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Kapitel 1: Eine Fahrt in die Vergangenheit

 

 Der Regen prasselte in einem ruhigen Rhythmus auf das Dach des Autos, während der Taxifahrer übertrieben langsam die Landstraße entlang fuhr. Bäume, die an der Straßenseite wuchsen, verschwammen vor meinem Auge zu einem grünen, zähen Brei, als wir an ihnen vorbei fuhren.

Meine Augen waren schwer von der langen Fahrt, vom entspannten Prasseln des Regens und das Ruckeln des Autos, wenn es über die alten unebenen Straßen dieser Stadt holperte. Alles was ich bisher von Ridgeview sehen konnte, waren alte verlassene Häuser, Felder, Vieh und verdammt viele Bäume. Doch selbst das ließen wir nun langsam hinter uns, als wir in einem matschigen Waldweg einbogen.

 

Das moosfarbende Blätterdach über uns, ließ es augenblicklich dunkler werden, in der sowieso schon regnerischen Gegend. Ich schaute träge über meine Schulter und beobachtete durch die Heckscheibe hindurch, wie die wenigen Menschen, die vorher die Kühe von der Weide trieben oder mit dem Trecker den Acker bearbeiteten, zu immer kleineren schwarzen Schatten in der Ferne wurden. Als sie schließlich zu klein waren, um sie weiter verfolgen zu können, blickte ich wieder nach vorne. Der Taxifahrer, ein klein gebauter Mann indischer Abstammung namens Rajesh, wie er sich mir am Anfang der Fahrt vorgestellt hatte, schaute konzentriert durch die Windschutzscheibe auf die Straße.

Das Radio hatte er schon vor einer Stunde wegen des schlechten Empfanges ausgeschaltet, zu meinem Missbilligen. Denn das leise Rauschen, das aus den Lautsprechern schepperte, hatte mich von meinen Gedanken abgelenkt, denen ich mich nicht weiter stellen wollte. Es hatte mir die Nervosität genommen und mich etwas entspannt. Nun war es aber so totenstill, dass ich mich eher vor dem Einschlafen ablenken musste, als von irgendetwas anderem. 


Ich hatte es aufgegeben ein Gespräch mit dem Fahrer anzufangen, da er mir stets mit einem, oder höchstens drei Worten antwortete. Ich habe es anfangs darauf geschoben, dass er vielleicht unsere Sprache nicht gut beherrschte, doch als er vor zwei Stunden an einer Tankstelle hielt und sich dort mit einem Busfahrer fließend unterhielt, musste ich mir eingestehen, dass er mich wohl einfach nicht leiden konnte. Oder aber er war einfach einer dieser Autofahrer, die sich nicht auf den Verkehr konzentrieren konnten, wenn man sich unterhielt, weshalb er jegliche Ablenkungen versuchte aus dem Weg zu gehen.

 

Wenn ich ihn mir so ansah, wie er ohne zu blinzeln aus dem Fenster stierte, stimmte ich dieser Theorie in meinen Gedanken zu. Ich seufzte leise, als ich mich streckte und versuchte das Kribbeln meines eingeschlafenen Fußes zu verscheuchen.
„Wie weit ist es noch, bis zum Haus meiner Großmutter?“, richtete ich mich an Rajesh.
Meine Blase drückte und ich wusste, lange würde ich nicht mehr anhalten können. Schließlich waren wir inzwischen gut zwei Stunden unterwegs. Nervös blinzelte er ein paarmal und sah dann für eine Sekunde zu mir auf die Rückbank, ehe er seinen Blick wieder auf die Straße lenkte.
„Vier.“, antwortete er knapp, wobei er das R mit einem typisch indischen Akzent aussprach. Innerlich stöhnte ich. Es strengte an eine Unterhaltung mit jemanden zu führen, der scheinbar nicht in der Lage war mir in ganzen Sätzen zu antworten.
„Vier, was? Stunden etwa?“ Mein Tonfall klang gereizter als ich es beabsichtigt hatte. Aber der Gedanke noch so lange in diesem stickigen Auto ohne Radio, mit voller Blase und einem ungesprächigen Mann zu sitzen, ertrug ich nicht.
„Nein. Minuten.“ Überrascht hob ich eine Augenbraue. Mit der Antwort hatte ich nicht gerechnet.

Ich freute mich zwar, dass ich mich bald schon meinen körperlichen Bedürfnissen widmen konnte, aber neben meiner Freude darüber, beschlich mich auch ein behangenes, nervöses Gefühl.
Mit einem Mal waren wieder alle Gedanken da, denen ich mich nicht stellen wollte.


Ich hatte meine Großmutter schon sechs Jahre nicht mehr gesehen und die letzte Begegnung mit meiner Tante lag sicherlich noch weiter zurück. Tante Molly war die Schwester meiner Mutter, die vor einigen Jahren zu meiner Großmutter ins Haus zog, um sich um sie zu kümmern. Vieles war für Oma einfach nicht mehr alleine im Haushalt machbar, auch wenn sie sich das nie eingestehen wollte.

Ich hatte Molly groß und schlank in Erinnerung, mit süßen Grübchen wenn sie lachte. Damals trug sie ihr blondes, gelocktes Haar immer braun gefärbt und ziemlich kurz. Fast so kurz, wie die Haare meiner Mutter, die sie nie länger als das Kinn wachsen ließ. Molly müsste mittlerweile zweiundvierzig sein. Neun Jahre jünger als meine Mutter. Mom und Molly hatten sich vor Jahren so sehr verstritten, dass sie den Kontakt zueinander abbrachen. Bis heute kenne ich den Grund nicht, denn darüber reden wollte Mom nie mit mir.

Aber trotzdem verbot sie mir Molly zu besuchen. Ich war noch sehr jung, als das Alles passierte. Vielleicht gerade mal acht. Deshalb blieb mir nichts anderes übrig, als es damals schlichtweg zu akzeptieren. Ich hatte es nie richtig begriffen und irgendwann schon fast komplett vergessen. Bis zu dem Tag, an dem meine Schwester Clara einen riesigen Streit mit meinen Eltern hatte.

 

Meine Schwester war dreiundzwanzig und studierte Musik an der Hochschule für bildende Künste. Die Hochschule lag weit weg, weshalb sie sich früh eine eigene Wohnung nahm. Zu der Zeit besuchte sie uns eher selten, wegen der langen Fahrstrecke. Am Tag des Streites war ich verwundert über ihren scheinbar nicht angemeldeten Besuch, denn das war sehr untypisch für sie gewesen. Ich stellte deswegen später an dem Abend die Theorie auf, dass es sich um etwas so Wichtiges handeln musste, so dass keine Zeit blieb ihr Kommen anzumelden und sie deswegen spontan zu uns gefahren war.

 

Ich erinnerte mich daran, dass ich am Tag des Streites früher als geplant aus der Schule zurückgekommen war und schon beim Öffnen der Haustür, Claras Geschrei bis in den Flur hören konnte. Sie hatte so laut gebrüllt, dass es sicherlich auch unsere Nachbarn mitbekommen hatten. Meine Familie schien in der Küche gewesen zu sein und ich zog mir gerade meine Schuhe und meine Jacke aus, während ich einige Wortfetzen der Unterhaltung mit aufschnappen konnte. Es hatte kaum Zusammenhang gehabt, in dem Moment. Jedenfalls nicht für mich.

 

Ich hatte still schweigend im Flur gestanden und überlegte gerade, ob ich lieber hoch in mein Zimmer gehen oder in die Küche schauen sollte, als ich den einen Satz mitbekam, der ausreichte um zu verstehen, weshalb selbst meine Mutter so unkontrolliert herumgeschrien hatte. Denn meine Mutter war sehr schwer aus der Ruhe zu kriegen. Außer es ging um ein Thema: Tante Molly.
„Ich habe es satt in einer Familie zu leben, in der es mehr Lügen und Intrigen gibt als bei Desperate Housewives! Tante Molly hat eine gute Wahl getroffen, so weit von dir weg zu ziehen. Ich bin erwachsen, du kannst mir den Kontakt zu ihr nicht weiter verbieten. Und wenn du weiterhin darauf bestehst, deine Familie zu entzweien, nur um ein Geheimnis zu bewahren - dann ohne mich. Vielleicht ist es besser, wenn ich eine Zeit lang nicht mehr zu Besuch komme.“, waren Claras letzte Worte, bevor sie wutentbrannt aus der Küche stürmte.

 

Sie hatte mich fast umgerannt, denn ich stand ja schließlich immer noch unschlüssig im Flur herum. Clara stockte kurz und hauchte mir einen Kuss auf die Wange, ehe sie durch die Haustür verschwand. Es war typisch für Clara ein scheinbar ernstes Thema mit einer Serie, die auf Sixx lief, zu vergleichen. Normalerweise fand ich das immer urkomisch und konnte so meine ältere Schwester nie ernst nehmen, wenn wir mal stritten. Doch an diesem Tag blieb ich stocksteif und geschockt neben der Küchentür stehen. Meine Familie stritt nur sehr selten und wenn dann meist über Themen, die sich innerhalb von zehn Minuten wieder selbst in Luft auflösten. Ich war es deshalb nicht gewohnt alle so aufgebracht zu sehen. Als ich endlich wieder dazu fähig gewesen war, mich zu bewegen, ging ich mit vorsichtigen, kleinen Schritten in die Küche.

 

Dort saß Mom auf einem Stuhl und weinte. Neben ihr stand Dad, der ihr tröstend die Schulter getätschelt hatte.
„Alles … okay bei euch? Was war denn eben los?“ Meine Stimme war mehr ein Flüstern gewesen, doch meine Eltern hatten mich trotzdem verstanden.
„Spencer, nicht jetzt!“, sagte mein Vater tadelnd und schickte mich mit den Worten auf mein Zimmer.

Es waren die Worte, die ich jedoch immer wieder in den darauffolgenden Monaten hören musste, wenn ich versuchte nach dem Vorfall zu fragen. Irgendwann gab ich auf.
Es war offensichtlich, dass meine Eltern nicht mit mir darüber sprechen wollten und es auch nicht in vorhersehbarer Zeit vorhatten.
Und auch meine Schwester blieb bei ihren Worten, denn in einem Jahr hatte sie uns nicht mal ein einziges Mal besucht. Hin und wieder schrieb sie mir über WhatsApp oder schickte zu Weihnachten und meinem Geburtstag kleine Päckchen, mit Geschenken darin. Aber das war es auch schon.

 

Über den Streit mit meinen Eltern oder besser gesagt, mit meiner Mutter, verlor auch sie keinen einzigen Satz. Sie schrieb mir manchmal, dass sie mich zwar vermisste, doch es so einfach besser wäre. Ich hatte letzteres schon immer bezweifelt und am Tag ihres Todes, brach für mich eine Welt zusammen.
So oft hatte ich versucht, sie zu besuchen, die Familie wieder zusammen zu führen und Kontakt herzustellen. Aber alle meine Versuche waren vergebens. Und am 28. Dezember 2014, vier Tage nach Heiligabend, stand die Polizei vor unserer Tür.
Ich werde niemals vergessen, wie leer ich mich in diesem Moment gefühlt habe. In dem Moment, als die Polizistin, das aussprach, was man ihr aus dem Gesicht lesen konnte.

„Familie Kingston? Ich muss Ihnen leider berichten, dass sich Ihre Tochter … und Schwester … dass Sie sich heute um 21 Uhr das Leben genommen hat. Wir haben sie auf den Gleisen vom Bahnhof in einem Neben Ort von Tahola auffinden können.“ Stille. Totenstille.
„Ich weiß, dass muss ein sehr großer Schock für Sie alle sein, den Sie erstmal in Ruhe verarbeiten müssen. Wenn Sie zurzeit keine Fragen mehr haben und erst einmal darüber schlafen müssen, verstehen wir das selbstverständlich. Hier, ich gebe Ihnen diese Nummer, dort können Sie ab Morgenfrüh um 9:00 Uhr anrufen und einen Termin mit der Gerichtsmedizin vereinbaren. Alles Weitere klärt Ihr dort.“ Die Polizistin hielt ein kleines Visitenkärtchen mit zitternden Händen meiner Mom entgegen.

Die Situation war ihr sichtlich unangenehm gewesen. Doch weder Mom, noch Dad hatten sich geregt, so dass ich meinen Arm schnell vorstreckte und die Karte aus der Hand zog. Dann erhob mein Vater mit unsicherer Stimme das Wort: „Das …. Das ist doch sicherlich eine Verwechslung, oder nicht? Sind Sie sich sicher, dass Sie die richtige Adresse haben? Unsere Nachbarn … die ähm .. die Rileys, die haben auch eine Tochter, wissen Sie. Bestimmt haben Sie sich im Haus geirrt … nicht wahr?“ Seine Stimme brach am Ende, als die beiden Polizisten traurig den Kopf schüttelten.
„Nein, Sir. Ihre Tochter, Clara Kingston, am 15.Juni 1991 in Vancouver geboren, ist heute verstorben. Unser herzliches Beileid. Es tut uns furchtbar leid.“
Dann wurde es schlagartig laut. Über das Schluchzen meiner Mutter hinweg, hörte ich einen schrillen Schrei. Ich hielt mir die Ohren zu, doch er wurde nur lauter. Etwas Warmes lief meinen Wangen hinab und verschleierte meine Sicht. Ich konnte Dad erkennen, der sich langsam und torkelnd auf mich zu bewegte und mich in den Arm zog. Dann begriff ich: Der Schrei, den ich hörte, kam aus meinem Mund und das warme, störende Zeug, dass meine Augen trübte, waren meine Tränen. Dann wurde alles schwarz.

 

„Miss Kingston? Miss Kingston … wir sind jeden Augenblick da.“, katapultierte mich Rajesh Stimme unbarmherzig aus der Vergangenheit, zurück in die Gegenwart. Noch etwas benommen von meinen Erinnerungen, blickte ich aus dem Fenster, an dem die letzten Regentropfen abperlten. Es hatte aufgehört zu regnen.

Wir fuhren noch immer auf dem modrigen Waldweg, doch weiter vorne schienen sich die Bäume vor uns zu lichten. Und tatsächlich: Nach einer Minute ragte ein großes, altes Haus vor uns in die Höhe. Rajesh lenkte geradewegs auf die gepflasterte Auffahrt zu, in dessen Mitte ein runder, riesiger Springbrunnen stand. Genauso einer, wie man ihn aus Märchenbüchern kannte.

 

Er wendete direkt davor. Dann stellte er den Motor ab, schaute auf das Taxameter und wendete sich an mich: „Das macht 240 $, junge Lady.“
Ich schluckte. Mir war klar, dass es normalerweise noch mehr Geld gekostet hätte und ich Glück hatte, dass meine Mutter den Chef des Taxiunternehmens kannte. Denn nur deswegen bekam ich sogar Fahrtkosten-Rabatt. Und schließlich hatte mich Rajesh ja sogar vom Bahnhof abgeholt. Doch für mich waren 240 $ trotzdem ziemlich viel. Nichts destotrotz musste ich zahlen, also griff ich in mein Portmonee und legte sogar noch 5 $ Trinkgeld drauf. Irgendwie war mir der kleine, grimmige Taxifahrer ja schließlich während der Fahrt ans Herz gewachsen.

Ich reichte das Geld nach vorne.
„Passt so.“, sagte ich und stieg aus dem Auto. Rajesh tat es mir nach und holte mein Gepäck aus dem Kofferraum.
„Danke, Miss Kingston. Die Fahrt hätte nicht angenehmer sein können. Ich wünsche Ihnen einen schönen Aufenthalt, hier in Ridgeview. Und falls Sie mal wieder einen Fahrservice benötigen, denken Sie dran: Taxiunternehmen Walbert ist immer für Sie da – Ohja!“, trällerte er den schlechten Werbeslogan und reichte mir eine Visitenkarte, auf der die Telefonnummer der Firma stand.

Ich musste mir ein Kichern verkneifen.
„Alles klar, ich werd´s mir merken.“, schwindelte ich und zerknüllte in meiner Jackentasche bereits die Karte mit der Nummer. „Vielen Dank für Ihre Mühen.“
Rajesh errötete leicht, stotterte etwas Unverständliches und stieg zurück in den Wagen. Mit einem letzten Blick in den Rückspiegel, fuhr er dann davon.


Ich schüttelte ungläubig den Kopf. Jetzt war ich doch tatsächlich hier. In Ridgeview.
Auf dem Grundstück, auf dem meine Mutter und Tante Molly als Kind Verstecken und Fangen gespielt hatten. Und gleich würde ich das Haus betreten, in dem sogar schon meine Oma Magret aufgewachsen war. Ich war aufgeregt. So aufgeregt, dass ich sogar ein wenig zitterte. Ich hatte meinen Besuch zwar angekündigt, den Grund dafür kannten sie jedoch noch nicht. Der Vorgarten war schön, aber verwildert. Es hatte sich scheinbar lange keiner mehr um das Grundstück gekümmert. Denn auch das Haus sah von Nahem gar nicht mehr so eindrucksvoll aus, wie es aus der Ferne den Eindruck machte.

 

Es war nur noch ein Gebäude, das dabei war zu zerfallen. Man konnte nur erahnen wie schön und pompös es einmal gewesen sein musste. Auf dem Weg zur Haustür, blieb ich kurz bei dem Springbrunnen stehen. Der Brunnen war alt, so wie vermutlich alles auf diesem Anwesen. Das Wasser, das einst in Fontänen aus ihn herausströmte, war von der Sonne in den letzten vergangenen Sommern, vollkommen verdunstet. Efeu rankte sich um die steinerne Meerjungfrau, die sich trotz allem stolz und ehrfürchtig mit der Brust den Himmel entgegen streckte. Sie war schön, trotz der bröckelnden Fassade. Der Künstler hatte wahrlich gute Arbeit geleistet. Das Gesicht der Frau wirkte so realistisch. Ich stellte mir vor, wie er früher genau hier saß und behutsam ein Detail nach dem anderen in den harten Stein meißelte, nur um seine Arbeit danach Schuppe für Schuppe an der Flosse fortzusetzen.

Ein Anflug eines Lächelns umspielten meine Lippen, als ich vorsichtig über den alten Stein strich.

 

Doch plötzlich durchfuhr mich eine Art elektrischer Schlag. Erschrocken darüber, wollte ich meinen Arm zurückziehen, aber es geling mir nicht. Ich war wie versteinert und mein eigener Körper gehorchte mir nicht mehr. Helle Lichtpunkte flackerten vor meinem inneren Auge und als sich mein Blick wieder klärte, war meine Sicht wie in Sepia getaucht. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Was passierte hier?

Ich schaute mich um und erblickte dann vor mir ein kleines Mädchen, das am Springbrunnen saß. Es hatte das Gesicht in die Hände gelegt und weinte. Meine Angst war für einen kurzen Augenblick vergessen, denn ich empfand Mitleid mit ihr. Ich wollte zu ihr gehen, fragen was los ist und sie beruhigen. Doch ich konnte mich immer noch nicht rühren. Ich war gezwungen alles stillschweigend zu beobachten, wie bei einem alten schwarzweißen Film.  Ein kleiner Junge kam aus dem Gartenschuppen gerannt, setzte sich zu dem Mädchen und legte seinen dünnen Arm um ihre Schulter. „Keine Sorge, kleine Schwester. Wir lassen uns nicht von hier vertreiben.“, sprach er zu ihr.

 

Und mit diesen Worten kamen die Lichtblitze wieder und als sich dieses mal mein Blick klärte, schien wieder alles normal zu sein. So als wäre nie etwas passiert. Das kleine Mädchen und der Junge waren spurlos verschwunden. Meine Sicht war wieder klar und deutlich. Ich merkte, dass meine Muskeln wieder reagierten, zog schnell meine Hand vom Springbrunnen und griff nach meinem Gepäck, während ich hastig und völlig perplex weiter ging. Was war das eben? Ich schüttelte meinen Kopf und versuchte die Bilder zu verscheuchen. Ich musste völlig übermüdet sein, dass ich sogar schon fantasierte. Die Räder des Koffers klapperten laut auf den Gehwegplatten. Meine Schritte wurden langsamer, je näher ich dem Haus kam. Doch es änderte nichts daran, dass ich irgendwann die Treppenstufen der Veranda hoch stapfte. Das Holz knarrte unter meinem Gewicht. Dann atmete ich einmal tief durch und drückte die Klingel.

Kapitel 2: Ein seltsamer Junge

 

Ich hörte das schrille Läuten bis nach draußen. Dann kam das Poltern von Schritten dazu. Mein Herz pochte mir laut in den Ohren. Ich hatte es mir gerade anders überlegt und wollte auf der Stelle kehrt machen, als bereits die schwere Holztür mit einem Quietschen aufgerissen wurde und meine Großmutter mir mit einem breiten, wenn auch zahnlosen Grinsen, gegenüber stand.
„Spenc, Kleines!“, rief sie atemlos hervor und drückte mich fest an sich. Ich schmunzelte über ihre Begrüßung, da ich mir die ganze Fahrt hierher überlegt hatte, ob es unangebracht sei, meine Verwandten nach so langer Zeit bei unserem Wiedersehen zu umarmen. Oma Magret hatte mir hiermit die Frage beantwortet.
„Lass dich mal ansehen. Mensch, das müssen ja Jahre her sein. Wie groß du geworden bist!“, sagte sie, während sie mich an den Schultern griff und eine Armlänge von ihrem Körper weg drückte. Ihre Blicke glitten einmal schnell von meinem Kopf zu den Füßen und wieder zurück. Dann legte sie ein zufriedenes Lächeln auf ihre Lippen. „Was für eine schöne junge Frau du geworden bist.“
Ich lachte, als sie mir zu zwinkerte. „Molly, Schatz … komm, sieh dir mal an wie erwachsen Spencer geworden ist.“, rief Oma über ihre Schulter ins Haus hinein.
„Danke, Oma. Schön dich wieder zu sehen. Du siehst erholt aus.“ Das sah sie tatsächlich.

 

Das Letzte mal, als ich Magret traf war sie von der Trauer gezeichnet, die der Tod meines Großvaters in ihrem Gesicht hinterlassen hatte. Heute waren ihre dunklen Augenringe, von den vielen schlaflosen Nächten, verschwunden. Stattdessen hatte sie rosige Wangen und neue Frische im Gesicht bekommen. Sogar etwas Make Up hatte sie aufgelegt, wie ich an den rot schimmernden Lippen erkannte. Ihre Haare waren inzwischen komplett ergraut. Aber sie trug immer noch den gleichen kurzen Schnitt, so dass sich ihre kleinen Locken noch stärker auf dem Kopf kringelten als ich in Erinnerung hatte.

 

Die Locken die sowohl Molly, Clara und sogar meine Mutter geerbt hatten. Nur ich war mit langweiligen glatten Haaren bestraft, die sich bei Regen lediglich gerne mal kräuselten. Nur beim genauen Hinsehen, konnte man manchmal eine Strähne entdecken, die tatsächlich hübsch geschwungen über meine Schultern fiel.

 

Im Sommer flocht ich mir oft einen französischen Zopf, weil ich es mochte wie ich ebenfalls schöne Locken bekam, nachdem ich ihn abends vor dem Spiegel oder morgens nach dem Aufstehen öffnete.

Dann fühlte ich mich meiner Familie nicht ganz so fremd wie sonst. Denn rein vom äußerlichen, würde niemand denken, dass ich mit ihnen verwandt wäre.

 

Aus dem Inneren des Hauses hörte man näherkommende Schritte, bis mich schließlich auch meine Tante Molly sehnsüchtig in die Arme schloss. Sie gab mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange, nahm mir mein Gepäck aus der Hand und lud mich ins Haus ein.
„Du musst ja völlig erschöpft sein von der langen Reise. Ich zeig dir am besten erstmal dein Zimmer. Dann kannst du dich etwas frisch machen und ich kann unser Abendessen vorbereiten. Es ist ja noch früh. Später beim Essen haben wir ja noch genug Zeit zum Quatschen, meinst du nicht?“ Ich stimmte ihr dankend zu, denn vor lauter Aufregung hatte ich völlig vergessen, wie dringend ich auf die Toilette musste. Doch nun merkte ich wieder wie meine Blase drückte. Also ließ ich die schwere Tür ins Schloss fallen. Ohne, dass ich mich noch an Oma wenden konnte, wurde ich bereits von Molly weiter gezogen.

 

Das Haus war riesig. Vom unteren Flur führten einige Türen ab, denen wir keine weitere Beachtung schenkten. Wir steuerten geradewegs auf die große steinerne Treppe zu, die sich am Ende des Ganges befand. Auf ihren Stufen war ein langer, roter Läufer ausgebreitet. Das Geländer war mit hübschen Kunstblumen dekoriert, was mich wieder an die Schlösser in meinen alten Märchenbüchern erinnerte. „Dein Zimmer befindet sich im 1. Stock. Nanas Räume sind alle im Erdgeschoss. Das ist einfacher für sie, da sie so keine Treppen gehen muss.“, erklärte mir Molly, über das Poltern unserer Schritte auf dem alten Steinboden, hinweg.

Molly nannte meine Großmutter immer Nana.
„Und du? Also wo schläfst du, meine ich?“, fragte ich. Ich half Molly gerade dabei mein Gepäck die Treppe hinauf zu tragen, weshalb ich meine Frage eher unter einem Schnaufen heraus brachte.

 

 

Molly lachte, so dass ich ihre Grübchen, die auch meine Mutter hatte, erkennen konnte.„Ich habe mein Schlafzimmer auch im Erdgeschoss, damit Nana mich holen kann, falls sie Hilfe benötigt.“ Ich stockte, als wir im ersten Stock ankamen und mir auch dessen Größe bewusst wurde. „Heißt das, ich wohne ganz alleine in dieser Etage?“ Ich musste etwas ängstlich geklungen haben, denn Molly tätschelte mir leicht die Schulter. 

„Naja, nein nicht ganz. Wir haben eine Haushälterin … Mrs. Dancy. Sie kümmert sich um die Hühner und Kaninchen hinten im Hof. Außerdem kocht sie normalerweise für uns, da ich unter der Woche lange arbeiten bin. Sie putzt das Erdgeschoss und achtet ein wenig auf Nana, wenn ich nicht zuhause bin. Sie ist uns wirklich eine große Hilfe.“ Tante Molly machte eine kurze Pause, ehe sie fortfuhr.
„Und Mrs. Dancy wohnt ebenfalls hier, zusammen mit ihrem Sohn Joffrey. Die Beiden haben eigentlich einen separaten Teil des Hauses für sich, mit eigener Küche und Bad. Aber Joffrey nimmt das oft nicht so genau und treibt sich manchmal in den oberen Zimmern des Hauses herum. In denen, die oft keiner betritt. Das mag jetzt vielleicht seltsam klingen, aber du wirst sehen, er ist ein netter Junge. Mrs. Dancy wirst du auch noch früh genug treffen. Sie ist herzallerliebst. Glaub mir, du wirst sie mögen.“

Ich schauderte ein wenig bei dem Gedanken eines Tages auf einen merkwürdigen Jungen zu stoßen, der sich hier in den leeren Fluren herum trieb. Was er wohl in den verlassenen Räumen suchte?

Wir waren für unsere kleine Plauderei kurz stehen geblieben und gingen nun weiter den Flur hinab. Ich fing etwas an zu frösteln, als mir ein leichter Wind um die Haare wehte. Molly muss meine Gänsehaut bemerkt haben, denn sie sagte: „Ich weiß, es ist hier oben deutlich kühler als unten. Aber es ist nun mal ein altes Haus und um all die Fenster austauschen zu lassen, durch denen es zieht, würden Unmengen Kosten entstehen. Gerade abends solltest du dir am besten etwas überziehen, wenn du noch nicht schlafen gehst. Es kann sehr frisch werden, besonders jetzt zum Winter hin.“ Ich nickte einfach nur, da ich zu beschäftigt damit war, all meine ersten Eindrücke auf einmal in meinem Gedächtnis festzuhalten.

Große Gemälde hingen überall an den bordeauxroten Wänden. Von alten Familien beim Abendessen, kleinen Kindern im Schoß ihrer Mutter oder feinen Damen, die schrecklich steif und formell wirkten. Es gab einem das Gefühl, den ganzen Weg zu meinem Zimmer mit Blicken verfolgt zu werden. Nach ein paar Minuten, war ich schließlich sogar felsenfest davon überzeugt, dass die Menschen in ihren Portraits durch unser reges Geplauder zum Leben erweckt wurden. Eine ziemlich gruselige Vorstellung, die mich schnell weiter hechten ließ.

 

Wir folgten den langen Flur und bogen schließlich in einen kleineren Gang ein, der an einer Tür endete. Molly kramte einen Schlüssel aus ihrer Hosentasche und steckte ihn ins Schloss. „Das hier ist dein Zimmer, Spencer. Es gehörte früher deiner Mutter. Es war immer abgeschlossen, wegen Joffrey. Nana gefiel der Gedanke nicht, dass er in unseren alten Räumen rum lungert.“ Mit diesen Worten, drehte sie den Schlüssel herum und öffnete die Tür mit einem leisen Quietschen. Es schien lange niemand mehr hier gewesen zu sein, denn am Fenster hingen Spinnenweben von der Decke hinab. Alte Fotos, die auf einer Kommode standen, waren von einer dicken Schicht Staub bedeckt. Molly stellte meine Sachen auf dem Boden ab und wendete sich dann zu mir.

Mir fiel erst jetzt auf, dass ich sie mir noch gar nicht richtig ansehen konnte, so schnell hatte sie mich von der Haustür gezerrt. Ihre früher gefärbten Haare, waren wieder in ihrem Naturblond zu sehen. Doch kurz und lockig wie eh und je. Sie hatte ein wenig zugenommen, doch sie war trotzdem noch schlank. Ihre grünen Augen strahlten, als sie mich ebenfalls von oben bis unten beäugte. „Du weißt ja gar nicht, wie du uns gefehlt hast, Spencer. Besonders Nana hat sich wahnsinnig auf deinen Besuch gefreut. Ich weiß, das Zimmer und das Haus sind vielleicht alt und wirken auf dem ersten Blick etwas gruselig. Aber ich hoffe, du fühlst dich trotzdem bald wie Zuhause.“ Molly musterte zweifelnd das Zimmer.

 

Ihr war der Zustand scheinbar unangenehm, weshalb sie noch hinzufügte: „Wenn du magst, können wir deine eigenen vier Wände auch so gestalten wie du willst. Neue Farbe und vielleicht ein paar neue Möbel. Wenn du willst, können wir die Tage ja mal runter in die Stadt fahren und uns umschauen, was sagst du?“ Sie lächelte mir vorfreudig entgegen. Ich musste lachen, als sie mich so hoffnungsvoll ansah. „Alles bestens, Molly. Mach dir keine Sorgen. Das war das Zimmer meiner Mutter und ich bin mir sicher, dass ich mich hier wohlfühlen werde. Aber Dankeschön.“
„Na gut, aber falls du deine Meinung ändern solltest: Mein Angebot steht!“ Sie zog einen kleinen Schmollmund, der aber nur für wenige Sekunden blieb. Dann schlenderte sie zurück zu Tür und ließ mich erstmal alleine, damit ich mich in Ruhe frisch machen und meine Klamotten einsortieren konnte.

 

Doch bevor ich auch nur daran dachte meinen Koffer auszupacken, schaute ich mich erst einmal um. Das Zimmer war nicht besonders groß, aber das fand ich sehr gemütlich. Wenn man von der Tür herein kam, schaute man direkt auf eine große Fenstergaube. Die Fensterbank war sehr breit, so dass man sich bequem darauf setzen konnte. Der perfekte Ort um zu lesen, beschloss ich direkt in Gedanken. Es gab außerdem ein großes Himmelbett, das auch den meisten Platz im Raum einnahm. Kobaltblaue Vorhänge hingen am Bettpfosten hinab und passten perfekt zur restlichen Einrichtung. Denn das gesamte Zimmer war in Blau gehalten. Es gab einen großen, flauschigen türkisen Teppich mittig im Zimmer. Daneben befand sich eine Kommode, über der ein alter Spiegel angebracht war. Er hatte schöne, goldene Verzierungen am Rahmen. Ein kleiner Hocker stand vor der Kommode. Ansonsten gab es noch einen Einbauschrank, in dessen unterstem Fach sich viel alter Kram befand. Vermutlich von meiner Mutter. Seufzend setzte ich mich auf das Bett, das ein leises Knirschen von sich gab. Die Matratze war weich und gab unter meinem Gewicht nach. Ich griff nach meinem Koffer und begann meinen Kram auszuräumen.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 26.01.2017

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Dieses Buch widme ich all denen, die mehr Träume in ihrer Seele haben, als die Realität zerstören kann.

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