fahren sollte. Er sagte: >>Der Freund Ihres Lebens hat ein tragisches Ende genommen. Jagen Sie mich. << Dann hat er aufgelegt.“ Er seufzte. „Ich habe zuerst nicht verstanden, was er damit gemeint hat, aber dann…“ Er holte tief Luft und blickte Elaina an. „Schatz, ich bin in das Haus gegangen und-“ Alles löste sich vor Elainas Augen auf und sie hatte das Gefühl zu schweben. Das Nächste was sie sah war eine braune Tür mit einem schwarzen Messingtürklopfer, sie kam ihr seltsam bekannt vor. Eine dunkelbraune Hand öffnete sie, Elaina bemerkt, dass diese zitterte. Doch dann wurde die Tür entschlossen aufgestoßen und eine schwarze Glock kam ins Sichtbild. Die Erkenntnis durchfuhr sie wie ein Schlag. Sie durchlebte in diesem Moment die Erinnerung von Onkel Ced. Sie hatte die schwarze Glock sofort erkannt, sie war seine Pistole schon seit einer Ewigkeit gewesen. Seit sie sich erinnern konnte, hatte er sie immer bei sich getragen, Elaina hatte auch einmal aufgeschnappt wie einer seiner Kollegen ihn wegen seiner Schießfähigkeit bewunderte und lobte.
Es war als steckte sie in seinem Kopf. Sie roch Blut. Blut riecht ungefähr so als hätte man den Mund voller Kupfermünzen. Schwer und belastend, voller dunkler Vorahnungen. Sie wagte sich langsam vor, auf der rechten Seite führte eine Treppe ein Stockwerk nach oben. Irgendein Gefühl beschlich sie, dass dort etwas passiert sein musste. Ced lief trotzdem erst mal das Untergeschoss ab. Die Küche war modern eingerichtet, schlicht in weiß und schwarz gehalten. Ihr fiel nichts Besonderes auf, Ced schien das auch so zu sehen, denn er schlich weiter in das Wohnzimmer. Ein Flachbildschirm hing an der einen Wand, eine große schwarze Ledercouch stand ihr gegenüber, auch hier war alles schlicht aber im modernen Stil eingerichtet. Er bedeutete seinen Kollegen wieder zurück zu weichen und ihm Platz zu machen, damit sie nach oben gehen kann. Die Grenze zwischen Elaina und Ced war verschwommen und Elaina hatte das Gefühl selbst dort in der Wohnung zu stehen. Sie bestieg vorsichtig die erste Holzstufe, war froh, dass sie nicht knarrte und ging weiter. Sie hörte nichts, doch das hatte nichts zu heißen. Der Blutgeruch wurde stärker. Am Ende der Treppe blickte sie sich um: geradeaus war das Bad, es war groß und – Überraschung – mit weißen und schwarzen Fliesen. Nach einem kurzen Blick wandte sie sich den Schlafzimmern zu. Auf der rechten Tür stand „Lisa und Emanuel“. Sie öffnete die Tür und eine Flut von Eindrücken überfiel sie. Überall war Blut, in Lachen auf dem Boden, in Spritzern an den Wänden. Ein Mund voller Kupfermünzen.
Nachdem sich ihre Sinne wieder stabilisiert hatten nahm sie das Zimmer rational auf, wie jeder Ermittler sich umstellen muss um sich auf den Täter konzentrieren zu können, sich in ihn hineinzuversetzen ist die größte Kunst. Man muss einen Täter fühlen. Auch Elaina wollte später die gleiche Richtung wie Ced einschlagen, sie hatte schon oft die Gräueltaten entweder miterleben müssen oder war mit ihm in einen Tatort hinein geplatzt, ohne es zu wissen. Dadurch, dass Ced so erfolgreich war, war er eine beliebte Zielscheibe von Serienmördern und anderen Wahnsinnigen, doch auch Elaina blieb nicht verschont, denn jeder wusste wie wichtig sie dem Top-Ermittler war.
Das Zimmer stand im Kontrast zu dem Rest des Hauses. Die Farben waren in warmen Braun- und Beigetönen gehalten und es strahlte Ruhe aus. Insgesamt war es liebevoll eingerichtet mit Blumen, Kerzen und weiteren Accessoires und hier und da hing oder stand ein Foto eines Familienmitglieds, insgesamt sehr angenehm und beruhigend. Wenn es nicht beschmutzt wäre mit dem Blut der Bewohner. Lisa und Emanuel waren zwei erwachsene, relativ hübsche Menschen gewesen. Das konnte sie selbst unter der erstarrten Maske des Entsetzens, welches sie im Moment ihres Todes verspürt hatten, sehen. Die Augen der beiden waren vor Schmerz und Angst weit aufgerissen. Sie lagen parallel nebeneinander, ihr fiel auf, dass die beiden Händchen hielten. Hat das der Mörder getan oder waren die beiden das selbst? Sie machte sich eine gedankliche Notiz und inspizierte weiter die beiden Leichen.
Sie fing innerlich an zu zittern. Ihre Körper waren ausgeweidet, die Eingeweide hingen in Fetzen aus der Bauchhöhle. Das hatte sie schon einmal gesehen – bei Jack und Onkel Ced. Das beunruhigte sie zutiefst. Zufall? „Wohl kaum.“, dachte sie spöttisch. Das Herz jedoch hatte er im Körper gelassen. Oder eine Sie? Darüber konnte sie noch keine Vermutung anstellen. Das Herz scheint dem Täter aber wichtig zu sein das spürte sie, es musste eine Bedeutung haben. Ced verspürte anscheinend keinen Drang mehr länger als möglich in dem Zimmer zu bleiben, vor allem aber weil ihn ein Gefühl beschlich, dass das nicht alles gewesen sein konnte.
Er verließ den Raum und bewegte sich auf das letzte im Flur zu. Auf der Tür stand: Jack.
Ein Schock durchfuhr Elaina. Nein, sie wollte da nicht rein, wollte nicht sehen, was sich da drin befand. Sie versuchte Ced mit aller Macht ihrer Gedanken ihn zum Aufhören zu zwingen, ihn anzuschreien er sollte sofort kehrt machen. Als dies nichts nütze, versuchte sie die Augen zu schließen, doch der Körper gehorchte nicht. Sie ahnte, was dort drin war. Doch Ceds Körper bewegte sich unaufhörlich weiter auf die Türe, er streckte die Hand aus – sie zitterte noch stärker als vor dem Betreten des Hauses. Die Tür schwang mit einem leisen Quietschen auf. Elaina wollte schreien, weglaufen, wegsehen, sich übergeben, die Augen vor allem verschließen. Doch sie konnte nicht. Es war wie in einem Albtraum ,der dich ertränken will während du nach Luft schnappst und versuchst nach oben zu schwimmen, strampelst, schlägst um dich, doch er bleibt bei dir, ist präsent und du weißt, dass er dich kriegen wird.
Auf dem Bett lag ihr bester Freund Jack. Genau wie in ihrer Erinnerung. Oberflächliche Schnitte waren überall auf seinem Körper, kleine rote Flecke, die wahrscheinlich von der kirschroten Spitze einer Zigarette stammten, waren auf Armen und Beinen verteilt. Seine Kehle war aufgeschlitzt, wie ein grinsender roter Mund unter dem Kinn. Er lag auf dem Bett in seinem eigenen Blut und seinem Erbrochenem. Er war kalkweiß. Wahrscheinlich hat er ihn ausbluten lassen. Elaina erinnerte sich an ihren Biologiekurs in dem sie gelernt hatte, dass bei einem Durchschnittmensch circa 4 ½ Liter Blut durch den Körper gepumpt werden. 4 ½ Liter können einem viel vorkommen. Auch sein Gesicht war verzerrt, er war grausam gestorben. Ceds Körper näherte sich langsam dem Bett. Elaina war wie erstarrt, selbst ihr Gedankengang war eingefroren. Ihr bester Freund lag dort auf dem Bett, zu Tode gefoltert. Der, der seit ihrer Kindheit zu ihr gestanden hatte. Sie tauchte wieder in alte Erinnerungen ein.
„Komm schon, Elaina, wo bleibst du denn?“ Jack lachte sie übermütig, wie nur ein Kind es konnte, von der anderen Straßenseite an und winkte ihr zu. Elaina hob die Hand und tat es ihm gleich. Sie rannte über die Straße und die beiden rannten aufgeregt zum nahe gelegenen Spielplatz. „Jack, ich darf zuerst schaukeln, letztes Mal warst du die ganze Zeit drauf.“ Sie funkelte ihn auffordernd an, nur darauf wartend, dass er ihr widersprach. Jack lächelte sie schelmisch an. „Na klar, darfst du als Erste.“ Freudig rannte Elaina auf die Schaukel zu, und fing an zu schwingen und rief jedes Mal „Huuuuiiii“. Doch dann hörte sie ein lautes Lachen. Sie nahm noch ein letztes Mal viel Schwung und hüpfte dann ab und landete weich auf dem Sand. Sie suchte den Platz mit ihren großen, kindlichen Augen nach Jack ab. Dann entdeckte sie ihn und riss den Mund voller Empörung auf. Er hatte es doch tatsächlich gewagt ihr zu verschweigen, dass es eine neue Wippe gab. Er schaukelte vor und zurück und lachte aus vollem Hals. Elaina rannte auf ihn zu. Sie baute sich vor ihm auf und plusterte sich auf. „Ja-ack!“, sagte sie streng. „Jack, du bist gemein, du hast mich nur auf die Schaukel gelassen, damit du auf die neue Wippe kannst. Du bist nicht mehr mein Freund!“ Daraufhin rannte sie zur Schaukel und setzte sich drauf. Sie wollte eigentlich nur so tun, als ob sie sauer war, doch dann kamen ihr wirklich die Tränen. Sie weinte ohne Hemmungen, so herzergreifend und voller Ehrlichkeit. Plötzlich bewegte sich die Schaukel nach vorne und sie hörte ein angestrengtes Stöhnen hinter ihrem Rücken.
„Was machst du da, Jack? Lass mich ihn Ruhe, ich mag dich nicht mehr.“
Jack stieß die Schaukel weiter an.
„Nein.“
„Hör auf! Lass mich in Ruhe!“
„Nein. Du bist meine Freundin und ich hab dich lieb. Basta!“
Elaina schwieg und ließ sich weiter anschucken. Nach einer Weile sagte sie kleinlaut: „Es tut mir Leid, Jack, ich hab dich auch lieb.“ Sie wusste, an diesen Moment würde sie sich immer zurück erinnern. Plötzlich war sie wieder im Hier und Jetzt gefangen. Alles rotierte, verschwamm und wurde wieder scharf.
Sie erkannte, dass in Jacks verkrampfter Hand ein weißer Stofffetzen lag.
Blitz.
Jack spielend.
Blitz.
Jack lachend.
Blitz,
Jack tot.
Sie spürte, wie ihr langsam alles entglitt. Alles wurde zu einer komischen Masse aus Farben. Sie wurde ohnmächtig und erwachte kurze Zeit später wieder.
„Elaina, ist alles in Ordnung? Bitte, sag was! Elaina?“ Sie blinzelte und richtete die Augen auf das besorgte Gesicht ihres Ziehonkels. Ihr fiel auf, dass sie auf dem Küchenboden lag.
„Ich…Onkel Ced? Jack…“ Und dann wurde sie wieder ohnmächtig.


„Das muss ein großer Schock für sie gewesen sein. Die arme Familie. Ich frage mich immer wieder wie Menschen zu so etwas fähig sein können. Nach der Meinung des Pathologen wurde der Junge stundenlang gefoltert, seine Eltern wurden nur ausgeweidet, allerdings so wie der Junge bei lebendigem Leibe. Den genauen Tathergang konnten wir noch nicht herstellen. Insgesamt wurden bei dem jungen Opfer 423 Brandwunden gefunden und 45 Schnitte. Wobei die glatten Seiten der Schnittwunden auf ein Skalpell oder ähnliches schließen lassen, jedenfalls muss das Messer sehr scharf gewesen sein. Außerdem hat er Schürfungen und Hämatome an Fuß- und Handgelenken, was darauf hinweist, dass er während der Tat gefesselt war und sich, logischerweise, heftig gewehrt hat. Die Forensiker haben leider absolut nichts finden können. Weder Fingerabdrücke noch Hautpartikel oder Haare. Allerdings wurde ein weißer Stofffetzen in der Hand des Opfers gefunden, den er dem Täter vermutlich bei einem Kampf entrissen hat.“ Die Stimme eines Mannes unterbrach den Vortrag des anderen.
„Ein Stofffetzten? Na, das ist doch schon mal was!“
„Ja, allerdings befinden sich auch auf diesem keine Spuren. Wir tappen im Moment noch im Dunkeln. Was wir allerdings wissen ist, dass der Täter einerseits sehr organisiert ist, was wir daran erkennen, dass es bei diesem Tatort scheint, als gäbe es den Täter überhaupt nicht, aufgrund fehlender Spuren. Andererseits ist er leidenschaftlich vorgegangen, er hat die Eingeweide der Opfer rausgerissen mit roher Gewalt. Wahrscheinlich war er dabei erigiert, denn dieser Akt scheint ihm oder ihr, was wir bisher noch nicht sagen können, große Freude gemacht zu haben. Das ist wahrscheinlich das, worunter er sich den besten Sex seines Lebens vorstellt. Das ist auch der Grund, warum die Täter es immer wieder tun. Es wie bei einer Droge. Nur aus diesem Grund gibt es Serienkiller. Eine sexuelle Komponente ist zu 98% ein Teil des Antriebs. Was uns allerdings wiederum stutzig macht, ist die Tatsache, dass er das Herz jedes der drei Opfer unversehrt und im Körper gelassen hat. Das Herz muss für ihn ein Symbol sein, irgendeine wichtige Bedeutung, aber auch hier können wir derzeit nur Vermutungen anstellen.“
„Das heißt wir haben es hier mit einem Serienkiller zu tun?“ Die Stimme klang verschreckt, doch Verachtung schwang in seiner Stimme mit.
„Vermutlich, ja. Und das ist gut für uns, denn kein Täter ist perfekt, irgendwann macht jeder einen Fehler. Es ist nur tragisch um seine nächsten Opfer, denn meiner Meinung nach wird es welche geben. Nun…worauf ich dich allerdings ansprechen wollte, ist etwas unangenehm.“ Der Mann stockte.
„Erzähl.“
„Wir haben Haare von Elaina am Tatort entdeckt.“ Der andere Mann seufzte erleichtert.
„Ja, aber das ist doch nur natürlich, Elaina war ständig bei ihm, auch wenn sie seine Eltern noch nie kennen gelernt hat, weil diese fast immer auf Geschäftsreisen waren.“
„Ced, die Haaren wurden in der Leibeshöhle des Jungen gefunden.“
Stille.
Als Ced weiter sprach war seine Stimme sehr leise und bedrohlich.
„Was willst du damit sagen? Dass sie den Mord begangen hat? Ihren besten Freund stundenlang gefoltert und dann ausgeweidet hat?“, er wurde immer lauter. „Willst du das damit sagen, Robert?“
Robert antwortete beschwichtigend: „Nein, nun, was wir denken ist folgendes: Der Täter hat es auf deine Tochter abgesehen und somit auch auf dich. Indem er die Haare deiner Tochter auf den Tatort platziert verletzt er dich, er macht dich unsicher, aber gleichzeitig hat er auch deine vollkommene Aufmerksamkeit. Verstehst du? Das ist auch der Grund weshalb er dich angerufen hat. Seine Aussage: „Jagen Sie mich“ ist zudem deutlich genug. Nicht zu vergessen: „Der Freund“ – also Jack – „ihres Lebens“ – nun wir kamen zum Schluss, dass er damit wohl deine Tochter gemeint hat – „hat ein tragisches Ende genommen.“
Wir glauben auch nicht, dass es deine Tochter war. Aber es ist schon merkwürdig, dass in dem Zimmer nur Spuren von Jack und Elaina zu finden waren.“
Elaina lag in ihrem Bett, stocksteif. Ihre Augen waren wie zuvor geschlossen, doch sie hatte jedes Wort des Gesprächs mit angehört, welches im Nebenzimmer stattgefunden hat. Sie konnte es nicht glauben. Sie fing an unkontrolliert zu zittern. Sie verkrampfte sich und lockerte sich wieder, verkrampfte sich und lockerte sich wieder, doch sie ließ die Augen geschlossen. Sie wollte nichts von der Welt sehen, wollte nichts fühlen, einfach nur sterben.
Sie fühlte sich, als hätte man ihr den Boden unter den Füßen weggezogen, und das Bauchziehen, das dabei entsteht bleibt einfach. Ihr fiel es schwer zu atmen, als würde irgendjemand die Luft aus dem Raum aufsaugen, nur aus dem Spaß sie ihr zu nehmen. Sie keuchte und schluchzte, doch keine Tränen kamen.
„Und? Wie fühlt sich das an? Zu wissen, dass man eine kaltblütige Mörderin ist?“ Elaina riss die Augen auf und hob den Kopf. Das Zimmer war dunkel und sie konnte nichts erkennen. Doch sie erkannte die Stimme wieder. Es war der gleiche, der mit ihr schon auf dem Dach geredet hat.
„Deine Reaktion auf das eben gehörte war wirklich sehr interessant. Es gefällt mir. Doch bald wirst du anders denken. Ich habe dich ausgewählt. Schon vor langer Zeit. Du bist perfekt, Elaina. Perfekt dafür geschaffen, den Menschen zu lehren, dass das Böse existiert.“ Eine noch nie da gewesene Wut erfüllte sie und vertrieb jedes Gefühl von Trauer und Schmerz.
„Verdammt, was genau willst du von mir? Was soll das alles? Was habe ich getan?“ Der Fremde lachte kalt und monoton.
„Du willst, wissen was du getan hast? Wirklich? Kannst du es dir nicht denken? Nun, aber wenn du es unbedingt wissen willst, ist das kein Problem. Dein Wunsch wird schon bald in Erfüllung gehen.“ Sie stockte, was hatte das nun wieder zu bedeuten? Sie richtete sich auf, versuchte größer zu wirken als sie sich eigentlich fühlte. Sie setzte zu einem Satz an, doch es kam nur ein röchelnder Laut heraus. Der Fremde schien dies bemerkt zu haben, denn sein Tonfall wurde ein wenig zärtlich. „Elaina, du brauchst keine Angst zu haben. Dir wird nichts passieren. Du bist mein Kunstwerk. Weißt du was eine Kollage ist?“ Sie schwieg, er hatte anscheinend auch nichts anderes erwartet, denn er wartete ihre Antwort nicht ab. „ Eine Kollage ist aus mehreren Teilen zusammengesetzt und ergibt am Ende ein Kunstwerk. Aus dir wird so etwas Ähnliches. Du wirst zerbrechen und wieder zusammen finden und wieder zerbrechen und wieder ein Ganzes ergeben. Am Ende wirst du ein Kunstwerk aus scheinbar zufällig durcheinander gewürfelten Stücken deines Selbst sein, mein Kunstwerk. Du wirst schon bald sehen was ich meine.“
Elaina war vollkommen fassungslos. Was meinte er mit zerbrechen? Für sie war sein Gerede nur das eines Wahnsinnigen. Doch, und das war der ausschlaggebende Punkt, weshalb sie das nicht kalt lassen durfte, er fing an ihr Leben, das sie sich aufgebaut hat, in einen Scherbenhaufen zu verwandeln. Sie holte einmal tief Luft und sagte mit ruhiger Stimme: „Ich versteh nicht ganz, was du mit mir vorhast, aber erwarte nicht, dass ich mich nicht wehren werde, dass ich nicht kämpfen werde. Du machst mir mein Leben nicht kaputt, hörst du? Und du wirst dafür bezahlen, was du Jack angetan hast.“ Ihre Stimme wurde immer lauter und sie musste sich mäßigen nicht zu schreien. Sie blickte in die völlige Finsternis ihres Zimmers und wartete auf eine Reaktion. Wenigstens irgendetwas. Es wäre ihr auch Recht gewesen, hätte er sie geschlagen, doch sie wartete vergeblich. Wut wallte erneut in ihr auf. „Hallo? Machst du dich über mich lustig? Denkst du, du hast es nicht nötig mir zu antworten? Hallo?“ Doch es kam immer noch keine Antwort. Vorsichtig stand sie auf und tastete sich an ihrem Schrank zur Tür, neben der sich auch der Lichtschalter befand. Sie betätigte ihn und musste einen Moment die Augen zukneifen, da das helle Licht sie blendete.
Der Fremde war verschwunden. Die Fenster und die Rollläden waren geschlossen, ebenso die Tür. Die Kinnlade fiel ihr herunter und sie starrte ihr leeres Zimmer an. Ungläubig schüttelte sie den Kopf. „Das ist doch jetzt ein schlechter Scherz!“, rief sie in die Stille hinein. Prompt ging die Tür neben ihr auf und Onkel Ced steckte vorsichtig seinen Kopf hinein. Er betrachtete sie mit sorgenvollen Augen. „Elaina, Schatz, ist alles in Ordnung? Ich habe dich reden gehört.“ Sie warf noch einen letzten prüfenden Blick zurück und wandte sich dann mit einem erschöpften Lächeln ihrem Ziehonkel zu.
„Nein, es ist alles in Ordnung.“
„Wirklich?“
„Ja, wirklich.“ Sie überlegte einen Moment.
„Ich würde jetzt gerne spazieren gehen.“
„Oh gerne, ich brauche auch ein bisschen frische-“ Elaina schüttelte den Kopf.
„Nein, ich möchte alleine gehen. Ich zieh mich schnell um.“
Sie schloss konsequent die Türe und seufzte. Sie fühlte sich so unglaublich erschöpft und leer, die Trauer hatte sie noch nicht richtig erreicht, die Erinnerungen und Gedanken an Jack waren noch stumpf, wie als würden Nadeln leicht zustechen aber doch nicht stark genug um weh zu tun. Sie zog ihren Pyjama aus und warf sich ihre Joggingkleidung über. Mit gesenktem Kopf und schnellen Schritten stürmte sie die Treppen hinunter, gleich zur Haustüre hinaus. Sie fing an zu rennen, so schnell sie konnte. Verließ ihre Wohngegend und rannte und rannte, ohne wahrzunehmen wohin sie das Schicksal führte. Sie rannte, keuchte und der Wind zog ihr durch die Haare und bauschte sie auf. Sie dachte an nichts und konzentrierte sich nur auf ihre Beine, die sie vorwärts trugen. Irgendwann, kurz vor der Ohnmacht, stoppte sie und ließ sich einfach mitten auf dem Gehweg fallen und legte sich hin. Ihr Atem ging schnell und ihre Augen tränten von der Luft. Sie drehte ihren Kopf zur Seite und erkannte, dass sie zu Jacks Haus gelaufen. Sie dachte immer noch nichts. In einer fließenden Bewegung stand sie auf.
Ja, geh weiter. Geh. An diesem Ort warst du zum ersten Mal lebendig. Ich war lebendig. Geh weiter. Vergiss nicht, was du mir schuldig bist. Durch mich bist du lebendig.


Es war eine monotone Stimme und doch klang sie überzeugend. Die Stimme kam tief aus ihrem Inneren, fühlte sich an wie ihre eigene und war es doch nicht. Elaina bewegte sich langsam auf das Haus zu. Das Grundstück war mit weiß-roten Plastikbändern der Polizei abgesperrt, sie ging einfach auf sie zu, stoppte kurz als die Bänder sich strafften. Ein Ruck durchfuhr ihren Körper als sie rissen und sie ging weiter. Sie suchte den Vorgarten nach einem flachen Platz ab, setzte sich dann dort hin und schloss ihre Arme um die Knie. Die Stimme sprach weiter.
Hast du dich nicht freudig erregt gefühlt? War es nicht wunderbar? Dieses Gefühl der Macht? Das kannst du immer haben.


Elaina wollte ihr sagen, dass sie sich doch gar nicht daran erinnerte, doch was machte es für einen Unterschied? Sie fühlte nichts.
Lass mich dir zeigen, was leben wirklich heißt. Menschen sind keine Individuen, sie sind nur eine große Masse. Nur wenige heben sich von ihr ab. Eine von ihnen bist du. Elaina, sieh was du geschafft hast.

Bilder tauchten auf, Bilder von Jack und seinen Eltern – tot. Elaina schüttelte langsam den Kopf, in einem regelmäßigen Rhythmus. Sie wollte die Stimme nicht hören, sie klang verlockend und doch sagte ihr irgendetwas, dass sie gefährlich war. Sie wiegte sich vor und zurück und sang leise: „Laaalaaalaaa.“ Es war nicht wirklich ein Gesang, nur ein monotoner Ton. Die Stimme in ihrem Kopf wurde lauter.
Du kannst mir nicht entkommen und du willst es auch nicht. Mach es dir nicht so schwer, lass mich dir zeigen – lass mich dich führen. Ich führe dich in eine bessere Welt, du musst mir nur vertrauen. Komm.


Elainas Körper setzte sich in Bewegung. Sie versuchte sich zu wehren, wollte lieber weiter sitzen bleiben doch ihre Muskeln schienen einen anderen Plan zu haben. Sie gehorchten der anderen Elaina. Ein paar Minuten vergingen, in denen sie einfach einen Fuß vor den anderen setze. Es war ihr egal. Sie hatte etwas zu tun, musste nicht schmerzliche Erinnerungen zulassen, die sie zerstören würden wie einen kleinen, sich windenden Wurm. Sie hob den Kopf und bemerkte, dass sie wieder vor ihrem Haus stand. Sie bewegte sich darauf zu und schloss die Haustüre auf. Es war ruhig und schien verlassen. Die Beamten waren also schon gegangen. Ceds Stimme tönte aus seinem Schlafzimmer im oberen Stockwerk.
„Elaina? Bist du wieder da? Komm doch mal hoch, ich muss mit dir was besprechen.“ Gleichgültig setze sich ihr Körper in Bewegung, Elaina ließ es geschehen. Sie war so unglaublich müde.
Doch anstatt auf die Treppen zuzugehen, führten ihre Füße sie in die Küche. Sie blieb regungslos in der Mitte des Raumes stehen. Dann bewegte sie sich auf den Messerkorb zu und langte nach einem großen Fleischermesser. Fasziniert betrachtete sie die glänzende Klinge, die den Eindruck machte selbst Knochen mühelos durchtrennen zu können. Sie ließ den Arm sinken, drehte sich um und ging nun langsam auf die Treppen zu. Jede einzelne Stufe knarrte leise, doch es war kein unangenehmes Geräusch –nein, es beruhigte sie sogar. Elaina gab der Tür einen leichten Stoß und sie schwang leise auf. Onkel Ced saß an seinem Computertisch, mit dem Rücken zu ihr. Die andere in ihr bäumte sich auf, schien sich zu freuen. Wie ein Drache, der alle Muskeln anspannte und die Flügel straffte um jederzeit los fliegen zu können. Elaina spürte, dass der Drache in ihr mehr und mehr erregt wurde, bereit zuzuschlagen. Mit leisen Schritten ging sie auf ihn zu.
Er dreht sich um, mit einem Lächeln auf dem Gesicht, doch als er das Messer in ihrer Hand bemerkte, entgleisten seine Gesichtszüge.
„Elaina, was ist denn los mit dir? Was hast du mit dem Messer vor?“
Sie packte ihn am Hemdkragen und zog ihn hoch, bis er nur noch auf den Zehenspitzen stehen konnte. Unglauben wich Entsetzen. „Elaina, was machst du denn da? Seit wann bist du so stark? Elaina!“
„Mach weiter.“ Ihr gesamter Körper verkrampfte sich. Die Stimme kam ihr bekannt vor. Sie warf Ced gegen die Wand, sodass er auf dem Bett an der Wand halb ohnmächtig niedersank. Elaina dreht sich in die Richtung, aus der sie jemanden reden gehört hatte. Es war Doktor Wolf. Er lächelte sie liebevoll an. Der Drache in ihr schien zu brüllen – es klang anerkennend.
„Hallo, meine Liebe. Wie ich sehe hast du endlich zu uns gefunden- zu mir. Wenn es dir nichts ausmacht sehe ich ein bisschen zu, wie du dich machst.“ Es war ihr egal. Die Stimme befahl ihr Ced mit seinen Schal zu fesseln und zu knebeln. Sie tat wie ihr geheißen. Ced stöhnte, er war noch nicht ganz bei Bewusstsein. Das Messer war immer noch in ihrer Hand, doch es behinderte sie nicht dabei. Etwas in ihr regte sich, doch das Gefühl war nicht stark genug um beachtet zu werden. Doktor Wolf betrachtete sie mit seinen schönen Augen halb fasziniert halb wie ein Lehrer, der seine Schüler beobachtet. Er war die Ruhe selbst und rührte sich nicht.
Elaina, tu was die Natur von dir verlangt, tu es!


Der Drache in ihr brüllte, forderte sie zu Taten auf. Elaina beugte sich runter und knöpfte das Hemd auf. Sie bemerkte, dass er gut trainiert war, auch mit seinen knapp 50 Jahren. Sie setzte das Messer an seinem Schlüsselbein an und fuhr langsam hinunter über seine Brust, ein paar Zentimeter neben seiner linken Brustwarze, dann weiter über seinen Bauch bis hin zum Hosenansatz. Ced kam langsam zu sich, stöhnte und keuchte vor Schmerz doch war noch nicht ganz erwacht. Elaina betrachtete die Schnittwunde mit Entsetzen. Langsam wurde das Gefühl in ihr stärker, doch noch immer war es zu schwach um ihn Erscheinung zu treten.
Das Gesicht! Das Gesicht! Die Stimme in ihr machte sich wieder bemerkbar. Elainas Hand setzte zu einem weiteren Schnitt an, diesmal an seinem Gesicht, die Messerschneide ruhte schon auf seiner Stirn. Ced schlug die Augen auf. Grauen war in ihnen zu lesen, und Angst. Elaina riss die Augen auf. Doktor Wolf bewegte sich zum ersten Mal, sah aus als wollte er auf sie zugehen, beherrschte sich aber doch noch. Er wartete ab wie ein lauernder Wolf.
Die Hand, die das Messer hielt zitterte und Elaina wurde schlagartig bewusst, welches Gefühl schon seit geraumer Zeit versuchte an die Oberfläche zu kommen: Liebe. Schlicht und einfach ihre Liebe zu ihrem Ziehonkel. Sie wollte das Messer wegschmeißen, auf den furchtbaren Mann zu rennen und ihn schlagen, ihm weh tun, ihn anschreien, dass er sie in Ruhe lassen soll, Ced losbinden, die Zeit zurück drehen, als Jack noch lebte, ein normales Leben führen, glücklich sein.
Ihr Körper bewegte sich nicht, er gehorchte ihr nicht mehr. Elaina und ihr anderes Ich kämpften im Moment um die Oberhand. Ihre Hand verkrampfte sich und lockerte sich, immer wieder. Ced beobachtete den Kampf der in ihr wütete, genauso wie der Doktor, der weitaus mehr verstand, was sich gerade zutrug.
Nein! Nein! Lass Blut fließen, er verdient es nicht anders. Er ist nur Teil der Masse. Du bist etwas besonderes, mach! Verschönere ihm sein Gesicht, lass Blut fließen.


Plötzlich bewegte sich ihr Arm wieder, und das Messer glitt durch Ceds Haut bis zum Stirnknochen, so mühelos wie durch Butter. Ced schrie durch den Knebel, wand sich, versuchte sich zu befreien, doch die Fesseln ließen nicht nach. Elaina musste mit ansehen wie sie das Messer von der Stirn über seinen Nasenrücken an seinem Mund links vorbei bis runter zum Schlüsselbein führte. Die beiden Schnitte sahen nun aus, als wäre sie eins. Ced keuchte und Tränen rannen aus seinen Augenwinkeln. Elaina spürte wie auch ihr Tränen hinunter fielen, während sie die Bauchdecke mit einem tiefen Schnitt öffnete. Blut bahnte sich sofort seinen Weg nach draußen und lief in Bächen an den Seiten hinunter. Sie blickte in die hervor quellenden Augen ihres Ziehonkels, der sie mit so viel Liebe und Führsorge aufgezogen hatte. Noch nie war ihr etwas so fremd gewesen, denn sie spürte, dass es tief aus ihrem Inneren kam. Sie hatte den Kampf um ihren Körper verloren. Sie hatte verloren.


Vielleicht schreibe ich eine Fortsetzung aber vielleicht lass ich auch dieses offene Ende:)

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Tag der Veröffentlichung: 26.01.2011

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