Rita lebte mit ihrem Mann in einem kleinen Holzhaus am Rande des Waldes in Ferch. Neidisch war ich, wenn ich sie Hand in Hand spazieren gehen sah! Ganz plötzlich verstarb Jens. „Nein, hier bleibe ich nicht mehr wohnen. Alles erinnert mich an meinen Mann. Ich ziehe aus!“ Das war Ritas Entscheidung. Und so geschah es, dass der Umzug kam in eine Eigentumswohnung im Souterrain eines Drei-Etagen-Hauses im Nachbarort Seddin.
Nach meinem ersten Besuch bei Rita hatte ich eigentlich einen sehr positiven Eindruck. Die „Kellerwohnung“, wie sie ihre neue Bleibe nannte, war zwar etwas dunkel und hin und wieder hörte man nebenan eine Tür zuschlagen, wenn Mitbewohner in den Keller gingen. Aber das Haus lag wieder am Rande des Waldes, den Rita so sehr mochte. Nun muss ich zur Charakterisierung meiner Freundin sagen, dass sie von allen Musen geküsst sein musste. Sie spielte phantastisch Klavier. Oft empfing sie mich: „Wie gefällt dir meine kleine Komposition?“ Oder sie schickte mir per e-mail eine etwas traurige Short Story. Aber das Malen war ihre größte Leidenschaft! Alles Porträts – eine ganze Galerie wuchs mit der Zeit. Alles Gesichter, die sie umgaben.
Wieder war eine Woche ins Land gegangen. Es war höchste Zeit, dass ich sie anrief. „Oh, wie schön, seit unserem letzten Telefonat habe ich mit keiner einzigen Seele gesprochen. Ich erwische mich schon, dass ich mit meinen Bildern rede. Und stelle dir vor, nachts versucht jemand an meiner Tür den Schlüssel rumzudrehen!“ „Willst du eventuell die Polizei einschalten,“ fragte ich besorgt. „Nein, nein, bloß keine Polizei. Das macht alles nur noch schlimmer! Ich habe mir ein Gestell gebastelt, das ich unter den Schlüssel klemme. So kann er nicht bewegt werden.“
Fast ein Jahr wohnte Rita nun schon allein in ihrer „Kellerwohnung“, als ich sie zu einem Spaziergang abholte. Wir sprachen über dieses und jenes. Als wir weit genug vom Haus entfernt waren, erzählte sie mir flüsternd: „Jemand meint es übel mit mir! Die Schlüsselattacken hören nicht auf. Jetzt wird auch noch mein Telefon überwacht. Und stell dir vor, vergangene Nacht waren Hologramme mit Fratzen an meiner Schlafzimmerdecke. Ich bin unters Bett gekrochen, um sie nicht zu sehen. Jetzt muss ich mir ein dichtes Rollo – statt nur der Gardine – kaufen. Und nein! Bloß keine Polizei!“
Ich war fassungslos. Wie konnte ich nur helfen? Dann musste ich dringend nach Leipzig fahren. Rita klang unendlich traurig am Telefon. „Oh, Liebes, komme bloß rasch zurück!“
Diese Worte, trostlos gesagt, klangen mir immer wieder im Ohr. Außer mir hatte sie ja nur noch ein befreundetes Ehepaar, Katrin und Jürgen, in Berlin. Kurz darauf muss die Situation eskaliert sein. Rita fuhr mit der S-Bahn zu den Berliner Freunden. „Man ist hinter mir her! Kann ich bei euch bleiben?“ Hat sie diese gefragt. „Wir müssen weg, aber das Gästezimmer
im Souterrain steht dir zur Verfügung!“ Mit dieser Antwort klappten sie die Haustür hinter sich zu. Rita war fassungslos, ohne wirkliche Hilfe, wieder ganz allein! In Panik verließ sie das Haus, raste zum Berliner Bahnhof – und stieg in den allerersten Zug ein ... der war sofort abgefahren!
Das Endziel war Köln!
Im Bahnhofshotel nahm sich Rita, völlig durcheinander, ein Zimmer. Nachts hörte sie Klopfen an der Wand und ihrer Tür. Der Nachtportier beruhigte Rita so gut es ging – und griff zum Telefon. Der Arzt, der in Kürze eintraf, legte beruhigend den Arm um Rita: „Ich bringe sie jetzt in eine psychiatrische Klinik.“ Und sie folgte ihm widerstandslos. Jetzt war sie in Sicherheit. Man stellte die Diagnose – Verfolgungswahn!
Tag der Veröffentlichung: 08.01.2017
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